Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Fünfzehntes Kapitel

Der Teufel der Indianer

Auf ihrer rasenden Fahrt schlugen sie nicht den langen Weg ein, den Pirre gegangen war, sondern entschieden sich für die kürzeste Strecke, die nur ein ganz erfahrener Jäger wie der Vater mit drei Hunden und einem Schlitten meistern konnte. Überall ragten frischgeschlagene Baumstümpfe aus dem Schnee hervor, dünnes Eis bedeckte verräterisch die zahlreichen Wildbäche, und es war ein Wunder, wie der Vater es fertigbrachte, durch das Nehmen schneller Kurven 215 Unglücksfälle zu vermeiden und das allzu ofte Hängenbleiben der angeschirrten Hunde an Ästen und Sträuchern zu vermeiden.

Der Leithund war Mustard. Café und Pepramint galoppierten hinter ihm her. Zum Schutz gegen die schneidenden Eisstücke trugen sie Hundemokassins an ihren Pfoten. Sie fühlten ganz genau, daß es sich heute nicht um einen gemächlichen Jagdausflug handelte, sondern um eine außergewöhnliche Mission, vergaßen das Kratzen und Schnüffeln nach interessanten Spuren und trabten brav dahin, so schnell sie nur konnten.

Der Vater saß an der Spitze des Schlittens und lenkte das Gespann. Hinter ihm kauerte Pirre auf einem Bärenfell auf den Bündeln, um die Ladung im Auge zu behalten und das Herunterfallen der Stücke bei der schnellen Fahrt zu verhindern. Um nur keine Zeit zu verlieren, hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen, seit Pirre die schlimme Botschaft gebracht hatte. Als der Toboggan so über Stock und Stein holperte, schnitt die Kälte beißend in ihre Haut ein. Unbewußt legte Pirre die Hand auf seinen Magen, als fühlte er selber die Qualen des drohenden Hungertodes, die jedem Labradorindianer so vertraut sind. Schekapéo, Vitalines Schwiegervater, und seine kleine alte Frau machten das jetzt durch. Das Große Gedächtnis hatte sie einst als Witwe geheiratet, wohl hauptsächlich um des gewaltigen Jagdgrundes willen, den sie von ihrem ersten Manne geerbt hatte. Und wie mochte es Aschappi gehen?

Mustard bellte einmal kurz auf, der Vater antwortete mit einem Ruf, und weiter rasten sie über den Schnee dahin. Und wieder dachte Pirre über die Qualen des Hungers nach, wie auch er sie kannte und erlebt hatte und wie sie keinem Naskapi erspart bleiben. Am Anfang bohrte körperlicher Schmerz einem wie mit einem Krummesser im Magen herum, dann wurde die Winterkälte immer unerträglicher, man versuchte, mit zitternden Händen das Feuer am Leben zu erhalten, 216 wenn man nicht schon zu schwach zum Zerkleinern neuer Scheite war. Wenn es irgend ging, mußte wenigstens der Wasserkessel weiterkochen, und gierig schlürfte der trockene Mund das heiße Wasser, in dem im besten Falle noch ein paar Teeblätter schwammen, aus der Birkentasse. Dann kam der Zustand der wirren Träume, die sich ausschließlich um phantastische Mahlzeiten drehten. Vom Himmel herab schien der Duft von gebratenem Biberfleisch zu kommen, der betäubend ins Zelt eindrang. Der Verhungernde hatte Visionen von golden tropfenden Fettbrocken über dem Feuer. Sein Geruchsinn zauberte ihm das Aroma aller nur erdenklichen Speisen vor. Pirre entsann sich, wie er einmal nach tagelangem Hindämmern in solchen Träumen plötzlich aufgewacht war, um seine abgemagerten Finger nach einem Phantasiebraten auszustrecken, und wie er statt des knisternden Feuers, das er noch eben zu sehen geglaubt hatte, nichts anderes wahrnahm als das hilflose Wimmern seiner Mutter und seiner Schwestern. Er war damals ungefähr zehn Jahre alt gewesen, aber selbst wenn er hundert Winter sehen sollte, so würde er diesen einen nie vergessen.

Nach dem Zustand der lukullischen Träume kam der des wirren Schlafes, wo der Geist noch nicht einmal mehr die Kraft zum Phantasieren hatte. Die letzten bewußten Gedanken kreisten um die Hoffnung, daß vielleicht einer von der Familie noch Kraft genug gehabt haben mochte, weit draußen im Schnee das Notzeichen zur Benachrichtigung anderer Indianer zu errichten. Mancher Jäger, der das noch fertiggebracht hatte, fand nicht mehr die Kraft zur Heimkehr in sein Zelt.

Die Hauptursachen solcher Katastrophen waren schlechtes Wetter, Unglück bei der Jagd und zuweilen auch Mangel an Voraussicht hinsichtlich des Verbrauches der mitgenommenen Vorräte. Das schrecklichste bei der Hungersnot war, daß die Opfer, selbst wenn das Wetter sich änderte und die Jagdaussichten bessere wurden, schon zu schwach waren, um die Beute aus den 217 Fallen zu holen oder mit dem Gewehr auf die Jagd zu gehen.

Einmal, als die Mutter und die Schwestern schon im Sterben zu liegen schienen, hatte Saiko sie gerettet. Ein anderes Mal, als der Vater sich wegen einer Fußverletzung nicht bewegen konnte und Michaels Körper von Fieber brannte, war Utisch gekommen und hatte alles zum Besten gewendet. Aber auch die Minnegouches hatten Saiko schon vom Hungertode errettet, damals, als seine Frau und sein letztes Kind schon dalagen im Schlaf der Ewigkeit. In den Wäldern ist jeder Indianer auf die anderen angewiesen – ohne gegenseitige Hilfe würden sie alle zugrunde gehen.

Pirre zog ein Stück Pemmikan hervor und begann daran zu kauen. Es schien ihm, als hätte er niemals etwas Köstlicheres gegessen als dieses fettige Stück Nahrungsextrakt.

Sie schlugen ein hastiges Lager auf, aßen, schliefen und fuhren weiter – einmal und noch einmal. In ihren kurzen Unterhaltungen tauchten immer wieder die Namen von Indianern auf, die vom Hungertode errettet worden waren, und von anderen, die die Retter nur noch eiskalt und starr hatten vorfinden können.

Pirre dachte an Pimasom, den alten Indianer, der für immer den Gebrauch seiner Glieder eingebüßt hatte, nachdem der Hunger »das Leben aus ihm herausblies«. Er lebte noch immer, aber er mußte stets auf einem Schlitten herumgezogen werden, auf dem er regungslos hockte wie ein Monument aus Stein. Und dann war da Minnahag, der Blinde, dessen Augenlicht der »Nordmann« geholt hatte. Es gab wohl nicht eine einzige Familie, die nicht zum mindesten einmal durch diese Qualen gegangen war. Wickelkinder und hundertjährige Greise, starke, kräftige Männer und gesunde Frauen – einmal erwischte der Winter sie alle, und sie blieben von ihm gezeichnet für ihr ganzes Leben. Und dennoch kehrten sie jeden Herbst in die Wälder zurück und verachteten jene, die in ihren »Holzzelten« auf der 218 Reservation blieben, während die freien Jäger zum großen Kampf um Wild und Leben auszogen.

Und wenn auch ich einmal in den Wäldern sterben muß, dachte Pirre, wie Etap, wie Nosipatan und Kawosaweset, so sterbe ich wenigstens den Tod der freien Indianer mit den Baumkronen über meinem Kopf, statt hinzuwelken als Diener des weißen Mannes.

Sie hatten nun schon längst die Minnegouchefallen passiert, wo sie noch schnell vier Rebhühner und drei Schneehasen mitnahmen. Bald mußten sie an der Stätte des Unglücks sein.

Nach der nächsten Nacht fanden sie noch einen weiteren Signalpfosten, der wieder nach Schekapéos Zelt hinwies, und etwas weiter hin kam noch einer. Die Hunde benahmen sich ausgezeichnet, vergaßen ihre Spielereien und ihre Jagdwut und trabten unermüdlich durch das unwegsame Gelände – gute Samariter, wie Pirre und der Vater.

Um so seltsamer war es, daß sie ganz nahe beim dritten errichteten Zeichen plötzlich stehenblieben und nicht weiter wollten. Sie winselten, drückten ihre Nasen störrisch in den Schnee und legten sich flach auf die Bäuche. Der Vater stieg ab, und beide Jäger banden ihre Schneeschuhe an die Füße. In der Ferne am Horizont sahen sie das winzige verschneite Zelt. In einer Stunde konnten sie dort sein. Menschliche Fußspuren führten zu diesem letzten Signalpfosten hin, der die tiefe Kerbe »Not!« zeigte. Daneben steckte ein Zweig mit der Botschaft: »Ihr seid fast am Ziel.«

Wenn Schekapéo selbst dieses letzte Zeichen errichtet hatte, so waren es auch seine Fußspuren, die deutlich in die Richtung des Zeltes zurückführten. Aber plötzlich hörte die Doppelspur auf, nur die »kommenden« Schritte waren noch zu sehen, nicht die zurückkehrenden. Daneben lag ein Bündel Pelze eingeschneit am Weg. Die beiden Jäger tauschten einen ernsten Blick. Ruhig gingen sie auf die formlose Masse zu. Eine Axt lag im Schnee, die Sonnenstrahlen spielten auf der 219 blanken Klinge. Als sie näher kamen, sahen sie eine Menschenhand. Es war eine Hand ohne Fausthandschuh, die den Stiel der Axt festhielt.

Niederkniend drehten sie vorsichtig das Pelzbündel um. Es war der Körper Schekapéos, dem der Nordmann nicht erlaubt hatte, in das schützende Zelt zurückzukehren.

Langsam zog der Vater seine Pfeife hervor, füllte sie mit Tabak, zündete sie feierlich an und blies drei große Rauchwolken über das Gesicht des toten Jägers. Dann reichte er sie an Pirre weiter, der das gleiche tat. Der Vater nahm sie zurück, leerte ihren Inhalt über den Schnee aus und steckte dann die Pfeife in Schekapéos Brusttasche. Pirre tat einen raschen Griff nach der Hasenpfote, die er um sein Handgelenk trug. Dann hoben sie den Verstorbenen aus dem Schnee, er war leicht wie ein toter Kranich. Sie trugen ihn zum Schlitten und legten ihn auf die Bündel. Die Hunde zitterten und wandten ihre Köpfe ab. Dann schritt der Vater dem Gespann voran, und langsam folgte der Schlitten mit Pirre und der traurigen Bürde.

Der Tod ist jedem Indianer etwas tief Vertrautes. Wie Sturm oder Sonne, Hagel oder Regen, weckt er keine Gefühle, nur stumme Ehrerbietung.

Pirre, der neben der verhüllten Last durch den Schnee ging, waren seine Gedanken kaum andere als damals, als sie den Bären heimzogen, den der Vater geschossen hatte. Er dachte:

Wir alle sind Wesen des Waldes, unterworfen dem Willen der Natur. In Not und Gefahr leben wir dahin. Und jeder, den unser Winter zur Strecke bringt, ist nur einer in einer langen Reihe, die alle eines Tages ihren Mistapéo in das Land jenseits der Wolken schicken, das Land der ewigen Jagdgründe, das uns einst alle vereint. Dort werden wir alle wohnen, leben und jagen – wir, die Indianer und unsere Ahnen, mit den Vögeln, Fischen, Pflanzen und Säugetieren und ihren Vorvätern. Ah, es ist gut, im Walde zu sterben! 220

Die Hunde trabten still dahin, mit hängenden Ohren und Schwänzen. Der Vater sang ein altes Lied. So erreichten sie das Zelt.

Der Vater löste das Gespann aus den Riemen und warf den Hunden einen Schneehasen hin. Der Schlitten blieb draußen mit seiner stillen Last. Sie fürchteten sich nicht davor, das Zelt zu betreten.

Drinnen brannte kein Feuer. Sie riefen die zwei Schläfer an und hörten eine schwache Antwort. Sie kam von Aschappi. Seine Mutter blieb stumm.

Der Vater holte Schnee herbei und begann Aschappis Brust damit zu reiben. Pirre trug Holz vom Schlitten herbei und machte Feuer an. Schon hing der schneegefüllte Kessel über den aufsteigenden Flammen. Dann nahm der Vater ein winziges Stück Bärenfett und legte es in Aschappis Mund, nachdem er mit großer Mühe die blauen, lederharten Lippen auseinandergebracht hatte. Eine Sekunde lang öffnete Aschappi die Augen, sank dann aber gleich wieder auf sein Fell zurück. Ohne es zu merken, bewegte er seinen ganzen Körper langsam rutschend nach der Richtung des Feuers hin. Sein graues Gesicht nahm allmählich wieder seine natürliche braune Farbe an.

Als der Vater sich nun über Schekapéos Frau beugte, sah er, daß sie keiner menschlichen Hilfe mehr bedurfte. Dünn, steif und winzig lag sie in seinen Armen wie eine Puppe, und schweigend trug er sie, in eine Decke gehüllt, zu ihrem toten Mann hinaus in den Schnee. Dann griff er zu Axt und Schaufel und bereitete dem Ehepaar ein gemeinsames Grab.

Pirre hatte inzwischen die vier Rebhühner gerupft und einen Schneehasen abgezogen, und bald darauf steckten sie alle an Spießen über dem Feuer.

»Aschappi wird durchkommen«, sagte der Vater und schnallte seine Schneeschuhe an. »Bleib bei ihm, solange er dich braucht.« Und noch ehe die Schatten länger wurden, war er schon auf dem Wege nach Hause.

»Ich nehme den Schlitten und die Hunde mit«, hatte 221 er noch gesagt. »Aschappi ist ein guter Jäger, er kann bald wieder für sich selber sorgen. Wenn Saiko Lust hat, zu kommen, hol ihn auf dem Rückweg ab.« Kein Dank wurde erwartet oder gegeben. Die Pflicht war erfüllt, nun mußte der Vater wieder an seine eigene Familie denken.

Pirre blieb gern bei Aschappi. Er wollte erfahren, wie die Schekapéos ihre Nahrung, Kraft und Gesundheit eingebüßt hatten. Auch liebte er es, einmal mit einem jungen Jäger zusammenzuwohnen und mit ihm über die Dinge zu reden, die sie gemeinsam interessierten.

Er sah, daß Aschappi jetzt häufig seine Augen aufmachte, aber sie dann schnell wieder schloß. Jedes Mal, wenn er sich ein ganz klein wenig aufrichtete, schob er ihm ein winziges Stück Pemmikan in den Mund, wo es langsam schmolz und den Halbverhungerten in regelmäßigen Zeitabständen ein wenig erquickte. Pirre wußte, warum der Erschöpfte sich nicht im Zelt umzusehen wagte. Er glaubte wohl, daß der Duft des bratenden Fleisches, die Glut des Feuers und die sich bewegende Gestalt Pirres die letzten Halluzinationen seien, die vor dem endgültigen Erlöschen der Lebensgeister noch einmal den Sterbenden zu narren pflegen. Um Aschappi diese Angst zu nehmen, murmelte er immer wieder:

»Ich bin's, Pirre Minnegouche. Du bist wach, es ist kein Traum. Wir haben euer Zeichen gesehen. Siehst du das Feuer? Es brennt. Wir sind gekommen, euch zu helfen. Wir haben eine Menge zu essen. Jetzt hast du es überstanden, Aschappi. Ich bin's, Pirre, . . . es ist kein Traum . . .«

Plötzlich hörte er eine heisere, schwache Stimme flüstern:

»Bist du's, Pirre? Bist du's wirklich?«

»Klar! So wirklich wie die Rebhühner! Sieh!«

Aschappi gab sich einen Ruck und saß plötzlich aufrecht auf seinem Bärenfell. Er streckte seinen Arm aus, packte einen beim Feuer liegenden spitzen Karibuknochen und spießte das Rebhuhn, das ihm am nächsten 222 war, daran auf. Er ließ es auf seinen Schoß fallen, zerriß es mit jäher Kraft und besah sich beglückt seine verbrannten Finger. Dann riß er sich große Stücke Fleisch ab und begann sie in seinen Mund zu stopfen, eins nach dem anderen. Er ließ sich keine Zeit zum Kauen, sondern würgte die Bissen mit flackernden Augen hinunter. Seine Zähne knirschten vor Gier.

»Trink einen Schluck Tee!« sagte Pirre, fasziniert von dem Anblick. Aber Aschappi stieß den Becher um und griff nach dem nächsten Rebhuhn.

»Wo ist mein Vater?« fragte er plötzlich mit versagender Stimme, »wo ist meine Stiefmutter, die gute Paskaui?«

Pirre antwortete nicht. Schweigend sah er Aschappi an. In den Zügen des Verwaisten malte sich schreckliches Verstehen. Er sagte nichts mehr. Mechanisch fing er wieder zu essen an. Die Knochen des dritten Rebhuhns flogen ins Feuer, und es wurde Pirre fast etwas unheimlich zumute, als er Aschappi nun den vierten gebratenen Vogel zerreißen und verschlingen sah. Aber plötzlich aß er langsamer und mit Mühe, als ob es ein schwieriges Unternehmen sei, ein gebratenes Rebhuhn in einem warmen Zelt zu verspeisen.

Das Feuer warf einen rosigen Schein auf sein Gesicht, und die stummen Tränen, die aus seinen Augen auf die Speise rannen, sahen wie Rubinen aus. Pirre wagte nichts zu sagen. Er machte sich sein Lager zurecht und legte sich neben Aschappi hin und auf denselben Platz, wo noch vor ein paar Stunden die tote Frau gelegen hatte. Nun endlich streckte auch Aschappi sich mit einem tiefen Seufzer aus.

»So bin ich nun also ganz allein . . .« murmelte er.

»Du bist ein Indianer«, flüsterte Pirre, »du bist ein Jäger, und zwar ein guter.«

»Ganz allein . . .« wiederholte Aschappi, »ich muß mich nun wohl daran gewöhnen.«

Er erkundigte sich nicht einmal nach dem Grab seiner Eltern. Sie hatten ihn verlassen, um in die 223 ewigen Jagdgründe zu gehen. Da war nichts weiter zu fragen.

Pirre dachte, es wäre gut für Aschappi, wenn er nun schlafen ginge. Aber der Junge war plötzlich ganz munter geworden. Er schien sich durchaus noch mit ihm unterhalten zu wollen. So setzten sie sich wieder hin und starrten ins Feuer. Aschappi vergaß vollkommen die ruhige Würde, die jedem Indianer so wohl ansteht. Er begann zu schwatzen, lauter und lauter. Manchmal schrie er ihn geradezu an, und Pirre wunderte sich darüber, daß er so schnell seine Kräfte wiedergefunden hatte. Es müssen die Rebhühner sein, dachte er.

Aschappi redete von der Kälte, die die Rinde ihrer Kanus aufgerissen hatte. Ohne die Boote hatte die Schekapéo-Familie nicht zu der Stelle vordringen können, wo die Biber sich aufhielten, die sie in ihrer Falle fangen wollten. Ihr Jagdgrund war hauptsächlich gut für Wasserwild, und so konnten sie nun weder fischen noch das Bibernetz bei den Wasserfällen stellen, die niemals zufroren. Die Kanus mußten um jeden Preis repariert werden, und sie begannen verzweifelt nach geeigneter Rinde zu suchen, aber dann wurde es so kalt, daß auch die neue Rinde brach wie Glas und daß sie ihre Bemühungen einstellen mußten. Schekapéo brach eilig auf, um seine Fallen nachzusehen. Aber der Teufel der Indianer war vor ihm dort gewesen, die Wolverine, die die Köder gefressen und die Fallen ausgelöst hatte. Außerdem hatten eine Menge kleinerer Tiere es fertiggebracht, sich aus ihren Schlingen zu befreien. Als er ganz außer sich zum Zelt zurückkehrte, fand er dort schon seine Frau und seinen Sohn in halbverhungertem Zustande vor.

»Du weißt ja, was dann kam«, sagte Aschappi mit brennenden Augen, »wir mußten die Hunde schlachten, einen nach dem anderen. Zuletzt kam Flurry dran, der Leithund. Man hätte genau so gut seinen eigenen Bruder essen können . . .«

Und wieder liefen die vom Feuer gefärbten 224 rubinroten Tränen über seine Wangen. Pirre legte neue Scheite auf die Glut. Er mußte an Mustard denken, an Pepramint und Café, und plötzlich weinte auch er.

»Als die Hunde weg waren, kriegte Vater wieder sein böses Reißen. Trotzdem ging er in den Schnee hinaus und baute die Notzeichen. Sechs Tage war er fort. Als er wiederkam, konnte die Mutter schon nicht mehr sehen. Aber sie hörte noch alles, was vorging. Immer wieder sagte sie: »Bleib hier, Schekapéo! Laß uns wenigstens zusammen sterben. Die Wälder rufen uns heim. Vor Wochen schon hat das Knochenorakel es mir gesagt.« Aber der Vater ging noch einmal fort. Er hat noch eure Antwort lesen können auf dem Pfahl im Schnee. Er baute sogar noch mehr Pfähle, damit ihr den Weg zum Zelt nicht verfehlt . . .«

»Rede doch nicht so viel!« sagte Pirre, »du mußt dich jetzt ausruhen. Denk doch an das, was du hinter dir hast. Verdau doch erst einmal die Rebhühner –«

»Die Rebhühner!« rief Aschappi, »wenn noch zwei mehr dagewesen wären, so hätte ich auch die gegessen!«

»Gut! Sprich nur weiter, wenn du durchaus willst. Vielleicht ist es das Beste, wenn du dir erst alles von der Seele redest.«

»Als der Vater fort war, machten Mutter und ich uns an die Felle. Wir hatten dreißig Made Beaver, Pirre, alles feinster Pelz!«

Die Pelze essen! Pirre wußte, was das bedeutete. Auch er hatte schon verzweifelt auf der Suche nach vertrockneten Fettresten an dem Leder der aufgespeicherten Pelze herumgekratzt. Er kannte das scharrende Geräusch des Bärenknochens, mit dem ein Verhungernder versuchte, das »Fleisch« von den Häuten abzuschaben. Dann endlich griff man zum Biberzahnmesser und schnitt die kostbaren Haare ab, damit das Leder zur Nahrung dienen konnte. Jeder Indianer, der einmal am Verhungern gewesen war, kannte den Geschmack des trockenen Leders, das wenigstens beim 225 Kauen den verschmachtenden Mund noch für ein paar Tage feucht erhielt.

»Sieh nur hin!« schrie Aschappi und zeigte auf die Haufen ausgerissener Pelzhaare auf dem Boden, »sieh es dir nur an! Als er zum Zelt hereinkam, waren wir schon so schwach, daß er uns noch das letzte Leder aus den Händen reißen konnte!« Er schluchzte laut und hysterisch.

Pirre wußte, wer da eingedrungen war in Nacht und Not. Der Vielfraß war es gewesen, der Teufel der Indianer, der verwegenste, schamloseste Feind, den die Wälder bargen. Die Wolverine zerstört die Fallen und stiehlt Köder und Beute. Die Wolverine erklimmt die Bäume, um die Vorratsspeicher zu berauben, die allen »ehrlichen« Tieren unerreichbar sind. Nur die Wolverine konnte es fertigbringen, das letzte Stück Leder aus der Hand eines verhungernden Indianers zu reißen!

»So, sie ist also hier gewesen!« sagte Pirre, »möge sie verflucht sein mit ihrer ganzen Brut! Möge sie verschwinden vom Gesicht der Erde!«

»Der Vater ist nicht zurückgekehrt«, murmelte Aschappi, »und auch die Mutter ist dahingegangen. So bin ich also ganz allein. Aber ich will leben! Ich will leben! Kinder will ich haben, Söhne, um in ihnen weiterzuleben! Und wenn es nur wäre, um sie auszurotten, die Wolverine!«

Erschöpft fiel er auf sein Pelzbett nieder, an dem Pirre jetzt auch noch die Spuren sah, die der Teufel der Indianer daran hinterlassen hatte.

»Pirre«, flüsterte Aschappi, »ich glaube, mein Magen ist ein bißchen zu voll. Er tut mir weh –«

»Kein Wunder. Nach vier Rebhühnern muß jeder Bauchdrücken haben.« Endlich schlief Aschappi ein. Er schnarchte ganz gewaltig. Pirre legte noch mehr Holz aufs Feuer. Dann deckte er sich mit seinen Pelzen zu und merkte erst jetzt, wie müde er war. Er schlief sofort ein.

Sein Körper war wohl müde, aber sein Mistapéo 226 wollte noch nichts vom Ruhen wissen. Er träumte einen seltsamen Traum. Er und eine Gruppe anderer junger Indianer, unter denen auch Aschappi war, fischten draußen auf einem großen See. Als es dunkel wurde, ging jeder in seinem eigenen Kanu schlafen. Sie zogen die Kiele der Boote ans Ufer und streckten sich dann der Länge lang in ihren Fahrzeugen aus. Mitten in der Nacht wachte er, Pirre Minnegouche, in seinem Traume plötzlich auf. Aus dem Kanu steigend, glaubte er sich am Lande, watete aber durchs Wasser und weckte mit seinem Plantschen die anderen jungen Indianer auf, die mit der Wachsamkeit der Jäger sofort nach ihren Gewehren griffen. Sie schienen ihn für einen Eskimo zu halten, einen der verruchten Rohesser, und plötzlich drückte Aschappi seine Flinte ab und schoß ihn, Pirre, mitten durch den Kopf.

Mit einem Schrei des Entsetzens wachte Pirre auf. Als er seine Sinne wieder beisammen hatte, fand er sich zu seiner Beruhigung im stillen Zelt der Schekapéos wieder, an der Seite des ruhig schlafenden Aschappi. Zufrieden legte er sich wieder hin und schlief nun traumlos bis zum Morgen weiter. Als er die Augen aufschlug, schien die Sonne strahlend durch die Ritzen der Zeltleinwand.

»Steh auf«, sagte er zu Aschappi, »ich habe Rehfleisch und Pemmikan in meinem Vorratssack.« Während der Nacht hatte er zum Schutz gegen die verbrecherische Wolverine den Sack als Kissen unter seinem Kopf gehabt.

Aber Aschappi antwortete nicht.

»Du kannst jetzt aber wirklich aufstehen«, sagte Pirre, »vier Rebhühner sind genug selbst für den schlimmsten Hunger.«

Kein Laut, keine Bewegung antwortete ihm.

Wie ein Blitz fuhr plötzlich Grauen durch seine Glieder. Verzweifelt schüttelte er die Schulter des Kameraden. Langsam kroch das Entsetzen an seinem Rückgrat hoch.

»Aschappi!!!« 227

Aschappi war tot.

Er erinnerte sich seines Traumes. War er Wirklichkeit gewesen? Vielleicht hatte er auf Aschappi geschossen, statt Aschappi auf ihn.

Aber da war keine Wunde. Er war kein Mörder. Er sah, daß Aschappis Unterleib in fürchterlicher Weise angeschwollen war. Das war es! Die vier Rebhühner! Er dachte an die winzigen Stückchen Pemmikan, die der Vater in Aschappis Mund geschoben hatte. Nach Wochen verzweifelten Hungerns, nachdem er trockene Lederstücke als Nahrung zu sich genommen hatte, war es sicherlich falsch gewesen, so große Mengen Fleisch zu verschlingen, wie Aschappi es getan hatte.

Ich hätte ihn daran hindern sollen, dachte Pirre, aber er trauerte so sehr um seinen Vater und seine Stiefmutter. Er hatte diese schrecklichen Erinnerungen. Er weinte. Was hätte ich tun können!

Er verhüllte mit seiner eigenen Decke Aschappis Gesicht. Dann trat er hinaus in den Sonnenschein.

Die letzten Tage waren wirklich für einen Jungen seines Alters ein bißchen viel gewesen.

Sein Alter? Wie alt war er? Das war nun ohne Bedeutung. Ein Jäger war er, ein Indianer! Ein Mann der Naskapi wie Saiko, wie der Vater, wie Nosipatan, wie Zegabek, der den Mond in seiner Schlinge gefangen hatte.

Er begrub Aschappi, den Sohn des Schekapéo. Dann packte er seine Bündel, befestigte die Riemen der Schneeschuhe und machte sich auf den Weg nach Saikos Jagdgrund. Hoffentlich fand er den Alten und konnte mit ihm heimgehen in das warme, lebenserfüllte Zelt der Minnegouches!

Erst aber mußten noch die Gesetze der Wildnis erfüllt werden. Sie sagten: wenn du einer verhungernden Familie deine Hilfe gebracht hast, nimm die Zeichen aus dem Schnee. Sie könnten andere Indianer irreführen. Sollten alle, die du fandest, tot sein, so teile die Trauerbotschaft dem ganzen Stamme mit. 228

Er würde es tun. Er hatte ein Stück Holzkohle in seiner Tasche. Sobald er das Zeichen erreicht hatte, wo sie den toten Schekapéo mit seiner Axt im Schnee gefunden hatten, schwärzte er die tiefe Kerbe »Not!« mit seiner Kohle. Jeder Indianer, der hier vorbeikam, würde die Trauerkunde schon von ferne im weißen Schnee erkennen können. Er würde weitergehen und allen, die er traf, davon berichten.

Als er zum letzten Signalpfosten kam, schnitzte er aus einem Zweige einen kleinen Stab zurecht, den er an dem einen Ende durchbohrte, mit Kohle einrieb und an dem Notzeichen aufhing, als Todesanzeige für die Schekapéos und zu ihrem Gedächtnis.

Er fand Saiko ohne Mühe. Er kauerte im Schnee am äußersten Rande seines Jagdgrundes und zog friedlich einem Karibu das Fell ab.

»Na, Junge«, sagte er ohne das geringste Zeichen von Überraschung, »bist du in irgendeiner Klemme? Ich habe die seltsamsten Dinge von dir geträumt.«

»Du hast von mir geträumt, Saiko? Ach, wärest du bei mir gewesen in der letzten Nacht!« Er berichtete, was geschehen war.

»Nun, Junge –«, wiederholte Saiko, aber dann unterbrach er sich selber, »nun, junger Jäger, jetzt bist du ja wohl kaum ein Junge mehr. Ich freue mich, noch einen wie dich gekannt zu haben, ehe ich sterben muß.«

»Wirklich, Saiko? Meinst du das wirklich im Ernst?«

»Würde ich es sonst sagen? Ich sage nichts, was ich nicht glaube. So weit solltest du mich doch kennen. Komm nur mit, junger Jäger! Habe ich es dir nicht schon früher gesagt, daß du aussiehst wie Nosipatan?« 229

 


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