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14

»Na, Hänschen, wie wär's denn?«

Herr Heinrich van Egern lehnte sich in seinem Korbsessel zurück, schnalzte pläsierlich mit Daumen und Zeigefinger und forderte durch liebevollen Zuspruch seinen kleinen Andreasberger auf, ein fröhliches Liedchen zu pfeifen.

»Hänschen, geniere dich nicht. Heut ist doch Sankt Nikolausabend ...« und da tat denn der Kanari auch ein übriges und blähte sein Kröpfchen.

Der alte Herr stellte die brennende Pfeife beiseite und lauschte andächtig und mit geschlossenen Augen auf die feine Singweise seines geflügelten Lieblings.

»Schön so, Hänschen, immer man weiter ... immer man weiter ...!«

Fädchen spann sich an Fädchen. Kaum hörbare Töne reihten sich nebeneinander, rieselten wie aus weiter Ferne herüber und erinnerten an den lieblichen Singsang, den nur Sonntagsmenschen begreifen, wenn sie ganz heimlich das artige Spiel der Elfenkinder vernehmen. Und der Andreasberger nahm den geistlichen Herrn bei der Hand und geleitete ihn sacht in den Abend hinaus, wo der Schnee blütenweiß in den Straßen lag und die aufgesteckten Himmelslichter in der kalten Winterpracht so groß wie kleine Sonnen erschienen. Mit überirdischen Stimmen kam es von oben herunter, aber so klar und glitzerblank, als wären die einzelnen Töne aus Glas gesponnen.

»Wie wundersam ...!« sprach der Dechant vor sich hin, und er dachte an Vater und Mutter und an die Zeit seiner Jugend, wo er in den Nikolausabend hinaussah, das Herz voller Wunder und das Gemüt voll inniger Schauer, die ihm geboten, niederzuknien und dem Erscheinen des heiligen Mannes entgegenzubeten. Und das starre Eis krachte vom nahegelegenen Ravelin herüber. Vergoldete Nüsse raschelten im Sack, und köstlich piepsten die Bratäpfel in der Ofenröhre, heimlich wie Geisterlein und duftig wie Weihrauch, der an hohen Feiertagen die Kreuzgewölbe des Chores umspielte.

»Wie wundersam ...!« sagte der Dechant.

Auch heute beging er den seligen Abend, nur ganz anders wie damals.

Es war die Zeit, in welcher Pitt Pulcher in tiefer Not und heißer Qual die Kirche betrat. Noch hatten nicht die heiligen Glocken gesprochen, aber ein stiller Friede saß behaglich in der Sofaecke der Dechanei, freute sich seines Daseins und hielt die große Heerschau über alle Stunden des verflossenen Jahres. Wie glücklich das alles war, wie sonnig und von dem Schweigen trauter Weltvergessenheit umgeistert! Und bei dieser Weltvergessenheit hatte kurz zuvor Heinrich van Egern in den Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff gelesen. Noch schwebte ihm die letzte Strophe auf den Lippen, die er der ›Woche des alten Pfarrers‹ entnommen hatte und die da lautete:

»Ja, wenn ich bin entladen
Der Woche Last und Pein,
Dann führe, Gott der Milde,
Das Werk nach deinem Bilde
In deinen Sonntag ein ...«

und das geleitete ihn in das Reich des Genießens.

Obgleich er noch verlähmt war, hatte sich seine Gesundheit in den letzten Wochen um vieles gebessert. Er fühlte sich freier. Der Lebenssaft begann wieder zu steigen, die Hoffnung pflanzte erneut ihr Fähnlein auf, und getrosten Mutes durfte er sich allabends sein Fläschchen Mosel vergönnen.

So auch heute.

Eine ›Valwigberger‹ stand neben ihm, und jedesmal, wenn er das Glas hob und trank und es niederstellte, dann mußte er eines trefflichen Mannes gedenken. Und als jetzt der Andreasberger seine Rolle anschwellen ließ, um sie verschwenderisch durch das Zimmer zu streuen, da sprach der alte Herr ganz versonnen vor sich hin: »Zwischen den Moselbergen und dort, wo die Brauselay ihr mit Thyrsusstäben geschmücktes Massiv aufhebt, von Reben umhegt und das Heim dicht an den lieblichen Strom gerückt – da wohnte er. Ich kannte ihn von Angesicht zu Angesicht, und manchen Schoppen haben wir in laulicher Sommernacht selbander gestochen. Ein Winzer von Gottes Gnaden und allen Menschen ein Wohlgefallen, pflegte er sein Weinchen mit herzlicher Inbrunst. Mit Johannes Brixius war brav und gut pokulieren. Er war ein lateinischer Winzer, und da eines Tages ... der Abend spielte mit dem schwanken Laub und ließ silberne Kringel über die Tafel gleiten ... da kam er, ganz Würde und Andacht, und brachte ein köstliches Tröpfchen. Auf dem Etikett stand geschrieben: Bibite hoc excellens vinum de vitibus Brixii. Atque valete! – und die Gläser klangen zusammen, wie sie nie schöner geklungen hatten. Es war ein Läuten wie aus einem trefflichen Kometenjahr. Sein Glas aber klirrte zu Boden. Ich fühlte einen brennenden Stich in der Herzgrube. Er aber schien die verkörperte Ruhe; nur sein liebes Gesicht war etwas bleicher geworden. Es war die letzte Flasche, die wir gemeinsam leerten, denn bald darauf ging so ein gütiges Lächeln über seine stillen Züge. Und dieses Lächeln war nicht mehr von dieser Welt. Papa Brixius hatte sich sacht auf die Socken gemacht und gelangte dorthin, wo sein Herr und Erlöser wohnte. Solches geschah, als die Reben blühten und ein zarter Duft das ganze Tal erfüllte. Atque valete! – Und die neuen Gescheine wölkten ihren Weihrauch über das Grab des einzigen Mannes. Sein Leben war ohne Fehl, und sein Sterben war köstlich. Wohl ihm!«

Das Singen verlor sich.

Da nahm der geistliche Herr das Glas und trank und sprach dann: »Deinem Angedenken, lieber Johannes. Ich glaube, du bist gut angeschrieben im Himmel, und deine Fürbitte wertet dort oben. Atque valete

In diesem Augenblick pochte es an die Fensterrahmen und drang in das wohlig durchwärmte Zimmer, erst leise, dann stärker, dann mit sonorer Feier und Weihe. Von Sankt Nikolai klangen die Glocken herüber.

»Aber eine fehlt noch,« sagte der Dechant und horchte hinaus, und horchte auf das melodische Geläut, und horchte auf das Zirpen der Lampe ... als sich auch schon eine neue Stimme erhob, die den Sturm vor sich herscheuchte und Zorn auf den Lippen hatte und gegen die Scheiben donnerte, als sei der Tag des Gerichtes gekommen. Mit brutaler Faust strich sie die friedliche Weltvergessenheit beiseite und trug den Mißton des Unbehagens zwischen die Wände.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!«

Wie das polterte und das friedfertige Mobiliar rüttelte! Solche Klänge waren noch niemals in die Stube des geistlichen Herrn gefallen. Nur die Feuer- und Sturmglocke hatte solche wütigen Töne.

Herr Heinrich van Egern stützte sich auf die Lehnen seines Sessels.

Alle Zuversicht war von seinem Antlitz gewichen.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!«

Es war ihm so, als öffnete sich lautlos die Tür, als dränge einer ins Zimmer, als träte er neben ihn, als legte sich ihm eine Hand auf den Scheitel ...

Und diese Hand hatte die Kälte des Todes.

Er griff nach der Klingel.

Unwirsch schlug sie an und rief die Haushälterin über die Schwelle. Mit den Anzeichen tiefster Erregung sah sie auf ihren Herrn, der noch immer wähnte, die kalte Hand des Eindringlings auf seinem Scheitel zu fühlen.

»Aber, Hochwürden ...«

»Mieke, was wird da für 'ne Glocke geläutet?« fragte er hastig.

Die Haushälterin lauschte hinaus.

»Ich dächte wie immer – Anne-Susanne.«

»Nein, das ist nicht Anne-Susanne.«

»Aber ich bitte Ihnen, Hochwürden! Ich kenne doch Anne-Susanne! Ich mit meinen fünfzig Jahren und denn die Glocke nicht kennen?!«

»Nein, Mieke, das ist nicht Anne-Susanne! – Die klingt ganz anders, die lärmt nicht und droht nicht, die trägt den Engel des Herrn zu den Menschen; aber was da jetzt redet und läutet ...«

»Alles schon richtig, Hochwürden ...«

»Nein, Mieke, das ist nicht Anne-Susanne.«

»Herr Dechant ...!«

Beteuernd preßte sie beide Hände auf ihren Seelenwärmer: »Herr Dechant, auf die letzte Wegzehrung kann ich das nehmen. Das ist keine andere als Anne-Susanne ... aber ich will selber mal nachsehn, denn schließlich: man kann immer nicht wissen ... vornehmlich jetzt nicht, wo die heiligen Nächte anfangen ...«

Und damit trat sie fröstelnd in den weißen Abend hinaus.

Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als sie ganz verstört und ganz auseinander zurückkam. Mit ihr trat Herr Roloffs ein. Hinter ihnen war das Gemurmel von verschüchterten Männern.

»Herr Dechant, was ist das für ein Elend in der Kirche gewesen!«

Ängstlich zog sie die Falten ihres Seelenwärmers zusammen.

»Hochwürden, wenn es erlaubt ist zu reden,« meinte der Küster, »so möchten wir submissest ersuchen, Herrn Pulcher sprechen zu lassen.«

Er zeigte mit dem Daumen über den Rücken.

»Ich bitte darum,« sagte der Alte. »Ja, Hochwürden, ich möchte drum bitten.«

Dores und Thyß drückten sich scheu in eine Ecke des Ganges.

»Herr Dechant,« rang es sich von den Lippen des verzweifelten Mannes, »es ist schlimm, daß ich in dieser Verfassung komme, denn ich trage die Unruhe in das Haus des Friedens.«

Der geistliche Herr sah ihn verständnislos an.

Pitt Pulcher fuhr fort: »Herr Dechant, ich bin schon einmal ungelegen gekommen, damals in tiefer Not, als mein Weib verlangte, das Sakrament aus Ihren Händen zu nehmen. Heute ist die Not mir bis an den Hals gewachsen. Ich ersticke, Herr Dechant. – Herr Dechant, ich bin soeben bei meiner Glocke gewesen. Ich hatte ein Anliegen. Aber sie wollte nicht helfen und hat mich zu Boden geschlagen. Und da sagte ich mir: jetzt kann nur einer noch retten ... und so bin ich denn zu Ihnen gekommen, Herr Dechant.«

»Sie sind mir immer willkommen, Herr Pulcher.«

Seine Stimme zitterte, als er das sagte.

»Dann möchte ich unter vier Augen ...«

»Wenn es darum ist ...« und Herr van Egern machte eine sanfte Handbewegung gegen die Anwesenden.

Die verstanden ihn und verließen geräuschlos das Zimmer. Hinter ihnen klinkte die Tür wie auf Filzpantoffeln ein.

Pitt Pulcher trat näher.

»Herr Dechant,« und die Hände flochten sich nervös ineinander, »statt 'ner wollenen Jacke habe ich 'ne Zwangsjacke am Leibe. Mir ist so, als läge mir ein hanfener Strick um den Hals, frisch von der Seilerbahn fort, so trocken ist es mir zwischen den Zähnen. Der Mensch kann 'ne Portion Unglück vertragen. Aber was zu viel ist, Herr Dechant ...«

Er war bis in den Schein der Lampe getreten.

Jetzt sah der geistliche Herr erst.

Er entsetzte sich bis in die tiefste Seele hinein.

»Um Gottes willen, Herr Pulcher ...!«

Nie im Leben hatte er ein solches Menschenantlitz gesehn. Mit eingepreßten Zähnen und verzerrtem Gesichte, als habe ihm ein wütiger Schmerz die Verzweiflung in die Züge gemeißelt, stand der gebrochene Weber vor ihm und versuchte es, den zerknitterten Brief mit hastigen Fingern auf seinem Ärmel zu glätten. Ein Blutstropfen hing ihm am Munde.

»Herr Pulcher ...!«

»Ja, Hochwürden, ich bin es ... und bei mir ist meine verstorbene Frau. Sie will was, sie kann die ewige Ruhe nicht finden. Das von früher gilt nicht mehr. Das hat seine Reinheit verloren. Sie hat noch mehr zu beichten, Herr Dechant ...«

Er machte eine herrische Bewegung.

»Lisbeth, komm her ... hier in die Knie ... hier in die Knie ... und dann bekenne, bekenne, denn du hast noch 'ne ungesühnte Schuld auf dem Herzen, und sage: Ich armer sündiger Mensch bekenne vor Gott dem Allmächtigen, vor Gott dem Allwissenden ...«

»Herr Pulcher, ich bitte Sie! Was soll das, was bedeutet das alles?«

»Das bedeutet, Herr Dechant ...«

Herr van Egern hielt ihm die Hand hin: »Kommen Sie. Kommen Sie dicht an meine Seite, Herr Pulcher. Und dann: seien Sie gefaßt, sprechen Sie vernünftig ...«

»Vernünftig, Herr Dechant ...?!«

Bis jetzt hatte der Alte sich selbst in Zaum und Zügel gehalten. Nun ließ er die Kandare schießen. Er hielt es nicht mehr aus. Wie ein unnützes Möbel warf er seine angequälte Ruhe beiseite. Was sollte sie auch? Er hatte nichts mehr mit dieser Ruhe zu schaffen. Sie war ihm nur eine erbärmliche Maske gewesen, nichts weiter.

Er schüttelte sich.

Mit einem jähen Ruck zerrte er die Maske herunter ...

»Gottverdammich, Herr Dechant ...!«

Mit dem Rücken der linken Hand wischte er sich den rinnenden Blutstropfen von den Lippen. Alles drehte sich um ihn. Die Füße versagten. Er griff ins Leere, ins Nichts. Mit einem abgehackten Laut brach er auf einem Sessel zusammen.

Sein Kopf sank nach vorne.

Ein neuer Fluch saß ihm zwischen den Zähnen.

»Aber, Herr Pulcher ...!«

»Herr Dechant, ich kann ja nicht anders ... mein Weib, meine gemordete Ehe ...! – Da liegen sie im Straßengraben ... der Kopf ist ihnen zertreten ... der Tod ist hinter mir her ... hier, lesen Sie selber, Herr Dechant ...!«

Er drückte ihm das geglättete Papier in die Hand.

»Haben Sie doch Erbarmen mit mir! Das müssen Sie lesen, Herr Dechant. Wort für Wort und Zeile für Zeile. Und dann werden Sie sagen: Sterben ist hart, aber so was, das ist ein zehnfaches Sterben.«

Mit einem dumpfen Murmeln brach er ab. Stieren Auges sah er jetzt in das Gesicht des stillen Mannes, der mit zitterigen Fingern den Brief auseinander faltete und hierauf zu lesen begann, erst flüchtig, dann nachhaltig und mit heimlichem Grausen.

Bange, endlose Minuten vergingen. Sie hatten es nicht eilig. Sie taten so, als müßten sie einem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen. Es waren bange, lange Minuten wie im Angesicht von Leben und Sterben.

Endlich ließ der geistliche Herr das Schreiben herunter und legte die frommen Hände darüber, als müsse er das furchtbare Geheimnis verdecken, als wäre es hierdurch getilgt aus dem Gedächtnis der Wissenden.

Sein Antlitz war um einen Schein fahler geworden. Liebevoll und versöhnend ruhten dabei seine Blicke auf Pitt Pulcher, dessen Lippen sich krampfhaft bewegten und leise zu sprechen begannen: »Herr Dechant, sie ist meine Krone gewesen, mein Pflänzchen, das ich mit eigenen Händen eingrub in das verschwiegene Erdreich meines eigenen Gartens. Ich sah, wie es aufwuchs und freute mich, wie es gedieh – und Zweiglein trieb – und Blüten ansetzte. – Ich sah, wie der Regen ihm wohltat, wie der Sonnenschein ihm lächelte ... Und wenn der Winter kam – ich grub es aus und brachte es hinter die warmen Scheiben des Zimmers und war glücklich, wenn es auch hier seine Genüge hatte ... Und nu kommt da auf einmal so'n Mensch und verwüstet das alles. – Herr Dechant« – und die Stimme des Alten geriet wieder ins Wachsen – »hier ist heiliger Boden, und der Ort, wo Sie sitzen, ist heilig ... Herr Dechant, ich will wie ein Tier in der Tretmühle gehn, wie'n armseliger Schlackensammler bei den Hochöfen mein Brot verdienen ... Herr Dechant, Mutter ist tot. Sie kann nicht mehr sprechen. Aber ich kann noch sprechen. – Um Jesu Christi willen! – ich will alles von mir tun, was mir bislang das Höchste gewesen auf Erden: das Andenken an Kaspar Christian Pulcher, an die große Zeit der kölnischen Weber, mag darüber auch Anne-Susanne zerspringen – nur sagen sollen Sie mir hier auf heiliger Stätte: Es ist alles nicht wahr, dein Weib hat im Irrsinn geredet, dein Weib ist schuldlos geblieben ... Sonst, Herr Dechant: lassen Sie mich in ein Narrenhaus stecken – mir reißt das Herz auseinander – ich ersticke im Elend ...!«

Der starke Mann lallte, und der eisgraue Kopf sank ihm immer tiefer und tiefer, bis er die Knie berührte.

»Ich ersticke im Elend ...!«

»Herr Pulcher ...!«

Liebevoll beugte sich Herr Heinrich van Egern zu ihm. Tränen liefen ihm über die Wangen. Tränen waren in seiner Stimme, als er sagte: »Herr Pulcher, geben Sie mir Ihre Hand und seien Sie nicht ganz so verzweifelt. Ich verstehe Sie, ich weiß, was mit Keulenschlägen über Sie herfällt. Ich fühle mich eins mit Ihnen, Herr Pulcher, denn auch meine Seele ist wie ein Schiff in schwerer Seenot. Mir ist so, als würde auch mir ein fernes Sterbeglöckchen geläutet. Ich möchte Ihr armes Herz in beide Hände nehmen und es dem Herrn zeigen und sagen: Lieber Gott, sei barmherzig und rede ihm zu und sei ihm ein gütiger Mittler und Tröster. – Aber eins dürfen wir nicht vergessen, Herr Pulcher. Das nackte Leben sieht uns mit unerbittlichen Augen an. Wer sich nicht selber zu helfen vermag, der wird vom Leben zertreten. Und daher frage ich Sie: Was nun? Was gedenken Sie zu tun, um Herr über das harte Leid zu werden? Ich meine, Herr Pulcher ...«

Er schluckte die letzten Worte herunter.

Langsam hob sich die gemarterte Stirn von den Knien.

Der Alte sah ihn verweht und mit toten Blicken an.

»Was ich zu tun gedenke, Herr Dechant ...?!«

Mit einem Satz fuhr er auf.

Die geballte Hand fiel schwer auf den Tisch, daß die Schriften und Bücher hochsprangen und die leise singende Lampe ins Schwanken geriet.

»Herr Dechant ...!« und seine Stimme ächzte wie eine Eiche im Sturm. Er hatte sich wieder. Alles Wehleidige fiel von ihm. Er war wieder der Alte von früher, der Alte mit dem kantigen Stolz unter dem Rock und mit dem Pulcherschen Blut in den Adern – der zielbewußte Nachfahre des Weberkönigs von Köln.

»Ja, Herr Dechant, an den Hals will ich ihm. Hier unter diesen zwei Fäusten soll er verquiemen, und es soll mir ein besonderes Pläsier sein, ihn röcheln zu hören, bis alles vorbei ist.– Ich will's in die Welt hinausschreien: Entweder er oder ich! Einer von uns beiden hat an den lieben Herrgott zu glauben.«

»Das werden Sie nicht tun.«

»Herr Dechant ...!«

»Nein, das werden Sie nicht tun. Sie werden vergeben, Sie werden nicht abweichen wollen von den Geboten und den Heilswahrheiten unserer christlichen Kirche.«

Auch in den Blicken des geistlichen Herrn drohte es leise.

»Sie werden sich gefügig zeigen den Worten, die ein Mann zu Ihnen redet, der es sich angelegen sein läßt, Sie vor dem Schlimmsten und vor sich selber zu retten.«

»Herr Dechant, wo mir das alles passiert ist ...?!«

»Ja, wo Ihnen das alles passiert ist.«

»Mir sind ja die Sehnen durchschnitten ... mir ist ja der Verstand aus allen Fugen geraten ... Mein Gott und mein Heiland ...!«

Der alte Mann schluchzte auf und schlug die Hände vor das arme Gesicht.

»Und trotzdem, Herr Pulcher ... Sie haben ja selber gesagt: Diese Stätte ist heilig. Gut – sie ist heilig! Drum, Geliebter in Christo« – und er nahm das vertrauliche ›Du‹ in seine Arme, um besser und eindringlicher sprechen zu können – »vernehmen sollst du mich an dieser Stätte, und folgen sollst du meinen Worten, denn sie sind Kostgänger eines wahren und aufrichtigen Herzens – sonst: meine Augen haben nichts gesehn und meine Ohren nichts gehört. Ich tilge diese Stunde aus meinem Gedächtnis. Sie ist gestorben für mich.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne, und seine Gedanken gingen über stille Weiten, um schließlich über blumige Wiesen zu schreiten. Ihm war so, als würde eine ferne Abendglocke geläutet.

»Ich kann nicht aufstehn,« sagte er schließlich, »sonst würde ich dich an meine Brust ziehn, damit du hörst, was hier drinnen sinnt und denkt und feiertägig ist in dieser schweren Stunde. Pitt Pulcher, meine Tage sind gezählt; ich stehe an der Pforte der Ewigkeit. Jeden Augenblick kann der Herr mich rufen. Jeden Augenblick kann er mich um meine Taten, um meine Worte und Gedanken befragen. Sei gewiß: ich denke daran. Das will mein Gewissen – und darum weiß ich, was ich dir gebe. Pitt Pulcher, ich sage dir: Störe nicht die Ruhe der Toten. Entweihe nicht ihr Andenken. Laß deine Linke nicht wissen, was die Rechte tut. Gewiß: alles auf dieser Erde drängt nach Vergeltung und Ausgleich, die Welt sucht Rache, aber auch alles auf dieser Erde lebt nicht ewig und immer. Auch der tiefste Schmerz lebt nicht ewig. Ihm sind Grenzen gegeben. Zwanzig Jahre hat sie gebüßt und gelitten, zwanzig furchtbare Jahre. Zwanzig furchtbare Jahre hindurch hat sie geschwiegen, um zu retten, was noch zu retten war – um das äußere Glück der Familie nicht auseinanderzureißen. Drum schweige auch du ...«

»Auch jetzt noch, Herr Dechant, wo sie das alles niedergelegt hat, mit ihrem eigenen Wollen ...?!«

»Ja – auch jetzt noch, denn sie ist es ihrer armen Seele schuldig gewesen.«

»Ihrer Seele schuldig gewesen ...« wiederholte der Alte und schüttelte den Kopf und ließ sich abermals in den Sessel zurückfallen, »ja, ihrer Seele schuldig gewesen ...«

Er begriff das alles nicht ... aber die gütige Rede des geistlichen Herrn begriff er. Fest und zuversichtlich drang sie ihm zu, und da legte er seine Zerrüttung ab und sprach durch die ernste, feierliche Stille: »Ja, Herr Dechant, alles was Sie da sagten, das wird seine Richtigkeit haben, das ist ja so hoch und hehr wie der Leib unseres Herrn. Herr Dechant, aber mein Weib ... das Angedenken an sie ... wie soll ich das nehmen? Wie soll ich das herrichten, um mit Freuden an die Verstorbene denken zu können und ihr wieder meine alte Liebe zu geben ...? Wie soll ich das machen, Herr Dechant ...?«

»Da hinein ...« sagte Heinrich van Egern, und seine Rechte wies auf das helle Feuer, das im Ofen knisterte. »Hier mit diesem Bekenntnis ins Feuer. Deine Ohren waren taub, deine Augen waren blind. Aus der Asche wird sich das Andenken der Verstorbenen wieder erheben, denn der Herr hat alle Sünde von ihr genommen. Sie ist bei ihm und im Himmel.«

Und da wurde Pitt Pulcher wie ein gefügiges Kind. Er nahm das Schriftstück und übergab es den Flammen. Und wie ein gefügiges Kind schluchzte er auf und kniete nieder und legte das Haupt in den Schoß des stillen Mannes.

Und der Brief flackerte auf und zerging und wurde zu Asche.

»Und nun, Pitt Pulcher,« sagte der Dechant, und er beugte sich vor und glitt mit lieben Händen über den Scheitel des vor ihm Knienden, »schweige, wie die verbrannten Worte jetzt schweigen. Was würde reden auch helfen? Es wäre vom Übel. Und daher nimm das Kreuz auf und wandle. Nimm es auf um deiner Tochter willen – um deines Sohnes willen, der nicht dein Sohn ist – nimm es auf um deinetwillen – um der Ärmsten willen im Grabe.«

»Ja, Herr Dechant, ich nehme das Kreuz auf. Ich tu ja alles, ich will ja alles, aber« – und noch einmal flammte der geknebelte Haß auf – »der Todbringer, der infame Mensch, der Würger meiner Ehre – der muß von seinem Thron herunter ...«

Gierig fragend blickte das Auge Pitt Pulchers in das des Geistlichen: »Der muß von seinem Thron herunter, Herr Dechant.«

»Nein, auch das nicht,« kam es bestimmt und ehrlich zurück. »Darüber wird ein anderer entscheiden und richten. Für uns ist auch dieses tot, und alles, was tot ist, soll ruhen. Dir aber zum Trost: Was auf Erden durchlebt und durchlitten wurde, findet dort oben die Krone des Lebens. Auch dir wird die Krone des Lebens werden, und das ewige Licht wird dir leuchten wie die Sonne aus ihrer Scheitelhöhe herunter.«

»Hierzu kann ich nur weinen und Amen sagen, Herr Dechant.«

Er küßte die weißen Hände des Geistlichen und weinte bitterlich. –

Keiner sprach mehr. Nur der kleine Andreasberger, der während all der Zeit geschwiegen hatte, begann leise zu singen.

Alles war dunkel und unsichtbar für Pitt Pulcher geworden.

Er kniete noch immer.

Er hatte mit seinem Weibe zu sprechen, und während er mit ihm redete, drückte er die Fäuste gegen seine Augäpfel, daß diese brannten und schließlich in purpurroter Lohe standen. Es war ein furchtbares Feuer. Dann nahm es an Heftigkeit ab. Es wurde zarter und reiner. Es verlor seine düsterrote Purpurfarbe. Es rückte von ihm. Es brannte nicht mehr in seinen Augäpfeln. Es glänzte wie die ewige Lampe am Altare des Herrn.

Er fühlte keinen Schmerz mehr.

Alles war von ihm genommen.

Auch von seinem Weibe?

Ja, auch von seinem Weibe.

Da nahm er die Verstorbene bei der Hand und ging dem Altare des Herrn entgegen.

 


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