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Goethe's deutsche Bildung. Bekanntschaft mit Herder. Was Herder von ihm hielt. Sein Einfluß auf Goethe. Seltsame Einführung Goethe's bei der Familie Brion. Friederike. Goethe's Brief. Beiderseitige Neigung. Doktorpromotion. Friederikens Besuch in Straßburg. Shakespeares Einwirkung auf Deutschland. Goethe's Rede über Shakespeare. Sein Aufsatz über deutsche Baukunst. Abschied von Friederike.
Sehr bemerkenswerth ist in dieser Straßburger Periode die durch und durch deutsche Bildung, die sie Goethen gab. In damaliger Zeit war die Bildung zumeist classisch und französisch. Auf Goethe hatten die classischen Studien niemals großen Einfluß geübt, und auch auf seinem ferneren Lebensgange näherte er sich dem Alterthume mehr durch die Kunst als durch die Literatur. Den Franzosen andrerseits verdankte er sehr viel, beides in Richtung und Stoff. Indessen war damals eine Wiederbelebung der deutschen Nationalität eifrig im Werk. Klopstock, Lessing, Herder, Shakespeare und Ossian stellte man den Franzosen als ebenbürtig gegenüber. Ein erwachender Nationalstolz lieh diesem Wechsel des Geschmacks sein Gewicht. Gothische Kunst fing an für die wahrhaft moderne Kunst zu gelten.
Die Tischgesellschaft des Goethe'schen Kreises verbannte nicht nur die französische Sprache, sondern sagte sich auch sonst in jeder Beziehung von dem französischen Wesen los. Die französische Literatur verspotteten die Freunde als geziert, unwahr, unnatürlich, und setzten dieser Höflingsliteratur die Treue, die einfache Kraft und Einfalt des deutschen Wesens entgegen. Goethe hatte ein bischen in mittelalterliche Studien hineingeguckt, hatte den Straßburger Münster mit staunender Ehrfurcht betrachtet, hatte sich von Shakespeare begeistern lassen, hatte Lessing's bilderstürmenden Witz die Prätensionen der französischen Dichtung zertrümmern sehen. Dazu hatte er die Lebensbeschreibung des Götz von Berlichingen gelesen, und das Bild dieses gewaltigen Mannes in wilder anarchischer Zeit hatte sich ihm so tief eingeprägt, daß der Plan, ihn dramatisch darzustellen, in seinem Geiste erwachsen war. Auch der Faust lag schon als Keim in ihm. Die Sage von diesem Zauberer »klang und summte gar vieltönig in ihm wieder«. Wie Faust, hatte auch er sich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben aufmerksam worden; wie Faust, hatte auch er es im Leben auf allerlei Weise versucht und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen. Die Studien in der Alchymie, Medicin, Juristerei, Philosophie und Theologie, die ihn so lange beschäftigt hatten, ließen ihn einen so zu sagen persönlichen Antheil an der alten Faustsage nehmen.
In solcher Stimmung war ihm die Bekanntschaft mit Herder von großer Bedeutung. Herder war fünf Jahre älter als er, und hatte sich schon einen Namen gemacht. Eines Augenübels wegen kam er nach Straßburg und einen ganzen Winter blieb er wegen der Operation dort. Goethe, von der neuen Bekanntschaft mit diesem mächtigen Geiste entzückt, wohnte der Operation bei, besuchte ihn die ganze Zeit während der Kur Morgens und Abends und lauschte den Reden der Weisheit von seinen Lippen, wie nur ein Schüler einem vielgeliebten Meister zuhorchen kann. Der Gegensatz der beiden Männer war groß, aber es war ein Unterschied, der sie nicht trennte. Herder war bestimmt, klar, lehrhaft; er kannte seine Ziele und liebte seine Gedanken mitzutheilen; Goethe war skeptisch, unruhig strebend. Herder war hart, sarkastisch, bitter, Goethe liebenswürdig und unendlich tolerant. Die Bitterkeit, die so manche Freunde von Herder entfernte, konnte Goethe nicht abstoßen; es war eine Eigenthümlichkeit von ihm, zu jeder Zeit von entgegengesetzten Naturen lernen zu können; auf dem Boden gemeinsamer Ueberzeugung begegnete er ihnen und wußte die Punkte zu vermeiden, wo nothwendig ein Zusammenstoß erfolgen mußte. Es ist ein wenig auffallend, daß Herder bei aller Zuneigung für seinen jungen Freund und bei aller Dankbarkeit für seine Gefälligkeiten, von seinem Genie keine Ahnung gehabt zu haben scheint. Die einzige Andeutung über seine Meinung von Goethe in damaliger Zeit findet sich in einem Briefe an seine Braut, aus dem Februar 1772. »Goethe ist wirklich ein guter Mensch, nur etwas leicht und spatzenmäßig, worüber er meine ewigen Vorwürfe gehabt hat. Er war mitunter der einzige, der mich in Straßburg in meiner Gefangenschaft besuchte und den ich gern sah; auch glaube ich ihm, ohne Lobrednerei, einige gute Eindrücke gegeben zu haben, die einmal wirksam werden können.« Seine eigene Eitelkeit mag sich zwischen Goethe und ihn gestellt haben, oder er erkannte vielleicht die Mängel des jungen Freundes zu deutlich, um von seinem Talent viel zu halten. Herder liebte an Menschen und Dingen nur das Abstrakte und Ideale, und immer kritisirte und klagte er über das Individuelle, weil es sein Ideal nicht verwirklichte. Was Gervinus von Herder's Verhältniß zu Lessing sagt: »er liebte diesen Mann wahrhaft, als er ihn in seiner Charakteristik im Ganzen überschlug; im Einzelnen hörte er nie auf, an ihm zu kritteln« – das gilt auch von seinem Verhältniß zu Goethe durchs ganze Leben. Goethe hatte gar wenig von jener abstrakten Menschenliebe, welche bei Herder und bei so vielen andern die Stelle der persönlichen Liebe vertritt und jene Menschenfreunde zu beseelen pflegt, die in ihrer Philanthropie so aufrichtig sind und doch als Ehemänner, Väter, Brüder, Freunde nichts taugen. Goethe im Gegentheil hatte die überströmendste Liebe für Individuen. Seine concrete und zartfühlende Natur fühlte sich weit mehr zu Menschen als zu Abstraktionen hingezogen. Wer das nicht anerkennt, mag über seine »Gleichgültigkeit« gegen Politik, gegen Geschichte, gegen so manche große Frage der Menschheit raisonniren; aber wer es anerkennt, der wird anders urtheilen.
Herder's Einfluß auf Goethe war mannigfach, am stärksten auf dem Gebiete der Dichtkunst. Er lehrte ihn die Bibel als ein glänzendes Zeugniß für die Wahrheit betrachten, daß »die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privat-Erbtheil einiger feinen, gebildeten Männer.« Von der hebräischen Dichtung führte er ihn in die übrige Volkspoesie, und da nahmen Homer und Ossian den ersten Rang ein. Ossian machte damals die Runde durch Europa und fand überall Gläubige. Goethe war von dem wilden nordischen Sänger so entzückt, daß er den Gesang Selma übersetzte und später in den Werther aufnahm. Neben Shakespeare und Ossian lernte er durch Herder auch den Vikar von Wakefield kennen und schätzen, und das reizende Familienbild, welches Goldsmith darin gezeichnet hat, sollte er nun lebend in dem Pfarrhause von Friederiken's Vater sehen.
Auf den hohen und breiten Altan des Straßburger Münsters waren er und die andern »jungen Gesellen« oft des Abends gestiegen, um mit gefüllten Römern die scheidende Sonne zu begrüßen. Die ruhige offene Landschaft dehnte sich meilenweit zu ihren Füßen, und manche Stelle hatte schon der eine oder andere bezeichnet, an die sich liebe Erinnerungen knüpften. Uns interessirt vor allen ein Punkt – Sesenheim, die Heimath Friederikens. Von allen Frauen, welche die Auszeichnung genossen, von Goethe geliebt zu werden, hat für mich keine solchen Zauber wie Friederike. Die reizende Schilderung in Dichtung und Wahrheit, bei der der Dichter mit besonderem Entzücken verweilte, hat ihr idyllisches Bild jedem Liebhaber deutscher Literatur vertraut gemacht. Der Sekretär (der im Sommer 1856 gestorbene Kräuter), dem Goethe diesen Theil seiner Lebensbeschreibung diktirte, erinnerte sich noch in späten Jahren lebhaft, wie tief ergriffen Goethe schien, als diese Scenen an seinem Gedächtniß vorüber zogen. Während er diktirte, ging er, die Hände wie gewöhnlich auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab, aber bei dieser Episode stand er oft im Gehen still und hielt mit dem Diktiren inne; ein langes Schweigen, ein tiefer Seufzer, und in leisem Tone fuhr er fort zu erzählen.
Weyland, einer seiner Tischgenossen, hatte ihm von einem Landgeistlichen gesprochen, der mit seiner Frau und zwei liebenswürdigen Töchtern nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Straßburg, lebe. Zu Anfang Oktober 1770 schlug ihm der Freund vor, den würdigen Pfarrer gemeinsam zu besuchen. Sie kamen überein, Weyland solle ihn unter der Verkleidung eines ärmlichen Studenten der Theologie einführen. Goethe's Freude am Inkognito trieb ihn oft zu solchen Verkleidungen. Diesmal borgte er sich alte Kleider und kämmte sich das Haar so wunderlich, daß Weyland sich des Lachens nicht erwehren konnte. In bester Stimmung ritten sie aus. In Drusenheim hielten sie an, Weyland um sich sauber umzukleiden, Goethe um sich seine Rolle zurückzurufen. Quer über Wiesen ritten sie dann nach Sesenheim, ließen ihre Pferde im Wirthshause und gingen nach dem Pfarrhofe hinüber – einem alten, etwas zerfallenen, aber sehr malerischen, friedlich stillen Bauernhause. Sie trafen Herrn Brion ganz allein zu Hause und wurden freundlich empfangen. Die Familie war auf dem Felde. Weyland ging sie zu suchen, während Goethe mit dem Pastor über Pfarrangelegenheiten ein bald vertrauliches Gespräch führte. Nicht lange, so erschien die Mutter, und hinter ihr kam die älteste Tochter lebhaft hereingestürmt, fragte nach Friederike und fuhr wieder zur Thür hinaus sie zu suchen. Man brachte Erfrischungen; Weyland sprach mit den beiden Gatten über alte Bekannte, Goethe hörte zu. Die älteste Tochter kam wieder hastig herein, unruhig, ihre Schwester nicht gefunden zu haben. Diese kleine Unruhe wegen Friederikens bereitete den Dichter auf ihre Erscheinung vor.
Endlich trat sie in die Thür und – so erzählt Goethe vierzig Jahre später – »da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friederiken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorgen geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm«, und so hatte Goethe »das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.«
Beim Anblick dieses schönen sechszehnjährigen Mädchens fing Goethe an, sich seiner Verkleidung zu schämen. Seine Eigenliebe war verletzt, daß er so als Stubenhocker ohne alle äußere Zierlichkeit vor ihr erschien. Inzwischen ging das Gespräch zwischen Weyland und der Familie seinen Gang. Ein endloser Schwarm von Onkeln und Tanten, Vettern, Basen, Gevattern und Gästen wurde vorgeführt; Goethe war von dem Gespräch ganz ausgeschlossen, Friederike bemerkte das, setzte sich zu ihm und fing mit reizender Offenheit zu plaudern an. Noten lagen auf dem Klavier; sie fragte ihn, ob er auch spiele, und als er es bescheiden bejahte, bat sie ihn, etwas vorzutragen. Aber der Vater meinte, sie müsse zuerst etwas singen. Sie setzte sich an das etwas verstimmte Klavier und trug Verschiedenes in der Art, wie man es auf dem Lande zu hören pflegt, vor. Dann sang sie ein Lied, ein zärtlich-trauriges, aber das gelang ihr gar nicht; sie fühlte es selbst, stand auf und sagte lächelnd: »Wenn ich schlecht singe, so kann ich die Schuld nicht auf das Klavier und den Schulmeister werfen; lassen Sie uns aber nur hinauskommen, dann sollen Sie meine Elsasser und Schweizer Liedchen hören, die klingen schon besser.« Sie gingen ins Freie, und lustig ließ ihre Stimme die Verse ertönen:
Vom Wald bin ich kommen, wo's stockfinster ist,
Und ich lieb Dich von Herzen, das glaub' mir gewiß,
Und da lacht er, da lacht er, der schelmische Dieb,
Als ob er nicht wüßte, daß ich ihn lieb'.
Ei ja, ei ja, ei ei, ei ei, ei ja, ja, ja.
Er war gefangen!
Geneigt wie er immer war, in Scenen des wirklichen Lebens Gemälde und Poesie zu sehen, fand er hier in dem Pfarrhause die Familie des Vikar von Wakefield leibhaftig vor sich. Entsprach Herr Brion dem würdigen Primrose auch nicht ganz, so konnte er doch für ihn hingehen; die älteste Tochter war Olivia, Friederike Sophie, und als beim Abendessen der jüngere Bruder ins Zimmer trat, enthielt sich Goethe kaum auszurufen: Moses, bist Du auch da! Beim Abendessen war's gar heiter; so vergnügt wurden sie, daß der vorsichtige Weyland befürchtete, Goethe könne vor Wein und Liebe aus der Rolle fallen, und einen Spaziergang im Mondschein vorschlug. Weyland bot der ältesten Tochter den Arm, Goethe der jüngsten, und »so zogen sie durch die weiten Fluren, mehr den Himmel über sich zum Gegenstande habend, als die Erde, die sich neben ihnen befand.« Jugend und Mondschein – was braucht's der Worte mehr?! Schon gab er genau Acht, in welchem Tone sie von den einzelnen Vettern und Nachbarn sprach, seine Eifersucht befürchtete einen Nebenbuhler, aber ihr fröhlicher Sinn kannte die Liebessorgen noch nicht, und in schweigender Entzückung horchte er ihrem unbefangenen Geplauder.
Als sich die Freunde zur Nacht zurückzogen, hatten sie viel zu besprechen. Weyland versicherte ihn, sein Inkognito sei vollständig gewahrt: die Familie habe sich vielmehr nach seinem lustigen Tischgenossen Goethe erkundigt, von dem sie allerlei Tollheiten gehört habe. Und nun kam die ängstliche Frage, ob Friederike verlobt sei? Nein. Das war ein Trost. Ob sie je geliebt habe? Nein. Noch besser. So schwatzten sie bis tief in die Nacht, wie Freunde pflegen, deren Herzen zu voll, deren Köpfe zu heiß sind für die Ruhe. Als es tagte, war Goethe schon wieder munter, ungeduldig vor Verlangen, Friederiken in der Frische des Morgens wieder zu sehen. Während er sich ankleidete, erschrak er über seine verwünschte Garderobe und vergebens suchte er sich zu helfen. Mit den Haaren wäre er allenfalls noch fertig geworden, aber als er sich in den geborgten, abgetragenen grauen Rock einzwängte und die kurzen Aermel ihm das abgeschmackteste Ansehen gaben, sah er gar zu lächerlich aus – und Weyland, der sich behaglich im Bette streckte, erhob ein lautes Lachen. In seiner Verzweiflung entschloß er sich kurz, nach Straßburg zurück zu reiten und in seinen eigenen Kleidern wiederzukommen. Unterwegs kam ihm ein anderer Gedanke. Er borgte sich von dem Sohne des Wirths in Drusenheim, der von seiner Gestalt war, die Sonntagskleider, schwärzte sich mit angebranntem Kork die Augenbrauen und kehrte nun nach dem Pfarrhause zurück, mit einem Kuchen für die Frau Pastorin, der gerade abgegeben werden sollte. Auch mit dieser zweiten Verkleidung gelang's ihm, so lange er sich in der Ferne hielt, aber als Friederike nahe an ihn heran kam und ihn fragte: »George, was machst Du hier?« da mußte er sich entdecken. »Nicht George!« rief er, »aber einer, der tausendmal um Verzeihung bittet.« Sie betrachtete ihn mit Erstaunen und rief aus: »Garstiger Mensch, wie erschrecken Sie mich!« Der Scherz wurde nun aufgeklärt und von Friederike sowohl wie von der ganzen Familie, die herzlich darüber lachte, rasch vergeben.
Heiter verging der Tag; die beiden jungen Leute wurden von Stunde zu Stunde verliebter. Die Leidenschaft rechnet nicht nach Zeit: Augenblicke sind wie Ewigkeiten, wenn zwei Herzen in eins zusammen fließen. Es ist daher gleichgültig, daß Goethe in Wahrheit und Dichtung erzählt, er habe »zwei« Tage in jenem glücklichen Kreise verweilt, während er in einem Briefe von damals einen Aufenthalt von »einigen« Tagen angiebt. Er war lange genug da, um sich gründlich zu verlieben und die ganze Familie durch sein munteres, gefälliges Wesen und seine dichterische Begabung für sich einzunehmen. Eine Probe seines Talents hatte er den neuen Freunden durch die Erzählung des (später in die Wanderjahre aufgenommenen) Märchens von der neuen Melusine gegeben, das er für sie niederzuschreiben versprach. Auch an den Plänen des Pastors für den Umbau des Pfarrhauses hatte er Antheil genommen und die betreffenden Entwürfe nahm er zur weitern Ausführung mit nach Straßburg.
Den Schmerz der Trennung erleichterte das Versprechen baldigen Wiedersehens. Neues Leben im Herzen kehrte er nach Straßburg zurück. Nicht lange zuvor hatte er an einen Freund geschrieben, daß er »noch niemals so lebhaft erfahren was das sei, vergnügt ohne daß das Herz einigen Antheil habe zu leben, als jetzt in Straßburg«; angenehme Leute und mannigfache Studien ließen ihm keine Zeit zum Empfinden; »genug, sein jetziges Leben sei vollkommen wie eine Schlittenfahrt, prächtig und klingelnd, aber eben so wenig fürs Herz, als es für Augen und Ohren viel sei.« Aber nun geht ein anderer Ton durch seine Briefe, wenn wir nämlich nach dem einzigen schließen dürfen, der uns erhalten ist. Derselbe ist an Friederike gerichtet, vom 15. Oktober 1770:
»Liebe neue Freundin!
(Straßburg), am 15. Oktober.
Ich zweifle nicht Sie so zu nennen; denn wenn ich mich anders nur ein klein wenig auf die Augen verstehe, so fand mein Aug', im ersten Blick, die Hoffnung zu dieser Freundschaft in Ihnen, und für unsere Herzen wollt ich schwören; Sie, zärtlich und gut wie ich Sie kenne, sollten Sie mir, da ich Sie so lieb habe, nicht wieder ein Bischen günstig sein?
Liebe, liebe Freundin,
Ob ich Ihnen was zu sagen habe, ist wohl keine Frage; ob ich aber just weiß, warum ich eben jetzt schreiben will, und was ich schreiben möchte, das ist ein anderes; so viel merk ich an einer gewissen innerlichen Unruhe, daß ich gern bei Ihnen sein mögte; und in dem Falle ist ein Stückchen Papier so ein wahrer Trost, so ein geflügeltes Pferd für mich, hier, mitten in dem lärmenden Straßburg, als es Ihnen in Ihrer Ruhe nur sein kann, wenn Sie die Entfernung von Ihren Freunden recht lebhaft fühlen.
Die Umstände unserer Rückkehr können Sie sich ohngefähr vorstellen, wenn Sie mir beim Abschiede ansehen konnten, wie leid es mir that, und wenn Sie beobachteten, wie sehr Weyland nach Hause eilte, so gern er auch unter andern Umständen bei Ihnen geblieben wäre. Seine Gedanken gingen vorwärts, meine zurück, und so ist natürlich, daß der Diskurs weder weitläuftig noch interessant werden konnte.
Zu Ende der Wanzenau machten wir Spekulation, den Weg abzukürzen, und verirrten uns glücklich zwischen den Morästen; die Nacht brach herein und es fehlte nichts, als daß der Regen, der wenige Zeit nachher ziemlich freigebig erschien, sich nur etwas übereilt hätte, so würden wir alle Ursache gefunden haben, von der Liebe und Treue unserer Prinzessinnen vollkommen überzeugt zu sein.
Unterdessen war mir die Rolle, die ich, aus Furcht, sie zu verlieren, beständig in der Hand trug, ein rechter Talisman, der mir die Beschwerlichkeiten der Reise alle hinwegzauberte. Und noch? – O, ich mag nichts sagen, entweder Sie können's rathen oder Sie glauben's nicht.
Endlich langten wir an, und der erste Gedanke, den wir hatten, der auch schon auf dem Wege unsre Freude gewesen war, endigte sich in ein Projekt, Sie balde wieder zu sehen.
Es ist ein gar zu herziges Ding um die Hoffnung, wieder zu sehen. Und wir andern mit denen verwöhnten Herzchen, wenn uns ein bischen was leid thut, gleich sind wir mit der Arznei da, und sagen: Liebes Herzchen sei ruhig, Du wirst doch nicht lange von Ihnen entfernt bleiben, von denen Leuten, die Du liebst; sei ruhig liebes Herzchen! Und dann geben wir ihm inzwischen ein Schattenbild, daß es doch was hat, und dann ist es geschickt und still wie ein kleines Kind, dem die Mama eine Puppe statt des Apfels giebt, wovon es nicht essen sollte.
Genug, wir sind nicht hier, und sehen Sie, daß Sie unrecht hatten! Sie wollten mir nicht glauben, daß mir der Stadtlärm auf ihre süße Landfreuden mißfallen würde.
Gewiß, Mamsell, Straßburg ist mir noch nie so leer vorgekommen, als jetzt. Zwar hoff ich, es soll besser werden, wenn die Zeit das Andenken unsrer niedlichen und muthwilligen Lustbarkeiten ein wenig ausgelöscht haben wird; wenn ich nicht mehr so lebhaft fühlen werde, wie gut, wie angenehm meine Freundin ist. Doch sollte ich das vergessen können oder wollen? Nein, ich will lieber das wenig Herzwehe behalten und oft an Sie schreiben.
Und nun noch vielen Dank, noch viele aufrichtige Empfehlungen Ihren theuern Eltern; Ihrer lieben Schwester viel hundert – was ich Ihnen gern wieder gäbe!!«
Wenige Tage nach seiner Rückkehr ließ sich Herder operiren. Goethe war fortwährend um ihn, aber wie er seine mystischen Studien und dichterischen Entwürfe aus Furcht vor Herder's Spott sorgfältig verbarg, so verschwieg er ihm vermuthlich auch die neue Leidenschaft, die ihn mit so süßer Pein erfüllte. Still im Herzen trug er Friederiken und sorgfältig zeichnete er die Pläne für das neue Pfarrhaus. Er sandte der Geliebten Bücher und erhielt von ihr einen Brief, der ihm natürlich als das kostbarste Besitzthum erschien.
Im November ging er wieder nach Sesenheim. Es war schon spät, als er in der Dorfschenke ankam; bis zum nächsten Morgen zu warten erlaubte ihm seine Ungeduld um so weniger, als die Aeußerung des Wirths, die Mädchen seien eben erst nach Hause gegangen und erwarteten noch einen Fremden, seine Eifersucht erregte; er eilte nach dem Pfarrhause. Zu seiner Ueberraschung war man dort über den späten Besuch nicht überrascht, und noch mehr erstaunte er, als er Friederiken der Schwester in's Ohr flüstern hörte: »Hab ich's nicht gesagt? da ist er!« Ihr liebend Herz hatte seine Ankunft vorher gesagt und genau zu dem rechten Tage.
Der folgende Tag war ein Sonntag, und man erwartete viele Gäste. Früh bei Zeiten rief ihn Friederike zum Spazierengehen, während Mutter und Schwester zum Empfang der Gäste die Vorbereitungen trafen. Wer könnte diesen Spaziergang beschreiben, auf dem sich das jugendliche Paar harmlos und frei, wie George Sand es so schön nennt, »all dem unendlichen Nichts einer werdenden Liebe« hingab? Sie sprachen über die Vergnügungen des bevorstehenden Nachmittags und verabredeten sich, sie wo möglich in ungetrennter Gemeinsamkeit zu genießen; sie machten einander mit neuen geselligen Spielen bekannt, und aus diesem unschuldigen Geplauder lächelte rein und heiter die Liebe hervor. Die Glocke rief sie vom Spaziergang zur Kirche; ihre Aufmerksamkeit auf die Predigt des würdigen Pfarrers wird wohl nicht groß gewesen sein; eine Andacht anderer Art glühte in ihren Herzen. Er wiederholte sich ihre Vorzüge, die sie soeben auf's Freieste vor ihm entwickelt hatte: »besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehn; Eigenschaften, die unverträglich scheinen, die sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr Aeußeres gar hold bezeichneten.« Eine »ernstere Betrachtung« über ihn selbst kam dazu. Die rothen Lippen Friederiken's erinnerten ihn an die Verwünschung, welche jene leidenschaftliche Französin mit ihrem letzten Kusse an seinen Mund geheftet, und deretwegen er sich, abergläubisch genug, seither in Acht genommen hatte, ein Mädchen zu küssen. Beim Einlösen der Pfänder, wo die Küsse immer eine große Rolle spielten, war ihm das oft genug eine lästige Prüfung gewesen, und um mit einer zierlichen Wendung davonzukommen, mußte er nun im Pfarrhause seine ganze Geistesgegenwart aufbieten, da die Gesellschaft bald genug sein Verhältniß zu Friederike herausfühlte und sich schalkhaft alle Mühe gab, ihm dasjenige aufzudrängen, was er heimlich zu vermeiden suchte. Die Geliebte half ihm dabei mit natürlichem Takt. Doch die Zeit kam auch, wo die Erregung des Tanzes und Spieles ihn fortriß, wo im brennenden Druck ihrer Lippen all seinen Aberglauben vernichtete – »ein Kuß, ein langer, langer Kuß der Lieb' und Schönheit.«
Wenn auch nicht als förmlich Verlobter, doch als erklärter Liebhaber verließ er diesmal Sesenheim. So wenigstens scheint ihn die Familie und der Freundeskreis des Hauses angesehen zu haben. Eine Verlobung fand vermutlich deshalb nicht statt, weil er noch so jung war und die Einwilligung des Vaters hätte eingeholt werden müssen. Seine Muse, schweigsam seither, fand nun wieder Worte, und von den Liedern, die ihm Friederike eingab, sind manche in seinen gesammelten Gedichten enthalten. Vollzählig sind dieselben zu finden im »Sesenheimer Liederbuch« und in Viehoff's »Goethe erläutert«; von den in Goethe's Gedichte aufgenommenen sind die bemerkenswerthesten: Willkommen und Abschied (»Es schlug mein Herz! geschwind zu Pferde!«), Mit einem gemalten Bande (»Kleine Blumen, kleine Blätter«), An die Erwählte (»Hand in Hand und Lipp' auf Lippe«) und das köstliche »Mailied« (Wie herrlich leuchtet mir die Natur!). Daneben: »Erwache Friederike!« und »Ein grauer trüber Morgen.« (Anm. d. Uebers.)
Der Zweck seines Straßburger Aufenthaltes war, Doktor der Rechte zu werden. Kurz vor der Sesenheimer Fahrt hatte er seine Dissertation angefangen. Aber Shakespeare, Ossian, Faust, Götz, und vor allem Friederike hatten seine Pläne gestört, und er folgte nun dem Rathe von Freunden, statt über eine Dissertation, über eine Reihe von Thesen zu disputiren. Indeß sein Vater wollte nichts davon hören und bestand auf einer gehörigen Dissertation. Er wählte daher das Thema, jeder Gesetzgeber sei berechtigt und verpflichtet, einen gewissen Kultus festzusetzen, von welchem weder die Geistlichkeit noch die Laien sich lossagen dürften. Theils historisch, theils raisonnirend führte er dieses Thema aus. Die Dissertation wurde natürlich lateinisch geschrieben, und sein Vater, dem er sie in besonderer Abschrift zuschickte, hatte große Freude daran. Aber der Dekan der Fakultät wollte die Arbeit, sei es aus Bedenken gegen die darin enthaltenen Paradoxien, sei es wegen Mangels an der nöthigen Gelehrsamkeit, nicht als akademische Dissertation veröffentlichen lassen. Dafür durfte Goethe über Theses disputiren. S. diese Thesen im vierten Anhang. Nach dem Wortlaut der Überschrift » pro licentia summos in utroque jure honores rite consequendi« kann G. durch diese Disputation nur Licentiatus juris geworden sein. G. ist nicht Doctor rite promotus gewesen, wurde auch in die Frankfurter Advokaten-Liste nicht als solcher eingetragen; Doctor Goethe war Doctor by courtesy. Anm. d. Uebers. Das geschah am 6. August 1771; seine Tischgenossen, namentlich Franz Lerse, waren die Opponenten. Ein lustiger Schmaus beschloß die Feierlichkeit von Dr. Goethe's Promotion.
Während der Vorbereitungen auf das Examen konnte er zu Besuchen in Sesenheim keine Zeit finden; aber doch war er nicht ganz von Friederike getrennt: die Mutter kam mit beiden Töchtern zum Besuch bei einem reichen Verwandten nach Straßburg. Goethe war nun schon einige Zeit mit der Familie bekannt gewesen und hatte oft Gelegenheit gehabt, mit seiner Geliebten zusammen zu sein. Jetzt sollte er sie außerhalb ihrer gewohnten Umgebung sehen. Die Mädchen kamen in der Elsasser Nationaltracht, ihre städtischen Verwandten waren französisch gekleidet – ein Gegensatz, der Olivien sehr unglücklich, verlegen und ungeschickt machte, so daß Goethe sich offenbar ihres Benehmens ein wenig schämte. Friederike paßte zwar auch nicht in diese Lage, wußte sich aber doch besser zu finden und war vollkommen zufrieden, so lange sie ihn zur Seite hatte. In seiner Lebensbeschreibung nennt Goethe diesen Straßburger Besuch der Pastorsfamilie mit einem bezeichnenden Ausdruck »eine sonderbare Prüfung.« Und eine Prüfung war es, wenn man die verschiedenen Lebensverhältnisse der beiden Liebenden erwägt. Er war der Sohn eines vornehmen Frankfurter Bürgers, an gesellschaftlicher Stellung hoch erhaben über die arme Pastorstochter. Ja, so groß war der Abstand, daß viele meinen, eine Heirath mit Friederiken sei für ihn schon deshalb unmöglich gewesen, weil sein Vater nie seine Einwilligung gegeben haben würde. Die Liebe kümmert sich nie um Rang und Stellung, fragt nie, was die Welt dazu sagen wird, aber wenn es an's Heirathen geht, so treten Zweifel und Bedenken ein. Die Männer sind sehr empfindlich, was andere von ihren Geliebten und Frauen halten, und für Goethe muß es wirklich eine rechte Prüfung gewesen sein, Friederiken und ihre Schwester in so grellem Gegensatze mit ihrer städtischen Umgebung zu sehen. In den Gehölzen von Sesenheim war sie (wie Schaefer es ausdrückt) eine Nymphe des Waldes, im Straßburger Salon wurde die Nymphe zur Bäuerin – eine Zerstörung von Illusionen, wie sie wohl mancher schon erlebt hat.
Eines Abends nahm Friederike die Dienste des Geliebten zur Unterhaltung der Gesellschaft in Anspruch; sie bat ihn, Hamlet vorzulesen. Er erntete großen Beifall. Friederike hatte während der Vorlesung »von Zeit zu Zeit tief geathmet und ihre Wangen eine fliegende Röthe überzogen.« Dachte sie an die arme Ophelia und ihr zerstörtes Glück?
»Was Hamlet angeht und sein Liebsgetändel,
»So nimm's als Sitte, als ein Spiel des Bluts« –?
Wohl mochte sie eine Ahnung ihrer Zukunft überschleichen. Aber den Beifall, den der Geliebte erntete, sammelte sie mit Freuden ein und »versagte sich, nach ihrer zierlichen Weise, den kleinen Stolz nicht, in ihm und durch ihn geglänzt zu haben.«
Daß seine Leidenschaft ihn selbst sehr beunruhigte, leidet keinen Zweifel. »Welch' Glück ist's,« schrieb er, »ein leichtes, ein freies Herz zu haben! Muth treibt uns an Beschwerlichkeit, an Gefahren; aber große Freuden werden nur mit großer Mühe erworben. Und das ist vielleicht das Meiste, was ich gegen die Liebe habe. Man sagt, sie mache muthig; nimmermehr! Sobald unser Herz weich ist, ist es schwach. Wenn es so ganz warm an seine Brust schlägt und die Kehle wie zugeschnürt ist, und man Thränen aus den Augen zu drücken sucht und in einer unbegreiflichen Wonne dasitzt, wenn sie fließen: o, da sind wir so schwach, daß uns Blumenketten fesseln, nicht weil sie durch irgend eine Zauberkraft stark sind, sondern weil wir zittern, sie zu zerreißen.«
Die Erwähnung des Hamlet führt uns von selbst in die Gesellschaft, wo er Vergessen suchte, als Friederike Straßburg verließ. Bei ihrer Abreise, gesteht er, fiel es ihm wie ein Stein vom Herzen. Sie ihrerseits fühlte beim Scheiden, daß der Liebesroman zu Ende ging. Er stürzte sich wieder in den heitern Kreis der Genossen, um der quälenden Gedanken los zu werden; er verlor sich halb in den Taumel von Lustbarkeiten und Tänzen, aber er gestand Salzmann, glücklich fühle er sich doch nicht, sein Herz sei wie eine Wetterfahne, wenn ein Gewitter aufzieht, und er fühle, daß er Schatten nachjage. Sehr viel verkehrte er mit Lenz, der kurz vorher nach Straßburg gekommen war; mit ihm und einigen andern Shakespeare-Schwärmern bildete er eine Gesellschaft, die so shakespearefest war, wie nur ein Theologe bibelfest sein kann, deren »ganze Glückseligkeit die Absurditäten der Clowns machten,« die sich »sehr glorios« fühlte, wenn sie diesen nachahmen und Späße liefern konnte, welche der Shakespeare'schen Narren würdig und aus der »wahrhaften reinen Narrenquelle« geflossen waren. Die Wirkung Shakespeare's auf das junge Deutschland war ungeheuer. Die grandiose Kraft, die Tiefe seiner Gedanken, die Originalität und Kühnheit der Sprache, seine Schönheit, sein Pathos, seine Erhabenheit, sein Witz und wild überströmender Humor, die Lebensfülle seiner Gestalten, die Feinheit seiner Beobachtung und die tiefe Einsicht in die Geheimnisse der Leidenschaft und des Charakters – alles das waren Vorzüge, welche zu schätzen die Deutschen nicht wie die Franzosen durch falsche Kritik und, noch weniger, durch nationale Vorurtheile gehindert waren. Lessing hatte den Namen Shakespeare auf das Banner geschrieben, das den Angriffen auf die französirende Richtung voran wehte. In seinem Sinne drang dann Herder tief in Shakespeare's Wesen ein und stellte es herrlich dar; ihm nach der Kreis von Goethe's Straßburger Freunden. Von Goethe ist aus jener Zeit eine Rede über Shakespeare erhalten und durch Otto Jahn veröffentlicht. Den einundzwanzigjährigen Jüngling in beredten Worten seinen großen Meister preisen zu hören, gewährt einen klaren Einblick in das Geheimniß seiner Gedankenwelt. Die Rede lautet:
»Mir kommt vor, als sei die edelste von unsern Empfindungen die Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint. Dieses Leben, meine Herren, ist für unsere Seele viel zu kurz; Zeuge, daß jeder Mensch, der geringste wie der höchste, der unfähigste wie der würdigste, eher alles müd wird als zu leben; und daß keiner sein Ziel erreicht, wornach er so sehnlich ausging; – denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so lange glückt, fällt er doch endlich und oft im Angesichte des gehofften Zweckes in eine Grube, die ihm Gott weiß wer gegraben hat, und wird für nichts gerechnet. Für nichts gerechnet, Ich! der ich mir Alles bin, der ich Alles nur durch mich kenne! so ruft jeder, der sich fühlt und macht große Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für den unendlichen Weg drüben. Freilich geht jeder nach seinem Maße. Macht der Eine mit dem stärksten Wandertrab sich auf, so hat der Andre Siebenmeilenstiefeln an, überschreitet ihn, und zwei Schritte des letzten bezeichnen die Tagereise des ersten. Dem sei wie ihm wolle: dieser emsige Wanderer bleibt unser Freund und unser Geselle, wenn wir die gigantischen Schritte jenes anstaunen und ehren, seinen Fußtapfen folgen, seine Schritte mit den unsrigen abmessen.
»Auf die Reise, meine Herren! Die Betrachtung so eines einzigen Taufs macht unsere Seele feuriger und größer als das Angaffen eines tausendfüßigen königlichen Einzugs. Wir ehren heute das Andenken des größten Wanderers und thun uns dadurch selbst eine Ehre an. Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.
»Erwarten Sie nicht, daß ich viel und ordentlich schreibe; Ruhe der Seele ist kein Festtagskleid; und noch zur Zeit habe ich wenig über Shakespeare gedacht; – geahnet, empfunden wenn's hoch kam ist das Höchste wohin ich es habe bringen können. Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf Zeitlebens ihm eigen; und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stand ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert – Alles war mir neu, unbekannt und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernte ich sehen und, Dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft was ich gewonnen habe. Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft; ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo da ich sehe, wie viel Unrecht mir die Herrn der Regel in ihrem Loch angethan haben, wie viel freie Seelen noch drinnen sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Thürme zusammenzuschlagen.
»Das griechische Theater, das die Franzosen zum Muster nahmen, war nach innerer und äußerer Beschaffenheit so, daß eher ein Marquis dem Alcibiades nachahmen könnte, als es Corneillen dem Sophokles zu folgen möglich wäre. Erst Intermezzo des Gottesdienstes, dann feierlich politisch, zeigte das Trauerspiel einzelne große Handlungen der Väter dem Volk, mit der reinen Einfalt der Vollkommenheit; erregte ganze und große Empfindungen in den Seelen, denn es war selbst ganz und groß. Und in was für Seelen! Griechischen! ich kann mich nicht erklären, was das heißt, aber ich fühle es und berufe mich der Kürze halber auf Homer und Sophokles und Theokrit; die habens mich fühlen gelehrt.
»Nun sag ich geschwind hinten drein: Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer.
»Drum sind auch alle französischen Trauerspiele Parodien von sich selbst. Wie das so regelmäßig zugeht, und daß sie einander so ähnlich sind wie Schuhe und auch langweilig mitunter, besonders in genere im vierten Akt, das wissen die Herren leider aus der Erfahrung und ich sage nichts davon.
»Wer eigentlich zuerst darauf gekommen ist, die Haupt- und Staatsaktionen aufs Theater zu bringen, weiß ich nicht; es giebt Gelegenheit für den Liebhaber zu einer kritischen Abhandlung. Ob Shakespeare die Ehre der Erfindung gehört, zweifle ich; genug er brachte diese Art auf den Grad der noch immer der höchste geschienen hat, da so wenig Augen hinaufreichen und also schwer zu hoffen ist, einer könne ihn übersehen oder gar übersteigen. Shakespeare, mein Freund! wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgends leben als mit dir; wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärest; lieber als die geehrwürdigste Person eines Oberpriesters im Tempel zu Delphos.
»Ich will abbrechen, meine Herren, und morgen weiter schreiben, denn ich bin in einem Ton, der Ihnen vielleicht nicht so erbaulich ist, als er mir von Herzen geht.
»Shakespeare's Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Styl zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigenthümliche unseres Ichs, die prätendirte Freiheit unseres Wollens mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt. Unser verdorbener Geschmack aber umnebelt dergestalt unsere Augen, daß wir fast eine neue Schöpfung nöthig haben, uns aus dieser Finsterniß zu entwickeln.
»Alle Franzosen und angesteckte Deutsche, sogar Wieland haben sich bei dieser Gelegenheit, wie bei mehreren wenig Ehre gemacht. Voltaire, der von jeher Profession machte, alle Majestät zu lästern, hat sich auch hier als ein ächter Thersit bewiesen. Wäre ich Ulysses, er sollte seinen Rücken unter meinem Scepter verzerren. Die meisten von diesen Herren stoßen sich besonders an seinen Charakteren an. Und ich rufe, Natur, Natur! nichts so Natur als Shakespeare's Menschen.
»Da hab ich sie alle überm Hals. Laßt mir Luft, daß ich reden kann! Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in colossalischer Größe; darin liegt es, daß wir unsere Brüder verkennen; und dann belebte er sie mit dem Hauch seines Geistes; er redet aus allen und man erkennt ihre Verwandtschaft.
»Und was will sich unser Jahrhundert unterstehen von Natur zu urtheilen? wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen und an andern sehen? Ich schäme mich oft vor Shakespeare, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke: das hätt' ich anders gemacht; hinten drein erkenne ich, daß ich ein armer Sünder bin, daß aus Shakespeare die Natur weissagt und daß meine Menschen Seifenblasen sind von Romanengrillen aufgetrieben.
»Und nun zum Schluß, ob ich gleich noch nicht angefangen habe. Das was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Shakespeare, das was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört, als zona torrida brennen und Lapland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe. Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte unerfahrene Menschen schreien bei jeder fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.
»Auf, meine Herren, trompeten Sie mir alle edlen Seelen aus dem Elysium des sogenannten guten Geschmacks, wo sie schlaftrunken in langweiliger Dämmerung halb sind, halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in den Knochen haben; und weil sie nicht müde genug zu ruhen und doch zu faul sind, um thätig zu sein, ihr Schattenleben zwischen Myrthen- und Lorbeergebüschen verschleudern und verzahnen.«
Aus diesen Lauten spricht die Stimme des Jünglings, der den Götz mit der eisernen Hand schrieb. Wenn der Leser nun Wahrheit und Dichtung nachsieht und vergleicht, was dort über Shakespeare's Einfluß in der Straßburger Zeit gesagt ist, so wird er einsehen, was ich mit der Behauptung gemeint habe, der Ton in Goethe's Lebensbeschreibung entspreche der Wirklichkeit nicht. Der Ton dieser Rede ist der der Sturm- und Drangperiode, die Goethen im späteren Leben so zuwider war. Auf Schiller wirkte Shakespeare ganz anders; hören wir, was er selbst in den neunziger Jahren darüber schrieb: »Als ich in einem sehr frühen Alter diesen Dichter zuerst kennen lernte, empörte mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos zu scherzen. Durch die Bekanntschaft mit neueren Poeten verleitet, in dem Werke zuerst den Dichter aufzusuchen, seinem Herzen zu begegnen, mit ihm gemeinschaftlich über seinen Gegenstand zu reflektiren, kurz das Objekt mit dem Subjekt anzuschauen, war es mir unerträglich, daß der Poet sich hier gar nirgends fassen ließ, und mir nirgends Rede stehen wollte. Mehrere Jahre hatte er schon meine ganze Verehrung und war mein Studium, ehe ich sein Individuum lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht fähig, die Natur aus der ersten Hand zu verstehen.«
Die Begeisterung für Shakespeare regte Goethe natürlich zu dramatischer Thätigkeit an; in seinem Straßburger Tagebuche findet sich, neben den Hinweisungen auf Götz und Faust, der Anfang eines Drama's Julius Cäsar.
Aus den mannigfaltigen Einflüssen des Straßburger Aufenthalts erheben sich drei Gestalten zu klarer und denkwürdiger Bedeutung: Friederike, Herder, der Straßburger Münster. Ein herrliches Frauenbild, ein edler Denker, ein stattlicher Bau – das waren seine Führer in die Gebiete der Leidenschaft, der Poesie, der Kunst. Der Einfluß Herder's blieb dauernd, die Wirkung des Münsters ging bald unter andern Eindrücken verloren. Doch war sie zunächst stark genug, um ihn zu der kleinen Abhandlung »über deutsche Baukunst D. M. Erwin a Steinbach« zu veranlassen, deren begeisterte Anschauungen ihm in späteren Jahren so unbegreiflich waren, daß er nur mit Mühe vermocht wurde, die Abhandlung in seine gesammelten Werke aufzunehmen. Auch darin, wie in so manchen andern Zügen, zeigt sich, wie verschieden der Jüngling von dem Knaben und dem Manne ist. Wie sehr er damals die Grundsätze der Baukunst beherrschte, welche den Straßburger Münster geschaffen hat, läßt sich aus einem einfachen Zuge ersehen. In Gesellschaft mit Freunden betrachtete er den Münster; es sei schade, bemerkte jemand, daß das Ganze nicht fertig geworden und daß man nur den einen Thurm habe; Goethe versetzte darauf, es sei ihm eben so leid, diesen einen Thurm nicht ganz ausgeführt zu sehen, denn die vier Schnecken setzten viel zu stumpf ab, es hätten noch vier leichte Thurmspitzen darauf gesollt, so wie eine höhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz stehe. Wer ihm das gesagt habe, fragte ihn ein anderer aus der Gesellschaft; der Thurm selbst, antwortete Goethe; er habe ihn so lange und aufmerksam betrachtet und ihm so viel Neigung erwiesen, daß er zuletzt ihm dies offenbare Geheimniß gestanden. Da erfuhr er denn, daß ihn der Thurm nicht mit Unwahrheiten berichtet, und der jene Frage an ihn gestellt, zeigte ihm im Archiv die noch erhaltenen Originalrisse, die durchaus dasselbe besagten, was Goethe durch Anschauung gefunden hatte.
Und nun war die Zeit da, wo er Straßburg, wo er – Friederiken verlassen sollte! Wie sehr ihn auch ihre Anwesenheit in der Stadt beengt hatte, in ihrer Abwesenheit dachte er nur ihrer bezaubernden Reize. Zwar, daß sie nie die Seine würde, fühlte er wohl, aber er hatte nicht aufgehört sie zu lieben. Er ging, ihr Lebewohl zu sagen. »Es waren peinliche Tage, schreibt er, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war Hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traume aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friederiken noch einmal zu besuchen.« Wahrscheinlich wird der Leser über diese Erzählung etwas bedenklich den Kopf schütteln und sich der Vermuthung nicht erwehren können, daß die Einbildungskraft des Dichters aus der Thatsache nachträglich eine vorgängige Ahnung gemacht habe, wie denn auch in einem Briefe an Frau von Stein, der ein oder zwei Tage nach diesem spätem Besuche bei Friederike geschrieben ist, von jenem doch so seltsamen Zusammentreffen kein Wort sich findet.
Und so lebe wohl, Friederike, glänzendes herrliches Bild aus eines Dichters Jugend! Wir lieben dich, wir bedauern dich, und der Gedanke überkommt uns, wie ganz anders wir gegen dich gehandelt hätten! Nach Sesenheim machen wir Wallfahrten, wie nach Vauclüse, und fein leserlich schreiben wir deß zum Zeugniß unsere Namen in das Fremdenbuch. Und nicht ohne Rührung lesen wir Erzählungen, wie die des würdigen Philologen Näke, der 1822 die erste Wallfahrt machte, jeden Fußbreit Landes untersuchte, wo die bezaubernde Friederike einst gewandelt, im Wirthshause zu Sesenheim nachdenklich zu Mittag speiste (mit der stillen Befürchtung, die Rechnung werde wohl über Erwarten hoch sein), dann mit Herrn Brion's Nachfolger Kaffee trank, und – für einen verstaubten Stubengelehrten rührend gefühlvoll – von der Jasminstaude, die einst Friederikens weiße Hand gepflegt, einen Zweig abbrach und in sein Taschenbuch legte als dauerndes Angedenken!