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Warum nun gerade »Zarathustra«? Nietzsche glaubte, der alte parsische Religionsstifter, dessen Lebenszeit um frühestens 800, um spätestens 400 v. Chr. angenommen wird, habe den Gegensatz, an dem die Menschheit krankt, den Gegensatz »Gott-Teufel« durch seinen Licht- und Finsternismythos zuerst in die Welt gebracht. Zarathustra, der Alte, war Vater der Zahl zwei. Der wiedergeborne Zarathustra wird nun alle Sünde, Zweiheit und Gegensätzlichkeit überwinden dadurch, daß das Leben nicht mehr in den Dienst des Geistes tritt, sondern umgekehrt, der Geist betrachtet wird als ein Heil- und Kampfmittel im Dienst des Lebens. Flammte über der alten Philosophie das Wort: »Pereat vita, fiat veritas« (Erst Wahrheit, dann Leben); so wird über der neuen seine Umkehrung strahlen: »Pereat veritas, fiat vita« (Erst Leben, dann Wahrheit). Denn wenn die Zeit gekommen ist, wo sich das Wissen der Menschheit gegen das Leben kehrt, dann wird es Zeit, daß sich das Lebendige in uns endlich empört gegen die menschliche Wissenschaft. Diese Stunde aber ist da. Es ist die Stunde des großen »Weltmittages«, wo die Sonne am höchsten und der Schatten am kürzesten ist. Der Schatten, den der Wanderer, die Menschheit, hinter sich wirft, das sind ihre Religionen, Fiktionen und Illusionen. Sie sind im Schwinden begriffen. Zuletzt bleibt uns nichts als der Dienst des vorurteilslosen Lebens. Alle bisherige Religion aber war Dienst am kranken, verwundeten, fehlerhaften Leben. Welcher Art Vorbilder denn errichtete das Christentum? Schon seine Wahrzeichen, Kreuz, Märtyrer, Anbetung des Grabes und der Wunden, beweisen, daß es sich immer handelte um Lichter, die aus dem Leiden brechen, um die Kunst, aus den Quälgeistern der Menschheit neue Quellgeister zu machen. Ubi fel, ibi mel (Wo Honig fließt, da fließt Galle). Ubi onus, ibi sonus (Wo das Leid, da wächst das Lied). Ja wahrhaftig! »worlds work is done by its invalids«. Die Welt der menschlichen Werte ist, wie die Perle, ein Krankheitsergebnis. Aber diese Auferhöhung und Verklärung des in irgendeinem Sinn gebrochenen und brüchigen Lebens hat zu einem Mißratenheitshochmut geführt, ja zu einer Diktatur von seiten der Schwächlichen und Anbrüchigen über die Starken und Gesunden, zu jenem »supercilium stoicum«, jenem Leidensdünkel, welchen die letzten stolzen Römer an dem anbrechenden Christenreich verspotteten, diesem Reich der aufbegehrenden Sklavenseelen deren moralinsaure Pflicht Bissigkeit nur die Ungenüge an sich selbst versteckt. Diese Tyrannei der Mühseligen und Beladenen, diese Ethik des Neides, der Abgunst und der Rache muß überwunden werden. Wie in Goethes wunderlichem Fragment »Die Geheimnisse« gewahrsagt wird von einer Dornenkrone, aus welcher plötzlich neue Rosen brechen, so soll aus Christus künftig der Dionysos, der von trunkenen Mänaden zerrissene, frisch erstehen. Für dieses neubeginnliche Lebensideal, welches Nietzsche dem Ziel- und Hochbild des durch Leiden zu Gott und Göttlichkeit hinangequälten und emporgeprügelten Menschenelends entgegenstemmt, prägt er nun das zur Mode gewordene Wort Übermensch. Die Eigenschaften dieses Übermenschen sind ihm selber durchaus nicht klar. Sein Traum bleibt ein Zwielichttraum. Zuweilen blitzt der Gedanke auf, daß grade der Stärkste, Freieste, Lebendigste sich freiwillig wieder zum Opfer machen muß, indem er die Leiden der minder Vollkommenen auf sich nimmt und sich verpflichtet fühlt, das zu tragen, was zu ertragen andere zu schwach, zu klein oder zu feige sind. So hatten denn die deutschen Theologen gerade mit dem Übermenschen ein leichtes Spiel. Sie konnten mit einigem Recht in vielen Büchern darauf hinweisen: »Nietzsches Sehnsucht nach dem Übermenschen ist ja gerade die sich selbst nicht verstehende Sehnsucht nach Christus. Denn der Christus, wie wir ihn denken, ist genau wie der Übermensch: ein ritterlicher, arischer, soldatischer, edelmännischer Christus. Der Christus des ›Heliand‹, ein alter Herzog und Krieger.« Freilich trägt Nietzsches Übermensch viele Masken. Gelegentlich erscheint er in der Larve bestimmter historischer Gestalten, des Julius Cäsar, Cesare Borgia, Robespierre, Napoleon, und hat oft auch herrische, grausame (bisweilen weibische) Züge. Ganz sicher ist nur eines: der Übermensch soll gedacht werden als die Rechtfertigung des Menschendaseins und des Daseins seiner gräßlichen, aus Blut, Schweiß, Galle und Tränen auftauchenden Weltgeschichte. Der Natur soll ein Wertmaß und Wertgipfel gesetzt werden; anschaulich und für die Sinne erreichbar. Menschenkultur soll nichts sein als der Umschweif der Natur, um schließlich zum Übermenschen hinzugelangen. Es kommt dabei nicht darauf an, in wie vielen Exemplaren dies Höchstmaß des Lebens erragt wird. Es kommt nur darauf an, daß überhaupt ein Äußerstes an Lebensschönheit, Lebensverinnerlichung, Lebensvollendung erreicht wird, bevor man sprechen kann: »Daß dieser einmal da war, daß er möglich war, darum lohnte sich das ganze betrübliche Erdtrauerspiel.« Darum eben darf der Übermensch keine Entschmerzlichung, Entwirrung und Verannehmlichung des Lebens bringen. Er darf nicht wie Buddhismus und Christentum das Leben schlaffer, glücklicher, schmerzfreier machen wollen. Im Gegenteil, er möge in Feuer und Schwert, als Geißel und Rute, er möge in Kriegen und Revolutionen über die Menschheit daherbrausen, wofern nur Verbrechen und Sünden, Laster und Bosheiten die Steine sind, daran wir uns schleifen; Steine, die wir zu Stufen nützen, um höher zu steigen zum letztmöglichen Größen- und Schönheitswert. Dieser wird nie erreicht, indem wir irgendein positiv Lebendiges abtöten und unterdrücken. Grausamkeit, Herrschsucht, Habsucht, Wollust, Neid sind zur Erhöhung des Lebens genau so notwendig wie Demut und Nächstenliebe. Nicht Überwindung, Triebabschwächung, Triebverarmung, Entsinnlichung predigt die neue Lebensreligion. Nicht asketische, buddhistische, christlich pessimistische oder irgendwie transzendente jenseitige Ziele. Sie predigt: Züchtet die Erde empor zum Übermenschen, zur Blüte des Lebens; ganz gleich mit welchen Mitteln. Das Ziel heiligt und ist heilig. So baut Nietzsche auf die Übermenschenreligion eine Eugenik, d. h. eine Zuchtlehre von den die Menschenrassen veredelnden Zuchtmitteln und eine Entwicklungsmoral von praktischer Nüchternheit und Zielsetzung.