Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Am Ende des Winters, er war gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden, erhielt er Segelbefehl, den er in seiner vergeßlichen Unbekümmertheit zu erwarten und zu wünschen bereits aufgehört hatte. Er wurde mit einer Abteilung in einen andern Kriegshafen versetzt, um sich von dort nach Dakar zu begeben und für achtzehn Monate der Bemannung eines schönen Stationsschiffs im Senegal anzugehören.

Dakar war ihm nicht fremd; die »Resoluta« hatte einmal dort angelegt, und schon der bloße Namen Senegal zauberte ihm die Unendlichkeit der Sandwüste vor, die schwülen purpurnen Abende, wo sich der ungeheure Feuerball der Sonne in den heißen Wüstensand senkt . . . Er sollte also in das Land der Schwarzen eindringen auf dem großen langen Strom, der den Europäern als Straße dient . . . all diese Bilder hatten höchsten Reiz für ihn, besonders der Strand der Sahara, dies undurchdringliche Gestade der Mauren . . .

*

Als besondere Gunst war ihm auf Ehrenwort der letzte Abend frei gegeben worden; um Mitternacht sollte er, wenn die Abteilung auf dem Weg zum Bahnhof an seinem Haus vorüberkommen mußte, möglichst rasch auf einen Pfiff des Zugführers ins Glied treten.

*

Der schmächtige Pfarrerssohn war zu dieser letzten Mahlzeit eingeladen worden.

Der Matrosensack aus weißer Leinwand stand neben dem Tisch am Boden; er war schon geschlossen, man brauchte ihn nur noch umzuhängen.

Die drei Tischgenossen sprachen kaum ein Wort; sie standen alle unter dem eigentümlichen Druck, den die Nähe von Abreise, Ende, Tod auf den Menschen ausübt . . .

*

Jean sah plötzlich, daß die Mutter sich Hut und Mantel zum Ausgehen bereit gelegt hatte.

»Nein, Mama, thu' das nicht . . . komm nicht auf den Bahnhof,« sagte er, ihre Absicht erratend, in zärtlichem Ton, indem er eine von ihren Händen, die sie auf dem Tischtuch ruhen ließ, ergriff und erfaßt hielt.

Ein traurig enttäuschter Blick fragte ihn demütig nach dem Grund dieser Abweisung.

»Siehst du, Mama, da sind dann die andern,« gab er der stummen Frage zur Antwort. »Nein, ich möchte dir lieber hier den letzten Kuß geben . . . Morel mag hinauskommen, wenn er Lust hat.«

Nach Tisch setzten sie sich vors Kamin, um den Zeitpunkt der Abreise zu erwarten, aber die Unterhaltung kam auch jetzt nicht in Fluß und wurde oft von langen Pausen unterbrochen. Die beiden jungen Leute rauchten Cigaretten, die Mutter saß neben dem Sohn und hielt eine seiner Hände in den ihrigen.

*

»Mama, zeig' mir doch noch die lieben alten Sachen, eh' ich abreise . . . Du weißt ja, den Rock, die Brille . . . ich möchte alles noch einmal sehen . . .«

Sie schien zu zögern und warf einen Blick auf den Dritten, den Fremden in ihrer Mitte.

»Was? Morels halber willst du nicht?« rief Jean. »Das kann ich dir sagen, mir ist's ganz einerlei, ob er dabei ist oder nicht . . . der hat auch seine Schätze, weißt du . . .«

Auf diesen Zuspruch hin stand die Mutter auf und breitete die Reliquien, eine nach der andern, auf dem Tisch aus. Gebeugten Hauptes starrte Jean darauf hin, ohne zu sprechen, in regelmäßigen Pausen ein leichtes bläuliches Tabakwölkchen darüber hinblasend. Und als sie nun auch der Reihe nach wieder verschwanden in ihren kleinen Leichentüchern von weißem Mull, hatte er das nämliche Gefühl eines unwiderruflichen Niemals wie an dem Abend, wo er die Gartenthüre in Carigou zum letztenmal abgeschlossen hatte . . .

Mit einemmal drang durch das halb offen stehende Fenster dumpfes Geräusch aus der schon still gewordenen schlafenden Straße herauf, rhythmische Fußtritte hallten laut wieder auf dem Steinpflaster und dann ertönte schrill und hart eine Signalpfeife. War's möglich? Die Abteilung schon da? Dann mußte ja ihre Uhr nachgehen oder stehen geblieben sein . . . sie hatten gar nicht dran gedacht, daß es schon so spät sein könnte . . . In höchster Bestürzung umfaßte Jean die Mutter und preßte sie mit einem leidenschaftlichen Abschiedskuß an sich, dann warf er seinen Sack auf den Rücken und stürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Steintreppe hinunter, Morel hinter ihm drein.

Die Lampe hoch haltend, um ihnen zu leuchten, sah die Mutter wortlos, wie zu Eis erstarrt, den rasch verschwindenden Gestalten nach, dann stürzte sie ans Fenster und riß es auf, um von hier aus ihren Jean noch ein einziges Mal zu sehen. Aber nein! Sie sah ihn nicht, nur eine undeutliche Gruppe, eine schwarze Masse sah sie im Dunkel unter einem feinen, kalten Regen verschwinden. Er dagegen sah sie wohl im Rahmen des erleuchteten Fensters, nach dem er noch mehrmals den Kopf wandte . . .

Als die schwarze Masse verschwunden, das Geräusch der Schritte verhallt war, schloß sie das Fenster – und war allein. Thränenlos, fast wie eine Stumpfsinnige, aber bebend und mit kaltem Angstschweiß bedeckt, empfand sie den Eindruck einer völligen Vernichtung, den sie noch nicht kannte, den ihr seine früheren Abreisen nie hinterlassen hatten. So sank sie vor dem verglimmenden Feuer auf einen Stuhl, und ihre zitternden Finger griffen nach seiner Cigarette, die auf dem Kaminsims weiterglostete . . .


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