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Entwicklungslehre. Darwin

Wer je entzog sich der Luft seiner Tage? Nietzsches Tage atmeten im Dunstkreis des europäischen Entwicklungsglaubens. Und wenn Nietzsche auch im einzelnen Darwin und den Darwinismus gern verspottete und zu Goethes Naturanschauung oder zur romantischen Naturphilosophie Schellings flüchtete, im Innersten hat er an folgender Voraussetzung nicht gezweifelt: Der Mensch ist ein Geschöpf von gestern. Er ist aus derselben Wirbeltierreihe geworden, die auch den Affen hervorbrachte. In jahrbillionenlanger Werdekette steigt die Natur vom Einfachsten zum Immerdifferenzierteren empor. Diese gradlinige Entwicklung führte hin zu mir, dem Menschen. Und sie soll nun über mich hinausführen, zur Verkörperung Gottes und des irdischen Paradieses. – Es kam hinzu, daß Nietzsche philologisch, historisch, psychologisch vorgebildet war; nicht naturforschend. Er war kein gestaltenschauender Augenmensch. Er war überhaupt nicht auf Sachwelt gerichtet. Das fällt uns besonders in seinen Briefen und Tagesaufzeichnungen ins Auge. Er lebt an den großen Stätten der bildenden Kunst. Aber kaum jemals betrachtet er Gemälde oder Gebäude. Sein nordisches Herz ist erfüllt von Musik, Lyrik oder Grübelei. Schon die beständige Schwäche und Krankheit der Augen hindert am Betrachten. Was immer er sieht, das verwebt sich sogleich mit Hirnarbeit. Das Gesehene wird zum Gleichnis oder Symbol; ähnlich wie schon das Neue Testament Natur und Landschaft nicht mehr naiv wiedergibt, sondern nur als Gedankengleichnis benutzt. Hie und da rafft Nietzsche sich dann auf zu dem Vorsatz: Jetzt will ich Blumen, Steine, Tiere aufsuchen. Jetzt will ich zu den Malern gehn. In Wahrheit aber blieb er auf den Gebieten der äußeren Erfahrung blind wie die großen Seher. Er war befangen in die Vorstellungswelt der Epoche Darwins; jener Biologie, welche zum Biotischen steht wie Psychologie zum Psychischen. Sie ist eine Orientierung über das Leben, nie Gemälde des Lebens selbst. So unterlaufen denn Nietzsche zwei große Irrtümer, welche auch heute noch die gesamte Wissenschaft Europas narren: Erstens die Vertauschung der Gestaltenwelt mit einer Welt raumzeitlicher Bewußtseinswirklichkeit (also der Formen, Objekte, Artefakte). Und zweitens wiederum: Verwechslung dieser raumzeitlichen Bewußtseinswirklichkeit mit der Sphäre der Vernunftschau (also der Ideen, Ideale, Normen) ... Leben – Wirklichkeit – Wahrheit (vitalité – réalité – vérité)! Ehe nicht diese drei Ebenen völlig klar auseinandergetreten sind, ist alle Philosophie irrwegig. Es ist hier nun nicht der Ort darzulegen, wie auch für Nietzsche »das Leben« immer nur eine Kraft war. Es läßt sich hier nicht ausführen, wie das Wachstum des Lebendigen sich ihm nur darstellte als eine zielstrebige Bewegung, kurz, wie sein vermeintlich biologisches Denken im Grunde das mechanistische Denken unsres Zeitalters ist. Nur das Wesentlichste, Leichtverständliche darf hier gesagt sein. Das aber ist dies: Nietzsche hielt »Fortschritt« für eine in der Natur des Lebens begründete, von der Natur verbürgte Tatsache. Er verwechselte mit Darwin »Evolution« (Entwicklung) und »Melioration« (Verbesserung). Er redete von Deszendenz und meinte Aszendenz. Er verwechselte mit Marx den dialektischen Prozeß mit dem Wachstum der Natur. Er verwechselte mit Hegel Wert und Element. Freilich, Nietzsche wollte durchaus nicht das Leben vergewaltigen mit Wert und Ideal. Aber er wollte doch auch nicht auf Werte und Ideale verzichten. So suchte er denn nach solchen Werten, denen die Natur des Lebens selber entgegenklänge. Wo aber kümmert sich jemals Leben um Ideal und Wert? Nietzsche schauderte vor der Erkenntnis, daß das Lebenselement seine Gestaltenreigen emporwirft und wieder einschluckt, nicht anders wie der Schlaf Träume hervorlockt und wieder verschwinden läßt: jede nur irgendmögliche Gestalt milliardenfach, unermeßlich, überall und ewig. Er konnte sich nicht abfinden mit der Gewißheit, daß alle Stufen des Seins, alle Zyklen und Rhythmen immer gegenwärtig und immer gleichzeitig sind, so wie auf der Erde alle Jahreszeiten und Lebensalter nebeneinander blühen. Auch Nietzsche versuchte das Leben auf das Streckbett zeitlicher Erfahrung zu spannen und, indem er Lebenselement und Spiegelung des Elements im raumzeitlichen Menschenbewußtsein vertauschte, indem er verkannte, daß Leben das ist, was aufgefaßt (also nicht erlebt) Bewegung genannt wird – verdünnte er das Geballte und zog es auseinander zum Aufstieg der Gestalt vom einzelligen Lebewesen bis hin zur wählenden Menschenvernunft. So ward auch er Opfer des Hominismus, d. h. des Glaubens, es gebe nur eine vom Menschen (homo) abhängige, nicht aber eine unbedingte Wahrheit ... Ich lege damit den Finger auf die Stelle, von welcher aus Nietzsches Werk und Wesen langsam erkrankte.


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