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Die Unzeitgemäßen Betrachtungen

Von den »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, welche Nietzsche in diesem Zeitabschnitt halber Gebundenheit, halber Loslösung in unaufhörlicher Spürarbeit zu schaffen plante, sind nur vier zur Ausführung gekommen. Sie zeigen seine antikisierende Sprachkunst auf der Höhe ihrer reifen Meisterschaft. Merkwürdig aber ist es, daß die beiden ersten »David Friedrich Strauß, der Bekenner und Schriftsteller« (1873) und »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (1874), obwohl sie nur verneinender Natur sind, doch ausgewogener und großzügiger gerieten als die beiden bejahenden »Schopenhauer als Erzieher« (1874) und »Richard Wagner in Bayreuth« (1876); darum wohl, weil diese beiden letzten schon mit geteiltem Herzen geschrieben wurden, in einer Zeit, wo Nietzsche bereits begonnen hat, gerade das anzuzweifeln, was er noch einmal mit dem Abendrot seiner sinkenden Jugendliebe beglänzte ... Weitaus die wichtigste dieser Schriften, und eine der besten Schriften Nietzsches überhaupt, ist die Studie über »Nachteil und Nutzen der Weltgeschichte«, denn in ihr wird eine neue Frage gestellt, welche die Menschen nie wieder zur Ruhe kommen lassen wird und zuletzt zur Auflösung aller Voraussetzungen unseres gegenwärtigen Denkens führen muß, jener Voraussetzungen, auf deren Boden auch Nietzsche selber noch gestanden hat und allein stehen konnte. Denn so tief fraglich seiner erkenntniskritischen Verzweiflung fortan Weltgeschichte, Kulturprozeß, Menschheitsentwicklung, Völkerfortschritt wurden, diese eine Vorannahme: »Es gibt eine einreihige, historische Geschehensfolge«, hat er nie angezweifelt. Und ganz fern noch lag ihm der Grundgedanke unsrer eignen Weltschau (dargelegt in meiner »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« und im »Untergang der Erde am Geist«), daß Geschehensfolge in der Zeit wie das einreihige, lineare Zeitkontinuum selber ein Gedanke der Mechanik, nimmermehr aber Seiendes ist. Nietzsche entdeckte zum ersten Male die Wahrheit, daß wir unsre Geschichte, auslesend, wertend, als ein zweites geistiges Selbst, als eine »Welt der Wirklichkeit« anhand einer ideologischen Sphäre in unser erstes Leben, in das Lebenselement hineinbauen. Und zwar hineinbauen nach Wünschbarkeitsgesichtspunkten, die er als die monumentale (d. h. heroische), die antiquarische (d. h. pietätbedingte) und die kritische (d. h. psychologisch interessierte) Geschichtschreibung noch recht vorläufig und ganz ungefähr zu kennzeichnen versuchte. Das Jahrhundert war auf Weltgeschichte eingestellt. Der Genetismus, Historismus, Evolutionismus waren die Krankheiten des Jahrhunderts. Und da niemand sich frei machen kann von der geistigen Atemluft seiner Lebensstrecke, so konnte auch Nietzsche nicht loskommen vom Glauben an Entwicklung. Von jenen Unterstellungen, welche Hegel den Kulturwissenschaften, Marx den Wirtschaftswissenschaften, Darwin den Naturwissenschaften zugrunde legte. Dieser große europäische Irrtum: die Entwicklungswissenschaft der drei Truggeister Hegel, Darwin, Marx, das war der Boden, daraus Nietzsches menschheitbessernder, welterlösender Traum entquoll. Selten kamen Stunden, in denen dieser Boden zu wanken begann. Später wurden sie häufiger. Als er aber schließlich diesen Boden ganz verloren hatte, als er, seine schwere, sächsische Natur vergewaltigend, sich hinüberflüchten wollte in südliches Tänzertum, in die Philosophie des Bodenlosen, des ziellosen Spiels, des befreiten Fluges, als ihm nur noch blieb die hoffnungslose Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ohne Sinn und Fortschritt, da umfing den in die tote Sackgasse Geratenen die erlösende Nacht des Wahnsinns. Die Schrift über Geschichte war der erste Flügelschlag, das erste Augenaufschlagen, das erste staunende Infragestellen. Sie bezweifelte Newtons Wahn der Objektivität. Sie gilt uns heute als das unsterbliche Seitenstück zu Vicos »Prinzipi di una szienza nuova« von 1725, womit der ungeheure Selbstbetrug der Bildungsmenschheit, der Weltgeschichts-, Entwicklungs- und Fortschrittswahnsinn einst begann. Erst wenn dieser Zauber wieder verschwunden sein wird, so wird die Bahn frei sein für eine neue Art von Geschichte, nicht wirklich, aber wahr, für den »Mythos«, der das »Wesen« sieht, aber keine Wirklichkeiten zusammenlügt ...

Minder gewaltig als die zweite »Unzeitgemäße« war die ihr vorausgehende Schrift über Strauß, welche weniger gegen einen bestimmten einzelnen Menschen, als gegen einen unausrottbaren Typus geschrieben war, welcher eben am wirksamsten gezeigt werden konnte, an dem Zufallsbeispiel des im neuen deutschen Reiche am meisten geachteten und einflußreichsten Schriftstellers. Nietzsche nannte den Typus mit einem Wort von Johannes Scherr: den »Bildungsphilister«. Er hat ihn unsterblich verlächerlicht. War aber solche Verzerrung erlaubt? War sie richtig? Auf diese Frage kann ich nur Worte wiederholen, mit denen ich einst in der Jugend Angriffe zurückwies gelegentlich einer ähnlichen Verspottung eines zeitgenössischen Schriftstellers von seiten kleingesinnter Zeit- und Modegrößen, sehr erniedrigende Angriffe, welche damals mein bürgerliches Dasein zerstörend, meinem Leben die Richtung wiesen –: »Fragt doch, ich bitte, nicht immer: Ist das wahr? Ist das gerecht? Stellt doch, ich bitte, einmal die folgende Frage: Hat dieser Mensch das Recht zu dieser Wahrheit? Ist diese Gerechtigkeit das Recht grade dieser Natur? Als Nietzsche Strauß dem öffentlichen Gelächter preisgab, dem er damit als Person wahrlich nicht wehe tun wollte, da gab er mit letztem Ernst sich selber preis: seinen Ruf und Beruf, seine Stellung in der Welt, von welcher er abhängig war. Er opferte seine Vergangenheit und das Wohlwollen vieler Menschen, die er liebte. Warum tat er das? Darum, weil nur der tragische Ernst, mit dem wir unsre Urteile vertreten, das Richtmaß ist für das Recht oder Unrecht, die Wahrheit oder Lüge dieser Urteile. Dieselbe Ironie gegen Strauß, gegen Schopenhauer, gegen Wagner, nicht aus Nietzsches, nein aus beliebigem anderen Munde fließend, würde in der Tat Frevel werden. Nietzsche aber hat im längsten Kampf, Seele mit Seele, das Urteil erblutet. Indem er es nun ausspricht, erleben wir das Gericht der Seele über sich selbst. In solchem Augenblick wollt ihr über den Kämpfer herfallen? Wollt ihn bürgerlich ächten? ... Das ›Pamphlet wider Strauß‹ ... der Nachwelt erscheint es als eine der schönsten Streitschriften, durch die ein Genius sich schützt gegen ›die geballte Majorität der zeitgenössischen Talente, mit denen er nicht verwechselt sein will‹. Das Recht dieser Schrift liegt also nicht darin, daß sie wahr, sondern daß sie wahrhaftig ist. Ich glaube, daß wertender Geist immer mordet; er kann gar nicht anders. Darum sollte man nie eine Seele in Verteidigungsstellung drängen, denn dann muß sie wach und wissend werden, muß sich erläutern und auseinandersetzen. Wehe, dann wird der Geist Brandstifter! Was bleibt übrig vom Werke der Menschen, wenn wir nicht lieben dürfen? Wir bedürfen jeder der Schonung eines jeden; wollen wir den andern sachlich betrachten, und sei er der Größte, so wird die Wahrheit ihn töten. Liebe ist unser Ziel, nicht Wahrheit; aber macht ihr es mir unmöglich zu lieben, und damit auch unmöglich zu hassen, was bleibt mir übrig? Ich muß sachlich sein!« ... Neben David Strauß wurde auch Eduard von Hartmann von Nietzsche angegriffen. Dieser galt im neuen Reiche als der Fortsetzer und Überwinder Schopenhauers, dessen Willensmetaphysik er mit dem logistischen System Hegels ineinander schweißte. Es war gewiß gerechtfertigt, daß die Fachwissenschaft in der Folgezeit für Hartmann und nicht für Schopenhauer Stellung nahm. Dennoch blieb Schopenhauers Werk (und wäre es nichts als Dichterbekenntnis) befruchtend und lebendig; Hartmanns scharfsinniges System aber wurde schon heute zu Lehrbuchparagraphen. Maschinen sind zweifellos dauerhafter als Organismen, aber in jedem jungen März trägt die Erde neue Veilchen. – Nietzsches siebenjähriger Krieg galt der Maschine. Mancher Ton klingt schrill. Mancher Schrei war zu humorlos bitter. Aber was trieb ihn denn anderes zu jener herben Zeitkritik als seine große Liebe, die in den beiden letzten »Unzeitgemäßen Betrachtungen« klar hervorbricht, in »Schopenhauer als Erzieher« und »Wagner in Bayreuth«. Nietzsche ringt um die Eigenbestimmung seiner zu sich selbst erwachenden großen Seele. Noch wird er erdrückt von dem ungeheuren Massen- und Gruppenbetrieb all der zehntausend Wirkenden und Schaffenden. Noch ist er nicht frei von dem Wunsch nach wissenschaftlicher Geltung und vom literarischen Ehrgeiz. Er liest und schreibt. Er ist selber mit eingespannt in den übermächtigen europäischen Erwerbs- und Bildungsbetrieb. Auch er ist eingefangen in Bildung, Kultur, Literatur, Tradition. Aber schon fühlt er die Fesseln und bäumt wild sich dagegen, um sie zu sprengen ...


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