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IX.

Als Yann droben war, betrachtete er mit verschlafenen Augen den großen, wohlbekannten Kreis ringsumher, der das Meer war. In dieser Nacht stellte sich die Unendlichkeit erstaunlich einfach dar, in neutralen Tinten, die nur das Gefühl der Tiefe gaben. Der Horizont, der keine bestimmte Erdenregion anzeigt, nicht einmal ein geologisches Alter erkennen laßt, hatte schon so viele Mal so geschienen, seit der Entstehung der Zeiten, daß man beim Hinschauen nichts zu sehen meinte, – nichts als die Ewigkeit der Dinge, die sind und die da sein müssen.

Es war nicht einmal wirklich Nacht. Es war noch schwach beleuchtet, durch ein Ueberbleibsel von Licht, das von nirgends herkam. Es rauschte wie aus Gewohnheit, mit einer ziel- und zwecklosen Klage. Es war Grau, ein trübes Grau, das sich dem Blick entzog.

Während ihrer Ruhe und ihrem Schlafe verhüllte sich die See in bescheidene, namenlose Farbentöne.

Droben waren zerstreute Wolken; sie hatten irgend eine Form angenommen, weil die Dinge nicht formlos sein können; sie verschwammen in der Dunkelheit in einen großen Schleier.

Aber an einem Punkte des Himmels, sehr tief, nahe am Wasser bildete sich ein deutliches, wenn auch sehr fernes marmorirtes Etwas, eine unbestimmte Zeichnung von zerstreuter Hand, eine zufällige Zusammenstellung, nicht zum Anschauen bestimmt, flüchtig und nahe am Vergehen. – Und dies allein schien hier in diesem All etwas zu bedeuten, als wäre der unfaßbare, melancholische Gedanke all dieses Nichtseins dort hingeschrieben; – und zuletzt starrten die Augen hin, ohne es zu wollen.

Je besser sich Yanns bewegliche Augensterne an die Dunkelheit gewöhnten, je aufmerksamer sah er nach dem einzigen marmorirten Himmelspunkte hin; es sah aus, wie Jemand, der mit beiden ausgestreckten Armen niedersinkt. Und nun, da er begonnen, die Erscheinung wahrzunehmen, schien es ihm ein wirklicher menschlicher Schatten zu sein, vergrößert, riesenhaft durch die große Entfernung. Und seiner Phantasie, in der unbeschreibliche Träume mit primitivem Aberglauben durcheinanderwogten, erschien dieser traurige Schatten, der dort am Ende des nächtigen Himmels zusammengesunken, in der Erinnerung an seinen todten Bruder, wie eine letzte Erscheinung von ihm.

Er war solches eigenthümliche Zusammenstellen von Bildern gewohnt, wie sie hauptsächlich am Lebensanfang in Kinderköpfen entstehen. ... Aber die unbestimmtesten Worte sind doch noch immer zu präcis, um diese Dinge auszudrücken; man brauchte dazu diese unsichere Sprache, die man manchmal im Traume spricht, und von der man beim Erwachen nur räthselhafte Fragmente behält, die keinen Sinn haben.

Beim Betrachten dieser Wolke fühlte er eine tiefe, beängstigende Trauer heranschleichen, geheimnißvoll und unerklärlich, die ihm die Seele erstarren machte; viel besser als vorhin verstand er jetzt, daß sein armer kleiner Bruder nie wieder erscheinen würde, nie wieder; der Kummer, der Zeit gebraucht hatte, die gesunde und harte Hülle seines Herzens zu durchbohren, füllte es jetzt zum Ueberströmen. Er sah wieder Sylvester's sanftes Gesicht mit den guten Kinderaugen; beim Gedanken, ihn zu küssen, fiel gegen seinen Willen plötzlich etwas wie ein Schleier zwischen seine Augenlider – und zuerst konnte er sich nicht recht erklären, was es war, da er in seinem Mannesleben noch nicht geweint hatte. Aber die Thränen begannen schwer und schnell ihm über die Wangen zu rieseln; dann hob Schluchzen seine tiefe Brust. Er fuhr fort, sehr rasch zu fischen, ohne seine Zeit oder ein Wort zu verlieren, und die beiden Anderen, die in dieser Stille sein Weinen hörten, hüteten sich, es merken zu lassen, aus Furcht, ihn zu reizen; denn sie wußten ja, daß er so verschlossen war und so stolz.

... Nach seiner Idee beendete der Tod Alles...

Es kam ihm wohl vor, aus Ehrfurcht sich au den Gebeten zu betheiligen, die man in den Familien für die Heimgegangenen sagt; aber er glaubte gar nicht an ein Ueberleben der Seelen.

Bei ihren Gesprächen unter Seeleuten sagten sie alle so, in einer kurzen, entschiedenen Weise, wie etwas, das von Jedem wohl gewußt war; was aber gar nicht eine unbestimmte Gespensterfurcht, eine undeutliche Angst vor Kirchhöfen ausschloß, so wenig, wie das äußerste Vertrauen in die schützenden Heiligen und Bilder, und am allerwenigsten die eingeborene Verehrung für die geweihte Erde, die die Kirchen umgiebt.

So fürchtete Yann, von der See geholt zu werden, als wenn das völliger vernichtete, und der Gedanke, daß Sylvester dort geblieben, in dem fernen, unteren Lande, machte seinen Schmerz verzweifelter, düsterer.

Mit seiner Nichtachtung für die Andern weinte er ohne Rückhalt und Scham, als wäre er allein.

Draußen erhellte sich langsam der leere Raum, obgleich es kaum zwei Uhr war, und schien zugleich sich auszudehnen und immer noch auszudehnen, sich in erschreckender Weise zu vertiefen. Mit diesem werdenden Tagesgrauen öffnete sich der Blick, und der wachere Geist umfing besser die Unendlichkeit der Weiten: da wurden die Grenzen des Raums hinausgeschoben und flohen noch ferner. Es war eine sehr bleiche Beleuchtung, aber sie nahm zu, als käme sie in kleinen Sprühwellen, mit leichten Erschütterungen; die ewigen Dinge schienen sich durchsichtig zu erhellen, als würden Lampen mit weißer Flamme langsam, langsam hinaufgezogen, hinter den unförmlichen, grauen Wolkengebilden; leise heraufgezogen, mit geheimnißvoller Vorsicht, aus Furcht, des Meeres düstere Ruhe zu stören. Unter dem Horizont war die große weiße Lampe, die Sonne, die kraftlos dahinschlich, bevor sie über den Wassern ihren langsamen eisigen Gang hielt, den sie am frühesten Morgen begonnen.

An dem Tage sah man nirgends rosige Töne; Alles blieb bleich und traurig. Und an Bord der Marie, da weinte ein Mann, der große Yann. ... Diese Thränen seines rauhen Bruders und diese größere Melancholie ringsum, das war die Trauerfeier für den armen, kleinen, unbekannten Helden, auf den isländischen Meeren, auf denen er sein halbes Leben zugebracht.

Als es völlig Tag wurde, trocknete Yann plötzlich die Augen mit dem Aermel seiner Wollenjacke und weinte nicht mehr. Damit war es aus. Er schien wieder ganz von seiner Fischerarbeit hingenommen, durch die Einförmigkeit der wirklichen gegenwärtigen Dinge, als dächte er an Nichts mehr. Uebrigens gaben die Angeln große Ausbeute, und die Hände reichten kaum.

Um die Fischer her in den ungeheuren Gründen ging ein neuer Sceneriewechsel vor sich. Die große Entfaltung von Unendlichkeiten war vorüber, das große Schauspiel des Morgens beendet, und nun schienen im Gegentheil die Fernen sich zusammenzuziehen, sie einzuschließen. Wie war es nur, daß man vorhin den Horizont so grenzenlos sah? Er war ja eben ganz nahe, und es schien eher, als mangele es an Raum. Die Leere füllte sich mit schwebenden, dünnen Schleiern, einige unbestimmter als Dünste, andere mit sichtbareren, ausgezackten Umrissen. Sie senkten sich schlaff hernieder in großer Stille, wie gewichtloser weißer Mull; aber sie fielen von überall und zu gleicher Zeit, so daß man sehr schnell darunter gefangen war, und es war bedrückend, die zum Athmen nöthige Luft sich so füllen zu sehen.

Es war der erste Augustnebel. In einigen Minuten war das Leichentuch einförmig dicht, undurchdringlich; um die Marie erkannte man nichts mehr als feuchte Blässe, in der das Licht in welche sogar das Mastwerk des Fahrzeuges sich zu verlieren schien.

»Da haben wir ihn nun mit einem Schlage, den garstigen Nebel,« sagten die Männer.

Sie kannten ihn schon seit lange, den unvermeidlichen Begleiter der zweiten Fischereiperiode; er bezeichnete aber auch das Ende der Islandsaison und den Zeitpunkt, sich auf den Weg zu machen, um in die Bretagne zurückzukehren.

In seinen glänzenden Tröpfchen hing er sich ihnen in die Bärte und machte ihre gebräunte Haut vor Feuchtigkeit glänzen. Von einem Ende des Schiffes bis zum andern sahen sie sich nur verschwommen wie Gespenster; während umgekehrt die ganz nahen Gegenstände schärfer in dem faden, weißlichen Licht erschienen. Man hütete sich, mit offenem Munde zu athmen, denn ein Gefühl der Kälte und Nässe fiel auf die Brust.

Zugleich ging der Fischfang immer schneller; man sprach nicht mehr, so viel gaben die Leinen her; jeden Augenblick hörte man einen schweren Fisch auf's Verdeck fallen, wie mit einem Peitschenschlag auf die Bretter hingeschleudert, dann schüttelten sie sich wüthend hin und her und schlugen klatschend mit dem Schwanz auf das Holz; Alles war mit Seewasser und mit feinen, silbernen Schuppen bespritzt, die sie im Zappeln verloren. Der Mann, der ihnen mit seinem großen Messer den Bauch aufschlitzte, schnitt sich in der Eile in die Finger, und sein frisches, rothes Blut mischte sich in die Salzlake.


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