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Die Zeit hatte Petri Felsen unterhöhlt. Die Bildungsmenschheit löste sich auf. Noch schuf das katholische Christentum eine alle weißen Menschen verbindende Atemluft. Aber immer klarer schon ward es: Die Religion der Liebe kittet keine Gemeinschaft. Sie liebt nicht die Blumen. Sie mißachtet die Tiere. Sie kümmert sich nicht um Wolke und Wind. Sie verdrängt die große nichteuropäische Völkermasse, die man »Heiden« nannte. Und so zerfiel der Bund der weißen Rasse in Galle und Träne. In Widerspruch und Streit. Einzelne gegen Einzelne ...
Luthers starke Hand führte den ersten Streich. »Warum soll ich der Kirche gehorchen?« rief der trotzige Sachse. »Ich, der ich selber Gottes Stimme im Gewissen trage? Kommt es an auf Werke? Nein! Auf Gesinnung, auf Glaube, daraus Werke entsprießen. Das Maß aber, nach welchem der immerwache Richter seine Urteile fällt, das Maß bin Ich: Das geistige Selbst! ...« Um 1500 ward der protestantische Mensch geboren. Jener nordische Mensch, der unter dem kühleren, nüchternen Himmel ganz sich stellte auf seines sittlichen Willens wacheste Bewußtheit. Nicht mehr Träumer wie der Slawe. Nicht mehr Bildner wie der Lateiner. Vernünftelnde Geistigkeit siegte. Und was Luther begonnen hatte (die Loslösung des Menschen aus traumhaft vorbewußtem Element), das vollendete um 1800 Immanuel Kant. Denn Kant, unser zweiter Luther, verkündete: »Ich selber mache die Natur. Ein transzendentaler Geist ist es, der die Natur trägt und ihr Gesetze vorschreibt.« Von nun ab, unaufhaltbar, vollzog sich die Auflösung. Die Relativierung unseres Wissens; die Atomisierung unserer Arbeit; die Funktionalisierung der Gestalt. Dies war der Fortschritt zum europäischen Nihilismus.
Dieser Vorgang der Verselbständigung des Geistes und des Dinglich- oder Gegenständlichwerdens aller Lebensnatur, die große Loslösung: Hie Mensch – Hie Welt, sie gipfelte schließlich in den unerhörten Querköpfigkeiten der deutschen Philosophie. In den fast irrsinnigen Begriffsungetümen Hegels, Kierkegaards, Fichtes, Feuerbachs, Stirners. Diese unentwegten Anarchisten Europas verkündeten schließlich eine Eigenherrlichkeit des menschlichen Selbst. Nun gab es kein Seiendes mehr, es sei denn ein Bewußtsein. Keine Werte mehr, es seien denn Persönlichkeitswerte. Und alles Seiende, alles Persönliche war: Geist. Am Geiste schwand das Leben dahin, wie die Flamme alle Gestalt vernichtet, wenn sie, die allein belebende, erst einmal heraustritt aus der Kette der schönen Gebilde und blindwütig, feindgeworden ihr gegenübertritt ...
Dies war das Ergebnis von zwei Jahrtausend christlicher Weltgeschichte. An ihrem Ende (den Wahn dieser »Weltgeschichte« auf den Gipfel treibend, aber damit auch den Geschichtsprozeß vernichtend) erscheint Friedrich Nietzsche. Zugleich der letzte in der großen Reihe germanisch-protestantischer Anarchisten des Geistes, zugleich der erste, welcher eine Morgenröte entzündete, die weit hinausbricht über die Grenzen kaukasischer Bildungsmenschheit, weit hinaus auch über die Grenze unseres kleinen Deutschland ... Wunderlicher Zwiespalt des Menschen! Aus geballter Enge kommen erlösende Stürme. Aus evangelischen Schulhäusern Zersetzer des Christentums. Sie wurzeln in der überlieferten klassischen Bildung, welche aufbaut auf dem erträumten Griechenland, dem nie gewesenen. Feinster Erfüller dieser Bildung ist Nietzsche. Und sprengte doch die Pforte zu anderem Bereich. Denn alles Leben sucht sein Gegenich und brennt wie nach Macht, so nach Erlösung.
Treten wir ein in ungeheures Schicksal. In das Schicksal der tragischen Seele, die alles, was sie liebt, und zuletzt sich selbst opfern muß. Aus gewohnheitbedingtestem Kreise der Erde, dem deutschen Bürgertum, wuchs der Zertrümmerer alles Gewohnten. Aus züchtigster Gebundenheit stieg der Umwerter aller Werte. Aus christlichem Mythos der Antichrist.