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Als Gjert mit den Sachen seiner Mutter kam, wurde diese ganz bleich. Ihr war, als habe sie auf sich genommen, was sie nun doch nicht durchzuführen im stande sei.
Noch am Abend vor Salves Wiederkehr kämpfte sie mit einem Entschluß. Mit Beklommenheit fühlte sie, daß die Entscheidung nahe.
Alle hatten sich zu Bett gelegt; es war so stille um sie herum und ihr war zu Mut wie damals, als sie an Bord des »Apollo« saß und wartete, während die Riffbänke immer näher kamen. Morgen früh waren sie unerbittlich da, – und da handelte es sich um viel mehr als um den Schiffbruch einer Brigg, – es handelte sich um alles, was sie auf Erden Wertvolles gemeinsam besaßen! – Jenseits der Klippen sah sie einen langen, öden Lebensstrand vor sich.
Diesmal war sie es, die gerade auf die Gefahr lossteuerte, um ihre Liebe zu retten. Eine stille Feierlichkeit kam über sie. Unwillkürlich fiel ihr das Gebet für Seeleute, die sich in Lebensgefahr befinden, ein; sie hatte es oft gebetet, wenn sie einsam daheim saß und wartete, während der Sturm das Häuschen auf Merdö schüttelte und rüttelte, daß Gott ihren Mann bewahren möge vor jähem Tod.
Vor einem jähen Tod? – Und wenn er wirklich umgekommen wäre, während er wieder einmal mit Zorn und Bitterkeit im Herzen sie verlassen hatte! Wäre ihre Liebe ihm da vielleicht zum Segen gewesen?
»Nein, Salve – nicht für ein solches Leben sollst du mir in deiner letzten Stunde zu danken haben!«
In der Nacht erwachte sie mit einem Schrei. Sie hatte geträumt, Salve verlasse sie, und angstvoll rief sie ihm nach: »Salve, Salve!«
Als der Lotse des Morgens bei der Landungsbrücke anlegte, standen seine beiden Söhne da und erwarteten ihn. Der kleine Henrik rief ihm voller Freude weit hinaus Willkommworte entgegen: doch Gjert blieb still.
»Guten Tag, Jungen!« grüßte der Lotse freundlich. »Wie steht's um die Muhme?«
»Besser,« antwortete Gjert.
»Sie schläft auch bei Tag,« triumphierte der Taschengucker, der meinte, dies sei notwendig, damit die Muhme gesund werde. Hierauf schleuderte er in wichtigthuender Matrosenmanier die Mütze auf die Brücke und stand nun mit dem entblößten weißen Lockenkopf da. Unter eifrigem ›Halloi o–ohoi!‹ begann er das Tau anzuholen, das der Lotse ausgeworfen, während Gjert mit Nichtbeachtung der Bestrebungen des Bruders dasselbe im Vertäuungsringe befestigte.
»So, Jungen, – das war brav! Ihr zwei bleibt nun beim Kutter und paßt mir schön auf, bis ich wiederkomme. – Schau auf den Taschengucker, Gjert, damit er nicht über die Brücke hinausgeht!« Mit diesen Worten eilte der Lotse hastig die Straße hinauf.
Während der kleine Henrik Matrose spielte, saß Gjert ganz still und ließ die Beine achterwärts in die Luke hineinhängen. Es kamen Kameraden vorbei; allein er wendete ihnen den Rücken zu und war augenscheinlich so schlecht aufgelegt, daß sie wieder fortgingen. Der Knabe fühlte sich beklommen. Er hatte genug Verständnis für alles, um zu merken, daß zwischen den Eltern etwas Wichtiges vorgehe.
Es lag etwas Sonntagstilles über Elisabeths Wesen, als sie beim Herd stand und das Kommen ihres Mannes erwartete. Sie hörte seinen Schritt im Gange. Als er eintrat, flog eine flüchtige Röte über ihre festen, ausdrucksvollen Züge; sie starrte ihm entgegen und vergaß, ihn zu grüßen. Es entging ihm nicht, daß ihre Haltung eine gewisse selbstbewußte Sicherheit zeigte. Dies war gerade die Elisabeth, die er liebte.
»Elisabeth!« sagte er mit tiefem Ernst und sah ihr ins Gesicht, – »ich habe dir einen großen Vorwurf zu machen, – du bist nicht wahr gewesen. Du warst gegen mich unaufrichtig durch viele Jahre, – ich fürchte, seitdem wir verheiratet sind!«
Er blickte sie mit milder Nachsicht an, als erwartete er bloß ihr offenes Bekenntnis, um alles zu vergeben. Sie aber stand bleich da und starrte vor sich nieder, während es in ihrer Brust arbeitete.
»Und wie ich dich geliebt habe!« rief er mit einem Anstrich von Vorwurf, – »immer, – mehr als mein Leben!«
Sie stand noch eine Weile schweigend da und mußte all ihren Mut sammeln, um nun alles auszusprechen. Endlich begann sie etwas gezwungen, ohne die Augen zu heben: »Ich höre es dich sagen, Salve; – ich habe aber selbst über manches nachgedacht.«
»Und worüber hast du nachgedacht?« Er nahm plötzlich wieder die barsche Miene an, die Elisabeth so gut an ihm kannte. Dies verriet, daß ihn ihre Antwort verletzt habe, daß er ihr so weit entgegengekommen sei, als er gewollt, und daß sie nun vor der Mauer standen; – weiter demütigte er sich nicht.
»Habe ich recht, oder habe ich nicht recht?« fragte er scharf.
»Daß ich blind geglaubt habe, du liebest mich,« erwiderte sie und schaute ihm bleich ins Gesicht, – »ja, das ist wahr, und das rechne ich mir zur Ehre. Aber hast du mich es je sehen lassen? Oder war nur ich es, die dir alles zu geben hatte? War mein Glück denn nichts und habe ich denn kein Recht? Nein, Salve!« sprach sie mit unwillig bebender Stimme und einem Blick, in dem alles brannte, was sie je gelitten – »gestehe die Wahrheit! Du hast dich selbst geliebt, und als du heiratetest, nahmst du nur jemand, um dir darin zu helfen; – so waren zwei dafür da! Und doch war das noch nicht genug! – Nein, nein!« endete sie mit heftiger Gebärde, »Hättest du so auf mich gehalten, wie ich auf dich, so wäre es nicht dazu gekommen, daß wir nun so voreinander stehen!«
»Elisabeth,« sagte er leise, denn er hatte Mühe, sich zu beherrschen; seine Stimme klang ironisch und sein Blick ruhte fest auf ihr – »ich danke dir, daß du mir nun endlich deine Meinung mitgeteilt hast, obgleich sie etwas spät kommt. Du siehst, ich hatte recht, als ich behauptete, du seiest gegen mich nicht wahr gewesen!«
»Ich war gegen dich nicht offen, sagst du – ja, so ist es!« wiederholte sie mit Nachdruck, während ihr Auge ruhig dem seinigen begegnete. »Allein die Ursache war nicht, daß es mir an Liebe für dich mangelte, sondern daß es dir – am rechten Glauben an mich fehlte. Ich habe mich darein gefunden, daß mir Mißtrauen von dir entgegengebracht ward, und ich habe es getragen und geschwiegen, weil ich meinte, du vertragest es nicht, die Wahrheit zu hören, und weil ich immer hoffte, meine Art und Weise würde dich mit der Zeit überzeugen. Ich hielt dies für den rechten Weg und ging ihn dir zuliebe, trotz allem, was es mich kostete, – und das war viel, Salve, sehr viel! Sieh, dies alles hab' ich so viele Jahre täglich geduldet, weil ich dich liebte. Aber du, der du mehr und mehr und immer Schwereres auf meine Schultern ludest, liebtest du mich auch? Fast beginne ich daran zu zweifeln, Salve!«
Er stand von dem plötzlichen Angriffe ganz überwältigt da. Diese Auffassung des Verhältnisses war ihm unerwartet, und er fühlte betroffen, daß sie von ihrem Standpunkte aus manchen Grund habe, so zu denken. Dessenungeachtet versetzte er in bittrem Tone: »Du hast nur zu sehr recht, Elisabeth. Ich weiß ja, daß ein armer, einfacher Lotse nicht recht zu dir paßte, – habe es gewußt, seitdem wir uns verlobten. Erinnerst du dich, wie du damals an Bord des ›Apollo‹ über den ›Nordstern‹ in Begeisterung gerietest? Da fühlte ich in mir, daß du einen andern Mann gebraucht hättest, daß du dich nach Höherem sehnest, und segelte in derselben Nacht die Brigg in den Grund!«
»Salve!« rief sie leidenschaftlich, – »du weißt recht gut, du könntest in meinen Augen nicht mehr sein als nun, da du ein armer Lotse bist, – und als du immer für mich gewesen bist. Dachte ich denn nicht, als ich den ›Nordstern‹ sah: Ja, wenn du erst der Chef wärest, Salve – da sollten sie wohl merken, was das heißt, einen wirklichen Mann an Bord zu haben! Was ging mich der ›Nordstern‹ an, wenn ich ihn nicht für dich haben konnte? Wog in meinen Augen der einfache Schiffer an Bord des ›Apollo‹ nicht den ganzen Staat auf?«
Salve lauschte diesem Ausbruch, in dem Elisabeth so gerade heraus erklärte, daß er – er selbst – der Held all ihrer Träume gewesen, mit unendlichem Glücksgefühl. Er glaubte jedes Wort, wie er es immer that, wenn sie etwas sagte, und ihn däuchte, er sei doch der dümmste Kerl auf Gottes Erde gewesen. Schon breitete er unwillkürlich die Arme aus, allein der tiefe, abwehrende Ernst hielt ihn zurück, mit dem sie fortfuhr: »Nein, Salve, nicht das ist's, was zwischen uns steht, so klug du es auch ausgesonnen. Nicht das – sondern etwas andres. Du glaubst mir nicht in der Tiefe deines Herzens, das ist die Wahrheit, und so ist dir das übrige später eingefallen. Und schaust du,« fuhr sie in wildem Schmerze fort, »nie wird es gut zwischen uns, so lang du nur den leisesten Zweifel gegen mich hegst. Begreifst du denn nicht, daß es den Frieden unsers Hauses gilt: daß es dieser ist, für den ich in all diesen Jahren gekämpft, um dessentwillen ich mich so in alles gefügt?« sagte sie. »Und wenn du das auch jetzt noch nicht verstehst – dann helfe Gott dir und mir!« schloß sie verzweifelt und drehte sich halb zum Feuer, in das sie wie verloren hineinstarrte.
Er stand wie gelähmt vor ihrer halb abgewandten Gestalt und wagte kaum, sie anzusehen, so klar und wahr lag nun alles, was sie gesagt, vor seiner Seele. Sie hatte ihm einen Spiegel ihrer Ehe vor Augen gehalten, und er sah sich in demselben so egoistisch und klein neben all ihrer Liebe. Mit tiefem Schmerze im Herzen stand er gedemütigt, und er war zu stolz und zu wahr, um dies nicht zu bekennen.
Wie geistesabwesend trat er ans Fenster und stand eine Zeitlang dort.
»Elisabeth,« begann er verzagt, »Du weißt ja doch im Innersten deines Herzens, daß du mir alles auf der Welt gewesen! Ich weiß auch, worin mein Unrecht gegen dich besteht, und will es dir freimütig und offen bekennen, und sollte ich dir auch dadurch als erbärmlicher Mensch erscheinen. Ja, Elisabeth – ich habe mich nie recht sicher fühlen können, daß ich dein Herz allein und ganz besaß, seit …« – es kostete ihn sichtbare Ueberwindung, dies auszusprechen, denn er kämpfte mit dem Demütigenden dieses Geständnisses – »seit jener Geschichte, die du mit dem Marineoffizier gehabt hast. Das war meine heimliche Wunde, verstehst du,« fuhr er leise und vertraulich fort, »mit der ich nicht fertig wurde, trotz meiner bessern Ueberzeugung. Und ich bin es vielleicht noch immer nicht. Ueber dieses komme ich nicht hinweg – ich gestehe es ehrlich und offen, aber von dir lassen kann ich doch nicht, Elisabeth! Ich habe stets gesehen, daß du für etwas Großes geschaffen bist, daß du eigentlich hättest einen Mann haben sollen, der in der Welt etwas galt, – so einen wie ihn, und nicht einen geringen Mann wie mich. Siehst du – diesen Gedanken habe ich nie ertragen können – und darum bin ich gegen die ganze Welt so gehässig geworden und gegen dich so mißtrauisch und so schlecht. Obgleich du meine Frau warst, Elisabeth, habe ich doch nie glauben können, daß du mir gehörtest, und dich daher auch nie in Wahrheit besessen, wenn auch das, was du mir heute gesagt hast, mir, Gott sei Dank, eine ganz andre Gewißheit verliehen hat. Ich war eben nicht stark genug, – nicht so wie du, – obschon ich sagen darf, ich habe hart genug damit gerungen!« rief er bleich. Er legte beide Hände auf ihre Schultern und sah ihr ins Gesicht.
Sie fühlte, wie seine Arme bebten, und in ihre Augen traten Thränen. Es schnitt ihr ins Herz, ihn so zu sehen. Mit einemmal entzog sie sich ihm infolge eines plötzlichen Einfalls und ging ins kleine Nebengemach, wo sie eine Schublade öffnete. Sie kam mit dem alten Zettel in der Hand heraus und reichte ihn ihrem Manne: »Das ist der Brief, den ich dem Seeoffizier in jener Nacht schrieb, in der ich aus dem Beckschen Hause flüchtete.«
Salve blickte sie erstaunt an.
»Ich erhielt ihn von Frau Beck,« sagte sie. »Lies ihn, Salve!«
»›Entschuldigen Sie, daß ich nicht Ihre Frau werden kann; aber mein Sinn steht nach einem andern. Elisabeth Raklev‹« – buchstabierte er die große, schwer leserliche Schrift; dann setzte er sich auf die Bank und las es noch einmal.
Sie stand über ihn gebeugt und sah bald auf das Geschriebene, bald auf sein Gesicht.
»Was steht da, Salve?« fragte sie endlich. »Warum konnte ich nicht des Lieutenants Frau werden?«
»›Weil mein Sinn nach einem andern steht‹,« antwortete er langsam und schaute mit nassen Augen zu ihr auf.
»Ich war es, die einen andern liebte, das steht da. Und wer war dieser andre?«
»Gott segne dich – das war ich!« sprach Salve und zog seine Frau in seine Arme.
*
Die Jungen waren es müde geworden, unten beim Boot zu warten, und besonders der Taschengucker hatte die Geduld verloren; denn aus sichern Zeichen ging hervor, daß es über die Mittagszeit sei. Die kleinen Knaben waren schon aus der Schule gekommen und drüben beim Krahne hatte es geläutet.
Nun steckte er seinen weißen Lockenkopf und das feuchte Gesicht zur Küchenthür herein. Vater und Mutter saßen offenbar höchst vergnügt dort auf der Bank; allein sein zweiter rascher Blick nach dem Herde verriet ihm die traurige Thatsache, daß wirklich kein Topf auf demselben stand; nicht einmal Feuer war zu sehen. Indem er ganz zur Thür hereintrat, rief er weinerlich: »Ja, habt ihr denn schon gegessen, sollen Gjert und ich nichts zu Mittag kriegen?«
Elisabeth fuhr erschreckt empor. »Und die Muhme!« rief sie. »Es ist schon halb eins! Und das Essen noch nicht zugesetzt!« Sie eilte zur Kranken, und der Taschengucker war einigermaßen beruhigt, als er merkte, die ärgste Gefahr sei vorbei.
Mutter Kristine hatte erraten, daß zwischen den Eheleuten da draußen etwas Besondres vorgehe; daher hatte sie Elisabeth nicht gerufen.
»Er scherzt mit dem kleinen Henrik,« sagte sie zu sich selbst. »Das ist merkwürdig; ich habe ihn früher nie lachen hören!«
Als Elisabeth eintrat, blickte die alte Frau sie forschend an. »Ist etwas geschehen?« fragte sie.
Elisabeth lief zum Bett und umarmte die Muhme. »Ja,« antwortete sie bewegt, »das Erfreulichste in meinem Leben!« und darauf eilte sie wieder zu ihrer Arbeit in die Küche.
Die Alte schaute ihr nach. Sie nickte ein paarmal langsam, nachdenklich.
»Nun also!«
Man aß in der Küche draußen; allein der Lotse war nicht hungrig. Er stand plötzlich vom Tische auf und ging hinein zur Kranken. Er mußte ihr viel zu sagen haben, denn er blieb lange drinnen.