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24

Alles Licht im Zimmer, das von zwei Kerzen ausging, ruhte auf dem Antlitz Pitt Pulchers, der das Rollen des Donners nicht mehr hörte und die Dunkelheit, die das Wetter geschaffen, nicht mehr wahrnehmen konnte. Aber sein Geist lebte noch immer.

Der Alte war bei klarer Vernunft.

Er lag ruhig und friedlich.

Seine Tochter und Stina Mengels waren bei ihm, als Stephan die Sterbegebete sprach und sich anschickte, in die heilige Handlung zu treten. Er machte ein stummes Zeichen.

Die Anwesenden knieten.

Mit keuschen Händen reichte er das Brot des ewigen Lebens und sagte: »Accipe, frater, viaticum corporis domini nostri Jesu Christi, qui te custodiat ad hoste maligno et perducat in vitam aeternam. Amen

Eine Pause entstand.

Und wieder das stumme Zeichen von eben, und wieder trat Stephan in die heilige Handlung. Feierlich öffnete er die goldene Kapsel, die das geweihte Salböl umschloß und spendete das alle Sünden hinwegnehmende Chrisam.

Sanft glitt er dem Sterbenden über die Augen, die Hände, die Füße ...: »Per istam sanctam unctionem et suam piissimamam misericordiam indulgeat tibi dominus, quidquid per visum, auditum, odoratum, gustum et locutionem, tactum et gressum deliquisti. Amen.

Die Worte klangen, als hätte sie der Heiland gesprochen – Worte, die die irdischen Bande sprengen und die scheidende Seele wieder in die Arme des himmlischen Vaters geleiten. Wer sie vernimmt, hört auch bald die Tageswache auf Zion.

Die Auflösung stand bevor.

Aber er starb noch nicht. Der Geist in dem gewaltigen Körper hatte noch nicht Kraft genug, sich vom Leibe zu scheiden. Wie ein hingestreckter König auf dem Paradebett, also lag Pitt Pulcher auf der nämlichen Stätte, wo auch sein armes Weib von hinnen mußte.

Da plötzlich ...

Mit glasigen Augen suchte der Alte den engen Raum seiner Kammer und das weite, unbekannte Land der Ewigkeit ab ...

»Trommler, heraus ...! Trommler und Fahnen ...! – Musik ...! Musik ...! Ein Pitt Pulcher will sterben ...! – Und du – und du – und du ...! Trommeln durch Köln, Trommeln und Fahnen ...! – Christian Sebastian Pulcher, du bist doch ein Gewaltiger unter den Großen gewesen ...! – Aber wo ist deine Glocke ...? Ich höre sie nicht, ich fühle sie nicht, und du hast doch befohlen: Wenn einem des Namens Pulcher der Todesschweiß ausbricht, dann wird Anne-Susanne geläutet. Anne-Susanne ...! – Anne-Susanne ...!«

Stina Mengels jagte wieder auf die Straße hinaus.

»Vater ...! – Vater ...!« wimmerte Anna.

Sie wischte ihm den Schweiß von der Stirne.

»Herr,« betete Stephan, »halte seine Seele zurück, bis sein heißer Wunsch sich erfüllet ...« und dann sagte er mit freudiger Stimme: »Ich habe kein Bangen, und keine Sorge befällt mich. Drum sorge auch du nicht, und bange auch du nicht. Der Herr wird dich leiten und führen und deine Seele erfreuen ... harre und hoffe, denn Hermann Verheyen läutet die Glocke ...«

»Hermann ...?! – Hermann Verheyen ...?!«

Pitt Pulcher erhob sich und beugte sich rücklings. Er hörte auf etwas Weltfernes, das immer näher herankam: »Hermann Verheyen ...?! – ist das nicht derselbe Hermann Verheyen, der auf der Spellner Heide den Tod besiegte ... und nun gekommen ist, mir das Sterben leichter zu machen ...?! Ach, Anna ...«

Er sank zurück, und seine Hand tastete nach dem Scheitel der neben ihm knienden Tochter. Als er ihn gefunden hatte, sagte er schmerzlich: »Anna, mein Kind, das macht mein Gelöbnis und meinen Fluch zunichte. Das nimmt alles hinweg – alles – alles – alles ... Wenn Anne-Susanne und Hermann zusammengehn ... Hermann ...! – nun kann ich warten, und warte ...

Los en eer moet gade syn,
Anne-Susann is de naeme mien;
Mi gaet, die Jan van Vechgel heit
Int jaer ons Heer als hier na steit ...«

Dann zergingen die Worte. Und Pitt Pulcher lag mit verklärtem Gesicht zwischen den Kissen und wartete auf den Ruf der gigantischen Frau, die ihn auf ihren Armen hinauftragen sollte in das Reich des Ewigen.

Und sie sollte bald kommen, im Rauschen des Sturmes, im Drohen des Wetters, im Rollen des Donners – heiß erfleht und erbetet ... und als sie endlich kam, da deckte sie mit köstlicher Inbrunst ihre gewaltigen Schwingen und ihr klingendes Gefieder über einen Großen vom Niederrhein, über den Weberkönig von Kalkar. Ja, das sollte bald kommen ...

Und Stephan umfaßte wieder die heiligen Gefäße, berührte mit bleichen Lippen die Stirne des Alten und die seiner Schwester und verließ betend das Zimmer: »Ostende nobis», domine, misericordiam tuam

Und wieder zog das wehe Glöckchen seines einsamen Weges ... aber nicht lange, denn da hinten, am Turmportal, liefen die Menschen zusammen, ungezählte Menschen, Männer, Frauen und Kinder ... und unter Gottes Wetterlicht hallten die Schläge von krachenden Äxten herüber – flammende Äxte, sieghafte Äxte! Sie brachen in das Heiligtum der Kirche ein, um die Schweigerin im hohen Turmgebälk aus ihrem Sinnen und Träumen zu rütteln.

Bohlen und Planken schrien unter den wütigen Hieben. Das Portal wimmerte.

Von den Pulsanten umringt, von Hermann Verheyen angefeuert, walteten die blitzenden Keile ihres grimmigen Amtes.

Späne flogen, und Balkenstücke splitterten wild auseinander. Noch hielten die Eisenbeschläge, die Riegel ... Die Angeln wehrten sich gegen den würgenden Anprall.

»Thyß, immerst man feste ...!«

Die Zugeströmten rangen die Hände.

Die Frauen bekreuzten sich.

Mit überschlagenen Armen verfolgte Hermann die grausige Arbeit.

»Hermann, dir zuliebe hau' ich Bast und Borke zusammen ...! – Hermann, im Angedenken an unsere artolleristische Lehrzeit ...!«

»Thyß, immerst man feste ...!« stöhnte der Alte.

Erneutes Brechen und Krachen! Eine schwere Eichenfüllung wurde zu Boden geschleudert.

Blasius Roloffs kam mit fliegenden Haaren: »Ich beschwöre Sie, Herr Hermann Verheyen ... Im Namen des dreieinigen Gottes, die Kirche ist heilig ...!«

»Was ich vorhin schon sagte, das gilt auch in jetziger Stunde: noch heiliger ist mir die Sache eines sterbenden Mannes ...«

Der Küster prallte zurück und versuchte, Dores in die Arme zu fallen: »Herr Jansen, lassen Sie ab von Ihrem gottlosen Treiben! Denken Sie an den Schutzpatron der Kirche, denken Sie um Himmels willen an die Jungfrau Maria! Ich bitte submissest ...«

»Herr Roloffs, setzen Sie mir nackig in Indigo, aberst in diesem Momang, wo es um Pitt Pulcher geht, um meinen braven Pitt Pulcher, da kann ich selbst der Mutter Gottes nicht helfen ... Thyß, immerst man feste ...!«

»Sie fällt! – sie fällt!« schrien die Menschen.

»Pitt Pulcher,« wetterte Dores, »dieselbigen Äxte haben dir so Propter und Prätorius die sechs Bretter zusammengeschlagen, jetzt hauen sie dir noch den Weg zu das ewige Leben. Hörst du, Pitt Pulcher!«

Die mächtigen Torpfosten gerieten ins Wanken. Die Streben neigten sich. Schlösser und Eisenteile sprangen wie morsche Gelenke und Bänder.

»Jesus, Maria und Joseph – jetzt stürzt sie zusammen!«

»Noch zehn handliche Schläge – noch fünf – noch drei ... Thyß, immerst man feste ...! Der Herr Dechant wird uns schon vor dem lieben Herrgott beschützen ...! – Hermann, gib Achtung ...!«

Staub und Qualm und Getöse! – Ein wilder Schrei lief durch die geworfenen Planken. Sie krachten nach innen – und über sie fort stürzten die Eindringlinge. Hermann voran, gefolgt von Thyß und Dores und den übrigen Läutern.

»An die Glockenseile ...!«

Da schwebten sie aus der dunklen Höhe herunter ...

Aber hinter den Seilen ...

»Zurück!«

An der rückwärts gelegenen Wand, unmittelbar neben einem geöffneten Pförtchen, das in das Innere der Kirche führte, stand einer mit Falkenlichtern, mit blutunterlaufenen Augen und hielt eine gespannte Flinte mit eisernen Fäusten.

Es war Jakob Verheyen.

»Vater!« schrie Hermann.

»Du ...?! – Weidmannsheil, mein prächtiger Junge ...! – Du bist wohl gekommen, mich auszuklinken und dem alten Narren auf die Strümpfe zu helfen ...!«

»Vater, ich bitte dich – Vater ...«

»Ja oder nein?! Entweder oder, mein Junge!«

»Ja, ich läute die Glocke.«

»Du Erzhalunke, dann bist du der erste.«

Langsam hob sich die Waffe.

»Das wollen wir sehen!«

»Ja, das wollen wir sehen. Wer die Hand an den Glockenstrang legt, wird kalt gemacht ... Kommt nur, ihr Hunde! – Kommt nur, ihr Hunde, und wagt es, mir in die Parade zu fahren! Mir kann alles egal sein. Mein Leben ist doch schon verludert ... Der Strick wartet schon längst, aber bevor er mir den Atem verhält, wird auch noch das Sterben Pitt Pulchers verludert. – Hände von Anne-Susanne! Ohne Geläut soll er eingehn – der Narr – der infame Verleumder ... Hahahaha ...!«

Ein scheußliches Gelächter flog in die Höhe.

Mit hellem Kreischen stoben die Weiber auseinander.

»Vater, ich sage noch einmal ...«

»Hundekanaille ...!«

»Vater, Vater ...! – und wenn ein Unglück geschieht ...«

»Hurra! – da fliegt es ...!«

Ein jäher Ruck – und der Kolben wurde herrisch an die Backe gerissen.

Keiner hörte und sah mehr ... und keiner hörte und sah mehr, wie eine Klingel ertönte, wie ein junger Mann mit flehender Stimme, wie Stephan Pulcher ...

Vater und Sohn gegeneinander ... die gierigen Läufe wie entflammte Tigeraugen auf Hermann gerichtet ...

»Vater, dann sei Gott mir barmherzig ...!«

Ein verzweifelter Ansprung ... und mit ihm war auch Stephan mit fliegendem Röckling in den Bereich der lauernden Flinte getreten.

Der Todbringerin hielt er die heiligen Gefäße, die goldene Kapsel entgegen: »Im Namen unseres Herrn und Erlösers ...!«

»Hermann, es gilt ...!«

Da krachte der Schuß ... und seinem Blitz einte sich das lohe Feuer, das Gott, der Herr, in diesem Augenblick durch den Weltenraum sandte ... und durch das Krachen und das Blitzen hindurch, durch Pulverdampf und das ängstliche Zittern und Zagen der Menschen hindurch stürmte Hermann mit den Pulsanten ... die Seile strafften sich, und aus schwindelnder Höhe rief Anne-Susanne ...

Von Jakob Verheyen nichts mehr zu sehen.

Stephan aber taumelte rücklings auf die Straße hinaus ... und er konnte noch lächeln.

Dann aber ... Er streckte die Hände, die schneeweißen Hände. Die Gefäße rollten zu Boden: »Herr, dein Wille geschehe ...!«

Draußen, nicht weit vom Portal, und die Kugel in der Brust, sank er still und beglückt in die Arme eines barmherzigen Weibes ... und konnte noch lächeln ... Ja, er konnte noch lächeln, denn er sah seinem schuldlosen Gewand eine purpurrote Rose entsprießen, die ihn an die Seitenwunde des göttlichen Dulders erinnerte.

»Ich habe eine selige Stunde gefunden,« sagte er leise. »Mutter, herzliebe Mutter, nicht lange mehr, und ich bin bei dir, um deine Lippen zu küssen«.

Seine Hand umgriff die fließende Rose.

Hoch über ihm aber läutete Anne-Susanne, Anne-Susanne, die Herzogin, die Königin unter den Glocken, Anne-Susanne, das wundersame Weib mit dem ehernen Reifrock, das vielhundertjährige Weib, und doch so stimmgewaltig wie in den Tagen der Jugend, die starre Frau mit dem dröhnenden Mund, die den Blitz scheuchte, die Lebendigen feierte und die Toten in die Erde hineinsang. Anne-Susanne, die Richterin, die Ruferin, nicht aus Stolz und feilem Hochmut heraus, sondern im Frieden mit Gott und in christlicher Demut von Kaspar Christian, dem Weberkönig zu Köln, ins Dasein gerufen und gesetzt, die Ehre der Pulcherleute zu hüten – Anne-Susanne rief vom hohen Glockenstuhl dem letzten seines Geschlechtes ihr majestätisches Lied zu, um seine Seele heiter zu machen und ihm ein leichtes und gottwohlgefälliges Sterben zu geben.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!«

Wie das hallte und tönte! Nie in ihrem vielhundertjährigen Dasein hatte Anne-Susanne so erbaulich und herrlich gesungen. Das waren geläutete Psalmen, geläutete Jubelrufe.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!«

Die Mauern des gewaltigen Turmes gerieten ins Schwanken. Die Gewitterwolken verflogen vor den glorreichen Klängen. Sturmschritt nahmen sie über Land und ließen den Himmel wieder in seiner schönsten und köstlichsten Bläue erstrahlen. Wie das hallte und tönte! Anne-Susanne schickte ihre klingenden Worte wie Apostel über die niederrheinische Erde, auf daß sie verkündeten: Pitt Pulcher, der große Pitt Pulcher, will in die Arme seines Herrn und Schöpfers, um teilhaftig zu werden des ewigen Lichtes und der ewigen Gnade.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!«

Immer lauter und freier, immer schöner und reiner! Auch Heinrich van Egern hörte die Glocke.

»Jetzt stirbt er,« sagte er mit unendlicher Wehmut und nahm sein Samtkäppchen vom Haupte und legte die Hände zusammen. Mit heiliger Inbrunst sprach er die Sterbegebete, und unter diesen Gebeten fielen weiße Nelken über die Schläfen Pitt Pulchers.

Und Pitt Pulcher erwachte: »Anne-Susanne ...! – Anne-Susanne ...!« und dann fragte er mit gebrochener Stimme: »War das Hermann Verheyen? – Hat Hermann die Glocke geläutet ...?«

»Ja,« sagte Anna.

»Hermann ...! – Hermann ...!«

Über die Züge des Alten lief ein gütiges Lächeln, und seine Rechte tastete hilflos nach dem Haupte seines Kindes: »So wird aus tiefster Not und tiefster Qual doch noch die Freude geboren. Grüße mir Hermann, und grüße mir Anne-Susanne ...! Ich werde alles Mutter erzählen. Mutter, ich komme ...!«

»Vater, Vater ...!«

Sie schlang ihm den Arm um den Nacken. Sie küßte ihm Wangen und Augen ... Dann war alles vorüber.

Pitt Pulcher, der große und werktätige Pitt Pulcher, der Mann mit dem Kindergemüt und mit dem heiligen und gerechten Zorn unter der Stirne, Pitt Pulcher, der letzte seines Stammes, der Weberkönig von Kalkar, hatte seinen Herrn und Erlöser gefunden.

Anna drückte ihm die Augen zu und bettete ihm das Haupt ganz sacht auf die Seite ... und weinte bitterlich.

Stephans Geist aber stand bereits an der Schwelle. Er war festlich gekleidet und wartete auf den des herrlichen Pitt Pulcher. Gemeinsam wandelten sie dem ewigen Licht, der überirdischen Heimat entgegen, wo eine liebe Frauen- und Mutterseele schon längst ihrer harrte. Anne-Susanne geleitete sie bis an die goldenen Pforten des neuen Jerusalems.

* * *

Und dann war es Abend geworden ... so ein weicher, warmer und glücklicher Abend ... ein Abend mit Kinderaugen und den Schwingungen einer verhaltenen Trauer. Nur vereinzelt hellten die Fenster auf. Die Laternen brannten noch nicht. Noch immer lag die Welt unter einem sichtigen Himmel, so daß man die Krähenvögel verfolgen konnte, die langsam und mit behaglichem Gleiten dem tiefen Westen zuflogen.

An diesem Abend saßen zwei stille Menschenkinder zusammen: Anna und Hermann ... und weinten dem Verlorenen nach und härmten sich und freuten sich doch ihrer großen und reinen Liebe ... Und zwei stille Menschenkinder suchten Trost und Erlösung ... und sie gingen hinaus zu Heinrich van Egern.

Und Heinrich van Egern saß einsam im Lehnstuhl, und wäre der Schmerz nicht gewesen, der seine Lippen umspielte, der heutige Abend hätte ihm vieles vom Herzen genommen, so unmittelbar spürte er die Nähe des Herrn.

Als die beiden eintraten, hob er die Hände und sagte: »Kommen Sie, Anna, kommen Sie, Hermann. Ich wäre Ihnen schon längst entgegengegangen, um Sie in meine Arme zu schließen, wenn es meine Kräfte erlaubt hätten. Aber Sie sehen ja selber: es geht nicht, und daher: Sie müssen schon kommen ...«

Da knieten sie nieder.

Heinrich van Egern versuchte zu lächeln, um seinen Schmerz zu verbergen. Und dieses Lächeln stand unter Tränen. Er wollte sprechen, konnte jedoch die Worte nicht finden. Dann aber strömten sie ihm zu wie köstliches Manna.

»Staub ist aufgewirbelt,« sagte er leise, »und Staub ist vergangen. Unter ihm liegt, was der Herr gesonnen war, mit Staub zu bedecken. Ihr aber ... Kommet, ihr lieben Menschen, die ihr noch lebet, damit ich euch segne, denn wer also durch Leid und Sorgen gewandelt, kann den Segen eines alten Mannes gebrauchen. Mir steht es nicht an, wie ein streitbarer Held durch das wirre Toben von Haß und Leidenschaften zu schreiten, Gewaltnaturen zu beugen und große Worte zu sprechen. Ich bin keine Kampfnatur. Auch ziemt es mir nicht, das Schwert zu tragen und mit verbundenen Augen die Wage zu halten. Ich will und kann nicht rechten und das Urteil nicht finden. Das ist niemals meines Amtes und meines Sinnes gewesen. Solches gebührt der weltlichen Macht und dem, der da herrscht und gebietet im Himmel und auf Erden. Wir aber, ihr lieben Menschen, die ihr euch endlich gefunden, mir liegt es ob, die Bekümmerten zu trösten, die Wegemüden zu stärken und geschlagene Wunden zu heilen. Und somit tröste ich euch und richte euch auf und lege meine Hand auf geschlagene Wunden. Ihr Lieben, ihr Guten – empfangt meinen Segen ... empfangt ihn ... empfangt ihn ...!«

Er sprach nicht weiter, denn plötzlich erfüllte sich die Stube, die Welt, das niederrheinische Land mit endlosem Wohlklang.

»Hört ihr's! – hört ihr's!« rief Heinrich van Egern mit einem sonnigen Glanz in der Stimme. »Folgt diesem Jubel. Haltet ihn bei euch, und ihr werdet alle Fährnisse des Lebens besiegen. So jubelt der Engel des Herrn, und unter seinem Jubel ist wohl sein.«

Und Anne-Susanne läutete weiter ...

»Ach, Gott!« sagte der Dechant, »ist das ein Abend voller Liebe und Andacht,« und beugte sich nieder und küßte die Stirnen der beiden ...

* * *

Mit diesem Kuß gab er ihnen das Glück. Es blieb ihnen ... und Franz Seegers und seine Dohlenvögel, die noch lange Zeit hindurch die stattliche Mühle umkreischten, konnten es auch nicht vernichten, so gern sie auch wollten.

Seit dem furchtbaren Auftritt im Turmportal war Jakob Verheyen spurlos verschwunden. Alle Vermutungen über ihn und sein ferneres Schicksal verliefen im Sande. Niemand sah ihn wieder auf Erden. Der Fluch war von der Mühle genommen; ein seliger Friede umgab sie.

Unter diesem Frieden lebten auch Anna und Hermann.

Und wenn Anne-Susanne ertönte, dann nahm er sein blühendes Weib in die Arme und sagte: »Gedenken wir des gewaltigen Kaspar Christian Pulcher und deines seligen Vaters, des letzten Weberkönigs von Kalkar.«

»Gedenken wir ihrer,« gab sie leise zurück und küßte ihn lange.

 

Ende


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