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Während sich das Trauerspiel im Pulcherschen Hause abspielte, hatte Hermann Verheyen die Hanselaererstraße erreicht. Er wollte zur Mühle.
Er ging wie im Traume, wie vor den Kopf geschlagen. Er taumelte durch Glück und Unglück; er ging durch einen endlosen Sumpf, und dennoch blühten köstliche Blumen um ihn, wie sie sonst nur auf weiten, lachenden, sonnigen Wiesen gedeihen. Er hatte nichts in Händen; trotzdem schwelgte er in einer Überfülle des Reichtums. Aber er konnte sich dieser Überfülle nicht lange erfreuen. Sie zerrann ihm zwischen den Fingern wie rieselnder Sand, und je fester und energischer er zupackte, um so flüchtiger und rascher wurden die einzelnen Körner, und dennoch: die Kraft war in ihm, alles über den Haufen zu rennen, was Miene machte, sich ihm entgegenzustellen. Er sah bedrohliche Zeichen. Sie deuteten auf Sturm. Gut, mochte er kommen. Sturm wollte er haben. Der kam ihm zupaß. Der blies wenigstens die morschen Äste zu Boden. Also Sturm ... Sturm ... Sturm ...! – als er plötzlich aus seinen Gedanken aufgeschreckt wurde.
»Tag, Hermann. Machst du auch schon nach Hause?«
Richtig! – da war ja Thyß Jansen. Breitbeinig stand er vor dem Kunsttempel seines prächtigen Vaters.
Trotz der vorgerückten Stunde rauchte er noch seinen Glimmstengel.
»Du mußt mir exküsieren,« mit diesen Worten trat er an die Seite seines Freundes, »daß ich dir vorhin, ich meine, als du dir bei der Tanzerei einen anderen Lebensstandpunkt zurechtgelegt hast, nicht mit die richtigen Worte aufwarten konnte. Hermann, meinen gehorsamsten Ausdruck. Du hast dir ausnehmend im ›Blauen Anker‹ benommen. Desgleichen deine wiedererrungene Brautschaft. Auch hierfür meinen gehorsamsten Ausdruck. Wie? – oder stimmt's nicht?! – Du siehst so benaulich ins Wetter.«
»Nein, Thyß, es stimmt nicht.«
»Wieso nicht?«
»Der Alte ...«
»Kann's mir denken. Aber der deine erst ... der ist kumpabel, dir bei lebendigem Leibe den Bregen auseinanderzuhauen. Deshalb meine ich, Hermann: bleibe bei uns, wenigstens so lange, bis sich das Wetter ein bißchen abgeflaut hat. Vater und Mutter werden sich freuen, so 'nem noblen Gast 'ne Bettstelle anpräsentieren zu können.«
»Ich danke dir vielmals, aber es geht nicht.«
»Aber ich bitte dir, Hermann ...!«
»Ich muß schon nach Hause.«
»Unter keiner Bedingung,« und Thyß Jansen drehte sein rotes Schnurrbärtchen aufwärts. »Im Angedenken an unsere forsche militärische Dienstzeit muß ich dir sagen: 'nem krepierenden Geschoß gegenüber bist du bekanntermaßen so 'ne Art von Geisterbeschwörer gewesen, aber gegen 'nen leibhaftigen Vater, der fuchsteufelswild nach Hause gerannt ist und allens totschießen wollte, was so unbewußt war, ihm in den Weg zu laufen, gegen den kannst du selbst mit deinem auserwählten Heldentum nicht dickfellig werden, denn er ist immerst dein leibhaftiger und eingeborener Vater.«
»Schon richtig!« ließ sich in diesem Augenblick eine freundliche, aber etwas vom Schnaps angekränkelte Stimme vernehmen. »Bitte, angtree! Kommt Zeit, kommt Rat. Wir können die Sache wenigstens bereden. Es ist für uns 'ne auserwählte Ehre, und was wichtiger ist, wir freuen uns, dir aus der Predullig zu helfen.«
»Also, Hermann, ich bitte dir,« pflichtete Thyß seinem Vater bei, »sonst passiert noch ein Unglück,« und da ging das nicht anders: vom ›Hobel le Beau‹ und Thyß geleitet, trat Hermann in den gastlichen Hausflur, wurde von Frau Jansen herzlichst empfangen und saß alsbald zwischen den ehrlichen und guten Leuten, die alles aufboten, seine jetzige Lage so erträglich wie möglich zu machen.
Hier fand er, was er daheim von Jugend an entbehrt hatte. Hier saß die Behaglichkeit auf dem ripsenen Sofa und hörte auf das leise Plaudern des Kaffeetopfes, der nebenan in der Küche vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Ofenröhre sein beschauliches Dasein führte. Schilderungen aus dem Leben der Heiligen und Bilder vom Düppeler Sturm hingen einträchtiglich unter dem Porträt des gefeierten Räuberhauptmanns Brinkhoff aus Alpen, dem die leichte Hand des Lithographen die damals vielgesungenen Verse beigegeben hatte:
»Brinkhoff war in jungen Jahren
Schon ein rechter Tunichtgut,
Drum auch hat er schwer erfahren,
Was das Räuberleben tut.
Rüben stahl er auf den Feldern
Und was sonst der Acker bot;
Später, in den düstern Wäldern,
Schrie er: Geld her oder tot!
In dem Schmuck des roten Hutes,
In der Hand das Mordgewehr,
Also schritt er hohen Mutes
Wie ein Edelmann daher.
Furchtbar waren seine Triebe,
Stahl dem Nächsten Schwein und Haus,
Und dem Mädchen seine Liebe
Nahm er aus der Brust heraus.
Seine Liebste, Henriette,
Stolz am Leib und höchst scharmant,
Teilte mit ihm Raub und Bette
Und den heil'gen Ehestand.
Was des Bauern, war sein eigen,
Was des Kaufmanns, war sein Teil,
Bis zuletzt mit ernstem Schweigen
Sprach das fürchterliche Beil.
Trommeln gingen durch die Gassen,
Als zum Sterben er bereit;
Ach, zu Kleve mußt' er lassen
Räuberleben, Lust und Leid.
Und ein silberweißer Täuber
Flog vom Richtplatz alsogleich:
Brinkhoff, Brinkhoff, edler Räuber,
Jetzt bist du im Himmelreich!«
Mit einem wehmütigen Lächeln glitt Hermann Verheyen über den gefeierten Mann und die rührenden Verse, und es kam ihm eine geraume Zeitlang vor, als wären die glückseligen Tage der Jugend wieder an seine Seite getreten. Als Spielgefährte seines Freundes Thyß Jansen hatte er öfters zwischen diesen vier Pfählen, auf dem Bretterboden und unter den Hobelspänen Räuber und Schandarm gespielt, hatte sich öfters von Mutter Jansen Geschichten erzählen lassen, alte Geschichten, die mit einem Auge lachten und mit dem andern eine Träne zerdrückten, während die altmodische Standuhr aus der Nebenstube herübertickte und -tackte und die Flamme im Lampenzylinder geheimnisvoll musizierte, genau so, wie die Heimchen es tun, wenn sie an warmen Spätsommertagen vor ihren engen Röhren hocken und das weite Stoppelfeld und die untergehende Sonne angeigen. Auch heute musizierte die Lampe, leise, ganz leise, kaum hörbar, während Mutter Jansen ihre ganze Beredsamkeit aufwandte, stumme Saiten wieder ins Tönen zu bringen. Und freundlich erklangen sie; erst verhalten und schüchtern, dann lauter und sich fröhlicher gebend, bis die zuletzt durchlebten und durchkosteten Stunden sich wieder vordrängten und die Jugenderinnerungen mit brutaler Hand beiseite schoben.
Hermann Verheyen erhob sich.
»Was soll's denn?« fragte der ›Hobel le Beau‹.
»Ich muß jetzt nach Hause.«
»Gibt's nicht,« erklärte der Alte und machte den Hals lang. »Das wäre Propter und Prätorius noch schöner! Setze mir nackig in Indigo, das will mein Honnör nicht, vornehmlich jetzt nicht, wo der Deibel jetzt los ist, wo Franz Seegers ihm mit gehörigen Torfstücken und Lohkuchen einkachelt und dein eingeborener Vater mit Pitt Pulcher 'ne tolle Geschichte gehabt hat.«
Hermann Verheyen fuhr zusammen.
»Wo denn gehabt hat?« fragte er hastig.
»Aber ich bitte dir, Hermann! – im ›Blauen Anker‹ natürlich.«
»Was ist denn im ›Anker‹ passiert?«
»Herrjeses! – hat der Alte, ich meine, mit Respekt zu vermelden, Herr Pulcher, davon kein Wort nicht geredet?«
»Keine Sterbenssilbe hat er gesprochen.«
»Aberst, Hermann, ich bitte dir nochmals! – Da liegt ja das ganze Karnickel begraben ... da muß ich ja als Mitkomparent und Adjutant der Schützengesellschaft in die Verlängerung springen, um dir das Malör vor Augen zu halten. Die Geschichte war also ...«
Und nun erzählte er die bitter durchlebten Stunden und die verhängnisvollen Augenblicke haarklein und mit allen Nebenumständen herunter. Er begann mit der Gründung der Gesellschaft, die mehrere Jahrhunderte zurücklag, erwog das Für und Wider der einzelnen Prätendenten, legte die Satzung des längeren auseinander und gab eine lebhafte Schilderung des Ablebens des letzten Hauptmanns Quirinus vom Oort, der wie ein Held gestorben und mit Recht den Namen ›Vater des Vaterlandes‹ verdient habe. Dabei stand er stramm, salutierte militärisch und ließ auf seiner Empfindungsharfe etliche Mollakkorde erklingen. Hierauf ging er auf den tragischen Hergang der eigentlichen Verhandlung über, schätzte die Anzahl der kurz vor der Abstimmung ausgetrunkenen Flaschen, geriet immer mehr in Feuer und Fett, bis er schließlich vom Kopf bis zu den Füßen in Brunst und Qualm stand und in die Worte ausbrach: »Hermann, und so ist es denn schließlich zu einem miserabelen Ende gekommen, daß es einen Hund jammern tun könnte. Allens verbiestert und auseinandergerissen und so Propter und Prätorius auf den ausgeleierten Holzpfad gekommen. Hermann« – und der ›Hobel le Beau‹ hob beschwörend die Schellackfinger in die Höhe – »Hermann, du mit deinem artolleristischen Heldentum und der königlichen preußischen Rettungsmedaille über dem Busen, du kannst schon 'ne Portion richtige Wahrheit vertragen. Hermann, ich verdeffendiere Pitt Pulcher in keiner Beziehung, denn Pitt Pulcher ist ein Mann mit 'nem hitzigen Einschlag, ähnlich so, wie die Deckbullen von Franz Seegers es in der Gewohnheit besitzen ... Hermann, ich will Pitt Pulcher gar nicht besonders in den Himmel erheben, denn er hat menschliche Untugenden, wie wir sie alle benötigen, aberst im vorliegenden Kasus, in Sachen der Sankt Sebastianusschützenbrudergesellschaft ... Hermann, um 'nen richtigen Dreh zu kriegen und die Wahrheit nicht in den Leimpott zu setzten: Pitt Pulcher hat recht, denn dein eingeborener Vater hat übernatürliche Wörter und Redensarten gebraucht, hat ihm im Bildnis das Hemd vom Leibe gehobelt und ihn mit 'nem blanken Genickfänger abstechen wollen. Da aberst Pitt Pulcher ...! – mit 'nem beschriebenen Zettel – was drauf stand, hat keiner nicht in Erfahrung bekommen – ist er ihm unter die Augen gegangen ... und da ist dein Herr Vater weiß wie'n Zuckerbäcker geworden, hat zu allen Heiligen geschworen und ist dann spurlos verschwunden, wahrscheinlich nach Haus zu ... Und darum ist meine bedeutsame Meinung: Hermann, geh nicht in die Wohnung des angeschossenen Löwen; es könnte eine Tränenkomödie sich daraus begeben, vornehmlich in diesem Momang, wo du Thres Seegers aufgesagt hast, um deine einstige Liebe wieder auf die richtige Werkbank zu legen. So, Hermann, das wäre alles, was ich dir als christkatholischer Bürger, als ehrsamer Familienvater und als Freund der Pulcherschen und Verheyenschen Häuser zu sagen hätte. Amen.«
Mit einem tiefen Seufzer brach er ab, wischte sich über die Augen und setzte sich wieder.
Mutter Jansen hatte mit klopfendem Herzen zugehört.
Ihr war ganz wirbelsinnig zumute.
»Mein Gott und mein Heiland,« sagte sie still vor sich hin und legte schmerzlich die Hände zusammen.
Hermann Verheyen stierte ins Leere, in das grelle Licht der singenden Lampe, und dennoch war es dunkel um ihn, so dunkel, als hätte er in einer dämmerigen Kirche gestanden. Dann hob er die Hand bis zur Schläfe, um sie wieder fallen Zu lassen. Er wußte kaum noch, daß er im Begriff war, ein böses Erinnern von der Stirne zu wischen.
»Auch das noch,« mahlte er zwischen den Zähnen. »Das fehlte noch gerade.«
Dores suchte abzulenken.
»Hermann,« sagte er zuversichtlich, »ein Mann wie du muß den sogenannten Kopf oben behalten, sonst kommt er Propter und Prätorius immerst tiefer in die schwere Predullig. Hermann, allens auf dieser Welt ist wie Selterswasser. Erst sprudelt das hoch und tut gefährlich in mächtigen Blasen; denn es will seine kolossale Betätigung haben. Dann wird es pö a pö weniger und hört zuletzt ganz auf. Drum, Hermann, warte ab, was kommt. Bis dahin betrachte uns als dein nobles Logierhaus; denn nobel sind wir Jansens immer gewesen. Selbstverständlich allens für gratis.«
Da lächelte Hermann Verheyen still vor sich hin.
»Unter diesen Umständen ...« meinte er schließlich. Er wandte sich an die ruhig dasitzende Frau: »Wenn ich denn nicht ungelegen bin und für einige Tage hierbleiben kann ...«
»Ach, Hermann ...!« nickte das gutmütige Weibchen und wischte sich über die Augen, »das wäre für uns doch so 'ne schöne Bekömmnis ...«
»Soll ein Wort sein,« bekräftigte Thyß.
»Eingeschlagen!« pflichtete der Alte bei, »und zur Feier des Tages stifte ich so Propter und Prätorius drei Runden Bayrisch ...« und obgleich Hermann Einwendungen machte – der ›Hobel le Beau‹ wollte unter jeder Bedingung seine kleine Festivität haben, während Thyß mit einem drei Liter haltenden Steinkrug in die gegenüberliegende Wirtschaft sprang, mit gestrichenem Maß wieder zurückkam, die inzwischen von Mutter Jansen herbeigeholten Gläser vollschenkte und dabei die niedergebrannte Zigarre wie eine glimmende Pflaume in der rechten Mundecke auf und nieder wippen ließ.
Jetzt warf er den Zigarrenstummel beiseite.
Er ergriff sein Glas: »Hermann, prosit! Hermann, auf das, was wir lieben!« Fest klingten die Gläser gegeneinander.
»Und dann, Hermann ...«
Thyß reckte sich auf: »Dir zu Ehren singe ich das Lied von die ›Zweierlei Tücher‹, auf daß wir uns wieder in unsere schönen artolleristischen Lebenszeiten versenken tun können.«
»Bravo!« stimmte ihm der ›Hobel le Beau‹ zu, der mit blankgeputzten Augen dasaß und mit schon etwas steifen Fingern einen lustigen Marsch auf die Tischplatte trommelte.
»Nur um dir in 'ne gehobene Stimmung zu setzen,« ergänzte Thyß und legte dabei das semmelblonde Gesicht mit dem fuchsigen Schnurrbärtchen in behagliche Falten. Dann hub er an:
»Zweierlei Tücher,
Schnurrbart und Sterne
Lieben die Mädchen
Alle so gerne.
Warum?
Ei dar – um ...«
Der Alte sang mit, aber so kräftig und nachhaltig, daß davon die Fensterscheiben in ein gelindes Zittern gerieten. Hierauf wollte er auch seinerseits ein Lied aus seiner militärischen Dienstzeit vorbringen, kam aber nicht dazu, weil Thyß ihm einen vielsagenden Blick zuwarf, ans Glas klopfte und zu verstehen gab, daß er gewillt sei, noch eine kleine Festrede zu halten.
»Man los, man los!« freute sich Dores. »Ich stehe in Bewunderung vor dir. Mutter, wer das früher gewußt hätte!«
»Aber seine Briefe ...!« meinte Frau Jansen.
»Allerdings, nach die zu urteilen ...«
Aber Thyß setzte schon ein: »Artolleristischer Mitkollege, treuer Freund und Waffengefährte! – Hermann, pflichtschuldigst habe ich mir erhoben, um dir in Feier und Betrachtung zu nehmen. Hermann, du mußt mir das Zeugnis ausstellen, daß ich immer die mütterlichen Schlackwürste ehrlich mit dir in Teilung bezogen habe, von die Speckseiten will ich heute gar nicht mal reden. Dafür bist du mir aber immer ein bekömmlicher Gefreiter und Obergefreiter gewesen. Hermann, wir alle, die wir zu die schwarzen Kragens gehören, haben dich immerst in richtiger Achtung behalten, besonders jetzt, wo du dem fetten und übernäsigen Niederungsbauern die ›Seine‹ kaltgestellt hast, um wieder auf den richtigen Turnus und deine mit Tränen begossene Liebste zu kommen. Hermann, das ist 'ne kapitalinische Großtat und für uns alle die allerschönste Kirmesfreude gewesen. Nein, Hermann, von die Speckseiten will ich heute gar nicht mal reden, denn die Zeit ist für dich mit dunklen Wolkengardinen umhangen, obgleich eine liebreiche Sonne immer forscher und schöner hindurchkuckt. Hermann, die näheren Umstände sind dir zwar noch immer konträrig, obgleich sie sich schon in einem besseren Umschwung befinden. Sollten sie aber noch konträriger werden, dann bin ich der Meinung: du läßt unsern Herrn Hauptmann Liese mal kommen. Wenn der so in voller Montur und mit der schweren Artollerie anrücken täte, dann würden der alte Herr Pulcher und dein eingeborener Vater und die anderen alle wohl Moritzen lernen. Und darum, Hermann, und zwar in Anbetracht unserer militärischen Dienstzeit: unser allverehrter, gehorsamster und mit allen Honnörs ausgezeichneter Herr Hauptmann Liese, der sich immer nobel benommen und kumpabel ist, ohne abzusetzen und in einem Schluck 'ne Bouteille alle zu machen – Hermann, in diesem Sinne: unser ›Lieschen‹ soll leben.«
Und ein kräftiges »Hoch!« ging dreimal und unter hellem Gläserklingen durch die freundliche Stube; nur der ›Hobel le Beau‹ kam mit seinem ›Hoch‹ so recht nicht in die richtige Stimmung. Er war wie abwesend und hatte abgestandenen Leim an den Füßen.
»Was denn los?« fragte Thyß, stellte sein Glas auf die Tischplatte und musterte den Alten scharf von der Seite.
Auch Frau Jansen sah ängstlich herüber. Mit spitzen Fingern fuhr sie über ihre glattgescheitelten Haare: »Dores, so sprich doch.«
Aber Dores saß wie versteinert, hatte den Oberkörper vorgebeugt und horchte nach der anliegenden Stube.
Seine Augen, die sonst kregel und etwas eingezogen unter den Brauen lagen, vergrößerten sich, nahmen einen eigentümlichen Glanz an und sahen aus wie durchsichtige, hellblaue Scheiben.
»Dores, so sprich doch endlich,« drängte Frau Jansen. »Wir sind doch gerade in 'ne fidele Stimmung geraten, und nu sitzt du da, als wolltest du 'nen Trauerkranz machen.«
»Je, Mutter, das verfluchte Gepinke!«
»Wo pinkert's denn?«
»Mutter, hierneben.«
»Dummes Zeug!« konstatierte die Frau und versuchte, sich unbefangen zu geben. »Das ist der Perpendikel. Der hält Kirmes im Uhrkasten.«
»Nee, Mutter, der macht keine Kirmes.«
»Auch gut – aber dann sag's gerade heraus, was da so pinkert.«
Die hellblauen, durchsichtigen Scheiben wurden noch größer.
»Mutter, der veritable Holzwurm ...«
»Um Gott nicht!« sagte Frau Jansen und machte das Zeichen des heiligen Kreuzes.
»Schön,« meinte Thyß, »dann blüht das Geschäft ja.«
»Schon möglich,« versetzte Dores, »aber in 'ner verkehrten Richtung. Da wieder ...«
Jetzt hörten es alle.
Deutlich und mit scharfer Betonung ließen sich die geheimnisvollen Klänge vernehmen. Erst langsam und gemessen; dann schneller, um endlich in das Geräusch von feinen, winzigen Trommelwirbeln überzugehen.
Thyß trat an den Alten heran und beugte sich zu ihm.
»In welcher Richtung denn?« fragte er leise.
Dores schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Wir können die Bretter in Bearbeitung nehmen,« gab er als Antwort zurück.
»Was für Bretter?«
»Na, die von die Fichte, die wir im verflossenen Winter umgelegt haben.«
Da lief es Thyß kalt über den Rücken.
»Du meinst also ...?«
»Ja,« sagte der Alte. »Der kommt jetzt an die Reihe.«
»Was habt ihr nur?« fragte Frau Jansen. »Man kriegt ja zuviel bei das heimliche Reden. Statt Hermann ein bißchen aufzumuntern, steckt ihr die Köpfe zusammen und erzählt dumme Geschichten.«
»Was, Mutter, dumme Geschichten ...?! – Wo mir die Angst die Kehle abstößt, da redest du von dummen Geschichten ...?!«
Mit einem energischen Ruck fuhr er auf: »Mutter ...!«
Er sprach nicht weiter.
Irgendeiner klopfte gegen die Scheiben.
Frau Jansen drehte entsetzt das Gesicht in den Nacken.
Dores trat ans Fenster und öffnete.
»Was gibt's denn?«
Der Küster, Herr Roloffs, stand draußen.
Ein Duft nach Wachs und Weihrauch quirlte ins Zimmer.
»Ist vielleicht Herr Hermann Verheyen bei Ihnen?« fragte er salbungsvoll.
Er trug den Hut in der Hand und kämmte sich mit der Rechten die Sardellenstreifen über den Scheitel.
»Hier!« sagte Hermann Verheyen.
»Wir waren bereits bei Ihrem Vater und möchten uns submissest erlauben ...«
»Was bringt Ihr denn, Roloffs?«
»Herr Pitt Pulcher hat eine Überfahrung bekommen. Das Blut ist ihm stehn geblieben, und die Tochter verlangt nach Ihnen ...«
»Mein Gott!« stöhnte der junge Verheyen, nahm kurzen Abschied und ging mit dem Küster dem nahen Sterbehaus zu.
Dumpfes Schweigen folgte ihnen.
Alle sahen sich bekümmert an.
Dores faßte sich zuerst.
Etwas Wehes lag in ihm, zugleich aber auch das Bewußtsein seines hohen Prophetentums.
»Na, Mutter,« fragte er mit einer gewissen tragischen Pose, »wie steh' ich nu da? Setze mir nackig in Indigo, so habe ich doch meine sonnenbuhlerischen Gefühle und Eingebungen.«
Frau Jansen sah in schmerzlicher Bewunderung zu ihm auf und nickte stumm vor sich hin.
»Aberst, Mutter, damit kein weiteres Malör kommt,« setzte er begütigend hinzu, »will ich man Herrn Pulcher seine fichtenen Bretters besprechen. Es ist zwar gegen meinen reellen Profit, aberst man muß doch auch die christliche Nächstenliebe etwas in Berücksichtigung nehmen.«
Damit ging er zur Werkstätte und kletterte von hier auf den Hängeboden, wo die harzigen Borten zum Trocknen standen.
Er fand sie im Dunklen.
Mit lautem Knöchel pochte er gegen die Bretter.
»Daß ich's man sage,« meinte er nach tiefem Atemholen, »ihr werdet morgen in Bearbeitung genommen. Die Sache ist fällig. Der liebe Gott tut es nicht anders; aberst erzählt es euren Mitkollegen nicht weiter. Amen.«
Hierauf trat er den Rückweg an, ganz auseinander und von tiefster Trauer gerüttelt, blieb aber an der Hobelbank stehen und sagte: »Was ist das menschliche Leben? Vierzig Jahre, auch fünfzig, auch siebzig und dann und wann ein kleines Pläsierchen. Aberst Bier tut es allein nicht; in gewissen Fällen muß einer Propter und Prätorius noch was anderes haben.«
Damit langte er in die Werklade, zog unter krausen Spänen sein Fläschchen hervor und gluckste.
»Prosit!«
Dann ging er zu Muttern. –
* * *
Um dieselbe Stunde, also um die Zeit, wo das Totenührchen im Holz klopfte und Dores Jansen die Sargbretter beruhigte, ratterte Franz Seegers mit seinem Chaischen dem friedlichen Gutshof zu.
Mit seiner Tochter kam er direkt aus dem ›Blauen Anker‹.
Das war kein Fahren!
Das Durchlebte und der reichlich genossene Sitzungswein wühlten ihm noch in den Knochen.
Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinein.
Mit rotem Gesicht, die Mütze schief auf dem Kopf, Haß und Gift und Galle unter dem Leinewandkittel, so war er über die Landstraße kariolt, über die Seitenwege, über die Deiche, hatte mit waghalsigem Drauf und Dran die Ecken genommen, daß die Räder nur mit knapper Not Grund und Boden unter den Reifen behielten. Die Ebereschenbäume, die die Wege flankierten, taumelten wie betrunkene Bauernlümmel vorüber.
Unter den Hufen des angepeitschten Percherons spritzten Funken und Kiesel.
»Kreuzkuckuck, verfluchtig ...!«
Franz Seegers hatte Feuer und Fett vor den Augen, violette Kreise, die auf und nieder tanzten, sich einkringelten, um dann wieder zu rollenden Karrenrädern zu werden.
Er sah die Gefahr nicht.
Er sah überhaupt nichts; nicht die tiefen Kolke, die gefährlich aus der Tiefe heraufgähnten, nicht den schmalen Weg, nicht sein eigenes Anwesen, das weit hinten in der Niederung lag – zwischen geschorenen Äckern und Wiesen und blanken Lichtern, die aus den Knechte- und Mägdekammern herüberwinkten.
Er dachte nur an seinen krummgeschossenen Bauernstolz. Der schrie Zeter und Mordio und hatte noch immer Kraft genug, mit handfestem Knüppel um sich zu pfeffern.
Und das sollte gründlich besorgt werden.
»So'n Flegel!« knirschte er zwischen den gesunden, stahlharten Zähnen, »so'n Lump mit der sogenannten Rettungsmedaille ...! Herrgott, in drei Deibels Namen noch mal ...!«
Er wandte sich.
Neben ihm saß seine Tochter, bleich und mit aufgerissenen Augen.
»Thres, spuck dem Kerl ins Gesicht,« lachte er grimmig.
»Schieß den Hund über den Haufen,« gab sie zurück.
Ein flammender Haß zuckte über die entstellten Züge.
»Das kann schon passieren,« tobte Franz Seegers »Aber zuerst kommt der Alte aufs Brett. Dem Kerl knall' ich die Brotschnitten vom Maule herunter ...!«
Er drehte sich um.
Seitwärts lag der Schattenriß der Verheyenschen Mühle.
Er streckte die freie Faust gegen den massigen Koloß aus.
»Ja, die Brotschnitten vom Maule herunter, denn der miserable Kerl hat gleichfalls Dreck an der Hose. Verrecken soll das infamige Rindvieh ...!«
Starr und bleich stand die Faust gegen den Himmel.
»Hia da hüp ...!«
Auf der höchsten Deichkrone ließ er die Leine schießen. Er warf sie dem Gaul auf die Kruppe.
»Hia da hüp ...!«
Die Peitsche knatterte.
Das scheu gewordene Tier warf sich ins Geschirr.
Thres mußte sich an der Stange des Spritzleders halten, sonst wäre sie aus dem Chaischen geflogen.
»Vater, Vater ...!« schrie sie auf.
»Auch egal,« wieherte der Alte und knallte dem rasenden Percheron zwischen die Ohren, »auch egal, wenn wir zwei beide krepieren!«
In rasender Presche ging's weiter.
Die Leine schleppte am Boden.
Halt- und zügellos jagte er die Kehre hinunter, bog auf den richtigen Weg ein, um von hier aus mit zitternden Flanken und geblähten Nüstern dem Gutshof entgegenzusprengen.
»Hundeseele, verfluchte ...!'
»Vater, Vater ...!«
»Ach was, ›Vater‹! – Die Brotschnitten schieß' ich den beiden Kerls von der Fresse!«
Die Äcker flogen vorüber.
Das Fuhrwerk tanzte auf den ausgefahrenen Wegen.
Die Obstbäumchen, die jetzt den Straßenrändern folgten, huschten vorbei, als ständen Latten dicht nebeneinander.
Ein Nachbar begegnete dem tollen Aufzug.
»Gott's den Donner, wo kariolt Franz Seegers denn hin?!«
Der Gutshof kam näher.
Noch zweihundert Schritte, noch hundert Schritte!
Mit lauernden Giebelfenstern, von schlaftrunkenen Scheunen und Stallungen umgeben, lag das Herrenhaus zwischen alten Baumkronen.
Die Toreinfahrt stand sperrangelweit offen.
Unter feurigem Galoppschlag und mit knatternden Rädern rollte der Wagen durch die Flügeltüren und blieb mit einem kräftigen Ruck vor der Freitreppe stehn.
Der Gaul zitterte an allen Knochen. Seine Haut fältelte sich, und die Nüstern flogen. Schaum und Schweiß flockten über Gebiß und Zaumwerk.
Ein Knecht sprang zu.
Franz Seegers torkelte unter dem zurückgeworfenen Spritzleder vor und griff nach der Klingel. Ein wütiges Reißen – und die Schelle kläffte und belferte durch alle Räume des Hauses.
»Aufgemacht! – Wo bleibt die Package ...?!«
Ein Dienstmädchen erschien.
Zitternd stand sie vor ihrem Herrn.
»Da!« machte der Alte und zeigte auf seine Tochter. »Die muß Ruhe haben. Der hat ein Schweinemarkör die ganze Ehre verbiestert. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Abwarten ... abwarten ...«
Mehr tot als lebendig wurde Thres in ihrem Kirmesschmuck und mit verweinten Augen auf ihre Kammer geleitet, während Seegers ins Haus stolperte und sich noch eine Flasche ›Burdo‹ auftischen ließ.
»Nur, um den Ärger vorläufig herunterzuspülen, nur, um die Sache zu überdenken,« meinte er mit erkünstelter Ruhe, riß den Kittel aus, warf sich auf einen Stuhl und streckte die Beine.
Ein Glas nach dem anderen stürzte er herunter.
Der Wein schmeckte ihm.
Als die Flasche zur Neige ging, sah er sein eigenes Bild im gegenüberliegenden Spiegel.
Mit hellem Gelächter fuhr er auf.
Ein kräftiges Gesicht, mit goldenen Ohrringen in den fleischigen Ohrläppchen, blinkte ihm aus dem breiten Goldrahmen entgegen.
»Das bin ich!« schrie Franz Seegers. »Ich, ich, ich ...!« und schlug sich mit der Hand auf den Brustkasten.
»Was?! – und diesen Edelmenschen will der großmäulige Kerl mit der Rettungsmedaille ...«
Er hatte den Hals der Flasche umgriffen.
Seine Zunge kam ins Lallen.
»Gottverdomie! – das wäre noch besser ...! – aber ich kann mich selber nicht sehen. Verdufte ...!« – und mit einem kräftigen Schwung knallte er die Bouteille dem Spiegelbild ins Gesicht, daß die Scherben herumsplitterten. »Lumpenseele, verfluchtige ...!«
Dann riß er sich auf und wankte seiner Schlafkammer zu. –
Anderen Tages stand eine leuchtende Sonne am Himmel.
Seegers war bereits auf den Beinen.
Sein Kopf brauste noch von den Begebnissen des verflossenen Abends.
Das Niederbrechen Pitt Pulchers war ihm zu Ohren gekommen.
Eine behagliche Genugtuung legte sich ihm breit über die Seele, aber seine sonstige Stimmung war hundsmiserabel.
Dicht vor seinem Fenster erhoben sich stattliche Pappeln. Wenigstens zehn Elsternpaare flogen dort ab und zu und taten äußerst geschäftig. Sie hatten ihre zweite Brut zu versorgen.
Er stierte zu den Kugelnestern und dann in die Ebene, wo die Mühle, die Lagerräume und die Guanoschuppen aufragten.
Das war Jakob Verheyen sein Eigentum.
Sein Eigentum ...?!
»Nee, nee, nee ...! – Das ist alle geworden.«
Er sprang zurück, riß eine geladene Flinte vom Nagel und legte etliche Patronen neben sich.
»Aufgepaßt, Achtung!«
Der erste Schuß krachte.
Ein prächtiger Vogel mit blankem Wams und bronzefarbiger Schleppe stürzte aus dem Laubwerk herunter.
»Höhö!« lachte der Niederungsbauer, »das wäre die erste Hypothek. Zehntausend Talers auf einmal!«
Die Elstervögel vollführten ein ängstliches Lärmen. Mit hellem Gegäcker flogen sie ab und zu.
Wieder krachte ein Schuß, und wieder kam eine Elster herunter.
»Die zweiten zehntausend!«
Der Bügel flog herum. Neue Patronen wurden eingeschoben, die Hähne knackten.
Der Kolben fuhr an die Backe.
Nochmals ein Schuß.
»Die dritte Hypothek!« rief der Alte, und zum letztenmal kam ein Vogel aus der schwindelnden Höhe. »Fünftausend preußische Talers! Na, Jakob, wie wird dir ...!«
Die Tür flog auf ...
Thres stürzte vor, nur notdürftig gekleidet und mit aufgelösten Haaren. Die üppige, harte Brust drang aus dem halbgeöffneten Leibchen.
»Um Jesu Christi willen, Vater, was tust du ...?«
Sie suchte, ihm in die Arme zu fallen.
»Ich?« fragte Seegers. »Ich schieße den infamigen Lumpenkerls die Brotschnitten vom Maule herunter ... die lernen mich kennen!«