Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Sechsundvierzigstes Kapitel

Die Seeluft hatte ihm zuerst außerordentlich wohlgethan und seine Zuversicht gänzlich neu belebt. Solang man sich unter den Passatwinden der nördlichen Hemisphäre befand, konnte er immer auf Deck sein, im Schatten sitzend, die köstliche Brise einatmen, den Segelmanövern zusehen und mit den Kameraden plaudern.

Bald aber gelangte man in die drückenden Kalmen, die weiche Regenluft und die Wolkenbrüche der Aequatorlinie, und da wurde er trotz aller angewendeten Sorgfalt mit einemmal sehr schwach, konnte das Bett nicht mehr verlassen und mußte unten bleiben im Lazarett.

Anfangs erging es ihm, wie es sehr kräftigen jungen Menschen in diesem Fall zu ergehen pflegt, er war einfach verblüfft und ungläubig. Man räumt nur zaudernd die Möglichkeit ein, daß tödliche Krankheit und Erschöpfung uns selbst befallen könnten! Da drüben auf der »Gyptis« hatte er immer gedacht, daß ein wenig Seeluft, die Freude der Heimkehr, schon das Entkommen aus dem chinesischen Dampfbad ihn im Handumdrehen gesund machen würden, aber nein, es nützte ja gar nichts . . . sollte er wirklich die Heimfahrt ein wenig zu spät angetreten haben? . . .

Mein Gott! Und diese Langsamkeit! Dieses ewige Stillliegen! Wollte denn kein Wind aufspringen? Heizten sie denn die Maschine gar nicht? . . .

Und zum erstenmal stand beim Erwachen aus einem besonders hellseherischen und beängstigenden Mittagschlaf das Unvermeidliche deutlich vor ihm – erwachend gelangte er zum Bewußtsein seines Selbst. Es durchfuhr ihn wie ein Schreckensstoß, es war, als ob er vor einer leeren Grube, einem endlosen Nichts stünde und sich hinabgleiten fühlte ohne Abwehr, ohne Rettung . . .

*

Die Freunde von der einstigen »Resoluta« kamen oft und setzten sich an sein Bett; besonders Le Marec und Joal opferten ihm all ihre Freistunden. Er hatte sie gern und war ihnen dankbar, manchmal ließ er sich auch durch sie zerstreuen und sog begierig den salzigen Meergeruch ein, der an ihren leinenen Jacken haftete . . . Aber wie wenig hatten diese Beziehungen im Grunde zu bedeuten, im Angesicht des herannahenden großen Endes! Ach nein! Nur in seiner Mutter war alles für ihn zusammengefaßt, nur sie war seine Welt, nach ihr schrie seine Seele in qualvoller Sehnsucht . . .

Und immer noch kein Wind! Immer dieselbe leblose Ruhe, die versengend schwüle, feuchte Luft, die sachte, sachte seine Kräfte vertilgte wie ein allzu lang dauerndes türkisches Bad. Rechts und links von ihm siechten auch andre Kranke dahin, junge Soldaten von zwanzig Jahren, mit erdfahlen Gesichtern, zu Skeletten abgezehrt, von der Ruhr zernagt . . .

Unerträglich und unabsehbar lang zog sich der unvorhergesehene unglückselige Zustand hin: auf ein und derselben Stelle geschaukelt zu werden, ohne vom Fleck zu rücken.


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