Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Fünfzehntes Kapitel

Drei Sommermonate hatten sie trübselig genug in einem qualvollen Zwischenzustand hingebracht; eine jener Lebenszeiten, wo man nichts unternehmen mag, zu nichts Mut und Lust hat. Wozu auch nur das liebe, arme Haus in stand halten, wenn es ihnen ja doch entrissen wurde.

Geschäftsleute gingen aus und ein. Die Mutter hatte auch noch das Herbste auf sich genommen und bei den reichen Verwandten Schritte gethan. Mit ein wenig Beistand hätte sie das geliebte, ererbte Nest erhalten können, aber die satten Vettern fanden, daß es geradezu Wahnsinn wäre, dafür Opfer zu bringen, daß sie sich damit sicher zu Grunde richten würde, daß alles verkauft, geordnet und zum Abschluß gebracht werden müsse. Und so verkaufte sie denn . . .

Sobald dieser Entschluß unwiderruflich geworden war, schien die Zeit im Sturmschritt vorzurücken, wie es in bangen Träumen geschieht, wo die Zeit keine Dauer mehr hat, und als sie am Abend, nachdem der Kaufvertrag unterzeichnet worden war, am Familientisch saßen bei ihrer armseligen Mahlzeit, die wenigstens noch von der alten Dienerin aufgetragen wurde, war ihnen zu Mut wie nach einem Begräbnis, und die Nacht kam ihnen vor wie eine Totenwache.

Der Plan der Mutter stand jetzt fest. Jean, der demnächst achtzehn Jahre alt wurde, mußte jetzt als Matrose in der Kriegsmarine dienen, sie selbst als Arbeiterin ihr Brot zu verdienen suchen – je weiter von Antibes, desto besser. Sie wollten also miteinander ans andre Ende von Frankreich übersiedeln und in einer von den Hafenstädten der Nordküste ihr Zelt aufschlagen. Toulon war viel zu nah, auch hatten sie dort Bekannte, ferner mußte Jean ja auch mindestens ein Jahr in Brest sein auf dem Schulschiff. Dort also wollten sie wohnen, um ihr Elend in Verborgenheit zu tragen.

Im Oktober gab ihnen der neue Hausbesitzer eine achttägige Frist zur Räumung und zum Umzug. Danach sollten dann sofort Handwerksleute kommen, um das ganze Haus umzuorgeln und alles neu zu machen, denn was den armen Vertriebenen lieb und teuer gewesen war, genügte den herablassenden Nachfolgern nicht mehr. Nun hieß es aussuchen, was einem am teuersten war, und da stellte sich heraus, daß ihre Herzen an jedem Gegenstand hingen, daß die Trennung auch vom Geringsten ein herzzerreißendes Opfer bedeutete, und doch hätten sie vernünftigerweise nur das »Nötigste« mitnehmen sollen!

Jean half der Mutter die Kisten packen, und jeden Morgen erwachte er in dem Stübchen, worin er als Kind geschlafen hatte, mit beklommenem, angstvollem Sinn.

»Noch ein Tag! Immer näher rückt der, an dem ich dies alles nicht mehr sehen werde!«

Das Haus entleerte sich allmählich, das arme Haus, das nicht mehr in Ordnung gehalten wurde und worin Heu und Stroh vom Packen herumfuhr. Das Bild jedes einzelnen Zimmers verschob sich; alles löste sich auf.

Jean selbst wollte hunderterlei kindliche Sachen mitnehmen, besonders all seine Schulhefte, an denen noch seine Seekadettenträume zu haften schienen und die er später wieder vornehmen wollte zum Schifferexamen.

Der einzige Ausgang, den er täglich machte, hatte den alten Garten von Carigou zum Ziel, dessen Schlüssel man ihnen noch gelassen hatte. Dort konnte er lange umherirren in der herbstlichen Wildnis, die jetzt den Eindruck eines Friedhofs auf ihn machte. Es war dieselbe Jahreszeit, dieselbe sonnige Stille wie ein Jahr vorher am Vorabend der Abreise nach den Levantinischen Inseln, wo er auch wie jetzt allein hier herausgegangen war, um seinen schon damals traurigen Träumereien nachzuhängen, und er pflückte Blätter von seinen Lieblingssträuchern und Rosenbäumen, um sie zwischen den Blättern seiner Bücher getrocknet mit fortzunehmen . . .


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