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III.

An einem schönen Sonntagabend im Juni jenes Jahres saßen in Paimpol zwei Frauen, eifrig beschäftigt, einen Brief zu schreiben. Das geschah vor einem breiten, offenen Fenster, dessen Fensterbrett von altem, massivem Granit eine Reihe von Blumentöpfen trug. Auf den Tisch gebeugt, schienen Beide jung; die Eine hatte eine ungeheuer große Haube, nach der Mode von ehedem, die Andere ein ganz kleines Häubchen, nach der neuen Form, die die Paimpolesinnen angenommen: – zwei Liebende, hätte man glauben sollen, die zusammen eine Liebesbotschaft an irgend einen schönen Isländer abfaßten.

Diejenige, die dictirte – die mit der großen Haube – hob jetzt den Kopf, ihre Gedanken zu suchen, und siehe da! sie war alt, sehr alt, trotz ihrer jugendlichen Erscheinung, vom Rücken gesehen, unter ihrem kleinen braunen Tuche. Aber ganz uralt: eine gute Großmutter von wenigstens 70 Jahren. Doch wahrlich noch immer hübsch, noch frisch, mit ganz rothen Bäckchen, wie manche alte Leute die Gabe haben, sie zu behalten. Ihr Kopfputz, der auf Stirn und Scheitel ganz niedrig war, schien aus zwei oder drei weiten Musselindüten zu bestehen, welche eine aus der anderen herausfielen, bis in den Nacken. Ihr ehrwürdiges Gesicht war schön von all' der Weiße eingerahmt, die in der Faltung etwas Nonnenhaftes hatte. Ihre sanften Augen waren voll herzhafter Ehrlichkeit. Sie hatte keine Spur von Zähnen mehr, rein gar nichts, und wenn sie lachte, erschien statt ihrer das runde rothe Zahnfleisch, das ganz jung aussah. Trotz ihres Kinns, das, wie sie immer sagte, zur Spitze eines Holzschuhes geworden, war ihr Profil durch die Jahre nicht verdorben; man konnte noch errathen, daß es regelmäßig und edel gewesen, wie das einer Kirchenheiligen.

Sie sah zum Fenster hinaus und suchte, was sie wohl noch erzählen könne, um ihren Enkel zu belustigen. Wahrhaftig, es gab in der ganzen Gegend von Paimpol nicht eine zweite gute Alte wie sie, die so drollige Sachen über den Einen oder den Anderen sagen, oder auch über gar nichts sagen konnte. In diesem Briefe standen bereits drei oder vier unbezahlbare Geschichten, – aber ohne die geringste Bosheit, denn sie hatte nichts Böses in der Seele.

Die Andere, wie sie sah, daß keine Einfälle mehr kamen, hatte angefangen, sorgfältig die Adresse zu schreiben: An Herrn Moan, Sylvester, an Bord der Marie, Capitän Guermeur, im Isländischen Meer, über Reickiawick.

Dann hob auch sie den Kopf, um zu fragen:

»Ist's fertig, Großmutter Moan?«

Und sie war sehr jung, diese Andere, entzückend jung, ein zwanzigjähriges Gesichtchen. Sehr blond – was eine Seltenheit ist in dieser Ecke der Bretagne, wo der Schlag braun ist; sehr blond mit flachsgrauen Augen und beinahe schwarzen Wimpern. Ihre Brauen, die blond waren wie ihre Haare, hatten in der Mitte eine dunklere, röthliche Linie, wie mit dem Pinsel gezogen, die einen Ausdruck von Kraft und Willen gaben. Ihr etwas kurzes Profil war sehr edel; die Nase setzte die Stirnlinie ganz gerade fort, wie bei den griechischen Gesichtern. Ein tiefes Grübchen unter der Unterlippe zeichnete deren Rand in reizvoller Schärfe, – und von Zeit zu Zeit, wenn ein Gedanke sie sehr beschäftigte, biß sie diese Lippe mit den weißen Oberzähnen, so daß unter der feinen Haut kleine röthere Linien entstanden. In ihrer ganzen schlanken Gestalt war etwas Stolzes, auch ein wenig Ernstes, eine Erbschaft von den kühnen Islandschiffern, ihren Ahnen. Ihre Augen hatten zugleich einen Ausdruck von Sanftmuth und von Eigensinn.

Ihr Kopfputz, wie eine Muschel geformt, legte sich tief auf der Stirne wie eine Binde an und hob sich dann stark auf beiden Seiten, dichte Haarflechten freilassend, die über den Ohren in Schnecken gerollt waren, – eine Tracht, die aus sehr alter Zeit herstammt und die den Paimpoleser Frauen ein altertümliches Ansehen giebt.

Man merkte wohl, daß sie anders erzogen war, als die arme Alte, der sie den Namen »Großmutter« gab, die aber in Wirklichkeit nur eine entfernte Großtante war und viel Unglück gehabt hatte.

Sie war die Tochter des Herrn Mevel, eines alten Isländers, der, ein ganz klein wenig Pirat, durch verwegene Unternehmungen zur See reich geworden war. Das schöne Zimmer, in welchem eben der Brief geschrieben wurde, war das ihre: da war ein ganz neues städtisches Bett mit Musselinvorhängen und Spitzen darum; auf den dicken Mauern bedeckte eine helle Tapete die Unebenheiten des Granit. An der Decke verhüllte eine Schicht Kalk die ungeheuren Balken, die das Alter des Gebäudes verriethen. Es war ein echtes behäbiges Bürgerhaus, dessen Fenster auf den alten Platz von Paimpol hinaussahen, wo der Markt und die Processionen, »Pardon« genannt, gehalten werden.

– »Ist's fertig, Großmutter Yvonne? Habt Ihr ihm nichts mehr zu sagen?«

– »Nein, mein Töchterchen, füge nur, bitte, einen Guten Tag von mir an den Sohn Gaos hinzu.« –

Der Sohn Gaos! ... mit anderen Worten Yann ... Sehr roth war das schöne stolze Mädchen geworden, während sie den Namen schrieb. Sowie dies mit eiliger Schrift unten an der Seite angefügt war, stand sie mit abgewandtem Kopfe auf, als wollte sie draußen auf dem Platz etwas sehr Interessantes sehen. Stehend erschien sie etwas groß; ihr Körper war, wie der einer eleganten Dame, in eine anschließende Taille ohne Falte hineingegossen. Trotz ihrem Kopfputz sah sie aus wie ein Fräulein. Selbst ihre Hände, ohne diese außerordentliche verkümmerte Kleinheit zu haben, welche die Sitte zur Schönheit gestempelt hat, waren fein und weich, da sie niemals grobe Arbeit gethan.

Freilich war sie wohl einst die kleine Gaud gewesen, die barfuß im Wasser umherlief, mutterlos, fast verlassen in der Fischzeit, die ihr Vater in Island zubrachte; hübsch, rosig, ungekämmt, eigenwillig, trotzig, kräftig emporwachsend unter dem gewaltigen herben Wehen von der Manche her. Zu jener Zeit wurde sie im Sommer von der Großmutter Moan aufgenommen, die ihr Sylvester zu hüten gab, während ihrer schweren Tagesarbeit bei den Leuten von Paimpol. Wie ein kleines Mütterchen vergötterte sie diesen Anderen, ganz Kleinen, der ihr anvertraut war und vor dem sie doch kaum achtzehn Monate voraus hatte; er war so braun, wie sie blond; er war so folgsam und zärtlich, wie sie lebendig und launenhaft.

Sie gedachte dieses ihres Lebensanfangs wie ein verständiges Mädchen, das weder Reichthum noch Stadtleben berauscht hatten! Er stellte sich ihr dar wie ein ferner Traum von wilder Freiheit, wie die Erinnerung einer unbestimmten, geheimnißvollen Lebensperiode, wo der Strand breiter war und die Klippen sicherlich riesenhafter...

Als sie fünf oder sechs Jahre alt war, noch sehr früh in ihrem Leben, war ihr Vater zu Geld gekommen, und er hatte angefangen, Schiffsladungen zu kaufen und zu verkaufen; da hatte er sie nach Saint Brieux gebracht und später nach Paris. – So war aus der kleinen Gaud Mademoiselle Marguerite geworden, groß, ernst, mit dem tiefen Blick. Noch immer viel sich selbst überlassen, nur in einer anderen Weise, als auf dem Meerstrand der Bretagne, hatte sie ihre eigenwillige Kindernatur bewahrt. Was sie von den Dingen dieser Welt wußte, war ihr ganz durch Zufall offenbart worden, ohne Einsicht; aber eine angeborene, fast übermäßige Würde war ihr zum Schutz geworden. Manchmal konnte ihr Wesen fast herausfordernd sein; dann sagte sie den Leuten zu offen Dinge in's Gesicht, die sie überraschten, und ihr schöner, heller Blick senkte sich nicht immer vor dem der jungen Männer, war dabei aber so ehrbar und so gleichgültig, daß diese sich unmöglich täuschen konnten; sie mußten es gleich gewahr werden, daß sie es mit einem braven Mädchen zu thun hatten, deren Herz so frisch war, wie ihr Gesicht. In den großen Städten hatte sich ihre Kleidung weit mehr geändert, als sie selber. Obgleich sie die Haube behalten, die die Bretoninnen nicht leicht aufgeben, hatte sie schnell gelernt, sich anders anzuziehen. Des Fischerkindes freie Figur, während sie die ganze Fülle der schönen Linien gewonnen, die im Seewind gekeimt, war nach unten hin feiner geworden in dem langen Schnürleib der Stadtfräulein.

Jedes Jahr kam sie mit ihrem Vater in die Bretagne zurück, aber nur im Sommer, wie die Badegäste, – dann fand sie für einige Tage ihre alten Erinnerungen wieder und ihren Namen Gaud (die bretonische Abkürzung von Marguerite), auch wurde sie neugierig, diese Isländer zu sehen, von denen man so viel sprach und die nie da waren, und von denen jedes Jahr wieder Einige mehr beim Appell fehlten; allenthalben hörte sie von dem Island sprechen, das ihr wie ein ferner Abgrund vorkam – und wo nun der war, den sie liebte...

Und dann war sie eines schönen Tages ganz heimgebracht worden, in die Fischergegend, durch eine Laune ihres Vaters, der dort sein Dasein vollenden und als Bürger an dem großen Platz von Paimpol wohnen wollte.

Die gute alte, arme, saubere Großmutter ging dankend davon, sobald der Brief wieder durchgelesen und zugemacht war. Sie wohnte ziemlich weit, am Anfang der Gemeinde von Ploubazlanec, einem Küstendörfchen, noch in derselben Hütte, in der sie geboren war, in der sie ihre Söhne und Enkel erzogen hatte.

Die Stadt durchwandernd beantwortete sie manchen Guten Abend: sie war eine der Alten im Lande, noch ein Ueberrest einer muthigen, hochgeachteten Familie.

Durch wahre Wunder von Ordnung und Pflege gelang es ihr, einigermaßen gut angezogen zu erscheinen, in ihren armen, geflickten Kleidern, die kaum noch zusammenhielten. Immer dasselbe braune Tuch von Paimpol, das ihren Staat ausmachte, auf das seit über sechzig Jahren die Musselindüten ihrer großen Hauben herabfielen, ihr eigenes Hochzeitstuch, das dereinst blau gewesen, zur Hochzeit ihres Sohnes Pierre gefärbt worden und seit jener Zeit, da es für Sonntags geschont wurde, noch ganz stattlich aussah. Sie hielt sich noch immer ganz aufrecht beim Gehen, gar nicht wie die alten Weibchen, und man konnte wirklich nicht umhin, trotz dem etwas emporstrebenden Kinn, sie mit ihren guten Augen und ihrem feinen Profil noch sehr hübsch zu finden. Sie war hoch geachtet, das konnte man gleich an der Art sehen, wie die Leute ihr den Guten Abend boten.

Auf dem Wege kam sie an ihrem »Liebhaber« vorbei, ein alter Verehrer von ehedem, der seines Zeichens Schreiner war; er war achtzigjährig und saß jetzt fast immer an seiner Thüre, während die Jungen, seine Söhne, in der Werkstatt hobelten. – Man behauptete, er habe sich nie darüber trösten können, daß sie ihn nicht gewollt, weder in erster, noch in zweiter Ehe; mit den Jahren war das in einen komischen Groll umgeschlagen, halb freundschaftlich, halb boshaft, und jedesmal rief er sie an:

»He, Schönheit, wann wird's denn, daß man Euch Maaß nehmen muß?«

Sie dankte und sagte Nein, sie sei noch nicht entschlossen, jenes Gewand anzulegen. In seinem etwas schwerfälligen Scherz meinte der Alte nämlich ein gewisses Kleidungsstück aus tannenen Brettern, das letzte von allen Erdenanzügen. ...

»Nun, wann's Euch dann beliebt; aber genirt Euch nicht, meine Schöne, Ihr wißt ...«

Er hatte diese Neckerei schon öfter wiederholt, aber heute wurde es ihr schwer, darüber zu lachen: sie fühlte sich müder, gebrochener durch ihres Lebens unablässige harte Arbeit, und sie dachte an ihren theueren Enkel, den Letzten, der bei seiner Heimkehr aus Island in Dienst gehen sollte. – Fünf Jahre! Vielleicht nach China, in den Krieg? Würde sie wohl noch da sein, wenn er wiederkäme? –

Bei dem Gedanken übersiel sie Todesangst ... Nein, sie war entschieden nicht so heiter, als es den Anschein gehabt, die arme Alte, denn eben zog sich ihr Gesicht furchtbar zusammen, wie zum Weinen.

Es war also möglich, es war wirklich wahr, daß man ihr ihn bald nehmen würde, diesen letzten Enkel. ... Ach! vielleicht sollte sie ganz allein sterben, ohne ihn wiedergesehen zu haben. ... Wohl hatte man Schritte gethan (Herren aus der Stadt, die sie kannten), um seine Einberufung zu verhindern, als Stütze einer mehr als dürftigen Großmutter, die bald arbeitsunfähig sein würde. Es war nicht gelungen, wegen Jean Moan, dem Deserteur, einem älteren Bruder von Sylvester, von dem man in der Familie nicht mehr sprach, aber der dennoch irgendwo in Amerika lebte, und nun dem jüngeren Bruder die Wohlthat der Militärfreiheit raubte. Auch hatte man ihre kleine Pension als Seemannswittwe vorgekehrt, und sie war nicht arm genug befunden worden.

Als sie nach Hause kam, betete sie lange für alle ihre Heimgegangenen, Söhne und Enkel; dann betete sie, mit inbrünstigem Vertrauen, für ihren kleinen Sylvester und versuchte, einzuschlafen, – aber sie mußte immer an das Gewand aus Brettern denken, und das arme alte Herz zog sich ihr zusammen bei dem Gedanken an diese Trennung.

Die Andere, das junge Mädchen, war an ihrem Fenster sitzen geblieben und betrachtete den gelben Widerschein des Sonnenuntergangs auf den dunkeln Granitmauern der Häuser und die schwarzen Schwalben, die am Himmel kreisten. Paimpol war immer wie ausgestorben, sogar Sonntags, an diesen langen Maiabenden; junge Mädchen, die nun Niemanden hatten, ihnen den Hof zu machen, spazierten zu zwei und zwei, zu drei und drei, und träumten von ihren Liebhabern in Island ... »Einen Gruß von mir dem Sohn Gaos!« ... Es hatte sie sehr verwirrt, diesen Satz zu schreiben, und diesen Namen, der sie nicht mehr verlassen wollte.

Sie brachte häufig die Abende an diesem Fenster zu, wie ein Fräulein. Ihr Vater liebte es nicht sehr, daß sie mit den anderen Mädchen ihres Alters spazieren ging, die früher in Dienst gewesen waren. Und dann, wenn er aus dem Kaffeehaus kam und seine Pfeife rauchend mit anderen alten Seeleuten auf und niederging, war er zufrieden, da oben an dem Granitfenster zwischen den Blumentöpfen seine Tochter zu sehen, im stattlichen Hause.

Der Sohn Gaos! Wider ihren Willen schaute sie in der Richtung der See hin, die man nicht sah, aber die man ganz nah fühlte, am Ende der Gäßchen, durch welche die Schiffer heraufstiegen. Und ihre Gedanken wanderten in die Unendlichkeit dieses ewig anziehenden Wesens, das bezaubert und verschlingt; – ihre Gedanken wanderten hinaus, weit, weit, in die Polargewässer, wo die Marie, Capitän Guermeur dahinschiffte. – Welch' sonderbarer Bursche, dieser junge Gaos! Jetzt floh er sie immer und entzog sich ihr, nachdem sein Entgegenkommen so dreist und so süß gewesen...

In ihrer langen Träumerei rief sie dann die Erinnerung an ihre Rückkehr in die Bretagne im vorigen Jahre zurück. An einem Decembermorgen hatte nach einer Nachtfahrt der Pariser Zug ihren Vater und sie in Guingamp abgesetzt, beim ersten neblig-weißen Tagesgrauen, das bei scharfer Kälte die Dunkelheit verdrängte. Da war sie von einem neuen ungekannten Eindruck ergriffen worden: diese kleine alte Stadt, durch die sie nie anders als im Sommer gekommen war, sie erkannte sie nicht mehr; ihr war es, als tauchte sie plötzlich unter in weit entfernte Zeiten der Vergangenheit. Diese Stille nach Paris! Dieses ruhige Leben der Menschen einer anderen Welt, die im ersten Morgennebel ihren kleinlichen Geschäften nachgingen! Diese alten Häuser von düsterem Granit, schwarz von Feuchtigkeit und dem noch haftenden Schatten der Nacht; alle diese bretonischen Dinge – die sie nun entzückten, weil sie Yann liebte – waren ihr an jenem Morgen in trostloser Traurigkeit erschienen. Frühaufstehende Hausfrauen öffneten bereits ihre Thüren, und im Vorübergehen fiel ihr Blick in diese alten Behausungen mit den großen Kaminen. Da saßen in würdiger Ruhe alte Mütterchen, die eben ihr Lager verlassen hatten. Sowie es etwas heller wurde, war sie in die Kirche eingetreten, um ihr Gebet zu sagen, und wie ungeheuer groß und geheimnißvoll war ihr das prachtvolle Schiff erschienen – ganz verschieden von den Pariser Kirchen, mit seinen rauhen Pilastern, die an ihrem Fuße durch die Jahrhunderte abgenutzt waren, mit dem Geruch nach Gruft, Alter und Salpeter. In einer tiefen Nische, hinter Säulen, brannte eine Kerze, vor der eine Frau kniete, wohl um ein Gelübde zu thun: der Schein von diesem schwachen Flämmchen verlor sich in der undeutlichen Leere der Gewölbe ... da hatte sie plötzlich, in sich selber, die Spur eines längst vergessenen Gefühls gefunden: die Art Trauer und Scheu, die sie als ganz kleines Kind empfand, wenn man sie zur Frühmesse an Wintermorgen in die Kirche von Paimpol führte. –

Um Paris war es ihr doch nicht leid, gewiß nicht, obgleich es dort viele schöne und belustigende Dinge gab. Zuerst hatte sie sich dort beengt gefühlt, da sie das Blut der Seefahrer in den Adern hatte; dann kam sie sich wie eine Fremde vor und nicht an ihrem Platze: die Pariserinnen, das waren Frauen, deren zusammengepreßte Taille hinten einen künstlichen Bausch zeigte, die eine besondere Art zu gehen kannten und in ihrem fischbeinernen Panzer einherschwänzelten; sie war viel zu klug, um je zu versuchen, diese Dinge genau nachzuahmen. Mit ihrem Kopfputz, den sie jedes Jahr bei der Putzmacherin in Paimpol bestellte, war es ihr unbehaglich in den Straßen von Paris, denn sie gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß man sich nur nach ihr umdrehte, weil sie sehr lieblich anzuschauen war. Es gab wohl einige unter diesen Pariserinnen, die sie durch ihre Vornehmheit anzogen, aber man konnte ihnen nicht nahe kommen, denen da, das wußte sie. Und die Anderen, die tiefer Stehenden, die bereit gewesen wären, Bekanntschaft zu machen, die hielt sie sich verachtungsvoll fern, da sie sie nicht für würdig hielt. So hatte sie ohne Freundinnen gelebt, fast in der ausschließlichen Gesellschaft ihres Vaters, und der war oft in Geschäfte vertieft oder abwesend. Es war ihr nicht leid um dies Leben der Ausgeschlossenheit und Einsamkeit.

Aber, trotz alledem, an diesem Tage der Heimkehr war sie doch schmerzlich überrascht durch die Herbheit dieser Bretagne, im tiefen Winter gesehen. Und der Gedanke an die vier bis fünf Stunden im Wagen, an dieses Sichversenken in die trostlose Gegend bis nach Paimpol, lag ihr bang auf der Seele wie ein Alp.

Und wirklich waren sie den ganzen Nachmittag dieses grauen Tages in einer kleinen, alten, lecken, allen Winden zugänglichen Postkutsche gereist, ihr Vater und sie; bei sinkender Nacht waren sie durch traurige Dörfer gekommen unter Baumgespenstern durch, an denen der Nebel in seinen Tröpfchen hing. Bald hatte man die Laternen anzünden müssen, und dann hatte man nichts mehr gesehen, als zwei Streifen sehr grünen bengalischen Lichts, das auf beiden Seiten den Pferden vorauslief, und welches nur der Schein der beiden Laternen war, der auf die endlosen Hecken am Wege fiel. Woher kam plötzlich das frische Grün im December? Verwundert lehnte sie sich hinaus, um besser zu sehen, dann kam ihr ein Erkennen und eine Erinnerung: der Ginster, der immergrüne Seeginster der Pfade und Klippen, der in der Gegend von Paimpol nie gelb wird. Zugleich begann eine sanftere Brise zu wehen, die sie ebenfalls zu erkennen meinte und die nach See roch ... Gegen das Ende der Reise war sie ganz wach geworden und durch einen Einfall, der ihr gekommen war, erheitert: »Je, da wir Winter haben, werd' ich sie diesmal sehen, die schönen Islandfischer!« Im December mußten sie da sein, heimgekehrt alle die Brüder, die Verlobten, die Geliebten, die Vettern, von denen ihre Freundinnen, groß und klein, bei jedem ihrer Sommeraufenthalte ihr so viel bei den Abendspaziergängen erzählt hatten. Und dieser Gedanke hatte sie beschäftigt, während ihre Füße durch die Unbeweglichkeit in dem Gefährte eiskalt geworden waren ... Sie hatte sie in der That gesehen ... und jetzt hatte einer davon ihr das Herz gestohlen.


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