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Sechzehntes Kapitel
Pirre und Michael kamen vom nahen Flüßchen zurück, wo sie ein Bibernetz unter dem Eis gestellt hatten – keine leichte Arbeit zu dieser Jahreszeit. Denn täglich schon erschüttert das Krachen des Eises von dem großen See her wie Kanonenschüsse die Luft, um den Indianern anzuzeigen, daß die Wasserwege ihnen bald wieder offen sein würden. Nicht lange mehr, und sie konnten sich zur Abreise nach dem Sommerlager rüsten. An manchen von der Sonne beschienenen Stellen kam 230 jetzt zuweilen der Boden schon schwarz hervor, doch in den Nächten gab es noch plötzliche Schneestürme, und alle Tiere trugen noch ihre Winterpelze. Mai war es, Onikupitscham, der »Monat der Gänse«.
Sie brachten eine tüchtige Ladung Fische mit, meistens Hechte. Pirre war fröhlich und gesprächig wie immer, wenn Saiko sich in der Nähe befand. Der alte Jäger war mit ihm zu den Minnegouches zurückgegangen und blieb für eine Weile bei der Familie.
Als die Brüder ins Zelt eintraten, begrüßte der Vater Pirre mit den Worten:
»Manchmal wäre es besser für dich, nicht immer unterwegs zu sein. Das Beste findet man oft in der Nähe. Ich habe den ganzen Tag nach dir Ausschau gehalten.«
Michael nahm die Fische aus. Pirre sah den Vater erstaunt an. Er bemerkte ein Lächeln um Saikos Mund.
»Im Morgengrauen«, sagte der Vater, »habe ich im Gestrüpp einen Zedernzweig gefunden, an einer Stelle, wo gar keine Zedern wachsen. Vielleicht hat einer ihn verloren, der aus einer Höhle kam . . .«
»Vater!« schrie Pirre und packte sein Gewehr, »Vater!« Saiko schloß das eine Auge und blinzelte ihm mit dem anderen zu wie eine alte Eule.
Pirres Herz begann wie wild zu schlagen. Er war ganz außer Atem. Ein Bär! Ein Bär! Nichts anderes konnte es sein! Er mußte den Zedernzweig von seinem Lager mitgeschleppt haben, als er aus seinem Winterschlaf erwachte. Bald würde er ganz munter werden, und dann war es zu spät, ihn zu finden und zu schießen. Ihn zu schießen – seinen ersten Bären!
»Nur ruhig Blut, junger Jäger«, mahnte Saiko. Nie mehr nannte er ihn »Junge«, er redete ihn jetzt immer als »junger Jäger« an. Da war nun die Gelegenheit, ihm zu zeigen, daß er wirklich ein erwachsener Jäger war!
»Wo?« drängte er, »wo?«
Aber der Vater ließ sich nicht auf weitere Einzelheiten ein. »Oh«, sagte er, »irgendwo da im Nordosten, nicht weit von den Felsklippen –« 231
Und schon rannte Pirre Minnegouche aus dem Zelt. Die Männer schüttelten den Kopf.
»So benimmt sich kein kluger Jäger«, murmelte der Vater.
»Nur Geduld«, sagte Saiko, »er wird's schon lernen.«
Die Zweige knackten unter Pirres Füßen, er stolperte über Steine und Baumstrünke. Bei den Klippen, bei den Klippen, war alles, was er denken konnte. Und wenn dort wirklich ein Bär war, würde es ein Weibchen mit ihrem Jungen sein, oder einer von den alten Männchen, die den Teufel im Leibe haben? Alle Bären können reden, sie sind nur zu stolz, es zu zeigen, denn sie wollen den Menschen nicht nachäffen. Alle verstehen die Sprache der Indianer, und jeder Bär hat seinen eigenen Mistapéo. Die Bären sind klüger als die meisten Menschen. Alle anderen Tiere leben in Herden mit nur einem Häuptling. Aber jeder Bär ist ein Häuptling. Er ist der Herr des Waldes.
Pirre fand den Zedernzweig bei Vaters Fußspuren im Schnee. Ja, hier wuchsen keine Zedern. Jemand, der in ausgepolsterter Höhle wohnte, mußte ihn hier verloren haben.
In der Ferne krachte das Eis. Die Stimmen der Vögel klangen hier schrill und seltsam. Pirre dachte an Utisch und an die vielerlei Gestalten, die er annehmen konnte.
Als er die Hügelkette erreichte, wurden seine Schritte vollkommen geräuschlos. Große Felsblöcke türmten sich hier aufeinander mit Höhlen in ihrem Inneren, wo Eulen wohnten, Nerze und Luchse. In den gewaltigen hohlen Bäumen hier hielt gar manches Wesen seinen Winterschlaf. Dunkle, geheimnisvolle Eingänge führten zu den Höhlen im Inneren der Klippen, deren Ausmaß man nicht erraten konnte. Er drückte das Gewehr fester an seine Brust.
Die Klippen waren noch dick mit Schnee und Eis bedeckt. Wer hier unten in geheimer Höhle hauste, lebte noch mitten im tiefsten Winter.
Er erstieg die Klippen und suchte den Boden nach 232 Spuren verborgenen Lebens ab. Plötzlich zögerte er. Mit größter Aufmerksamkeit betrachtete er einen der runden Steine, dessen gewaltige Wölbung aussah wie das Dach einer verborgenen Höhle. Wie die anderen Steine ringsumher war auch dieser mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, aber seltsamerweise war der Schnee an der Stelle, wo die Blöcke zusammenstießen, weggeschmolzen. Nur der warme, lebendige Atem eines Tieres, das unter dieser Ritze seinen Winterschlaf hielt, konnte das verursacht haben! Ein kleines Tier konnte es nicht sein – sein Atem hätte nicht genügt, den Schnee über der Ritze aufzutauen.
Hatte er das Versteck des Bären gefunden? Ein Höhleneingang jedenfalls war nicht zu entdecken, aber es war gut möglich, daß ein unterirdischer Gang von einem hohlen Baume aus in die Wölbung unter den Klippen führte.
Pirre wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Herz klopfte in wilder Erregung. Was sollte er tun?
Er konnte den Herrn des Waldes nicht in roher Weise stören. Nie hätte er ihm das verziehen, und niemals würde ein respektlos behandelter Bär sich von ihm töten lassen. Es blieb nur eins: ihn ehrerbietig zu bitten, doch hervorzukommen und sich dem jungen Jäger zu stellen als gleichberechtigter Partner, der wie er den Gesetzen der Wildnis unterworfen war. So schrieb die Tradition es vor, und so würde er es halten.
Er kniete nieder.
»Großvater«, sagte er mit bescheiden bittender Stimme, »ich bitte dich: komm heraus!«
Er lauschte. Es kam keine Antwort.
»Großvater, ich bin es, Pirre Minnegouche vom Stamme der Naskapi. Ich bin ein Indianer, und ich bin noch jung. Würdest du so freundlich sein, herauszukommen? Ich habe das Luftloch gesehen, aus dem du atmest.«
Das Echo verhöhnte seine Worte. Und auch der Bewohner der Höhle schien seine höflichen Redensarten zu 233 verachten. Vielleicht war es ein Weibchen, das sich durch die falsche Anrede verletzt fühlte.
»Großmutter«, sagte er und verneigte sich, »könntest du dich wohl entschließen, deine Wohnung zu verlassen? Es ist schon fast Frühling. Wir sind im Monat der Gänse.«
Keine Antwort. Kein Lebenszeichen.
Er verbeugte sich so tief in seiner Demut, daß er fast auf dem Boden lag. Der Pulverschnee sprühte in sein Gesicht, als er sprach.
»Häuptling«, flehte er, »einmal müssen wir ja doch alle sterben. Ist es nicht ein schönerer Tod, einem Jäger offen entgegenzutreten, als sich in einer schmählichen Falle zu fangen? Ist es nicht besser, in der alten, mutigen Art zu sterben?«
Bis es dunkel wurde, redete er so auf den Schläfer ein. Dann endlich machte er sich betrübt und erschöpft auf den Heimweg. Hell schien der Mond, aber Pirre vermied es, ihn anzusehen. Wenn man auf Beute aus ist, soll man das Gesicht des Mondes nicht betrachten.
Niemand im Zelt stellte ihm eine Frage. Alle taten, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen. Sie nahmen kaum von seiner Anwesenheit Notiz. Saiko und der Vater plauderten über vergangene Jagdabenteuer. Er fühlte sich ihnen hilflos unterlegen. Als er unter seiner Decke lag, kämpfte er mit den Tränen.
Längst vor Tagesanbruch war er schon wieder auf den Beinen. Er schluckte seine Tasse Tee hinunter, nahm sein Gewehr und kehrte zu den Klippen zurück. Diesmal ging er langsam, mutlos und in tiefe Gedanken versunken. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Er wandte sich um. Da stand der Vater und fragte ihn in gleichgültigem Ton:
»Hast du gestern irgendwelche Spuren gefunden?«
»Vater!« stammelte Pirre. Eine plötzliche Welle tiefer Zärtlichkeit erfüllte sein Herz. Der Vater war bei ihm. Nun würde alles gut werden.
Gemeinsam gingen sie zu den Felsen, und Pirre zeigte ihm die Atemritze. 234
»Gut beobachtet«, sagte der Vater, »kein Zweifel, da war ein Bär.«
»War?« rief Pirre, »war? Ist er nicht mehr hier? Kann er weggegangen sein? Ich habe ihn so höflich gebeten. Ich habe ihn nicht belogen. Ich wollte ganz ehrlich mit ihm sein.«
Der Vater fällte mit seiner Axt einen jungen Baum, nahm ihn und zeigte Pirre den Höhleneingang unter einem mit Eiszapfen behangenen Busch. Er stieß den Stamm in die Höhle. Sie war leer.
»Er muß dich gehört haben, Pirre. Vielleicht hatte er keine Lust zu sterben. Mag sein, daß die Fallen ihm lieber sind. Ich habe ein paar neue Bärenfallen hier in der Nähe. Vielleicht ist er dort, um wieder einmal Ahornsirup und Fisch zu riechen.«
Zwischen den Bäumen in der Nähe lag kein Schnee mehr. Kleine Wasserrinsel liefen zu den Moospolstern, die sie aufsaugten. Hier konnte man keine Spuren erkennen. Sie bahnten sich ihren Weg durch Zweige und Gestrüpp und kamen zu einem großen runden Felsen. Als sie sich nach links wandten, packte Pirre plötzlich den Arm seines Vaters. Wie durch Zauberei zu Stein verwandelt, standen sie regungslos da.
»Dort –!« flüsterte Pirre.
In der Lichtung vor ihnen saß ein gewaltiger schwarzer Bär. Überall in seinem zottigen Pelz hingen dürre Blätter und kleine Zedernzweige, die er aus seinem Lager mitgeschleppt hatte. Er schien hungrig zu sein, denn tief versunken saugte er an seiner rechten Vordertatze.
Mit zitternden Fingern hob Pirre das Gewehr an die Schulter. Der Vater nickte ihm zu. Da kam die Kraft in seine Hände zurück. Ein Gefühl wilden Mutes rann durch seinen gestrafften jungen Körper. Er drückte ab. Er schoß.
Der Bär sprang auf seine Füße. Er war größer als der Vater, ein ausgewachsenes, prächtiges Männchen. Wie ein Mensch hob er seine Arme, als ob er gegen den 235 Überfall protestieren wollte, dann sank er hin wie ein gefällter Baum und regte sich nicht mehr.
Hingerissen von seinem Triumph wollte Pirre auf ihn zulaufen. Aber der Vater hielt ihn zurück.
»Warte!« sagte er, »vielleicht hat der Schuß ihn überhaupt nicht getroffen. Vielleicht stellt er sich nur tot, um uns in Stücke zu zerreißen, sobald wir ihm nahe genug kommen.« Mit Gewalt mußte er sich dem jungen Jäger in den Weg stellen, denn Pirre war kaum mehr zu halten. Dann näherte er sich langsam und mit schußbereitem Gewehr dem Bären. Er befahl dem Sohn, einen jungen Baum abzuschlagen und Augen und Nase des Bären damit zu berühren. Dann kniete er nieder und betrachtete genau die gebrochenen Augen. Er erhob sich und sagte feierlich:
»Ja, Pirre. Er ist tot. Du hast deinen ersten Bären geschossen. Mitten durchs Herz.«
Diese Worte verwandelten für immer die Seele von Pirre Minnegouche. Mit diesem Schuß, der seinen ersten Bären getötet hatte, sank der Vorhang nieder, hinter dem seine Kindheit lag. Nun war er ein Mann, gleichberechtigt unter den Jägern der Indianer. Die Männer seines Stammes erkannten ihn jetzt als ihresgleichen an. Selbst nach einer Frau durfte er sich nun umsehen . . .
»Pirre, mein Sohn«, sagte der Vater, »das Blut großer Jäger ist in deinen Adern.«
»Wir wollen ihm unsere Ehrerbietung erzeigen«, sagte der junge Jäger Minnegouche. Der Herr des Waldes hatte Anspruch darauf.
Sorgfältig legten sie den gefallenen Riesen auf den Rücken. Langsam und respektvoll ergriffen sie seine Vorderpranken und kreuzten sie ihm auf der Brust. War das eine Erinnerung an die Gebete der Weißen, oder war diese Sitte älter als alle Jahrhunderte, die der weiße Mann zu zählen vermag?
Vom Augenblick seines Todes an durfte man den gefallenen Häuptling nicht mehr als »Bär« bezeichnen. 236 Sprach man von ihm, so mußte man ihn das »Tier« nennen, den »Großvater« oder die »Mächtige Nahrung«. Aber erst mußte sein Mistapéo geehrt werden. Der Vater zog den ledernen Tabaksbeutel aus der Tasche und legte einige der getrockneten Blätter in den Mund des toten Bären.
»Vergib mir, Großvater«, sagte Pirre, »räche dich nicht für deinen Tod.« Der Vater stopfte seine Pfeife und reichte sie seinem Sohn. Pirre, der Jäger, blies feierlich seinen Rauch über das Gesicht des »Großvaters«. Dann tat auch der Vater ein paar tiefe Züge. Sie leerten die Pfeife zu Ehren des verstorbenen Häuptlings in den Schnee aus. Er hatte ihnen seine Großmut bewiesen. Die Zaubermächte der Wildnis hatten ihn wissen lassen, daß es ihm bestimmt sei, durch die Hand Pirre Minnegouches zu sterben. Er hatte sich seinem Schicksal unterworfen und hatte nicht versucht, in den Wäldern zu entkommen. Seine Zeit war abgelaufen, und er hatte sich seinem Verhängnis gefügt.
Der Vater öffnete seinen Pelz und nahm das »heilige« Tragband von seiner Brust, das nur für Bären verwendet werden darf. Es war ein langer weicher Riemen aus Elchleder, zu Ehren der Bären mit zinnoberroten Ornamenten bemalt. Alles mußte genau geschehen, wie die Überlieferung es vorschrieb, denn jede Beleidigung des scheidenden Mistapéos würde zur Folge haben, daß er alle anderen Bären des Jagdgrundes für immer vor den Minnegouches und ihren Fallen fernhielt.
Mit Sorgfalt und Würde trugen sie ihn heim. Pirre band das gewaltige Gewicht des Bären mit der heiligen Leine auf seinen Rücken und schritt voran mit stolzen Schritten. Dann nahm der Vater ihm für eine Weile die Bürde ab. Am Schluß trugen sie ihn gemeinsam. Kurz vor dem Zelt ließen sie den toten Herrn des Waldes auf den Boden gleiten. Pirre blieb als Ehrenwache an seiner Seite, während der Vater voranging, um die Familie zu 237 benachrichtigen und die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
Als Pirre ihm später nachkam, den Bär als »älteren Bruder« auf seinem Rücken, saßen die Mutter, die Großmutter und Estelle mit ihrem Rücken gegen den Zelteingang. Ein Tuch lag über Tiloups Wiege. Kein toter Bär darf bei seinem Einzug ins Zelt des Jägers durch die Blicke von Frauen und Kindern beleidigt werden.
Saiko und Michael standen zum Empfang vor dem Eingang und begrüßten Pirre als Mann unter Männern.
»Er kann zielen wie Nosipatan!« sagte Saiko. »Ein Schuß nur, und mitten ins Herz!«
Ein Fest wurde vorbereitet. Aber bis es stattfand, mußte der Bär stets verhüllt unter einer Schlafdecke liegen. Jetzt erst durften die Frauen den »Großvater« ansehen, aber sie wagten keinerlei Bemerkungen über sein Ende zu machen. Das Abziehen des Felles war Frauenarbeit, jedoch nur verheirateten Frauen kam die Ehre zu. Estelle hatte schweigend dabeizustehen.
»Saikos Anwesenheit hat uns Glück gebracht«, sagte die Großmutter mit niedergeschlagenen Augen. Das Ritual verlangte die Anwesenheit des größten Jägers, aber sie hatten ihn ja schon hier! Immer war Saiko gerade dort, wo man ihn am meisten brauchte.
Das Fell des Bären wird anders abgezogen als das aller anderen Tiere, denn auch hiebei wieder mußte ihm der nötige Respekt erzeigt werden. Vom Kinn bis zum Schwanz öffneten sie seinen Pelz, nahmen die Eingeweide heraus und bereiteten das Fett getrennt vom Fleisch zu, das unter vielen Feierlichkeiten gebraten wurde.
Dann setzten sie sich zum Mahl nieder, und Pirre, der Jäger, nahm den Ehrenplatz ein. Er allein hatte das Recht, das Herz und die rechte Vordertatze des »Tieres« zu essen. Wenn die Frauen es gewagt hätten, vom Fleisch der Keulen zu kosten, so wären ihre eigenen Lenden für immer gelähmt worden. 238
Kein weißer Mann ist je beim großen Bärenmahl anwesend gewesen. Nie hätte der Mistapéo des Bären diese Erniedrigung vergeben, denn der weiße Mann in seiner Unwissenheit verletzt die Würde der Häuptlinge.
Als Vorspeise gab es Bärenfett mit Heidelbeermus. Die Speise wurde in einen großen runden Holzlöffel gefüllt und feierlich herumgereicht. Pirre, der Jäger, nahm den ersten Bissen, Saiko, der größte Jäger der Naskapi, den zweiten. Dann kam der Vater- an die Reihe – er hatte schon über vierzig Bären geschossen. Nach ihm erhielt Michael den Löffel – drei Bären hatte er bereits mit seinem Gewehr erlegt, die fünf aus seinen Fallen nicht mitgerechnet. Nach den Jägern durften die Frauen von der Speise kosten.
Dann kam der Braten. Er wurde ohne das Salz des weißen Mannes genossen, so wie es den Waldgeistern wohlgefällig ist. Alle aßen die Teile, die ihnen zukamen, von ihren Tellern aus Birkenrinde. Dann trat plötzlich Stille ein, und aller Blicke wandten sich Saiko zu, der Pirre gegenüber auf dem zweiten Ehrenplatz saß.
»Manche nennen mich Häuptling«, waren seine ersten Worte, »aber für einen Indianer ist das ein unsicherer Titel. Man erwirbt ihn erst spät und ist dann noch nicht sicher, ob man ihn verdient. Du aber, Großvater, bist, solange du lebtest, ein Häuptling gewesen. Ohne Zelt, ohne die Möglichkeit, deine Felle gegen Provision einzutauschen, ja selbst zu stolz zum Sprechen, hast du allein die Härte vieler Winter ertragen. Du gehörtest nicht zu den Tölpeln, die in Fallen gehen, selbst in deiner frühen Jugend hast du dich nicht vom Köder verlocken lassen. Stolz und frei hast du regiert, bis du endlich die Bitten dieses jungen Jägers erhörtest. In seinem Namen danke ich dir dafür.«
Und wieder beugte er sich über seinen Teller, um von der erlesenen Speise zu essen. Ehe Pirre vom Herz des Bären kostete, murmelte er:
»Immer werde ich dein Gedächtnis hochhalten, 239 großer Mistapéo, stolzer Häuptling, der du mich zum stolzen Jäger gemacht hast.«
Um den Bären zu ehren, aßen sie von seinem Fleische soviel sie nur konnten. Die kleinen Knochen warfen sie ins Feuer, die großen wurden zu Werkzeugen verarbeitet. Die Hunde bekamen niemals einen Bärenknochen.
Sogar die Großmutter benahm sich schüchtern wie ein Mädchen. Alle Frauen waren von großer Scheu befallen, solange der Bär geehrt wurde. Es gab kein anderes Fleisch außer dem des »Tieres«, denn noch nicht einmal ein Biber war gut genug, gemeinsam mit dem »heiligen Braten« am Feuer zu rösten.
Sofort nach der Mahlzeit legten die Frauen sich zur Ruhe nieder und schliefen oder taten zum mindesten so. Die Männer aber fuhren fort, den Herrn des Waldes und den jungen Jäger zu preisen. Sie sprachen von den Vier Mächtigen, die ihre Gaben zwischen Mensch und Tier gerecht verteilen.
»Baum und Erde, Fels und Hügel, Vögel und Vierfüßer atmen und haben ihre eigenen Seelen«, sagte Saiko. »Im Sommer will der weiße Mann uns glauben machen: ›Wo keine Sprache ist, da ist auch kein Mistapéo!‹ Aber wir Indianer wissen, daß alle, die im Walde sind, zu den Vier Mächtigen beten. Ich selber habe gehört, wie ein Karibu den Ostmann anflehte, den Schneesturm aufzuhalten. Ein Karibu hat keine Schneeschuhe und kann deshalb im hohen Schnee dem Jäger nicht entkommen, es versinkt und verdirbt. Ich selber habe den hübschen honigfarbenen Burschen beten gehört. Am nächsten Tage kam Tauwetter – der Schnee hatte sich in Wasser verwandelt. Und auch die Bären beten um warmes Wetter, denn kein Bär läuft im Schnee herum, um den Jäger auf seine Fährte zu lenken.«
»Auch dieser Großvater hier hat keine Spuren gemacht«, sagte Pirre, »wo er ging, war Moos und Wasser.« 240
»Ja«, fügte der Vater hinzu, »es ist ehrlich zugegangen, so wie es sein soll.«
Die Pfeifen gingen aus. Es war spät. Pirre tat noch einen Gang vor das Zelt. Gestern noch hätten sie ihn zurückgerufen. Heute durfte er tun, wie ihm beliebte.
Er breitete seine Arme im Dunkel aus und murmelte seinen Dank in die Nacht hinein, wo die träumenden Wesen der Wildnis ihn umgaben: Geister und Mistapéos, Winde und atmende Bäume. Das Zelt der Seinen da hinter ihm war nicht, wie es den Kindern scheint, eine einsame Insel des Lebens inmitten einer feindlichen, kalten und leeren Natur. Alles um ihn atmete, lebte, wachte oder schlummerte, und das Eis des Mistassini krachte in der Ferne, als ob ein Riese seine Zaubertrommel schlüge. Er gedachte der Eulen, die stumm durch die Nacht segeln, der Nerze und Bisamratten auf ihren verschwiegenen Wegen und der fleißigen Baumeisterkünste der Biber. Andere Bären, andere Herren des Waldes, schüttelten in einsamer Höhle das Winterlaub aus ihren Pelzen. Adler und Gänse, Forellen und Lachse wachten, wanderten auf ihrer Bahn und kämpften sich vorwärts auf der Straße, die man das Leben nannte. Und das Leben war dann am besten, wenn es in Stolz und Freiheit endete. Dieser Jagdgrund war die Welt. Die Gegenden des weißen Mannes waren eine Wüste ohne Wert und Bedeutung. Er, Pirre, war nur ein winziges Einzelwesen in dieser großen Welt – aber er lebte, wie seine Vorfahren gelebt hatten.
Am nächsten Morgen konnten alle Minnegouches den Bärenschädel, prächtig rot bemalt, hoch oben in der Krone der größten Tanne hängen sehen. Pirre saß auf dem Holzstoß vor dem Zelt und blickte unverwandt hinauf. Saiko stand neben ihm.
»Weißt du, was ich geträumt habe?« fragte er. »Ich sah dich zwanzig Jahre von jetzt im Monat der Blumen. Alle Naskapi hatten sich versammelt, um dich zu ihrem 241 Häuptling zu erwählen. Es hat mich gar nicht gewundert, du junger Nosipatan.«
Pirre griff an seine Brust, wo er in Leder eingenäht die Lippen des Bären in einem Säckchen über seinem Herzen trug, als Amulett für künftiges Jagdglück. Dann legte er schweigend seine Rechte in Saikos Hand. 242