Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Fünftes Kapitel

Vitalines Hochzeit

Vitalines Hand war nun mit einem »nipo tapetutschepischun«, einem zierlich gefeilten Verlobungsring aus Blei, geschmückt, und die Frauen arbeiteten an den neuen Kleidern für die Ausstattung. Sonst brauchte sie nichts, denn es war Sache des jungen Ehemannes, für die Einrichtung des neuen Heimes zu sorgen. So wollte es die Sitte, und selbst wenn sie die Tochter des größten Jägers gewesen wäre, hätte sie nichts anderes in die Ehe mitgebracht. 68

An einer hübschen Uferstelle, gleichweit vom Minnegouche- wie vom Schekapéo-Zelt entfernt, machte Johnny den Boden für das neue Zelt zurecht, in dem er mit seiner jungen Frau wohnen würde. Pirre fand die Lage ganz ausgezeichnet. Er half beim Einrammen der Haltepflöcke und konnte sich gar nicht von dem zukünftigen Schwager trennen. Täglich versammelte sich eine ganze Gruppe freiwilliger Helfer auf dem netten Platz zwischen den zwei Hügeln. Vor allem Michael, Aschappi und Pirre waren stets zur Hand, um Johnny zu helfen, aber zuweilen wurden auch Jungen wie P'tithomme zugelassen. Am liebsten aber blieben die Minnegouches und Schekapéos unter sich. Fachmännisch befühlten sie das dicke Segeltuch des neuen Zeltes, das langsam aufgebaut wurde, und bewunderten die neuen Teller aus Birkenrinde, die Johnny geschnitzt hatte. Natürlich waren alle Küchengeräte neu, und da Johnny sie machte, war jedes ein Meisterstück. Alle Schnitzmesser und Werkzeuge für seinen eigenen Gebrauch verzierte er mit Ornamenten, die Bären, Äxte und vierbeinige Geister darstellten. Vitalines Sachen waren mit Schmetterlingen, Vögeln und Kleeblättern dekoriert. Das bezog sich vor allem auf die Eßteller, die nie verwechselt werden durften, denn es ist von schlechter Vorbedeutung, wenn jemand von einem Teller ißt, der ihm nicht gehört. Das hübscheste, was Johnny für seine junge Frau gearbeitet hatte, war eine Mütze aus den weißen Federn des Eistauchers, die mit ein paar der seltenen azurblauen Federchen desselben Vogels geschmückt war. Diese Mütze hing schon in dem neuen Zelt und wartete auf ihre hübsche Besitzerin.

»Das wird sie immer daran erinnern, niemals den Kopf eines Eistauchers zu essen«, sagte Johnny, »denn sollte sie das je tun, so würde er niemals einen der klugen, scheuen Vögel erlegen können, die sich zwischen den Eisschollen verstecken und so schwer zu schießen sind.« Das sagte der alte Glaube.

Pirre hatte heimlich schon lange darüber 69 nachgedacht, ein schönes Hochzeitsgeschenk zu erbeuten. Um sich im Zelt so recht gemütlich zu fühlen, gab es nichts Netteres als einen zahmen Vogel, wie Jil, den Habicht, der zu den Minnegouches gehörte. Aber viel schöner noch wäre ein kanadischer Holzhäher, den die Indianer »Whisky-Jack« nennen. Seine Federn waren kunterbunt, und außerdem konnte Vitaline ihm das Sprechen beibringen, während Johnny auf der Jagd war. So ein lustiger »Papagei des Nordens« konnte ihr die Langweile vertreiben.

Aber es war nicht leicht, einen Whisky-Jack zu erwischen. Man muß ihn mit der Falle fangen. Pirre traf seine Vorbereitungen und machte sich auf den Weg in den Wald. Gerade als er an dem offenen Platz zwischen Saikos Zelt und Kakwas Holzhaus vorüberkam, gab es etwas zu sehen – eine der Seltsamkeiten der »weißen« Religion. Interessiert blieb er stehen und betrachtete mit offenem Munde, sein Fallenwerkzeug an die Brust gedrückt, den herannahenden Zug.

Es war eine kleine Prozession, die langsam die Dorfstraße entlang zog, den Berg hinauf zur katholischen Kirche. Dem voranschreitenden Priester folgten vier kleine Indianermädchen in weißen Kleidern und Mokassins. Sie trugen auf einem verzierten Brett die schöne Göttin des weißen Mannes: eine Madonna aus Alabaster. Pirre hörte ihr Gemurmel, »ora pro nobis«, in einer der zahlreichen »zivilisierten« Sprachen. Aber auch die Indianer hatten viele Dialekte, und er hätte nicht ohne Mühe einen Mann verstehen können, der zum Beispiel hoch oben in der James Bay zu Hause war. Vielleicht hatte der Aufzug etwas mit Vitalines bevorstehender Hochzeit zu tun, denn die würde in der Kirche stattfinden. Der Vater hatte schon mit dem Priester darüber gesprochen und hatte einige besonders prächtige Nerzpelze auf den Kollektenteller gelegt, die er für festliche Gelegenheiten aufgespart hatte. Auch Pirre murmelte ein paar der fremden Silben, denn er wußte, daß der Priester das gern hatte. 70

Dann ging er weiter. Bald war er im hohen Gras, das ihm bis zu den Hüften reichte, und bei den Himbeerbüschen, wo er ein paar Hände voll der duftenden Früchte verspeiste. Sobald der »richtige« Wald anfing, hörte das Gestrüpp auf. Er sah sich nach einer Lichtung um, denn der Whisky-Jack liebt Mäuse, und die bevorzugen offene Stellen, wo die Sonne hinkommt.

Nach längerem Umherstreifen fand er genau, was er suchte. Da waren morsche Baumstümpfe, in denen die kleinen Nager gar zu gern ihre Wohnung aufschlagen, und überall wuchsen Pilze, die die Indianer »Froschregenschirme« nennen. Er glaubte sogar, nahe in den Bäumen den spöttischen Ruf des Whisky-Jack zu vernehmen.

Sofort ging er an die Arbeit. Er suchte sich ein junges, ungefähr zwei Meter hohes Bäumchen aus und band an seiner obersten Spitze eine dünne Lederschnur fest. Dann bohrte er im oberen Drittel des Bäumchens ein Loch durch den Stamm, zog die Lederschnur hindurch und band ihr Ende in eine Schlinge. Er hob ein Stück Holz auf und schnitzte es mit seinem Krummmesser als Spindel zu, die er so in das Loch steckte, daß sie die Schlinge in der richtigen Lage hielt. Als Köder nahm er einen Fischkopf aus seiner Tasche, den er an das Ende des Auslösehölzchens steckte, denn die Whisky-Jacks sind ganz verrückt auf Fischköpfe. Das war die ganze Falle. Wenn der Vogel den Fischkopf bemerkte, würde er sich auf das Köderhölzchen niederlassen, für das er viel zu schwer war. Das Hölzchen würde aus dem Loch herausfallen, worauf die elastische Kraft des niedergebundenen Bäumchens die Schlinge zuziehen und die Füße des Whisky-Jacks solange festhalten würde, bis der große Jäger ihn holte. Mit verschmitztem Gesicht verließ Pirre die Stelle, wo er als ein Geschenk der Natur seine Hochzeitsgabe zu fangen hoffte.

Als er wieder im Zelt war, gab die Mutter ihm einen wichtigen Auftrag: er sollte von Zelt zu Zelt gehen, um die Freunde und Verwandten der Minnegouches zur 71 Hochzeit einzuladen. Da Aschappi in gleicher Mission für die Schekapéos unterwegs war, gingen die beiden Jungen gemeinsam fort. Unterwegs trafen sie P'tithomme, der sie so eindringlich bat, mitkommen zu dürfen, daß sie es ihm schließlich erlaubten.

»Wir heiraten!« rief P'tithomme in die Leinwand- und die hölzernen Zelte, und lud nicht nur Männer, Frauen und Kinder, sondern auch die Haustiere, wie Hunde, Vögel und zahme Biber, ein. Mr. Angus, dessen Anwesenheit der Feier besondere Würde verleihen sollte, war von den beiden Vätern persönlich eingeladen worden.

Nach dem Abendbrot fand im Minnegouche-Zelt eine seltsame Feier statt. Alle Familienmitglieder scharten sich um die Großmutter, die plötzlich darauf bestand, mit ihrem Indianernamen »Nokum« angeredet zu werden. Diese Anrede gab ihr die Würde der Wälder zurück, wo die Weisheit der Alten ihnen einen Respekt verleiht, der weit über alles hinausgeht, was der weiße Mann je wissen kann.

Der Sitte zuliebe wurden die Indianermädchen im Sommerlager von dem weißen Priester getraut. Auch Mr. Angus bevorzugte solche Hochzeiten, und die Pracht eines solchen Festes erhöhte das Selbstbewußtsein der Familie. Andererseits aber war eine Heirat doch eine zu ernste Sache, als daß man sie den »Zivilisatoren« allein hätte überlassen können. Um ganz sicher zu gehen, wandte man sich deshalb insgeheim auch an die alten Geister der Indianer, um zu erforschen, ob ihr Segen auf dem ersten heiratenden Minnegouche-Kind ruhte.

An diesem feierlichen Abend wurde es Vitaline zum ersten Male erlaubt, ihren gewöhnlichen Platz beim Zelteingang mit dem Ehrensitz zwischen dem Vater und der Nokum zu vertauschen. Die alte Frau nahm ihre warme Hand zwischen ihre alten Finger, während der Vater ein paar uralte Worte sang und Mutters Pfeife seltsame Rauchkringel über ihre verlobte Tochter hinblies. Pirre 72 und Estelle hockten nahe nebeneinander und Michael saß allein im Schatten, in tiefe Gedanken versunken.

Als die Großmutter Vitalines Hand losließ, sahen alle vor ihr zwei Otterpfoten liegen. Man hörte Mutters erregten Atem. Die Kinder waren in Ehrfurcht erstarrt.

»Otter, liebe Otter«, murmelte die Nokum (die Pfoten stammten von einem Otterweibchen, dessen Eitelkeit man schmeicheln mußte), »willst du mir sagen, ob mein Noschischim (Enkelkind) glücklich werden wird? Liebe Otter, sie will den Sohn des Schekapéo heiraten, den sie Johnny nennen. Sage uns etwas über ihr zukünftiges Geschick!«

Sie nahm eine Pfote in jede Hand und kämmte langsam damit ihr dünnes graues Haar. Dann warf sie beide mit einer feierlichen Geste über ihren Kopf. In der Sekunde, als sie den Boden berührten, rief sie »Aaah« – es war der Schrei der Ottern.

Ein Lächeln der Glückseligkeit erhellte Vitalines schönes Gesicht. Pirre beugte sich vor, um zu sehen, wie die Pfoten gefallen waren. Wirklich, beide Unterseiten lagen nach oben. Das war ein gutes Vorzeichen. Welch ein Glück!

Sie löschten das Feuer und legten sich zur Ruhe nieder.

Der nächste Tag war Montag. Zum letzten Male besuchten Michael und Pirre das neue Zelt, das Vitaline erst nach der Hochzeit sehen durfte. Johnny breitete gerade dicke Schichten duftender Tannenzweige über den Boden. Ihr Duft mischte sich mit dem der Geräte aus neuer Birkenrinde und dem Geruch der neuen Zeltleinwand. In der Kochecke waren die Teller und Schüsseln aufgestapelt, darüber hingen die geschnitzten Löffel. Auf einem Brett standen Behälter mit Mehl, Fett, Tee und Zucker. Scheinbar hatte Mr. Angus besonderes Vertrauen in Johnnys künftiges Jagdglück bezeigt, denn alle diese Schätze, einschließlich des Zeltes, waren von der Company als Vorschuß auf die Pelze des nächsten Jahres frei geliefert worden. 73

Eines der feinsten Stücke war der Pemmikan-Behälter in der Ecke. Die Rinde war mit Wolkenornamenten verziert und mit zinnoberroten Karos bemalt, den heiligen Zeichen, die dem Nordmann wohlgefällig sind, dem Schutzgeist der Jäger. Ein Indianer, der sein neues Leben mit diesen Zeichen begann, hatte das Seine für einen guten Winter getan.

Zur Zierde war dieser heidnische Behälter mit einem Schmuckstück ausgestattet: künstlerisch arrangiert hing von ihm ein Rosenkranz aus bunten Perlen herunter, den der Priester für die neue Familie gestiftet hatte. Mehr konnte man nicht für sein künftiges Glück tun, als den Zauber der heiligen Zeichen des Nordmannes mit dem der Weißen zu verbinden. Pirre, Aschappi und Michael betrachteten ehrfürchtig diese Verschmelzung guter Kräfte.

Für Pirre war es nun Zeit, sich nach seinem eigenen Hochzeitsgeschenk umzusehen, das die Waldgeister ihm hoffentlich beschert hatten. Zu seinem Entzücken hörte er schon längst, ehe er die Falle erreichte, ein lautes Kreischen und Pfeifen, begleitet von dem Gezwitscher geflügelter Zuschauer, die den Whisky-Jack in seinem Unglück zu trösten schienen. Der Vogel war gefangen! Er lief, so schnell er nur konnte.

Als er die Lichtung erreichte, hüpften drei Eichhörnchen auf die Bäume, und ein Schwarm grüngelber Kolibris, dieser flüchtigen Gäste des Labradorsommers, verschwand im Blau des Himmels. Aber das Kreischen und Pfeifen verstummte nicht, denn dort, in der Spitze des kleinen Baumes, den er als Falle benutzt hatte, hing sein Hochzeitsgeschenk. Genau wie vorausgesehen, hatte der Whisky-Jack am Köder gepickt und damit selbst die Falle ausgelöst. Mit den Krallen in der Schlinge flatterte er erschöpft um das Bäumchen herum, ein schreiender, schimpfender Strauß juwelenbunter Federn. Er war unverletzt, und wenn erst seine Flügel beschnitten waren, würde er in Johnnys und Vitalines Zelt bald zahm und lustig herumhüpfen. Pirre ließ ihn hängen, bis er aus 74 Weidenzweigen einen hübschen kleinen Käfig geflochten hatte. Dann schnitt er die Fessel durch und setzte den Vogel in sein neues Haus. Es war ein seiner durchaus würdiges, hochwillkommenes Geschenk, das wußte er! Er brachte es gleich zu Johnny, der den neuen Zeltgenossen mit großer Freude in Empfang nahm, ihm die Flügel beschnitt und ihm ein Halsband und eine Leine anlegte, so daß er frei herumhüpfen konnte.

Auch Michaels Geschenk war schon eingetroffen: ein großes Bärenfell, das er von seinem Freund Saiko erhalten hatte. Auf die Rückseite hatte er Äxte, Bären, Fallen und andere Glückszeichen für eine gute Jagd gemalt.

Bei den Schekapéos und den Minnegouches wurde den ganzen Tag lang gekocht und gebacken. Da das Wetter so schön war, sollte der Hochzeitstanz im Freien auf dem Dorfplatz stattfinden. Die Nachbarn waren voll des Lobes über Mr. Angus' Freigebigkeit: er hatte auf dem Platz improvisierte Tische aus Brettern aufgestellt, die mit allerlei Delikatessen beladen waren – das Hochzeitsgeschenk der Company.

Endlich war der große Nachmittag gekommen. Die Minnegouches und die Schekapéos traten gemeinsam den Weg zur Kirche an. Alle trugen ihre besten Kleider: Lederhosen mit langen Fransen und Wolljacken aus schottischem Tuch, Wollsocken und Mokassins. Ein paar der Gäste trugen Filzhüte auf ihrem langen Haar, aber keiner machte sich mit einem Strohhut lächerlich, der weiße Mann sollte seinen Unsinn für sich behalten.

Zu Paaren geordnet, schritten sie langsam den Berg hinauf. Zuerst kam Vater Schekapéo mit dem Bräutigam, nach ihnen Vater Minnegouche mit Vitaline in ihrem bunten Kopftuch aus Seide. Dann folgten Michael mit einem Onkel der Schekapéo-Familie, Pirre und Aschappi, Großmutter mit Mutter Schekapéo, Mutter Minnegouche und Estelle. Am Hudson-Bay-Company-Haus hatte Mister Angus sich ihnen zugesellt, und als sie die Kirche erreichten, hatten die katholischen Indianer sich ihnen 75 angeschlossen, auch viele der Protestanten, von Tommy Moar angeführt.

Die beiden Trauzeugen erwarteten sie an der Kirchentür. Saiko hatte ihnen die große Ehre erwiesen, dieses Amt zu übernehmen. Er saß auf einem kleinen, von Mr. Angus geliehenen Wägelchen, das von zwei jungen Männern gezogen wurde. Sie hoben ihn herunter, und innen bewegte er sich in seiner flinken Weise auf allen vieren. Die andere Trauzeugin war eine stolz aussehende Indianerfrau vom Naskapistamm. Sie trug die traditionelle Mütze aus perlenbesticktem rotem Filz, ihre Haare waren über zwei Holzrollen aufgebunden.

Es fiel Pirre sehr schwer, seine Würde zu wahren, denn er wollte sowohl männlich erscheinen als auch alles beobachten, was es zu sehen gab.

In der Kirchentür stand der Priester in seinem kostbarsten »Zaubermantel«, der mit goldenen Kreuzen, Heiligenfiguren und dem kanadischen Ahornblatt über und über bestickt war.

»Gott segne euch, meine Kinder!« sagte er in der Indianersprache, dann wandte er sich um und schritt ihnen voran.

Vater Schekapéo und Vater Minnegouche traten plötzlich zurück, so daß Johnny und Vitaline als erste nach dem Priester die Kirche betraten. Ihnen folgte Mr. Angus mit den Zeugen. Sein schottischer Blondkopf stach seltsam von den dunklen Schöpfen der Indianer ab, als er da gravitätisch zwischen Saikos grotesker Figur und der hochgewachsenen Naskapifrau einherschritt. Nun kamen die Ältesten des Stammes, angeführt von Utisch, dem »Sehr Alten«, der den Ruf eines mächtigen Meisters der Geister der Wildnis hatte. Hier, im Bereich des weißen Mannes, wirkte er bescheiden und unscheinbar. Nur seine scharfen Augen, die denen des Habichts glichen, sprachen von den Gedanken, die er still für sich behielt. Ihm folgte Kakwa im Häuptlingsmantel, neben seinem Kollegen Tommy Moar, mit einem weißen Manne, dem Regierungsarzt, der gerade zu einem 76 kurzen Besuch auf der Reservation war. Jetzt erst kamen die Familien des Brautpaares, gefolgt von dem Rest des Stammes. Es war traurig, so viele Krüppel unter den Anwesenden zu sehen, gar manchen hatten die harten Winter auf den Jagdgründen für immer gezeichnet.

Der weiße Arzt setzte sich am Harmonium nieder und begann leise zu präludieren, während die Gemeinde auf den Holzbänken des weißen Mannes Platz nahm, von denen ihre Füße in den eigenartigsten Stellungen herabhingen. Auf jedem Platz lag ein Gesangbuch, in dem die Kirchenlieder in Montagnais-Naskapi gedruckt zu lesen waren, aber nicht viele aus der Gemeinde sahen sich imstande, davon Gebrauch zu machen. Einige Andächtige öffneten die Bücher richtig oder verkehrt herum und blickten still auf die Seiten mit den seltsamen Notenbildern, die ihnen wie ein Schwarm Wachteln vorkamen, die sich in einem kluggestellten Netz gefangen hatten.

Pirre saugte an seinen Fingern, die er tief in das Weihwasser eingetaucht hatte, eine Zauberhandlung, von der er ein Wunder erwartete. Alle Indianer liebten die langsam hingezogenen Melodien der Liturgie, die dem mystischen Singsang des Winters auf den Jagdgründen glichen. Blumen waren nicht vorhanden, sie wären den Rothäuten lächerlich und »gewöhnlich« vorgekommen. Aus den Gefäßen des weißen Mannes, die von zwei Naskapijungen geschwungen wurden, verbreitete sich ein vertrauter würziger Duft wie von geräuchertem Leder und frischen Tannenzweigen.

Der Priester stand nun vor dem Brautpaar. Johnny, der hier »Jean« genannt wurde, und Vitaline folgten seinem Wink und traten einen Schritt vor. Man hörte fernes Gemurmel. Saiko und die Frau in der altertümlichen roten Mütze nickten feierlich, die Musik wurde lauter, und Aschappi flüsterte in Pirres Ohr: »Jetzt sind sie Mann und Frau!« Aber Bräutigam und Braut sahen noch genau so aus wie vorher. Schweigend 77 und ernst sahen sie den Priester an, der vor dem weißen Standbild Christi mit den ausgebreiteten Armen stand.

Pirre streckte seinen Kopf vor, um noch einmal die Versammlung in der ersten Reihe anzusehen: Mr. Angus neben Kakwa und Tommy Moar, daneben Utischs undurchdringliches Gesicht und die würdigen Mienen der Väter. In seiner eigenen Reihe saßen Aschappi, P'tithomme und Piton, der »Faulpelz«. Die Frauen waren ganz hinten.

Der Priester legte seine Hände auf die Schultern der Neuvermählten und gab ihnen ein Zeichen, sich der Gemeinde zuzuwenden. Damit war die Feier beendet. Alle erhoben sich und schritten langsam zur Tür, wo ein großer Korb aufgestellt war, aus dem sie sich Geschenke nehmen durften. Pirre nahm eine Silbermedaille mit einem Heiligenbild darauf. Die wollte er an sein Kanu hängen, neben den Muskratschwanz. Die Großmutter wählte ein großes goldenes Kreuz aus Messing, Estelle ein buntgedrucktes Bild mit blutenden Herzen und Heiligenscheinen. Utisch schlang einen Rosenkranz um sein Handgelenk. Es war eine reiche Hochzeit!

Pirre kam gar nicht an das Brautpaar heran, das von einer Menge Gratulanten umringt war. Einige der älteren Indianer, die sich unter so vielen Menschen unbehaglich fühlten, schlichen still in ihre Zelte zurück. Aber die meisten der Jüngeren folgten den Familien der Neuvermählten auf den Dorfplatz, wo Rehfleisch und das Brot des weißen Mannes verteilt wurde. Johnny hatte eine große Schüssel aus Birkenrinde im Arm, die aus seiner eigenen Werkstatt hervorgegangen und bis zum Rande mit Bonbons gefüllt war. Er reichte sie an Vitaline weiter, die sie den Gästen anbot. Pirre, Aschappi und P'tithomme holten nun ihre Trommeln hervor und begannen sie zu schlagen. Der vertraute Klang fuhr allen in die Füße, und selbst Großväter und Großmütter begannen mit den Jungen sich im feierlichen Tanze zu bewegen, der aus rhythmischem Schreiten und langsamen Drehungen bestand. 78

Es gab Tee und Zucker in unbegrenzten Mengen, dazu Pfefferminz, Schokolade und Plätzchen, Fleisch und Brot. Der weiße Arzt, den die Indianer nicht allzusehr liebten, war nicht mit auf den Dorfplatz gekommen. Mr. Angus war der einzige anwesende »Zivilisator«, der einzige Weiße, den die Indianer als ihresgleichen anerkannten. Sie klatschten in die Hände und lachten, als er mit seinem »singenden Beutel« kam, dem schottischen Dudelsack, um »etwas Melodie in die Trommeln zu mischen«. Begeistert schlug Pirre auf sein Instrument, im Rhythmus zu dem Lied: »Als du und ich noch jung waren, Maggie . . .«

Als ihre Füße müder wurden, hockten die Gäste sich auf den Boden nieder und begannen zu plaudern. Das Hauptgesprächsthema war Johnnys neuer Jagdgrund. Für gewöhnlich gebot die Sitte, daß ein junges Paar zur Herbstjagd mit dem Vater des Bräutigams auf dessen Jagdgrund zog. Aber Johnny hatte besonderes Glück gehabt: ein kürzlich verstorbener Onkel hatte ihm seinen verwaisten Jagdgrund hinterlassen. Es sollte dort viele Biberdämme und eine Menge Wild geben. Dorthin würde er nun mit Vitaline ziehen, ganz allein.

Es dämmerte schon, und ein strahlender Halbmond löste die rote Abendsonne ab. Man sah Utisch zu seinem Zelt zurückkehren. Gleich nach ihm, nur in anderer Richtung, verschwanden die Neuvermählten und gaben damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Saiko lehnte alle Hilfe ab und humpelte allein in sein nahes Zelt. Aber Michael ging mit ihm, und Pirre schloß sich ihnen an. Innerhalb weniger Minuten brannte ein helles Feuer in der Mitte des Zeltes aus Birkenrinde. Saiko lud die Brüder ein, mit ihm zu kommen. Aber sie zögerten, denn gerade kreiste eine große Eule mit Augen wie Laternen über dem Dorfplatz und verschwand geräuschlos in der Richtung von Johnny und Vitalines neuem Zelt. Auch Saiko sah sie, »Uhumschu«, den Uhu!

»Das war Utisch«, sagte Saiko, als wäre das das einfachste von der Welt, »er kann jede Gestalt 79 annehmen, die er nur will. Das ist seine Art, sie zu segnen.«

»Aber Utisch ist ein Indianer –«, wagte Pirre einzuwenden.

»Natürlich. Du scheinst nicht viel von den Kräften zu wissen, die in uns wohnen. Du wirst es noch erfahren«, sagte Saiko.

Sie schlüpften schnell in das Zelt des alten Mannes. Die Nacht schien voller Leben, und der Wind, der vom See herkam, war kühl.

»Wie heirateten die Indianer, ehe es die Kirche des weißen, Mannes gab?« fragte Michael.

»Der Geschäftsführer verheiratete sie im Company-Haus.«

»Und vorher?«

»Die Ältesten sagten zu ihnen: »Bleibt nun beieinander«, und sie blieben beieinander.«

»Wie hast du geheiratet, Saiko?«

»Ach, das ist so lange her –«

Er suchte in der Ecke unter seinen Sachen herum.

»Da, ihr Minnegouche-Jungens«, sagte er endlich, »ich will euch mal in so ein Ding hineinsehen lassen, das mit »Mischinahiken« vollgestopft ist, dem Papier des weißen Mannes. Sie nennen sie Bücher. Dies hier ist ein Zauberbuch.«

»Was ist drin?«

»Nun, das weiß ich nicht so genau. Aber es ist alles in unserer Sprache, in Montagnais-Naskapi. Sie sagen, daß man Glück hat, wenn man das Ding anfaßt. Es schützt gegen Krankheit.«

Michael öffnete das alte Buch und betastete seine Seiten so sorgfältig, als wäre er ein Blinder in der Welt der Weißen. Er konnte Gedrucktes nicht lesen. Aber auch wenn jemand ihm die Titelseite vorgelesen hätte, so würde er sie wahrscheinlich nicht verstanden haben. Sein eigener und Pirres Kopf stießen aneinander, als 80 ihre Finger den Umrissen dieser Buchstaben folgten:

Tshitshue
A iamieu mishinaigan
Nelu katshi
Ilnu ishtat

Ka uapukuieshish ka itagant
Geo. Lemoine, Ptre., O.M.I.

Sie bedeuteten in ihrer eigenen Sprache: »Dies Buch ist die Heilige Bibel, übersetzt von Pater Lemoine.« Sie kannten nicht den Namen dieses würdigen Klerikers aus dem neunzehnten Jahrhundert, der für die weiße Welt eine Grammatik ihrer Sprache ausgearbeitet und mit unendlicher Mühe das Buch der Bücher für die Indianer übersetzt hatte.

Für Saiko war diese Bibel ganz einfach ein Zauberbuch, ein Fetisch unbekannter Mächte. Der alte Indianer legte sie an ihren Platz zurück. Dann brachte er den Beckenknochen eines Bibers herbei, den er auf das Feuer legte, wo es mit einem Knack zersprang.

»Was sagt er?« fragte Pirre sogleich, »ist er für Johnny und Vitaline?«

»Im kommenden Winter werden sie einer großen Gefahr entgehen«, sagte der alte Mann, »es ist sehr gut für sie, daß sie ihren eigenen Jagdgrund haben.«

»Warum, Saiko? Wird es bei Schekapéo brennen?«

»Mehr weiß ich nicht. Mehr hat der Knochen nicht gesagt. Geht heim jetzt, ich bin müde.«

Als sie den stillen Dorfplatz überquerten, wo am Nachmittag so viel Leben geherrscht hatte, fühlten sie sich ganz sonderbar. –

»Schneller, schneller!« sagte Pirre. Aber Michaels Lungen waren dafür nicht gemacht.

»War da nicht schon wieder der Uhu?«

»Unsinn. Sei still.«

»Denkst du wirklich, es war Utisch?«

»Vielleicht. Alles lebt – Bäume, Steine, Wolke und Erde.« Sie waren froh, als sie bei den Eltern waren. 81

»Meine Jungen!« sagte die Mutter mit ungewohnter Zärtlichkeit, »einmal heiratet auch ihr. Aber dann bekomme ich Töchter, statt sie zu verlieren.«

»Hast du nicht deine eigenen Eltern verlassen, als du den Vater heiratest?«

»Das ist wahr, Kinder. Das ist der Lauf der Welt.« 82

 


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