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Der Psychologe

»Menschliches – Allzumenschliches!« Dieser Titel des ersten Buches aus Nietzsches Freigeistjahren zeigt die Richtlinie. Nietzsche verschrieb sich jenem Wissenshochmut, den man heute »Psychologismus« nennt. Es handelt sich um einen Fanatismus des »Woher?« Nicht das Phänomen fesselt, sondern sein Zustandekommen in der Seele des Trägers. Nicht die Natur der Gegenstände wird untersucht, sondern die Not ihres Gewordenseins. Die große Frage des Psychologisten angesichts jeder Erfahrung ist diese: Wie kommt der Mensch dazu? – Da behauptet ein Mann, übersinnliche Wahrnehmungen zu haben. Ich lasse diese Wahrnehmungen selber zunächst auf sich beruhen. Ich frage: Unter welchen Umständen kommt man zu solchen Wahrnehmungen? Muß man dazu etwa betrunken sein? Diese Einstellung auf die Drangkräfte hin (Psychogenetik) kann in der Tat leicht bis zu ehrfurchtsloser Lasterhaftigkeit entarten. Denn wo blühen Rosen, die ihre Schönheit nicht aus Leichenstaub ziehen und ihre Wurzeln nicht mit Kot düngten? Die Menschheit hat Religionen. Aus welchen Selbstbelügungen, Wunscherfüllungen, Vorspiegelungen, Täuschungen, Nötigungen stiegen sie? Die Menschheit schuf Moralsysteme. Aus welcher Ohnmacht, Rache, Schwäche wuchsen sie? Die Menschheit ist stolz auf Logik. Aus welchem Irrtum sproß die Logik? – Es dürfte klar sein, daß Fragestellungen wie diese mit der bloßen Beschreibung der Erscheinungswelt sich nicht begnügen können, sondern überall auf Erklärung bedacht sein müssen. Daher können sie einzig die kausale, genetische Methode verwenden, und insofern bleiben sie denn auch immer eingebannt in den Bereich des Zeitlichen und Geschichtlichen. Es dürfte ferner klar sein (und das liegt ja eben in dem Titel »Menschliches – Allzumenschliches« angedeutet), daß dieses Frage- und Infragestellen einen leicht herabwürdigenden Unterton besitzt, ja wohl auch zeitigen kann eine Wollust des Entfrommens, vergleichbar dem Triumph eines jungen Anatomen: »Seht mal dies Gehirn, das ist nun der sogenannte Geist Platos. Ich forschte nach dem Kern der Liebesgöttin und fand diese Gebärmutter.« Der Umstand, daß man, ohne auf die Sphäre der Sachlichkeiten einzugehen, sogleich das Menschliche und die Notwendigkeiten des Menschlichen zur Erklärung sachlicher Tatbestände heranziehen kann (da sie ja zweifellos alle vom Menschen getragen werden), dieser Umstand sichert dem zerlegenden Kopfe eine unheimliche Überlegenheit gegenüber allem naiven Leben. Der Psychologe fühlt sich (wie man gegenwärtig sagt) als Psychoanalytiker. Er kennt Abgründe und Hintergründe. Damit kann er beschämen und lähmen. Denn kein Baum würde wachsen, wenn er weiß, wie sein Wachstum zustande kommt.

Wir erleben nun aber gleichwohl das beglückende Wunder, daß in Nietzsches Hand das Wundmesser der Psychologik fast niemals schädigt oder verletzt. Wie ist das möglich? Es kommt daher, daß Nietzsche selber ein im Tiefsten elementarischer, ganz kindlicher und mithin schöpferischer Mensch gewesen ist, der, wenn er zerlegte und zersetzte, im Kerne nur seine eigenste Idealwelt zersetzte, mithin: opfernd, immer nur sich selber zum Opfer bot. Erst in der Hand der vielen Gelehrigen und Klugen, die die Erbschaft des Psychologismus übernahmen, wurde das Marterwerkzeug der Analyse zum Triumph der alles befingernden Frechheit. Schließlich kam es dahin, daß Klugtuerei und Begriffszergliederung unter dem Rechtstitel: das sei strenge Erkenntnis, und so fordere es die Wissenschaft, alle Genien und Gestalten, alle Werte und Ideale zu zernagen begannen. Man braucht nur irgendein psychologisches oder philosophisches Buch aus jüngster Zeit aufzuschlagen, um sofort hineinzugeraten in die beklemmende Atemluft zerlegender Geister, die wahrlich, um »Eingeweideschauer« zu werden, keine schöpferische Seele zu opfern haben und, wofern sie mit Herzblut schreiben, sicherlich schreiben mit dem Blute der anderen. Aber man soll überhaupt nicht mit Blut schreiben. Das Blut muß schreiben.


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