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Kestner's Bericht über Jerusalem's Selbstmord. Großes Aufsehen in Wetzlar. Werther's Charakter. Unterschied zwischen Werther und Goethe. Einfache Anlage des Buchs. Die Wirkung ungeheuer. Einwürfe Lessing's. Parodie von Nicolai. Nicolai auf Werther's Grabe. Enthusiasmus Zimmermann's und Kotzebue's. Entrüstung Kestner's und Lotten's. Goethe erhält ihre Verzeihung. Kestner's Briefe an Hennings.
Die Geschichte des jungen Jerusalem gab Goethe das Gerüst, in welches er seine eigenen Erlebnisse einfügen konnte. Aus dem ausführlichen Bericht, den er von Kestner kurz nach der Katastrophe erhielt, nahm er viele Einzelheiten auf; Kestner's Brief mag daher als eine Einleitung zu dem Romane selbst seinem wesentlichen Inhalte nach hier stehen. Jerusalem, von Natur schwermüthig, war die ganze Zeit in Wetzlar mißvergnügt gewesen. Der Zutritt in die ersten Kreise der diplomatischen Gesellschaft, auf den er durch seine amtliche Stellung Anspruch hatte, war ihm versagt worden; mit seinem Gesandten stand er schlecht, und zu allem hatte er sich in die Frau eines seiner Freunde verliebt. In gedrückter Stimmung entzog er sich der menschlichen Gesellschaft, liebte einsame Spaziergänge bei Mondschein und irrte wohl halbe Nächte im Walde umher. Dabei behielt er seinen ganzen Kummer für sich, entdeckte den Freunden niemals die Ursachen und suchte Zerstreuung in Romanen, den elenden Romanen jener Zeit. Daneben las er Trauerspiele, wobei ihm die fürchterlichsten die liebsten waren, aus der englischen Literatur vorzugsweise die Schriften voll düsterer Betrachtung, und endlich mancherlei philosophische Werke. Auch schrieb er selbst Abhandlungen, darunter eine über den Selbstmord, eine Frage, die ihn vielfach beschäftigte. Sein Lieblingsbuch war Mendelssohn's Phädon. Als das Gerücht von Goué's Selbstmord sich in Wetzlar verbreitete, erklärte er zwar Goué nicht dazu fähig, aber die That als solche vertheidigte er. Wenige Tage vor seinem eigenen unglücklichen Ende sprach er noch mit einem Freunde über den Selbstmord und meinte, es müsse aber doch eine dumme Sache sein, wenn das Erschießen mißriethe. Den Schluß dieses Berichts geben wir in Kestners eigenen Worten, deren schlichte Weise am besten zu einer solchen Geschichte paßt.
»Vergangenen Dienstag kommt er zum kranken Kielmannsegge, mit einem mißvergnügten Gesichte. Dieser frägt ihn, wie er sich befände? Er: Besser als mir lieb ist. Er hat auch den Tag viel von der Liebe gesprochen, welches er sonst nie gethan; und dann von der Franckfurter Zeitung, die ihm seit einiger Zeit mehr als sonst gefalle. Nachmittags (Dienstag) ist er bey Sekr. H… gewesen. Bis Abends 8 Uhr spielen sie Tarok zusammen. Annchen Brandt war auch da; Jerusalem begleitet diese nach Hause. Im Gehen schlägt Jerusalem oft unmuthsvoll vor die Stirn und sagt wiederholt: Wer doch erst todt, – wer doch erst im Himmel wäre! – Annchen spaßt darüber; er bedingt sich bey ihr im Himmel einen Platz, und beim Abschiednehmen sagt er: Nun es bleibt dabey, ich bekomme bey Ihnen im Himmel einen Platz.
»Am Mittewochen, da im Kronprinz groß Fest war, und jeder jemanden zu Gaste hatte, ging er, ob er gleich sonst zu Haus aß, zu Tisch und brachte den Sekr. H… mit nach Haus zu seiner Frau. Sie trinken Kaffee. Jerusalem sagt zu der H…: Liebe Frau Sekretairin, dieß ist der letzte Kaffee, den ich mit Ihnen trinke. – Sie hält es für Spaß und antwortet in diesem Tone. Diesen Nachmittag (Mittwochs) ist Jerusalem allein bei H…s gewesen, was da vorgefallen, weiß man nicht; vielleicht liegt hierin der Grund zu folgendem. – Abends, als es eben dunkel geworden, kommt Jerusalem nach Garbenheim, ins gewöhnliche Gasthaus, frägt ob niemand oben im Zimmer wäre? Auf die Antwort: Nein, geht er hinauf, kommt bald wieder herunter, geht zum Hofe hinaus, zur linken Hand hin, kehrt nach einer Weile zurück, geht in den Garten; es wird ganz dunkel, er bleibt da lange, die Wirthin macht ihre Anmerkungen darüber, er kommt wieder heraus, geht bei ihr, alles ohne ein Wort zu sagen, und mit heftigen Schritten, vorbey, zum Hofe hinaus, rechts davon springend.
»Inzwischen; oder noch später, ist unter H… und seiner Frau etwas vorgegangen, wovon H… einer Freundin vertrauet, daß sie sich über Jerusalem etwas entzweyet und die Frau endlich verlangt, daß er ihm das Haus verbieten solle, worauf er es auch folgenden Tags in einem Billet gethan.«
(In einem Nachtrage Kestner's, den wir des Zusammenhangs wegen gleich hier einschalten, heißt es: »Man will geheime Nachrichten aus dem Munde des Sekret. H… haben, daß am Mittewochen vor Jerusalems Tode, da dieser beim H… und seiner Frau zum Kaffee war, der Mann zum Gesandten gehen müssen. Nachdem der Mann wieder kömmt, bemerkt er an seiner Frau eine ausserordentliche Ernsthaftigkeit und bei Jerusalem eine Stille, welche beyde ihm sonderbar und bedenklich geschienen, zumal da er sie nach seiner Zurückkunft so sehr verändert findet. – Jerusalem geht weg. Sekrt. H… macht über Obiges seine Betrachtungen; er faßt Argwohn, ob etwa in seiner Abwesenheit etwas ihm nachtheiliges vorgegangen sein möchte, denn er ist sehr argwöhnisch und eyfersüchtig. Er stellt sich jedoch ruhig und lustig; und will seine Frau auf die Probe stellen. Er sagt: Jerusalem habe ihn doch oft zum Essen gehabt, was sie meynte, ob sie Jerusalem nicht auch einmal zum Essen bey sich haben wollten? – Sie, die Frau, antwortet: Nein; und sie müßten den Umgang mit Jerusalem ganz abbrechen; er finge an sich so zu betragen, daß sie seinen Umgang ganz vermeiden müßte. Und sie hielte sich verbunden ihm, dem Manne, zu erzählen, was in seiner Abwesenheit vorgegangen sey. Jerusalem habe sich vor ihr auf die Knie geworfen und ihr eine förmliche Liebeserklärung thun wollen. Sie sey natürlicher Weise darüber aufgebracht worden und hätte ihm viele Vorwürfe gemacht etc. etc. Sie verlange nun, daß ihr Mann ihm, dem Jerusalem, das Haus verbieten solle, denn sie könne und wolle nichts weiter von ihm hören noch sehen. Hierauf habe H… andern Morgens das Billet an Jerusalem geschrieben etc.)
»Nachts von Mittewoch auf den Donnerstag ist er um 2 Uhr aufgestanden, hat den Bedienten geweckt, gesagt, er könne nicht schlafen, es sey ihm nicht wohl, läßt einheitzen, Thee machen, ist aber doch nachher ganz wohl, dem Ansehen nach.
»Donnerstag Morgens schickt Sekret. H… an Jerusalem ein Billet. Die Magd will keine Antwort abwarten und geht. Jerusalem hat sich eben rasiren lassen. Um 11 Uhr schickt Jerusalem wieder ein Billet an Sekret. H…, dieser nimmt es dem Bedienten nicht ab, und sagt, er brauche keine Antwort, er könne sich in keine Correspondenz einlassen und sie sähen sich ja alle Tage auf der Dictatur. Als der Bediente das Billet unerbrochen wieder zurückbringt, wirft es Jerusalem auf den Tisch und sagt: es ist auch gut. (Vielleicht den Bedienten glauben zu machen, daß es etwas gleichgültiges betreffe.)
»Mittags isset er zu Haus, aber wenig, etwas Suppe. Schickt um 1 Uhr ein Billet an mich und zugleich an seinen Gesandten, worin er diesen ersucht, ihm auf diesen (oder künftigen) Monat sein Geld zu schicken. Der Bediente kommt zu mir. Ich bin nicht zu Hause, mein Bedienter auch nicht. Jerusalem ist inzwischen ausgegangen, kommt um ½4 Uhr zu Haus, der Bediente giebt ihm das Billet wieder. Dieser sagt: Warum er es nicht in meinem Hause, etwa an eine Magd, abgegeben? Jener: Weil es offen und unversiegelt gewesen, hätte er es nicht thun mögen. – Jerusalem: Das hätte nichts gemacht, jeder könne es lesen, er sollte es wieder hinbringen. – Der Bediente hielt sich hierdurch berechtigt, es auch zu lesen, ließt es und schickt es mir darauf durch einen Buben, der im Hause aufwartet. Ich war inzwischen zu Haus gekommen, es mogte ein ½4 Uhr sein, als ich das Billet bekam:
›Dürfte ich Ew. Wohlgeb. wohl zu einer vorhabenden Reise um ihre Pistolen gehorsamst ersuchen? J.‹
»Da ich nun von alle dem vorher erzählten und von seinen Grundsätzen nichts wußte, indem ich nie besondern Umgang mit ihm gehabt – so hatte ich nicht den mindesten Anstand ihm die Pistolen sogleich zu schicken.
»Nun hatte der Bediente in dem Billet gelesen, daß sein Herr verreisen wollte, und dieser ihm solches selbst gesagt, auch alles auf den andern Morgen um 6 Uhr zur Reise bestellt, sogar den Friseur, ohne daß der Bediente wußte wohin, noch mit wem, noch auf was für Art? Weil Jerusalem aber allezeit seine Unternehmungen vor ihm geheim tractiret, so schöpfte dieser keinen Argwohn. Er dachte jedoch bey sich: ›Sollte mein Herr etwa heimlich nach Braunschweig reisen wollen, und dich hier sitzen lassen? etc.‹ Er mußte die Pistolen zum Büchsenschäfter tragen und sie mit Kugeln laden lassen.
»Den ganzen Nachmittag war Jerusalem für sich allein beschäftigt, kramte in seinen Papieren, schrieb, ging, wie die Leute unten im Hause gehört, oft im Zimmer heftig auf und nieder. Er ist auch verschiedene Male ausgegangen, hat seine kleinen Schulden, und wo er nicht auf Rechnung ausgenommen, bezahlt; er hatte ein Paar Manschetten ausgenommen, er sagt zum Bedienten, sie gefielen ihm nicht, er solle sie wieder zum Kaufmann bringen; wenn dieser sie aber nicht gern wieder nehmen wollte, so wäre da das Geld dafür, welches der Kaufmann auch lieber genommen.
»Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische Sprachmeister zu ihm. Dieser fand ihn unruhig und verdrießlich. Er klagte, daß er seine Hypochondrie wieder stark habe, und über mancherley; erwähnt auch, daß das Beste sey, sich aus der Welt zu schicken. Der Italiäner redet ihm sehr zu, man müsse dergleichen Passionen durch die Philosophie zu unterdrücken suchen etc. Jerusalem: das ließe sich nicht so thun; er wäre heute lieber allein, er möchte ihn verlassen. Der Italiäner: er müsse in Gesellschaft gehen, sich zerstreuen etc. Jerusalem: er gienge auch noch aus. – Der Italiäner, der auch die Pistolen auf dem Tische liegen gesehen, besorgt den Erfolg, geht um halb acht Uhr weg und zu Kielmansegge, da er denn von nichts als von Jerusalem, dessen Unruhe und Unmuth spricht, ohne jedoch von seiner Besorgniß zu erwähnen, indem er geglaubt, man möchte ihn deswegen auslachen.
»Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen, um ihm die Stiefeln auszuziehen. Dieser hat aber gesagt, er gienge noch aus; wie er auch wirklich gethan hat, vor das Silberthor auf die Starke Weide, und sonst auf die Gasse, wo er bey Verschiedenen den Hut tief in die Augen gedrückt, vorbey gerauscht ist, mit schnellen Schritten, ohne jemand anzusehen. Man hat ihn auch um diese Zeit eine ganze Weile an dem Fluß stehen sehen, in einer Stellung, als wenn er sich hineinstürzen wolle (so sagt man).
»Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht machen, läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. Der Bediente, um recht früh bey der Hand zu seyn, da sein Herr immer sehr accurat gewesen, legt sich mit seinen Kleidern in's Bette.
»Da nun Jerusalem allein war, scheint er alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. Er hat seine Briefschaften alle zerrissen und unter den Schreibtisch geworfen, wie ich selbst gesehen. Er hat zwey Briefe, einen an seine Verwandte, den Andern an H… geschrieben; man meint auch einen an den Gesandten Höffler, den dieser vielleicht unterdrückt. Sie haben auf dem Schreibtisch gelegen. Erster, den der Medicus andern Morgens gesehen, hat überhaupt nur folgendes enthalten, wie Dr. Held, der ihn gelesen, mir erzählt:
›Lieber Vater, liebe Mutter, liebe Schwestern und Schwager, verzeihen Sie Ihrem unglücklichen Sohn und Bruder; Gott, Gott, segne euch!‹
»In dem zweyten hat er H… um Verzeihung gebeten, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestört, und unter diesem theuren Paar Uneinigkeit gestiftet etc. Anfangs sey seine Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen etc. Er soll drey Blätter groß gewesen seyn, und sich damit geschlossen haben: ›Um 1 Uhr. In jenem Leben sehen wir uns wieder.‹ (Vermuthlich hat er sich sogleich erschossen, da er diesen Brief geendigt.)«
In Wetzlar machte dieser Selbstmord ungeheures Aufsehen. Leute, die den armen Jerusalem kaum einmal gesehen hatten, konnten sich gar nicht zur Ruhe geben, viele konnten nicht schlafen, die Frauen zumal nahmen den tiefsten Antheil an dem Schicksal des unglücklichen Jünglings, und Werther fand ein sehr bereites Publikum.
Sehen wir nun, wie Goethe diesen Stoff in seinem Roman benutzt. Werther ist ein Mensch, der sich noch nicht selbst beherrschen gelernt hat und sein unendliches Sehnen für einen Beweis unendlicher Überlegenheit hält; er verspottet alle Regeln, sie mögen nun Regeln der Kunst oder blos Regeln des Herkommens sein; er haßt die Ordnung – im Sprechen, im Schreiben, in der Kleidung, im Geschäft; mit einem Wort, er haßt alles Maß. Wie Gervinus bemerkt, wendet er sich von den Erwachsenen zu den Kindern, weil diese ihm nicht wehe thun, von den Menschen zu der Natur, weil sie ihm nicht widerspricht, von der Wirklichkeit weg zur Dichtung und in dieser von der bewegten Welt des Homer zu den formlosen schwermüthigen Schatten Ossian's. Diese maßlose Begeisterung für Ossian, dessen rhetorisches Geschwätz die Deutschen als den schönsten Ausdruck der Naturpoesie begrüßten, ist sehr charakteristisch für jene Zeit. Der alte Doktor Johnson traf den Nagel auf den Kopf, wenn er sagte, solches Zeug könne man immerfort schreiben, wenn man nur seinen Geist dazu hergeben wolle. Gerade dieses Gehenlassen des Geistes bringt solche Schriften hervor, und eben die Hingebung an den unmittelbaren Trieb, diese Mißachtung der ernsten Mahnungen der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes ist ein hervorstechendes Merkmal der Werther-Zeit.
Werther ist nicht Goethe. Werther geht zu Grunde, weil er elend ist, und elend ist er, weil er so schwach ist. Goethe war Herr über sich selbst; er sah die Gefahr und vermied sie, indem er sich von seiner Geliebten losriß. Und doch, obschon Werther nicht Goethe ist, ein Stück von Goethe steckt im Werther. In dem Inhalt und der Sprache des Romans sowohl als in dem Charakter des Werther tritt es hervor. Es ist die Seite des Goethe'schen Wesens, die wir unter verschiedenen Namen wieder auftauchen sehen, als Weislingen, Clavigo, Faust, Fernando, Eduard, Wilhelm Meister und Tasso – Gestalten, die kein Kritiker für eine und dieselbe Gliederpuppe in veränderter Bekleidung ausgeben wird, die aber unzweifelhaft derselben einen Gattung angehören: Menschen von starkem Begehren und schwachem Willen, schwankende bestimmbare Naturen ohne die Kraft der Selbstbeherrschung. Goethe selbst war eine bestimmbare und deshalb schwankende Natur, aber sein Schwanken war nicht Schwäche, er kam immer wieder auf den geraden Weg zurück, den sein Wille ihm vorzeichnete, er war so weich wie bestimmbar, er konnte nie hart sein, aber wohl fest entschlossen. Er brauchte daher nur die angeborne Kraft der Entschließung von dem Charakter seines Helden fern zu halten, und der weiche schwankende Werther stand fertig da.
Wenn jemand sich selbst zeichnet, so scheut er sich immer, das Bild vollkommen ähnlich zu machen. Unsere moralische Natur hat ihre Bescheidenheit; unwillkürlich halten wir etwas zurück und hüten uns, mit dem Geschöpfe unserer Einbildungskraft uns ganz und gar zu identificiren. Kaum ärgert uns etwas mehr, als wenn andere uns ganz zu durchschauen sich rühmen. Darum geben Schriftsteller niemals ihr vollständiges Bild. Byron hatte durchaus keine Herrschaft über sich selbst, aber seine Helden nimmt er gern stolz und selbstständig; Goethe, einer der stärksten Charaktere, macht seine Helden zum Spielball der Verhältnisse. Aber er zeichnet auch der andern Hälfte seines Wesens entsprechend starke auf sich selbst ruhende Charaktere, und so haben wir die Gegensätze von Götz und Weislingen, Albert und Werther, Carlos und Clavigo, Jarno und Wilhelm, Antonio und Taffo, den Hauptmann und Eduard, und in dunkleren Farben Mephistopheles und Faust.
Der Werther wird heut zu Tage weniger gelesen, als er verdient. Der Stil darin ist meisterhaft. Nach so klaren sonnigen Bildern, nach solcher Fülle von Leben, nach so feiner zarter Einfachheit durchsucht man die ganze deutsche Literatur vergebens. Die Sprache ist ein steter Strom von Musik; in den Grenzen der Prosa erfüllt sie alle Bedingungen der Poesie – lieblich wie das Rauschen fallender Wasser und voll süßer Melancholie wie ein Herbstabend.
Der Bau dieses Romans ist von unübertroffener Einfachheit; jeder kleinste Umstand ist darin so angelegt, daß er die Leiden eines kranken Geistes bloßdeckt. Werther hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen, er glaubt sich selbst geheilt und hofft ein ungestörtes Glück. Er ist Maler und Dichter. Die frischen Frühlingsmorgen, die lieblichen kühlen Abende beruhigen und kräftigen ihn. Er wählt einen Platz unter Lindenbäumen, die Stunden zu verlesen und zu verträumen; seinen Griffel zum Zeichnen und seinen Homer nimmt er mit dahin; alles interessirt ihn dort: die alte Frau, die ihm den Kaffee bringt, die Kinder, die um ihn spielen, die Erlebnisse einer armen Familie. In dieser Ruhe der Wiedergenesung lernt er Lotte kennen; eine neue Leidenschaft bestürmt seine Seele; sein einförmiges Dasein bekommt eine neue Gestalt. Durch körperliche Thätigkeit versucht er sein Sehnen und Verlangen hinwegzubannen. Wie die Tage, so wechselt seine Stimmung: bald in Hoffnung hoch hinaus, bald in Verzweiflung wie vernichtet. Der Winter kommt, kalt, traurig, düster. Nun muß er fort; er geht, tritt wieder ein in die Gesellschaft, aber die Gesellschaft ekelt ihn an. Die Einförmigkeit und Leere des Geschäftslebens befriedigt seine geistigen Ansprüche nicht, der Hochmuth des Adels verletzt das Bewußtsein seiner Ueberlegenheit. Er kehrt zurück nach dem friedlichen Schauplatz seines früheren Glücks, er findet dort Lotte, die Kinder, seine Wälder und Spaziergänge wieder, aber die gesuchte Ruhe findet er nicht. Die Hoffnungslosigkeit seiner Lage überwältigt ihn; der Welt überdrüssig, in seinem Streben unbefriedigt, stirbt er von seiner eigenen Hand.
Rosenkranz, einer von den Kritikern, die überall eine tiefere Bedeutung wittern, als der Dichter selbst sich je geträumt, Rosenkranz meint, es zeuge von großer Kunst, daß Goethe den Werther zum Diplomaten mache, da Diplomaten »Scheinthuer« seien; aber die Wahrheit ist, daß Goethe aus dem Werther nichts machte, als was er war. Seine ganze Kunst ist eben die Wahrheit; er ist ein so großer Künstler, daß die einfachsten Vorgänge der Wirklichkeit für ihn Bedeutung haben. Wie Lotte den Kindern Brod schneidet, wie es auf dem Balle hergeht, wie die Kinder sich um Werther nach Zuckerwerk drängen, und andere Scenen dieser Art zeigen so wenig Erfindungsgabe, daß einige Kritiker sich gar darüber lustig gemacht haben. Die Schönheit und Kunst des Werther liegt nicht in den Vorgängen – ein Dumas würde verzweifelnd die Achseln zucken über so einfache Erfindung – sie liegt in der Gestaltung. Die Kunst aber ist nichts als Gestaltung.
Die Wirkung des Werther war ungeheuer. »Jene namenlose Unruhe, sagt Carlyle, das blinde Ringen einer in Knechtschaft befangenen Seele, jene schmerzvoll sehnsüchtige Unzufriedenheit, die jede Brust erfüllte, hatte auch Goethe beinahe zur Verzweiflung getrieben. Alle theilten dies Gefühl, ihm Ausdruck geben konnte er allein. Und darin liegt das Geheimniß der Popularität des Werther; in der Tiefe seines empfänglichen Herzens hatte er, was jeder fühlte, tausendmal schärfer gefühlt; mit der Schöpfungskraft eines Dichters verkörperte er es, gab Namen ihm und festen Wohnsitz und wurde so der Sprecher seiner Zeitgenossen. Werther ist nichts als der Ausbruch jenes dumpfen tiefen Schmerzes, unter welchem zu einer gewissen Zeit alle denkenden Männer litten; das Buch malt dieses Elend, es erhebt leidenschaftliche Klage, und durch ganz Europa gaben ihm Herz und Mund laut und mit eins Antwort. Ein Heilmittel giebt es nicht an, das ist richtig, denn das war ein ganz verschiedenes, viel schwereres Unternehmen, zu dem es anderer Jahre und einer höheren Bildung bedurfte; aber schon die Aeußerung des Schmerzes wurde zunächst willig hingenommen und jedes Herz ergriff sie mit eifriger Sympathie. Wenn Byron's Lebensüberdruß, seine trübe Schwermuth, seine toll stürmende Wuth, von den Tönen einer wilden und völlig kunstlosen Melodie getragen, so tief in manches englische Herz eindringen konnten, nachdem diese ganze Richtung längst nicht mehr neu, ja veraltet und abgethan war, so läßt sich schließen, mit wie leidenschaftlichem Willkommen der Werther aufgenommen sein muß. Er kam wie eine Stimme aus unbekannten Regionen, aus einer fremden Welt, der erste schrille Klang jenes leidenschaftlichen Klageliedes, auf welches durch alle Länder die Menschen lauschten, bis sie für alles Andere taub waren. Denn der Werther ging in Fleisch und Blut der Literatur über und erzeugte ein ganzes Geschlecht sentimentaler Schriftsteller, die in der Welt herum gewüthet und gejammert haben, bis sie zur besseren Einsicht gelangten oder bis schlimmsten Falls die erschöpfte Natur sich schlafen legte. Diese Grabsänger, ebenso lärmend und ungestüm wie thränenreich, hießen in Deutschland die Kraftmänner, aber sie haben sich längst gleich kranken Kindern zur Ruhe geschrieen.«
Vielleicht niemals hat eine Dichtung die Welt so in Aufregung und Entzücken versetzt wie der Werther. Die verschiedenartigsten Menschen, alle Klassen der Gesellschaft wurden davon ergriffen. Das Buch begleitete Napoleon nach Egypten; Lotte und Werther drangen bis nach China; in Deutschland wurde es ein Volksbuch, gleich einem Bänkelsängerliede auf schlechtem Papier gedruckt und in den Straßen feil geboten.
Während seiner italienischen Reise erhielt Goethe einen Brief von einem jungen Franzosen, der ihm gestand: »Ihnen verdanke ich die beste That meines Lebens, die natürlich viele andere erzeugen wird, und für mich ist Ihr Buch ein gutes Buch. Wenn ich das Glück hätte, mit Ihnen in demselben Lande zu wohnen, so würde ich zu Ihnen kommen, Sie umarmen und Ihnen mein Geheimniß erzählen, aber unglücklicher Weise lebe ich in einem Lande, wo niemand an das Motiv meiner Handlungsweise glauben würde. Möge es Ihnen zur Befriedigung gereichen, daß Sie auf dreihundert Meilen Entfernung das Herz eines jungen Mannes auf den Weg der Ehre und der Tugend haben zurückführen können; eine ganze Familie darf nun ruhig sein und mein Herz genießt das Bewußtsein einer guten That.«
Auch der Besuch eines Verehrers aus England mag hier erwähnt sein; der redete ihn auf der Treppe eines fremden Hauses in Neapel mit den Worten an. »Sie sind der Verfasser des Werther«; er habe aber nicht einen Augenblick Zeit, fuhr er fort, und wolle ihm nur folgendes sagen: »Ich will Ihnen nicht wiederholen, was Sie von Tausenden gehört; auch hat das Werk nicht so heftig auf mich gewirkt, als auf andere; so oft ich aber daran denke, was dazu gehörte, um es zu schreiben, so muß ich mich immer aufs neue verwundern.« Und nachdem er sein Inneres von dieser Last befreit, wünschte er Goethe ein herzliches Lebewohl und rannte wieder die Treppe hinab.
Eine ähnliche Geschichte erzählt Schiller in einem Briefe an Körner; ein beliebiger Jemand, der sich Vulpius nannte, trat in Schiller's Stube; er habe sich nicht enthalten können, den Verfasser des Don Carlos zu sehen; Schiller dankte ihm für seine Höflichkeit, aber er sei beschäftigt; Vulpius erklärte sich für vollkommen befriedigt, den Dichter nur gesehen zu haben.
Natürlich gab es auch Gegner. Lessing z. B., der weder an der Krankheit der Zeit litt noch was der Sentimentalität nur irgend nahe kam leiden wollte, sprach die Ansicht aus, eine so heißblütige Schrift verlange als Gegengift eine kühle Nachschrift. »Glauben Sie wohl, schrieb er, daß je ein römischer oder griechischer Jüngling sich so und darum das Leben genommen? Gewiß nicht. Sie wußten sich vor der Schwärmerei der Liebe ganz anders zu sichern; und zu Sokrates' Zeiten würde man eine solche έξ έρωτος κατοχή, welche τὶ τολμᾶν παρὰ φύσιν antreibt, nur kaum einem Mädchen verziehen haben. Solche kleingroße, verächtlichschätzbare Originale hervorzubringen, war nur der christlichen Erziehung vorbehalten, die ein körperliches Bedürfniß so schön in eine geistige Vollkommenheit zu verwandeln weiß. Also, lieber Goethe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse und je cynischer, je besser.« Das heißt denn freilich die ganze Frage verdrehen. Nicht ein Uebermaß von Liebe veranlaßt Werther's Selbstmord: die Krankheit seiner sittlichen Natur ist es, die ihm das Leben unerträglich macht und für die seine unglückliche Liebe zum zündenden Funken wird. Auch die Beziehung auf Griechenland und Rom muß bei einem so ausgezeichneten Gelehrten wie Lessing sehr überraschen. Er übersah, daß Sophokles in seiner Antigone den unglücklichen Hämon einen Selbstmord begehen läßt, weil die Geliebte ihm geraubt wird. Er übersah, daß in Rom die Stoiker den Selbstmord zur Mode machten, und daß in Alexandria die Epikuräer eine »Gesellschaft der Lebensmüden« (συναποδανούμενοι) gründeten, deren Mitglieder nach dem Vollgenuß aller sinnlichen Freuden zum Schmaus sich versammelten, den Becher fleißig umgehen ließen und mitten in dieser Orgie ihrem elenden Dasein ruhig ein Ende machten – eine neue Art von Soirée, wo die Gäste, statt zu Thee und Musik, zu Abendbrod und Selbstmord eingeladen wurden.
Der Aristarch von Berlin, Nikolai, ein ehrlicher aber beschränkter Mann und ein großer Feind aller Schwärmerei, schrieb statt einer Kritik eine Parodie: »die Freuden des jungen Werther«; darin erschießt sich Werther auch, aber nur mit Hühnerblut, er bleibt am Leben, heirathet Lotte und sie leben vergnügt bis an ihr seliges Ende.
Goethe's Antwort darauf war, daß er »zur stillen und unverfänglichen Rache« ein kleines Spottgedicht »Nikolai auf Werther's Grabe« verfaßte, das sich jedoch, wie er selbst sagte, nicht mittheilen ließ. Dieses Gedicht ist wieder aufgefunden und durch Boas in den Nachträgen zu Goethe's Werken veröffentlicht; es ist ausnehmend derb und nicht grade von glücklichem Humor. Die Verehrer des Werther sind natürlich auf Nikolai sehr böse, aber sie vergessen, daß dieser das Talent darin nie bestritt, sondern nur wie Lessing sich gegen die Richtung erklärte. Sein Tadel war indeß federleicht gegen das Lob, welches von allen Seiten herbeiströmte. Zwei Proben von dieser Begeisterung seien hier angeführt. Die erste ist von Zimmermann, dem Verfasser des bekannten Werkes über die Einsamkeit, der in einem Briefe seine Freude mit den Worten ausströmt: »Werther's Leiden! Sie halten mich wohl nicht für fähig, daß ich auch nur eine Minute gezögert hätte, diesen Roman zu verschlingen, der so wahr, so natürlich ist, der alles, was man selbst tausend und aber tausend Mal in seinem Leben empfunden hat, so getreu wiedergiebt; und doch hat die Lesung des ersten Theils mich so aufgeregt, alle Saiten meiner Seele so erbeben gemacht, daß ich vierzehn Tage Ruhe bedurfte, bis ich den Muth fand, auch den zweiten Theil zu lesen, den ich auch in einem Augenblick verschlang.« Nicht weniger begeistert äußert sich Kotzebue. »Nicht Worte kann ich finden um die überwältigenden Empfindungen auszudrücken, welche dieser wunderbare Roman in meiner Seele erregte. Von dem Augenblick faßte ich eine so enthusiastische Neigung für den Verfasser, daß ich auf sein Wort gern die Hand in's Feuer gesteckt hätte, um seine Schuhschnallen zu retten.« Ein vollständiges Verzeichniß der Werther-Literatur ist im fünften Anhange beigefügt.
Aber während das Publikum unter Strömen von Thränen die tragische Geschichte Werther's las, waren Kestner und Lotte schmerzlich ergriffen und entrüstet, sich so in die Oeffentlichkeit gezogen, ihre Geschichte so entstellt zu sehen. Die Erzählung war in manchen Beziehungen der Wirklichkeit zu getreu nachgeschrieben, als daß andrerseits ihre Abweichungen von der Wirklichkeit nicht hätten großen Anstoß geben sollen. Die Personen waren nicht zu verkennen und doch waren es nicht die wirklichen Personen. Eifrig nachforschend fand das Publikum bald heraus, wer die Hauptpersonen waren und daß eine wirkliche Geschichte dem Roman zu Grunde lag; da aber die volle Wahrheit nicht bekannt werden konnte, so fanden sich die Kestners in einem sehr falschen Lichte. Durch die Indiskretion ihres Freundes fühlten sie sich verletzt, tiefer vielleicht, als sie zu gestehen für gut fanden; wenigstens spricht in der folgenden Stelle aus dem Briefe, den Kestner nach Empfang des Werther an Goethe schrieb, ein Gefühl von Kränkung, bei dem der Stolz des verletzten Freundes den vollen Ausdruck seines Zornes zurückhält.
»Euer Werther würde mir großes Vergnügen machen können, da er mich an manche interessante Scene und Begebenheit erinnern könnte. So aber, wie er da ist, hat er mich, in gewissem Betracht, schlecht erbaut. Ihr wißt, ich rede gern wie es mir ist.
»Ihr habt zwar in jede Person etwas Fremdes gewebt, oder mehrere in eine geschmolzen. Das ließ ich schon gelten. Aber wenn Ihr bei dem Verweben und Zusammenschmelzen euer Herz ein wenig mitrathen lassen; so würden die würcklichen Personen, von denen Ihr Züge entlehnet, nicht dabey so prostituirt sein. Ihr wolltet nach der Natur zeichnen, um Wahrheit in das Gemälde zu bringen; und doch habt Ihr so viel widersprechendes zusammengesetzt, daß Ihr gerade Euren Zweck verfehlt habt. Der Herr Autor wird sich hiergegen empören, aber ich halte mich an die Würcklichkeit und an die Wahrheit selbst, wenn ich urtheile, daß der Maler gefehlt hat. Der würcklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid sein, wenn sie Euerer da gemalten Lotte gleich wäre. Ich weiß es wohl, daß es eine Composition sein soll, allein die H…, welche ihr zum Theil mit hineingewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr eurer Heldin beymesset. Es bedurfte aber des Aufwandes der Dichtung zu Eurem Zwecke und zur Natur und Wahrheit gar nicht, denn ohne das – eine Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin – erschoß sich Jerusalem.
»Die würckliche Lotte, deren Freund Ihr doch sein wollt, ist in Eurem Gemälde, das zu viel von ihr enthält, um nicht auf sie stark zu deuten, ist, sag' ich, – doch nein, ich will es nicht sagen, es schmerzt mich schon zu sehr da ichs denke. Und Lottens Mann, Ihr nanntet ihn Euren Freund, und Gott weiß, daß er es war, ist mit ihr –
»Und das elende Geschöpf von einem Albert! Mag es immer ein eignes nicht copirtes Gemählde seyn sollen, so hat es doch von einem Original wieder solche Züge (zwar nur von der Aussenseite, und Gott sey's gedankt, nur von der Aussenseite) daß man leicht auf den würcklichen fallen kann. Und wenn Ihr ihn so haben wolltet, mußtet Ihr ihn zu so einem Klotze machen? damit Ihr etwa auf ihn stolz hintreten und sagen könntet, seht was ich für ein Kerl bin!«
Kestner berührt hier eine moralische Frage, die Beachtung verdient. Daß der Künstler seinen Stoff aus der Wirklichkeit nehmen, seine eignen Erlebnisse verwenden und die Charaktere zeichnen muß, die er wirklich kennen gelernt hat, das freilich ist mit allem Nachdruck festzuhalten; aber ebenso bestimmt halten wir dafür, daß er seinen Erlebnissen eine von der Wirklichkeit hinlänglich verschiedene Gestalt zu geben verpflichtet ist, damit das Publikum in seiner Erfindung nicht eine wirkliche Geschichte lese und die Personen erkenne, während diese Personen selbst die ihnen zugetheilten Rollen ablehnen würden. Natürlich ist es sehr schwierig, an die Wahrheit sich zu halten und dabei doch nicht den Verräther zu spielen; aber schwierig oder nicht, die Sittlichkeit gebietet es.
Goethe war offenbar erstaunt über den Eindruck, den sein Buch bei den Freunden gemacht hatte; er antwortete sogleich. »Ich muß euch gleich schreiben meine Lieben, meine Erzürnten, dass mirs vom Herzen komme. Es ist gethan, es ist ausgegeben, verzeiht mir wenn ihr könnt. – Ich will nichts, ich bitte euch, ich will nichts von euch hören, biss der Ausgang bestätigt haben wird daß eure Besorgnisse zu hoch gespannt waren, biss ihr dann auch im Buch selbst das unschuldige Gemisch von Wahrheit und Lüge reiner an euren Herzen gefühlt haben werdet. Du hast Kestner, ein liebevoller Advokat, alles erschöpft, alles mir weggeschnitten, was ich zu meiner Entschuldigung sagen könnte; aber ich weis nicht, mein Herz hat noch mehr zu sagen, ob sich's gleich nicht ausdrücken kann.
»Ich schweige, nur die frohe Ahndung muß ich euch hinhalten, ich mag gern wähnen, und ich hoffe, dass das ewige Schicksal mir das zugelassen hat, um uns fester an einander zu knüpfen. Ja meine Besten, ich, der ich so durch Lieb an euch gebunden bin, muss noch euch und euren Kindern ein Schuldner werden für die bösen Stunden, die euch meine – nennts wie ihr wollt, gemacht hat. Haltet, ich bitt euch, haltet Stand. Und wie ich in deinem letzten Briefe dich ganz erkenne, Kestner, dich ganz erkenne Lotte, so bitt ich bleibt! bleibt in der ganzen Sache, es entstehe was wolle. – Gott im Himmel man sagt von dir: du kehrest alles zum besten.
»Und, meine lieben, wenn euch der Unmuth übermannt, denkt nur denkt, dass der alte euer Goethe, immer neuer und neuer, und jetzt mehr als jemals der eurige ist.«
Ihr Zorn ließ nach; eine Indiskretion hatte er begangen, sahen sie, aber auch nichts mehr; sie vergaben ihm, und Goethe konnte am 21. November in aller Freude antworten:
»Da hab ich deinen Brief, Kestner! An einem fremden Pult, in eines Malers Stube, denn gestern fing ich an in Oel zu malen, habe deinen Brief und muss dir zurufen Dank! Dank lieber! Du bist immer der Gute! – O könnt ich dir an Hals springen, mich zu Lottens Füssen werfen, Eine, Eine Minute, und all, all das sollte getilgt, erklärt seyn was ich mit Büchern Papier nicht aufschliessen könnte! – O ihr Ungläubigen! würd ich ausrufen; Ihr Kleingläubigen! – Könntet ihr den tausendsten Theil fühlen, was Werther tausend Herzen ist, ihr würdet die Unkosten nicht berechnen, die ihr dazu hergebt! Da lies ein Blättgen, und sende mir's heilig wieder, wie du hier drinnen hast. – Du schickst mir Hennings Brief, er klagt mich nicht an, er entschuldigt mich. Bruder lieber Kestner! wollt ihr warten so wird euch geholfen. Ich wollt um meines eignen Lebens Gefahr willen Werthtern nicht zurückrufen, und glaub mir, glaub an mich, deine Besorgnisse, deine Gravamina, schwinden wie Gespenster der Nacht wenn du Geduld hast, und dann – binnen hier und einem Jahr versprech ich euch auf die lieblichste, einzigste, innigsteWeise alles was noch übrig seyn mögte von Verdacht, Missdeutung etc. im schwäzzenden Publikum, obgleich das eine Heerd Schwein ist, auszulöschen, wie reiner Nordwind, Nebel und Dufft. – Werther muss – muss seyn! – Ihr fühlt ihnnicht, ihr fühlt nur mich und euch, und was ihr angeklebt heisst – und trutz euch – und andern – eingewoben ist. – Wenn ich noch lebe, so bist du's dem ich's danke – bist also nicht Albert – und also –
»Gib Lotten eine Hand ganz warm von mir, und sag ihr: Ihren Namen von tausend heiligen Lippen mit Ehrfurcht ausgesprochen zu wissen, sey doch ein Aequivalent gegen Besorgnisse, die einen kaum ohne alles andere im gemeinen Leben, da man jeder Baase ausgesetzt ist, lange verdriesen würden.
»Wenn ihr brav seyd und nicht an mir nagt, so schick ich euch Briefe, Laute, Seufzer nach Werthern, und wenn ihr Glauben habt, so glaubt dass alles wohl sein wird und Geschwäz nichts ist und beherzige deines Phylosophen Brief – den ich geküsst habe. –
»– O du! – hast nicht gefühlt wie der Mensch dich umfaßt, dich tröstet – und in deinem, in Lottens Werth Trost genug findet, gegen das Elend das schon euch in der Dichtung schröckt. Lotte, leb wohl – Kestner du – habt mich lieb – und nagt mich nicht –«
So läßt er seinen Stolz über den Liebling aus, nachdem ihm die Freunde vergeben haben. Wohl hatte Kestner Ursache sich zu ärgern, um so mehr, als seine Freunde den Werther ganz wörtlich nahmen und ihm ihr Beileid darüber bezeugten; er mußte das abwehren und unter anderm seinen Freund Hennings bitten, die irrigen Gerüchte nach Maßgabe des wahren Sachverhalts, den er ihm kurz darlegte, zu berichtigen. »Im ersten Theile des Werthers ist Werther Goethe selbst. In Lotte und Albert, hat er von uns, meiner Frau und mir, Züge entlehnt. Viele von den Scenen sind ganz wahr, aber doch zum Theil verändert; andere sind in unserer Geschichte wenigstens, fremd. Um des zweyten Theils Willen, und um den Tod des Werthers vorzubereiten hat er im ersten Theile verschiedenes hinzugedichtet, das uns gar nicht zukömmt. Lotte hat z. B. weder mit Goethe, noch mit sonst einem andern in dem ziemlich genauen Verhältniß gestanden, wie da beschrieben ist; dieß haben wir ihm allerdings sehr übel zu nehmen, indem verschiedene Nebenumstände zu wahr und zu bekannt sind, als daß man nicht auf uns hätte fallen sollen. Er bereut es jetzt, aber was hilft uns das. Es ist wahr, er hielt viel von meiner Frau; aber darin hätte er sie getreuer schildern sollen, daß sie viel zu klug und zu delicat war, als ihn einmal so weit kommen zu lassen, wie im ersten Theile enthalten. Sie betrug sich so gegen ihn, daß ich sie weit lieber hätte haben müssen, als sonst, wenn dieses möglich gewesen wäre. Unsere Verbindung ist auch nie declarirt gewesen, zwar nicht heimlich gehalten; doch war sie viel zu schamhaft als es irgend jemanden zu gestehen. Es war auch keine andere Verbindung zwischen uns als die der Herzen. Erst kurz vor meiner Abreise, (als Goethe schon ein Jahr von Wetzlar weg, zu Franckfurt, und der verstellte Werther ½ Jahr todt war) vermählten wir uns. Hier erst, nach Verlauf eines ganzen Jahres, seit unseres Hierseyns, wurden wir Vater und Mutter. Der liebe Junge lebt noch, und macht uns Gottlob viel Freude. Sonst ist in Werthern viel von Goethe's Charakter und Denkungsart. Lottens Portrait ist im ganzen das von meiner Frau. Albert hätte ein wenig wärmer seyn mögen.
»Der zweyte Theil geht uns gar nichts an … Als Goethe sein Buch schon hatte drucken lassen, schickte er uns ein Exemplar, und meinte Wunder was er für eine That gethan hatte. Wir aber sahen es gleich voraus, wie der Erfolg seyn würde, und Ihr Brief bestätigt eine Art unserer Prophezeihung. Ich schrieb ihm und zankte sehr. Nun sah er erst ein was er gethan hatte; das Buch aber war schon an die Buchführer gelangt, und er hoffte noch, daß wir uns geirrt haben sollten«. Und in einem andern Briefe an denselben Hennings schreibt Kestner: »Sie glauben nicht was er für ein Mensch ist. Aber wenn sein großes Feuer ein wenig ausgetobt hat, so werden wir noch Freude an ihm erleben.«
So haben wir die Geschichte des Werther, seine Entstehung und seine Wirkung zum Schluß geführt, eine Geschichte, die für das Leben unseres Dichters so bedeutend ist, daß die Ausführlichkeit, mit der wir sie behandelt, selbst dann gerechtfertigt wäre, wenn die angezogenen Beweisstücke des Kestner'schen Briefwechsels auf die sehr ungenaue Darstellung in Wahrheit und Dichtung nicht ein so scharfes Licht würfen.
Am 28. August 1849, zur hundertjährigen Jubelfeier der Geburt des Dichters, die ganz Deutschland freudig beging, wurde auf dem wohlbekannten Wertherplatz vor dem Thore zu Wetzlar, wo Goethe einst zu sitzen und zu träumen liebte, ein kleines marmornes Denkmal errichtet; drei Lindenbäume sind umhergepflanzt; es trägt die Inschrift:
Ruheplatz des Dichters
Goethe
zu seinem Andenken frisch bepflanzt
bei der Jubelfeier am 28. Aug. 1849.