Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Zwölftes Kapitel

Wie die Fallen wiederkamen

Noch immer weigerten die Minnegouche sich, zu glauben, daß einer ihrer eigenen Stammesgenossen die Untat hatte verüben können. So niedrig konnte kein Indianer sein!

Doch ihr Glaube wankte, als Saiko ihnen unerwartet einen Besuch abstattete, um zu berichten, daß er seinem Nachbar Pelkutagen mit einem Schlitten voller Stahlfallen begegnet sei, die alle das eingeritzte Halbkreiszeichen trugen, Vaters Eigentumsmarke! Außerdem hatte 165 mehr Wild auf dem Schlitten gelegen, als ein Indianer für gewöhnlich an einem Tage in seinen Fallen finden kann.

Pelkutagens Name bedeutete »Loch im Rücken«, als Kind war er von einem fehlgegangenen Schuß verwundet worden. Er war ein redseliger Mann, der sich in der langen Wintereinsamkeit gern die Zeit mit langen Gesprächen vertrieb und keinen, dem er begegnete, wieder losließ, ohne ausführlich mit ihm geplaudert zu haben. Diesmal aber war er mit einem hastigen Gruß an Saiko vorbeigeeilt und hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, mit seinem ungewöhnlich ergiebigen Jagdglück zu prahlen. Wie ein Schatten war er vorübergeglitten, ohne dem großen Geschichtenerzähler auch nur einen Augenblick lang zu lauschen.

Als der Vater dies erfahren hatte, machte er sich auf, um Pelkutagen auf seinem Jagdgrund zu besuchen. Er fand dort einen veränderten, schweigsamen und sichtlich niedergeschlagenen Mann vor, der Vaters Andeutungen hinsichtlich der verschwundenen Fallen nicht zu verstehen schien und sich in keiner Weise für die Tatsache interessierte, daß der Vater, um seine Familie vor dem Hungertode zu bewahren, sich der alten Kunst des Baues der hölzernen Fallen hatte entsinnen müssen.

Wenn Pelkutagen wirklich der Dieb war, so hatte er die gestohlenen Fallen irgendwo versteckt, denn in seinem Zelt war keine Spur von ihnen zu entdecken. Pelkutagens sonst so fröhliche junge Frau wandte ihr Gesicht ab, als sie den Besucher erkannte, verlegen und beschämt versteckte sie sich in einem dunklen Winkel des Zeltes. Ohne weitere Worte hatte der Vater das Paar verlassen und war zu seiner Familie zurückgekehrt.

»Vater«, sagte Pirre, als sie sich am späten Nachmittag am Feuer wärmten, »wir werden doch unsere Stahlfallen wiederbekommen, denkst du nicht?«

Der Vater nickte.

»Falls Pelkutagen der Dieb ist, so erschießen wir ihn! Mit meinem Gewehr will ich ihn erschießen!« 166

»Das Gewehr ist nicht für Menschen bestimmt«, antwortete der Vater, »man darf es nicht entweihen. Sollte er wirklich der Dieb sein, so werden wir tun, was das Recht vorschreibt, das Recht der Wildnis.«

Die Augen des Jungen weiteten sich.

»Utisch –«, flüsterte er.

Und wieder nickte der Vater. Die Mutter mit dem Kind in ihren Armen warf ihm einen unergründlichen Blick zu. Das Feuer zeichnete zuckende, rote Muster auf Michaels lauschendem Gesicht.

Utisch, der Geisterbeschwörer! Manche Indianer, die gerade vom Sommerlager zurückkamen und die Ideen des weißen Mannes noch im Kopfe hatten, nannten ihn den »Geistlichen«. Aber was war der Name, der dem Priester zukam. Utisch war mächtiger. Wenn er die Sache in die Hand nahm, so mußte alles gut werden!

Alle hatten sie im Sommer Utisch als Christen bei Vitalines Hochzeit gesehen. Und wirklich, es schien, als glaubte auch er während der »leichten« Zeit wie die anderen an den Gott des weißen Mannes. Aber die Indianer wußten, daß er zum alten Glauben zurückkehrte, sobald der harte Winter das Leben der Jäger auf den Jagdgründen gefährdete. Da gab es keinen Priester und keinen Mr. Angus. Wenn in den Wäldern die Rechte eines ehrenhaften Indianers angetastet wurden und ein gehässiger Feind sich weigerte, sein Unrecht wieder gutzumachen, so gingen die Naskapi zu Utisch, um den Fall in seine Hände zu legen. Ungeschrieben, aber unerbittlich war das Gesetz der Wildnis, und die Tradition der Jahrhunderte hatte es geheiligt. Es war das Gesetz der Bäume und Tiere, das Gesetz der mächtigen Geister, die das Auge nicht wahrnehmen kann, die aber mit allgegenwärtiger Gerechtigkeit das Leben der Indianer regieren.

Wie alle anderen Indianer, beteten die Minnegouches im Sommer die Gebete des weißen Mannes. Aber sie konnten sich die Madonna in der Wildnis nicht 167 vorstellen, und sie glaubten nicht, daß die weißen Hände Christi sich segnend auch über die Tierfährten und die eingeschneiten Zelte ausstrecken könnten. In der Bibel stand nichts über Jesus im arktischen Land. Wohl trugen sie zur Erinnerung an die gute Sommerszeit das schmückende Kreuz, aber in den Nöten des Winters wandten sie sich um Hilfe an die wilden Waldgeister. In jedem Stamme gab es alte Indianer, die die Geister zum Schutze der in Not Geratenen herbeizurufen verstanden.

Aber wie die anderen Geisterbeschwörer war auch Utisch keineswegs der Priester irgendeines verbotenen heidnischen Kultes. Er wußte einfach mehr als der weiße Mann, mehr auch, als die meisten anderen Indianer. Er wußte, was die Vorväter in gewissen Situationen getan hatten, und er benutzte die uralten Kräfte, um den Indianern seiner Zeit beizustehen. Manchmal konnte er auch in die Zukunft sehen, wie es schon andere seiner Art zu tun vermocht hatten, und wie man es sich von Generation zu Generation weitererzählte.

Da war zum Beispiel der Fall der beiden wandernden Indianer gewesen. Etap gehörte zum Unterstamm von Rupertshaus, er war ein lustiger Geselle. Der andere hieß Klein-Wilhelm, er war ein Geisterbeschwörer der Waswanipi. Eines Morgens ruhten sie sich auf ihrer Reise aus, um zu essen und zu rauchen, und plötzlich hatte Klein-Wilhelm gesagt: »Du wirst die Nacht nicht mehr sehen!« Etap hatte ihn ausgelacht und ihm zum Spaße etwas vorgetanzt. Aber mitten drin hörte er auf und ging langsam hinter das Zelt. Er hustete Blut. Klein-Wilhelm kniete bei ihm nieder und zog einen Blutegel aus seinem Munde. Eine Stunde später war Etap tot.

Unter den Indianern seiner Generation war Utisch der größte Geisterbeschwörer. Die Naskapi hielten ihn für hundertfünzig Jahre alt. Schon die einfache Erwähnung seines Namens ließ die Menschen erschauern.

»Darf ich mitgehen?« fragte Pirre, »nimmst du mich mit?« 168

»Darüber muß ich erst nachdenken«, sagte der Vater.

»Wirst du ihn bitten, das Geisterhaus zu bauen?«

»Vielleicht.«

»Wird er es tun?«

»Ich hoffe es.«

Die Mutter sagte nichts, aber sie drückte das Kind fester an ihre Brust. Estelles zitternde Finger packten das Bärenfell, auf dem sie saß. Sie traute kaum zu atmen.

»Es gibt Orte«, sagte der Vater, »wohin selbst erwachsene Indianer nicht gehen sollten.«

»Ja«, murmelte Michael, »denkt an den Berg der Zauberer.«

Niemand sprach, aber aller Gedanken kreisten um den »verbotenen Felsen«, der sich bei Tschibugamu erhebt. Vom See aus betrachtet, gleicht er genau einem Geisterhaus oder »Wapanon«. Seit ewigen Zeiten kreisen, wie die Indianer glauben, todbringende Wirbelstürme um seinen Gipfel. Der Sage nach haben in vergangenen Generationen viele Rothäute versucht, diesen Berg zu erklimmen. Aber schon auf halbem Wege verloren sie den Verstand, und nie ist einer dieser Kühnen je wiedergekehrt. Seitdem hat niemand wieder den Aufstieg gewagt, trotzdem reiche Gold- und Silberminen in den Abhängen und Höhlen vorhanden sein sollen und trotzdem dort das Vermillon, das zinnoberrote Quecksilberoxyd, in langsamem Strom zu Tal sickert, das einige sehr Alte ungestraft sammeln dürfen, nachdem sie die Geister in Demut darum gebeten haben. Aber an das Gold und Silber wagt sich keiner, denn noch hat sich kein Indianer gefunden, dem das Metall mehr wert wäre als sein Verstand, sein Glück und der Frieden seiner Seele.

Zwei Tage später machten Pirre und der Vater sich auf den Weg. Schweigend und mit weiten Augen lauschte der Junge den Erzählungen des Vaters über Utisch und seine wunderbaren Gaben.

»Er enträtselt nicht nur die Bedeutung der Träume, 169 sondern kann auch selbst Träume machen und sie den Schlafenden zusenden. Nachdem ich zu ihm gesprochen habe, wird er seinen ›Mistapéo‹, den Geist seiner eigenen Seele, befragen, ob ich in gerechter Sache zu ihm kam. Wenn er sich davon überzeugt hat, wird er uns seine Hilfe nicht verweigern, denn für uns in den Wäldern bekleidet er die Stellung, die im lauten Leben der Weißen ein ›Rechtsanwalt‹ einnimmt. Sein Gesetzbuch ist die Überlieferung, und die öffentliche Meinung aller Mitglieder unseres gesamten Stammes gibt ihm das Recht, im Namen der Naskapi zu handeln.«

Selbst die Hunde waren ungewöhnlich still, als sie das einsame Zelt erreicht hatten, in dem Utisch, der Sehr Alte, in schweigender Einsamkeit saß. Trotzdem der Eingang offen war, verharrten Vater und Sohn in gebührender Entfernung. Bewegungslos, wie Statuen, preßten Mustard, Café und Pepramint ihre Schnauzen in den Schnee.

Sie wußten nicht, ob der alte Mann die Ankunft der Besucher wahrgenommen hatte. Von draußen sahen sie, wie er sich die Pfeife neu voll Tabak stopfte, sie anzündete und rauchend beim Feuer sitzenblieb. Ein seltsam betäubender Duft ging von den Rauchringen aus, der die Herzen der Eindringlinge mit Beklommenheit erfüllte. Der Pulverschnee war tief und trocken.

Eine lange Weile standen sie so, bis der alte Mann plötzlich aus seiner Versunkenheit zu erwachen schien und sie mit einer Handbewegung ins Zelt einlud. Sie legten die Schneeschuhe ab und begrüßten den Geisterbeschwörer mit dem gebührenden Respekt. Vaters Geschenk, ein in Rehleder eingeschlagener fetter Biberschwanz, wurde von Utisch mit freundlicher Herablassung angenommen. Pirre fühlte seine Knie zittern, denn seine Anwesenheit wurde vollkommen übersehen. Der Vater stopfte ehrerbietig seine Pfeife mit dem angebotenen Tabak.

Zwei Stunden saßen sie nun schon am Feuer, aber es war von nichts anderem gesprochen worden als vom 170 Schneefall und dem neuen kleinen Sohn, vom schneidenden Wind und von den Marderfellen, die Michael auf seine Rahmen gespannt hatte.

Von Anfang an hatte Utisch gewußt, daß ein Indianer bei solcher Kälte nur in dringendster Angelegenheit zu ihm kam, aber die Anstandsregeln der Wildnis erforderten, daß der Grund von Vater Minnegouches Kommen nur in indirektester Weise erwähnt werden durfte. Wenn Utisch es vorzog, nicht zu fragen, so mußte der Vater den beschwerlichen Rückweg antreten, ohne seine Sorgen auch nur mit einem Worte erwähnt zu haben.

Pirre betrachtete die tausend Runzeln in Utischs Gesicht. Seine ruhigen schwarzen Augen blitzten zuweilen jäh auf, als brenne ein Feuer hinter ihnen. Sein dichtes schwarzes Haar war kaum ergraut. Ungebeugt saß er da, in majestätischer Haltung.

Endlich, endlich kam die Frage, und Utisch lauschte nun Vaters Bericht von den gestohlenen und verwüsteten Fallen und von der alten Baukunst der Wildnis, die die Familie vor dem Hungertode bewahrt hatte. Der Name Pelkutagen wurde nicht erwähnt.

Utisch schien mit Interesse zu lauschen, aber kein Zeichen verriet, daß er zu helfen bereit war. Und wieder schwieg der Sehr Alte und saß weltabgewandt wie eine Statue da. Die beiden Besucher fühlten sich entlassen. Als sie sich erhoben, wurde der Vater zur Wiederkehr innerhalb einer Woche aufgefordert. Das war alles. Geduld ist die Haupttugend der Indianer. In den Wäldern gibt es weder Hast noch Eile.

Die Hunde rasten heim, als seien sie froh, den Bannkreis des stillen alten Mannes verlassen zu haben.

Die Tage vergingen. Als Vater und Sohn endlich zum Zelt des Zauberers zurückkehrten – das Geschenk war diesmal ein Karibubraten – empfing sie der alte Mann viel herzlicher als beim ersten Male.

»Mistapéo, mein Geist, hat mir gesagt, daß du die Wahrheit gesprochen hast«, sagte er und bot beiden 171 heißen Tee in Birkenrindentassen an, »der Dieb ist Pelkutagen . . .«

Mit einer langsamen rauhen Stimme berichtete er, daß Pelkutagen in der vergangenen Nacht von einem Traume gepeinigt worden sei, den der Geisterbeschwörer ihm »gemacht« habe. Utisch selbst war darin erschienen, um ihn zu warnen und zur sofortigen Rückgabe der Fallen an ihren Eigentümer aufzufordern.

»Wenn er nun nicht gehorcht, wird ein gewaltiger Vogel mit buntem Gefieder ihm folgen, wohin er auch geht. Ein Bär, den er nicht zu töten vermag, wird sich dem Vogel zugesellen. Eine Wolverine wird seine eigenen Fallen zerstören. Damit wird er wissen, daß sein Jagdglück ihn verlassen hat und daß die von seiner eigenen Tat erweckten Geister ihn so lange verfolgen werden, wie er sich weigert, dir dein Eigentum zurückzugeben.«

Dies wurde keineswegs in zusammenhängender Rede gesagt. Pirre setzte es sich aus den gelegentlichen unbestimmten Bemerkungen zusammen und las den Sinn der Worte aus den langen Pausen des Gespräches. In diesem von schwerem, duftendem Rauch erfüllten Zelt lernte er mehr als während der Jahre seines bisherigen Lebens.

Sie nahmen Abschied und erhoben sich.

»Du kannst den Jungen wieder mitbringen«, sagte Utisch, »er scheint die Kraft des Schweigens zu verstehen. Komm nächste Woche wieder.«

Von nun an wartete die Minnegouchefamilie stündlich darauf, daß der Dieb zurückkäme, um die gestohlenen Fallen wiederzubringen. Aber Pelkutagens Herz schien seltsam verhärtet zu sein, sein Gewissen ließ sich durch Warnungen nicht stören. Eines jedoch war sicher: er wußte, daß man ihm auf den Fersen war und würde nicht wagen, Zuflucht bei einem anderen Geisterbeschwörer zu suchen. In Fällen ernster Meinungsverschiedenheiten, wo jedoch von einem Verbrechen nicht die Rede sein kann, wendet der Beschuldigte sich zuweilen an einen anderen »Rechtsanwalt«, der andere 172 Geister beschwört als der des Anklägers, die dann mit den seinen den Streit entscheiden. Aber Pelkutagens Schuld war allzu offensichtlich. Es war ganz einfach eine Angelegenheit der Nerven und des Hungers, wie lange er die Zeit der Verfolgung aushalten würde.

Als der Tag für den dritten Besuch beim Zauberer gekommen war, wußten die zurückbleibenden Familienangehörigen, daß der Vater und Pirre diesmal viel länger ausbleiben würden. Denn die Zeit für schärfere Maßnahmen war nun gekommen.

Und genau so war es. Pirre hörte Utisch und den Vater über die Notwendigkeit verhandeln, ein »Geisterhaus« zu errichten, ein »Wapanon« oder »Kuschapaschiken«, in dem die Geister die Entscheidung über das weitere Schicksal Pelkutagens fällen würden.

Ein solches »Haus« muß gut gebaut werden, denn davon hängt sein ganzer Erfolg ab. Draußen im Schnee suchten sie nach einem passenden Bauplatz und fanden ihn unter den gewaltigen Zweigen einer hohen Tanne. Pirre und der Vater fällten nun je zwei »schwarze« Fichten, Birken und Tamerack-Lärchen und schlugen sie zu starken Pfosten zurecht. Utisch half ihnen dabei nicht, denn kein Geisterbeschwörer nimmt an der handwerklichen Arbeit teil, die zum Bau des Wapanons nötig ist. Still seine Pfeife rauchend, überwachte er die Vorbereitungen, überzeugte sich davon, daß alles Holz »neu« war und daß die Pfähle eine Höhe von ungefähr zweieinhalb Metern hatten. Die Geister der Indianer verlangen, daß ihr Haus genau nach den uralten Regeln und Überlieferungen erbaut wird. Wenn dabei Fehler unterlaufen, weigern sie sich zu erscheinen und entziehen damit der von dem Zauberer verfochtenen gerechten Sache ihren Beistand.

Eifrig bei der Arbeit, war Pirre felsenfest davon überzeugt, daß Utisch der Mann war, mit Pelkutagen fertig zu werden. Da das Recht auf Vaters Seite war, würde Utisch den Verbrecher im Notfalle sogar töten – und das alles mit rein geistigen Mitteln. 173

Seit seiner frühesten Kindheit wußte Pirre, daß es für das Geisterhaus am besten ist, wenn alle sechs Pfähle aus sechs verschiedenen Holzarten bestehen. Aber Utischs Jagdgrund lag so hoch im Norden, daß er die Geister gebeten hatte, mit den drei Holzarten, die dort vorkamen, zufrieden zu sein: der schwarzen Fichte, der Birke und der Tamerack-Lärche, die die beiden Minnegouches gerade zurechtschnitzten. Der Reifen jedoch, der die Pfosten zusammenhielt, mußte aus Tamerack angefertigt werden, da gab es keine andere Möglichkeit.

Da er so brav mit der Axt hantierte und seine Arbeit zur Zufriedenheit Utischs und des Vaters tat, wagte Pirre sogar, schüchtern ein paar Fragen zu stellen. Er lernte, daß je nach dem Zweck der Zauberhandlung Größe und Festigkeit des Wapanons verschieden sein mußten. Wenn ein »großer Kampf« beabsichtigt war, der die Anwesenheit vieler Geister erforderte, mußte das Wapanon natürlich solider gebaut sein als in weniger wichtigen Fällen. Das, was sie jetzt errichteten, war von der starken Sorte, und mit großer Anstrengung rammten sie die Pfähle in den gefrorenen Boden ein. Wie alle Geisterhäuser, war auch dieses der aufgehenden Sonne zugewandt. Der Vater überzeugte sich davon, daß die Pfosten unverrückbar feststanden.

»Keine irdische Macht kann sie erschüttern«, flüsterte er. Als alle sechs Pfähle in Kreisform errichtet waren, banden sie in halber Höhe den Tamerackreifen mit Fichtenwurzeln an ihnen fest.

»Kein anderes Metall als das der Axt, das den Geistern wohlgefällig ist, darf dieses Holz berühren«, sagte der Vater, »denn das Metall stammt aus der Welt des weißen Mannes, und die Mistapéos, die Zaubergeister der Indianer, erscheinen nur in Häusern, die so gebaut worden sind, wie die Vorfahren es vor vielen hundert Jahren gewohnt waren.«

Rund mußte das Wapanon sein, rund wie die alten Zelte. Die Geister bevorzugen diese Form, da sie gern im Kreise um die Spitze des Wapanons herumfliegen. 174

Ein zweiter, engerer Holzring wurde nun angefertigt und über die Spitzen der sechs Pfähle gezogen, die schräg nach innen geneigt eingerammt waren. Als alles fest aneinandergebunden war, hatte das Gerüst die Form eines oben abgestumpften Kegels, genau wie die alten Indianerzelte vor der Ankunft des weißen Mannes. Es konnte nun ganz und gar mit einem genau passenden Mantel aus zusammengenähter Birkenrinde umkleidet werden. Nur die oberste Öffnung blieb unbedeckt, damit die Geister leicht hineingelangen konnten.

Außer ein paar Tannenzweigen als Belag für den vereisten Boden brauchte das Wapanon keinerlei Inneneinrichtung. Es war nun fertig. Jetzt war es an den Minnegouches, schweigend zur Seite zu stehen. Sie hatten ihre Arbeit getan.

Der Vater setzte sich vor dem Geisterhaus auf den Boden hin und ließ den Jungen neben sich Platz nehmen. In ihre schweren Pelzmäntel eingehüllt, lehnten sie sich aneinander wie ein einziges Wesen, Spannung und Erwartung in ihren Herzen. Sie waren vereint gewesen, als das große Unglück sie betraf, vereint warteten sie nun auch der Stunde der Abrechnung.

Ich habe keinen Grund, mich zu fürchten, dachte Pirre, aber Pelkutagen muß sich nun in acht nehmen. Wie nah ich beim Vater sitze! Für unsere gerechte Sache hat Utisch uns dieses Haus errichten lassen!

Utisch, der Geisterbeschwörer, band ein dreieckiges buntes Tuch um seinen Kopf wie einen fremdartigen Turban. Es dämmerte schon, bald würde es dunkel werden. Mit der ovalen Zaubertrommel in der Hand betrat Utisch das leere Geisterhaus. Er hob die Birkenrinde ein wenig hoch und schlüpfte mit dem Kopf voran hinein.

Von jetzt an hatten die beiden Minnegouches sich vollkommen still zu verhalten. Ein einziges Wort von Menschenlippen außerhalb des Wapanons zur unrechten Zeit gesprochen, verscheucht die Geister, und das ganze Unternehmen mißlingt. 175

Die Pelzkapuzen über den Köpfen und fünf Paar Wollsocken unter den Mokassins, saßen sie warm eingehüllt im Schnee. So warteten sie der Dinge, die da kommen würden in dieser eisigen Winternacht unter dem Himmel von Labrador.

Pirre wußte, daß Utisch bald die Geister zum Erscheinen auffordern würde. Die Indianer sagten ihm die Fähigkeit nach, die Seelen oder Mistapéos aller Wesen und aller Dinge herbeirufen zu können: Säugetiere, Vögel und Menschen, Sonne, Mond und Sterne folgten seinem in geheimer Stunde ausgesandten Ruf.

Drinnen begann Utisch die Zaubertrommel zu schlagen, und sein eintöniger Gesang begleitete den rhythmischen Klang der Schläge.

Der Vollmond, der jetzt klar und hell am Himmel stand, schien mit ihnen den anschwellenden Tönen und Geräuschen aus dem Geisterhaus zu lauschen. Kein anderes Licht als das der Natur durfte sich in der Nähe des Geisterhauses zeigen. Nicht einmal Katzen- oder Hasenfelle durfte man tragen, denn Funken sprühen zuweilen aus diesen Pelzen. Eine brennende Pfeife jedoch war erlaubt, denn die Geister lieben den Tabaksrauch, und oft schon haben freundliche Geister einen friedlich rauchenden Indianer besucht.

In plötzlicher Bewegung beugte der Vater sich nach vorn und reichte, scheinbar einer stummen Aufforderung folgend, seine brennende Pfeife unter das Rindendach in das Wapanon hinein. Unbewußt machte Pirre im gleichen Rhythmus die Bewegung mit. Wie der Vater und wie der ganze Stamm glaubte auch Pirre, daß jedes Ding und jedes Lebewesen seinen eigenen Geist, seine eigene Seele hatte, Mistapéo genannt, was »der große Mann in dir« bedeutete, und daß alle mächtigen Zauberer diese Geister herbeirufen könnten. Sogar in den Weißen lebten solche Geister – jedes Tier, jeder Baum, Felsen oder Stern hatte seine eigene Seele.

Jeder Mistapéo, den Utisch ins Geisterhaus berief, würde der Einladung folgen, denn diese Geisterwesen 176 lieben den Klang der Zaubertrommel und gehen ihm nach wie die Ratten, die einst der Pfeife des Rattenfängers von Hameln folgten.

Und ohne das Erscheinen der Geister konnte die »Gerichtsverhandlung« nicht stattfinden, die Utisch zur Feststellung von Pelkutagens Schuld im Wapanon einberufen hatte. Aber nicht nur die Geister der Wildnis rief Utisch herbei, er konnte auch seinen eigenen Mistapéo in jeder gewünschten Gestalt erscheinen lassen. Da er der mächtigste Zauberer des Stammes war, war Utischs eigener Geist der mächtigste der Herbeigerufenen, unterworfen allein den gewaltigsten Geistern der Natur, wie dem »Fliegenden Mann«, dem Nordmann und dem Volk der Zwerge, die ihn an Macht übertrafen und deshalb gebeten werden mußten, der vom Mistapéo des Zauberers selbst getroffenen Entscheidung zuzustimmen.

Utischs eigener Mistapéo war es gewesen, der Pelkutagen die ersten ernsten Warnungen hatte zukommen lassen, als der Vogel, der Bär und die Wolverine in seinem Weg erschienen, als ein großes Insekt ihn in die Hand stach und ein seltsamer Hund mit langen Ohren und langem Schwanze hinter ihm herlief.

Der Utisch, der jetzt im Dunkel des Wapanons kniete und singend die Trommel schlug, war nicht mehr der Jäger, als den ihn alle Naskapi kannten. Er hatte sich in ein unbekanntes Wesen verwandelt, er war kein Mensch mehr, sondern eine Zauberkraft. Wahrscheinlich hatte sein eigener Mistapéo ihn bereits verlassen, um in Vogelgestalt durch die Nacht zu fliegen und andere Geister einzuladen, deren Anwesenheit im Wapanon notwendig war.

Da – Pirre vernahm es ganz deutlich – trafen bereits die ersten geringeren Mistapéos ein, wahrscheinlich die Geister von Vögeln und kleineren Tieren. Deutlich konnte er ihr Gezwitscher, Brummen, Knurren und Pfeifen unterscheiden, das sich mit dem Klang der Trommel und dem Gesang des Zauberers vermischte. Mehr und mehr Wesen schienen sich im Geisterhause 177 zu versammeln. Er war so vertraut mit der Eigenart der sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfe, die die Jagdgründe regieren, daß er jetzt ganz deutlich das schrille Pfeifen der Zwerge erkannte, die unsichtbar oder in Menschengestalt, je nach Belieben, die Wälder durchstreifen.

Je mehr Geister Utisch im Wapanon versammeln konnte, um so größer wurde seine Macht und um so schrecklicher würde Pelkutagens Gewissenspein anwachsen.

Wie von einem Wirbelsturm umbraust, begann jetzt das ganze Wapanon in seinen Grundfesten zu erzittern, trotzdem es so fest erbaut und kein Wind zu spüren war. Lauter wurden die Stimmen. Ohne es zu wissen, griff Pirre nach der Hand des Vaters und starrte fasziniert auf das Geisterhaus. Er vermochte kaum einen Schrei des Entsetzens zu unterdrücken, als er plötzlich auf dem festgetretenen Schnee des Bodens einen lebendigen Fisch unter dem Birkenrindendach hervorkommen und wieder im Innern verschwinden sah, obwohl weder See noch Bach im weiten Umkreis vorhanden waren. Gleich darauf erhob sich ein ohrenzerreißender Lärm, und die Tatzen eines gewaltigen Bären zeigten sich für eine Sekunde, um wieder im Dunkel des Wapanons zu verschwinden.

Jetzt schien ein riesiger Vogel, von Norden kommend, die Hütte zu umkreisen. Pirre hörte den Schlag seiner Flügel in der Luft, aber er blieb unsichtbar, und plötzlich schien er durch die obere Öffnung des Geisterhauses ins Innere niederzustoßen. Kein Zweifel: Papa hiauine war eingetroffen, der »Fliegende Mann«, der stets vom Norden herkommt und nach Norden wieder davonfliegt. Er war der Geist, der Menschen und Tiere bei ihren Taten beobachtete, wenn sie sich allein glaubten – kein Streit der Geister konnte ohne seine Gegenwart entschieden werden. Innen im Haus schien er unaufhörlich, mit seiner halb menschlichen, halb vogelähnlichen 178 Stimme sprechend, das obere Drittel des Wapanons fliegend zu umkreisen.

Sosehr Pirre auch seine Augen anstrengte – außer den grell vom Mond beleuchteten Umrissen des Geisterhauses sah er nichts. Es wurde ihm gar nicht bewußt, daß alle Vorgänge und Erscheinungen, die er zu sehen meinte, allein auf den Eindrücken seines Ohres beruhten und daß sein eingewurzelter uralter Glaube und seine Phantasie ihm die Geschehnisse vorzauberten, die er zu erblicken meinte.

Ein gewaltiges summendes Gemurmel im Wapanon schien zu bedeuten, daß die vollzählig Versammelten ihre Grüße austauschten. Ein letzter, mächtiger Teilnehmer schien eingetroffen zu sein – war es der Herr des Schnees, des Eises und der Stürme, der mächtige Nordmann, begleitet von Utischs eigenem Mistapéo? Sollte er selbst sich hieher bemüht haben, so stand ein so gewaltiger Kampf bevor, daß der schuldbeladene Pelkutagen auch nicht die geringste Aussicht hatte, sich mit Utischs Kunst zu messen, die die vereinigten mächtigsten Geister der Wildnis gegen ihn heraufbeschworen hatte.

Jetzt zitterte selbst Vaters Hand. Wie leblos sank er mit dem Rücken gegen den Stamm der gewaltigen Tanne zurück, unter der sie saßen. Vielleicht war sein eigener Geist zum Zeugnis aufgerufen worden, und Utischs Zauberkunst hatte ihn ins Zelt gerufen, um dort vor den versammelten Mistapéos seine Anklage gegen Pelkutagen zu erheben.

Ein einziger Schrei ertönte aus den vielen unsichtbaren Kehlen. Pirre vermochte nicht mehr zu denken, aber er fühlte, was jetzt da drinnen vorging: Pelkutagens Mistapéo war gezwungen worden, vor dem Gerichtshof der Geister zu erscheinen.

Oft schon hatten die alten Indianer ihm erzählt, was zu geschehen pflegte, wenn alle geladenen Geister zum Gericht versammelt waren. Er hatte getan, als ob er das alles glaubte, aber insgeheim hatte er sich darüber lustig 179 gemacht. Nun aber glaubte er es plötzlich, mit aller Kraft, wenn auch sein Verstand es nicht erfassen konnte.

Er hörte seines Vaters Stimme und die Stimme Utischs, des Zauberers, die im Geisterhause den Mistapéo des Angeklagten Pelkutagen feierlich fragten, ob er die Untat begangen habe, ob er des Diebstahls der Fallen und des versuchten Mordes einer ganzen Familie schuldig sei. Ganz deutlich hörte er nach langer Pause die vertraute Stimme Pelkutagens ein »Ja« stammeln. Im Angesicht der Geister der Natur gab es keine Lügen.

Dieses Eingeständnis von Pelkutagens Schuld war das Signal zum Kampf, der sich nun zwischen den Mistapéos des Vaters und des Diebes entfesselte. Die versammelten Geister nahmen daran teil – sie ergriffen die Partei der gerechten Sache.

Niemals würde Pirre vergessen, was seine Ohren hier in der mondhellen arktischen Nacht vernahmen: das Geräusch des Kampfes zwischen Geistern und Menschenseelen, Tieren und Naturkräften.

Nach einer Zeitspanne, deren Ausmaß mit menschlichen Begriffen nicht gemessen werden konnte, wurde erneut der Flügelschlag gewaltiger Vögel laut, die, das Geisterhaus verlassend, nahe über ihnen dahinflogen – jedoch wie bei ihrem Kommen blieben sie unsichtbar.

Dann aber war Schweigen – die unheimliche Ruhe der Erschöpfung. Es schien, als täte die gesamte Natur einen tiefen Atemzug, ehe alle Wesen wieder ihr normales Leben aufnahmen. Als Pirre wieder zu sich selbst zurückgefunden hatte und seine Sinne wieder in gewohnter Weise funktionierten, sah er Utisch das leere Wapanon verlassen. Er entfernte das bunte Tuch von seinem Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah todmüde aus und so unendlich alt, als trüge er das Gewicht von vielen Jahrhunderten auf seiner Schulter. Verlassen und leer stand das Geisterhaus im Schnee.

Langsam nahm auch der Vater wieder sein 180 gewohntes Wesen an. Mit großer Mühe entfernte er die Pfosten, die das Geisterhaus getragen hatten, und lehnte sie in der Richtung der aufgehenden Sonne aneinander. Dem Wunsche der Geister gemäß wurden alle zum Bau verwandten Teile außer dem Dach aus Birkenrinde zum Verwittern unter dem freien Himmel hingelegt, vom Augenblick des Sonnenaufgangs an durfte keine menschliche Hand sie mehr berühren.

Niemand sprach. Zutiefst erschöpft folgte der Junge den beiden Männern in das Zelt des Zauberers, wo sie die Nacht verbrachten.

Ganz zeitig am Morgen traten sie den Heimweg an. Der Vater schien von froher Zuversicht erfüllt.

»Nun weißt du, was du zu lernen hattest, mein Sohn«, sagte er, »Michael ist zu Hause in diesen Dingen. Nun hast auch du die Geheimnisse der Wildnis erfahren. Du kennst jetzt die Kräfte, die sich nur den wilden Indianern offenbaren. Kein weißer Mann hat je die Mysterien des Wapanons gesehen.«

»Glaubst du wirklich . . .«

»Warte nur, Pirre, du wirst schon sehen.«

Vier Tage später traf im Zelt der Minnegouches Besuch ein: es war Pelkutagens junge Frau. Aber wie hatte sie sich verändert! Verzweifelt und mit rotgeweinten Augen zog sie einen Schlitten hinter sich her, auf dem als Geschenk für die Minnegouches ein großer Bärenbraten lag. Aber noch andere Dinge waren auf ihrem Schlitten zu sehen: alle gestohlenen Stahlfallen mit der halbkreisförmigen Eigentumsmarke lagen da aufeinandergetürmt! Statt jeder Erklärung brach sie in Tränen aus. Ihr stets so gesunder Mann, der kräftige, starke Pelkutagen, war plötzlich unter großen Qualen in der Nacht verstorben. Nun war sie ganz allein auf der Welt.

Ein Schneesturm tobte während der nächsten Tage, es war bitter kalt. Sobald das Wetter sich einigermaßen beruhigt hatte, stattete Vater Minnegouche Utisch, dem Geisterbeschwörer, einen letzten Besuch ab. Diesmal 181 kam auch Michael mit. Zum Zeichen ihrer Dankbarkeit überreichten sie dem Zauberer einige erlesene Geschenke.

Als sie von ihm Abschied nahmen, lächelte der alte Mann und winkte ihnen nach. Sie wandten sich noch einmal um. Schlank stand er da im Schnee, der Geisterbeschwörer, wie eine unvergeßliche Vision des Triumphs der Gerechtigkeit und Lauterkeit.

Ewig und unverrückbar waren die Gesetze der Wildnis. Wie wunderbar war es, ein Indianer zu sein! 182

 


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