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Neujahrstag 1848!
Europa gleicht einem grollenden Vulkan; man hat das Gefühl, auf dem Nacken eines schlafenden Löwen zu ruhen, der erwachen will. Man lächelt sich Mut zu und versichert einander: es ist nichts! Kein Grund zur Befürchtung!
Großer Empfang bei Hof; noch größerer Empfang bei der Gräfin, fast nicht weniger offiziell: ein fürstliches Kommen und Gehen; Aristokraten, inhaltslos und feierlich, hohe Würdenträger und ehrgeizige Politiker, Volksvertreter und Demagogen, höfisch gewandt und manierlich, Künstler, etwas lächerlich in dem Staatskreis, Emporkömmlinge, Geschäftsleute wie Meyerhofer und Konsorten, steif und dumm, sonst dreist und pfiffig; halbe Worte, halbe Versprechen, Komplimente, Verneigen, verbindliches Lächeln, Beglücktheit und zuinnerst das halbverlöschte Bewußtsein: alles Komödie!
Ein Tanzidyll auf dem Nacken des schlafenden Löwen!
Eine Staatskomödie um eine Kurtisane, die einer Königin an Macht gleichkommt und den Hof in Schatten stellt!
Sie blickt in die Gesichter der feilen katzenbuckelnden Höflinge, deren Augen aufleuchten, wenn sie ein paar Worte an sie richtet, und die hinter ihr und hinter dem König die Stirne kraus ziehen:
»Fröhlich, meine Herren, fröhlich! Eine Frau will euch Mut machen, der Zukunft heiter und zuversichtlich ins Antlitz zu sehen; sie bringt allen die Erfüllung ihrer Herzenswünsche!«
Sie liest die abtrünnigen und falschen Gedanken hinter dem Lächeln des Berks und der anderen Schmeichler, aber sie fürchtet den Verrat nicht, obschon alles Lüge um sie ist.
Sie hat Mut und ist entschlossen, den Fuß fest auf den Nacken des Löwen zu setzen, der leise seine Mähne schüttelt.
Fest entschlossen, diesen Putztisch in einen wirklichen Thron zu verwandeln, aus dem diamantenbesetzten Strumpfband ein Diadem zu flechten und diesen Fächer, den sie krampfhaft in ihren Händen dreht, zu einem Szepter zu schnitzeln.
Und sie berechnet heimlich die Tragkraft dieser wankenden Stützen des Thrones.
»Meine eigenen Herzenswünsche?« Sie antwortet zerstreut auf die Frage:
»Sie sind erfüllt; ich habe keine neuen, es ist auch klüger, keine zu haben in diesen unsicheren Zeiten!«
Und wieder diese halbe Verbindlichkeit in zweideutigen Gesichtern, diese lächelnde Versicherung, daß nichts zu besorgen sei, dieses Schielen der Gedanken und Hintergedanken.
Und wovon reden die Sorglosen?
Natürlich von der Möglichkeit einer – Revolution.
Ein Diplomat, der in München einen deutschen Hof vertritt, meint: es mag in Frankreich hergehen wie es wolle, in Deutschland bleibe es unbedingt ruhig.
»Worauf bauen Sie?« fragte die Gräfin.
»Auf unsere Kinder,« gab er lachend zur Antwort.
Das klang sonderbar.
»Wir Deutsche sind doch zu gute Familienväter,« fügte er hinzu, »um uns den Kartätschen auszusetzen.«
Das war eine befriedigende Erklärung.
»Und nun, mein Herr Diplomat,« fragte sie einen Engländer.
»Niemals wird in England Revolution sein,« versetzte er mit Zuversicht.
»Worauf stützen Sie Ihre Hoffnung?«
»Auf unsere Schulden!«
Das war ein Grund.
Ein österreichischer Attaché betritt eben den Salon, die Gräfin wendet sich an ihn:
»Hegen Sie dieselbe Hoffnung für Ihr Land?«
»In Österreich eine Revolution?« der Österreicher war fast entrüstet. »Das gehört zu den Unmöglichkeiten, Frau Gräfin!«
»Das nenne ich Vertrauen! Worauf gründen Sie es?«
»Worauf? Nun – auf Metternich!«
»Ach, Metternich – das ist ein alter Mann!«
»Wir haben lauter Metternichs,« lächelte der Österreicher beglückt in sich hinein, »wir haben lauter Metternichs!«
Ein Russe, der mit dem König in einem anscheinend tiefen Gespräch begriffen war und abseits stand, trat in den Kreis, der sich um die Gräfin gebildet hatte, und nahm an der revolutionären Unterhaltung teil.
»Gnädige Frau, wir Russen verlassen uns weder auf unsere Kinder, die sich vielmehr auf uns verlassen müssen, noch auf unsere Schulden, die wir nicht haben, noch auf unsere Metternichs, die Systeme vertreten, die oft mit ihren Erfindern zugrunde gehen, sondern auf ein ganz anderes Ding.«
»Und das wäre?«
»Die Knute!«
*
Einige Wochen nach dieser Unterhaltung saß Louis Philipp nicht mehr auf dem französischen Thron, die deutschen Kinder machten selbst Revolution, wobei Frankreich mit der Februarrevolution den Leithammel machte, Metternich war aus Österreich geflohen, vorläufig waren keine anderen Metternichs da – nur Rußland und England hatten keine Revolution.
Die Schulden und die Knute!
Obzwar diese Ereignisse am Neujahrstag nicht vorauszusehen waren, hatte sie eine hellseherische Eingebung.
Mit dem richtigen Kurtisanenverstand, der in dem aufgeklärten liberalen Despotismus das Heil erblickt, wendet sie sich lächelnd zu Berks:
»Mein Herr Staatsminister, haben Sie gehört, worauf die Herren bauen? Hier können Sie lernen, wie man Revolutionen vermeidet! Welche von diesen gehörten Grundsätzen würden Sie am verläßlichsten finden?«
Und weil er sich als gar ungelehriger Diplomatenschüler erweist, kommt sie ihm belustigt mit dem Scherz zu Hilfe, der tief blicken läßt:
»Die Schulden und die Knute! Merken Sie sich das, mein Herr Minister!«
*
Am politischen Schach war der König abgelöst worden durch seinen Ratgeber, den Staatsrat von Berks, vor allem aber durch seine Freundin, die ungekrönte Königin, die das Spiel mit großer Bravour und blendenden Finten weiterführte. Der Gegner war ihr ebenbürtig, jener vielköpfige Riese Demos, der unaufhörlich Gestalt und Namen wechselte, bald so, bald so hieß: Volk, Masse, Publikum, Pöbel, Gesellschaft, Frauen, Landtag, Politik, Diplomatie, Presse, Demokraten, Liberale, Jesuiten, je nach dem, und immer neue, unvorhergesehene Ausfälle und Angriffsarten erfand. Aber es war Abwechslung und Aufregung dabei, gerade das, was sie liebte: je verschlagener und heimtückischer der Gegner, desto größer ihr Scharfsinn und ihre Gewandtheit; das Leben war wieder kurzweilig und schön, voll Rausch, Ekstase und Leidenschaft, ein Stierkampf, den ihre Nerven brauchten.
War durch Unvorsichtigkeit oder schlechte Kombination das Spiel gefährdet, dann mußte der König eingreifen und zusehen, wie er die Position rettete. Oft kein leichtes Ding. Er war am Ende immer noch der beste Schachspieler, gerade weil er die Tugenden des gelernten Königs besaß: Langmut, Geduld, Beharrlichkeit, Vorsicht, Festhalten – Eigenschaften, die der freche Wagemut verwarf.
Und wenn es fehlging, gab es Uneinigkeit zwischen der Gräfin und ihrem politischen Handlanger am Staatsruder ...
Schon die Zensuraufhebung war nicht nach ihrem Sinn. Auch nicht nach des Königs Sinn. Es war der erste große Fehler, den sie Berks vorzuwerfen hatte. Beabsichtigt war es freilich als feiner, überlegener Schachzug, der freiwillig gibt, was sonst erzwungen würde, und auf diese Weise die Stellung im Spiel verstärkt. Die Berechnung war gut, aber der Effekt schlug ins Gegenteil um. Also war es doch ein Fehler, für den er allein verantwortlich war! Nun hatten sie den ganzen Wespenschwarm hinter sich her ...
Dagegen hatte auch Berks seiner Herrin einen Mißgriff vorzuwerfen. Das war die Sache mit den Studenten. Freilich, auch dieser Plan war gut, wenn er gelang. Aber er war nicht gelungen. Die paar Alemannen reichten nicht hin, die Universität in Schach zu halten. Der eingetriebene Keil erzeugte nur Reibung und Funken – wie gefährlich konnte das bei dem angehäuften Zündstoff werden! Lieber hätte man doch gar nicht daran rühren sollen! Wie die Sache jetzt lag, war es gar zu unsicher.
Also beschloß der weise Herr Minister, den taktischen Fehler der Gräfin zu verbessern, indem er die Zahl und das Ansehen der Alemannen zu verstärken suchte, damit sie auf der Hochschule eine wirkliche Schutzwehr bilden konnten. Sie waren die schönsten Jünglinge, eine wahrhafte Elite und standen dennoch gesellschaftlich in Acht und Bann. Sie waren scheu gemieden: kein Student tat ihnen Bescheid, sie erhielten keine Satisfaktion, obgleich sie eine vom König genehmigte und den anderen gleichberechtigte Verbindung waren. Auch von den Mädchen war der Boykott über sie verhängt. Boykott in Anrede, Tanz und Kuß. Oh, was das betrifft, sogar Kuß! Das war schmerzlich, obgleich die Alemannen oder Lolamannen nach dieser Herzensspeise so gar wenig Verlangen trugen und durchaus nicht ausgehungert schienen.
Schritt für Schritt mußte der Universitätsboden erobert werden. Durch die Berufung Fallmerayers und Einführung der freisinnigen Studienordnung hatte man schon vorgebaut; der Philhellene Friedrich Thiersch, Geschichtschreiber und wissenschaftlicher Begleiter des Königs auf seinen Kronprinzenfahrten in Italien, vor allem aber des Prinzen Otto auf seiner Krönungsfahrt nach Griechenland, wo sich der Gelehrte als feiner Diplomat erwiesen, war Rektor geworden, ein bewährter Königsfreund auf dem jetzt so wichtigen Posten.
Die erwünschte Gelegenheit fand sich bald, der neuen Studentenverbindung öffentliche Sympathien und vor allem neue Mitglieder zuzuführen. Am 15. Januar 1848 feierten die Alemannen im Bayrischen Hof ihren Eröffnungskommers, der als glanzvolles Fest angelegt und durch die Anwesenheit des Herrn Staatsministers ausgezeichnet war. Berks hielt selbst die Eröffnungsrede, darin er die Grundsätze dieser Verbindung der Bürgerschaft bekannt und vertraut zu machen suchte, und war entschlossen genug, diese Grundsätze »als die Freude zu den Studien, zur Sittlichkeit und Humanität« zu preisen, gegenüber »dem anmaßenden Wesen der übrigen übersprudelnden und mitunter verdorbenen Universitätsjugend ...«
Gut geplant und doch schlecht gespielt!
Die Rede zündete, doch nicht im erwünschten Sinn. Sie war der Funke in ein Pulverfaß. Ungeheuer war die Erbitterung. Die Alemannen durften sich kaum auf der Universität blicken lassen; schon war Feuer am Dach. Die Studentenschaft sah sich durch den Staatsminister als verdorbene Masse gebrandmarkt; nur mit Mühe konnte Thiersch die Erregung innerhalb der Universität dämpfen. Die bisherige Reibung hatte nur zu gelegentlichen Erhitzungen geführt; jetzt war der Brand allgemein. Auch in der Öffentlichkeit fand Berks Widerspruch. Die gesamte Bürgerschaft, vor allem das ewig Weibliche, ging mit fliegenden Fahnen zu den verlästerten Studenten über, und den Alemannen erging es schlimmer als je.
In allen Familien, wo Söhne und Töchter waren, gab es zum Tee oder zum Abendkränzchen keinen interessanteren Gesprächsstoff. So bei Thiersch. Wolfram, den die Sehnsucht nach dem Feenpalast und nach den geistigen oder seelischen Genüssen dort verzehrte, die er nur erträumen durfte als eine köstliche, prickelnde Essenz wie Champagner, saß bei Zuckerbrot und Limonade im Familienkreis und führte hausbackene Töchtergespräche. Und als er ein Pereat auf Berks ausbrachte, hätte nicht viel gefehlt, daß ihm die hübschen Thierschtöchter und ihre Freundinnen einen Kranz aufs Haupt setzten, wie die saligen Fräuleins ihrem jungen tugendstarken Ritter, indessen sein Herz aufschrie vor Weh und Verlangen nach dem Hörselberg in der Barerstraße und seiner verrucht schönen Fee ...
Das also war der dritte Mißgriff, und den hatte wieder der Herr Minister zu verantworten, der einen taktischen Fehler der Gräfin zu verbessern vermeinte. Nun war das Spiel schon sehr verfahren. Es war bald Zeit, wieder der Schachkunst des Königs zu vertrauen; denn schon geschah ein vierter Streich, der nicht abzuwenden war. Die Gegenseite hatte ihn geführt, sie nützte die Situation aus ... Der diesen Schlag führte, war der alte Görres. Jetzt erst wurde der Kampf heiß und gefährlich.
*
Nicht mehr und nicht weniger tat der zweiundsiebzigjährige Greis, als daß er sich hinlegte und starb. Scheinbar ein Glück für die Partei Lolas: ihr größter und erbittertster Feind trat vom Schauplatz ab. Mehr als seine Schriften über »Swedenborgs Visionen«, »Athanasius« und »Christliche Mystik« hatte ihn diese Feindschaft gegen die Tänzerin, die eine unvorhergesehene Erscheinung war, wie etwa die geflügelte Schlange, unter seinen Zeitgenossen berühmt gemacht. Der tote Löwe setzte den Kampf mit der geflügelten Schlange fort, und es schien, als ob der Tod ihm eine Stärke verliehen, die er selbst im Leben nicht hatte. Der Tod gab den prophetischen Worten Inhalt: »Wenn der Geruch der Verwesung durch die Gesellschaft hindurchgeht und der Übermut keine Grenzen mehr kennt, so tun sich die Brunnen des Abgrunds auf, und die Fluten brechen über sie herein ...« Jetzt erst schien der Sieg, der bisher bei der Gräfin war, ihm zuzufallen; was Glück für sie schien, ward Verhängnis. Obwohl gerade in akademischen Kreisen seit der großen Wendung der Dinge das Urteil über ihn sehr geteilt war, wurde eine außerordentliche Totenfeier geplant, die nicht nur von Ultramontanen, sondern von den Gegnern der Lolamontanen überhaupt als Demonstration gegen die Gräfin benutzt wurde. Musik, Gesang und Fackelzug waren von der Polizei bereits genehmigt, als ein Schachzug der Gräfin die Kundgebung vereitelte. Noch in letzter Stunde wurden alle Reden und Gesänge verboten und die Wallfahrt nach dem Grabe des großen Ultramontanen um die beabsichtigte Wirkung gebracht. Um so größer war die Entrüstung gegen die Alemannen und ihre Beschützerin, die Urheberin des Verbots. Die Universität glich einem kochenden Krater unmittelbar vor dem Ausbruch der Katastrophe.
Am Montag, den 7. Februar 1848 begann die Drohnenschlacht. Mit Gewalt sollten die Alemannen am Universitätsbesuch verhindert werden. Wilde Bewegung, sobald sich ein Träger der verfehmten Farben zeigte. Tumult und Verhinderung der Vorlesung in jedem Hörsaal, den ein Alemanne betrat.
Polizeidirektor Mack, von dem nahenden Sturm unterrichtet, verstärkte die Gendarmerieposten im Umkreis der Universität, um den zuziehenden Pöbel fernzuhalten. Um elf Uhr erschien Kultusminister Fürst Wallerstein in den Universitätsräumen, als der Aufruhr gerade im vollen Gange war.
Rede von der Haupttreppe herab an die liebe akademische Jugend. »Er achte die Freiheit ihrer Bewegung und wolle keineswegs ihren Sympathien und Antipathien gebieten. Er müsse aber auch von den Studenten Achtung vor dem Recht jedes Studierenden, ungestört in diesen Räumen den Studien obzuliegen, sowie auch Achtung vor der akademischen deutschen Sitte verlangen, nach welcher Verhöhnung durch die Kommilitonen in den Räumen der Universität als ungeziemend und alle Ordnung zerstörend erachtet werde ... Noch sei es Zeit, von dem betretenen Wege zu lassen –« usw. usw.
Brausende Hochrufe, als der Fürst geendet hat.
Nun hält Rektor Thiersch eine Ansprache und läßt sich von den Studenten die Aufrechterhaltung der Ordnung feierlich angeloben.
Eben treten Elias und Hirschberg aus einem Hörsaal. Kaum werden die karmesinroten Mützen sichtbar, sind Mahnungen und Gelöbnis vergessen; von neuem erhebt sich ein Wutgeschrei, die beiden Alemannen werden zum Universitätstor hinausgedrängt.
Am 9. Februar überträgt sich der Streit vom Universitätsboden auf die Straße.
Auf den Ruf, die Alemannen kämen, eilen die Studenten mit lautem Geschrei aus den Hörsälen, die Treppe hinab, den Verhaßten den Eintritt in die Hochschule zu verwehren. Elias ist erschienen, von Hirschberg und einem dritten Alemannen begleitet, um beim Rektorat Protest über die widerfahrenen Ehrenkränkungen einzulegen. Der Rektor ist ihnen schon entgegengeeilt, um Tätlichkeiten zu verhüten; er geleitet die Deputation in das Rektoratszimmer und führt sie nach Protokollvernahme persönlich wieder die Treppe hinab bis an die Schwelle des Hauses, deren Vorplatz mit Gendarmen besetzt ist, wo er sich mit den Worten verabschiedet: »Hier endet mein Ansehen; von hier aus sind Sie übrigens im Schutz der bewaffneten Macht!«
Der Studentenschwarm auf den Gängen und Stiegen, der in Anwesenheit des Rektors die Ruhe gewahrt hat, rückt jetzt in hellen Haufen den abziehenden Alemannen durch die Ludwigstraße trotz der Gendarmen mit lautem Tumult und heftigen Verwünschungen nach. Im Innern der Arkaden kommt es zum Zusammenstoß. Graf Hirschberg, von einem Studenten angerempelt, zückt ein Dolchmesser, mit dem er nach dem Beleidiger stößt. Er verwundet ihn. Ein Handgemenge beginnt, Volk, Studenten, Gendarmerie. Stürmisch verlangt die Menge die Verhaftung des Täters, der Gendarmeriehauptmann verweigert es. Graf Hirschberg ist inzwischen durch das Rottenmannersche Café unter den Arkaden, die Stammkneipe der Alemannen, entwischt.
Der Aufruhr steigert sich, als plötzlich die Gräfin erscheint. Sie war ins Polizeigebäude gefahren, hatte dann, allen Warnungen zum Trotz, den Wagen heimgeschickt und sich tollkühn in die leidenschaftlich erregten Volksmassen gemischt; sie traut sich die magische Kraft zu, den Aufruhr durch ihr bloßes Erscheinen zu beschwichtigen. Sie hat den Mut einer Tierbändigerin, die in die Arena hinabsteigt, um mit dem bloßen Blick die wilde Bestie niederzuzwingen, bis sie schmeichelnd ihre Füße leckt. Aber der erwachte Löwe schüttelt die Mähne; diesmal will er nicht die Fußspitzen auf seinem Nacken dulden, gereizt erhebt er ein dumpfes Geheul und will auf sie stürzen – jeden Augenblick kann das Furchtbare geschehn, das Widerwärtigste: eine Frau von der Volkswut angefallen, durch die Gosse geschleift, wie eine zertretene Blume ... Ein gellender Schrei von ihren Lippen – die Gewalttat geschieht – – da wirft sich ein Offizier mit blanker Waffe dazwischen, von den Arkaden her rücken Polizeisoldaten an, die Menge hat ihm den Säbel entrissen – er wird verhaftet, der Waffenrock zerrissen, aus einer Stirnwunde blutend, bleich, die Degradation vor Augen: Leutnant Nußbaum ...
Die Gräfin hat sich inzwischen in die Theatinerkirche flüchten können, der Kirchendiener wirft die Tür vor der nachstürmenden Menge ins Schloß – ein Ausruf des Schreckens entfährt ihren Lippen, sie starrt mit entsetzten Augen in die frommlächelnde Maske mit den satanischen Zügen: der geheimnisvolle Fremde steht vor ihr, dieser furchtbare Geist, der sie verfolgt, unerbittlich wie das Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt. War er erschienen, den Schlag zu rächen: »Jesuiten dürfen nicht länger als drei Tage ...« – den Schlag, den sie gegen die gefürchtete und verhaßte Maske geführt und der in die Luft ging, ins Nichts? Von einer leisen Ohnmacht umschattet, vernimmt sie die Worte des Unheimlichen:
»Verstehen Sie endlich den Wink der Vorsehung? Die Kirche will Sie in Schutz nehmen – –«
Gendarmen geleiten die Gräfin in die gegenüberliegende Residenz.
»Tugendritter!« spottet der Janhagel über die Wache.
Gegen Abend erreicht sie die Wohnung unter dem Schutz der Polizeisoldaten.
Sie ist auf dem Punkt, wo sie und ihr Minister es dem König überlassen müssen, das Spiel weiterzuführen und den Gegnern Schach zu bieten, wofern es nicht zu spät ist. Sie selbst sind mit ihrer Kunst vorderhand zu Ende.
*
Der König führt nun einen entscheidenden Schlag.
Die Bedrohung und Mißhandlung seines Lieblings haben ihn schwer gereizt; er ist heftig erzürnt über diese Art, »sittliche Entrüstung« zu demonstrieren, und greift zu einer Maßregel, die er schon in den dreißiger Jahren nach den Christnachtunruhen mit Erfolg angewendet hat. Noch am selben Tag verbreitet sich das Gerücht von einer außerordentlichen Maßregel. Die Plätze und Straßen um die Residenz herum sind durch Infanterie und Kürassiere abgesperrt, die beiden Eingänge der Barerstraße sind militärisch besetzt, das Palais der Gräfin erhält verstärkte Wache: die Stadt gleicht einem Kriegslager. In den übrigen Straßen mehren sich unruhige, drohende Pöbelhaufen; Rufe nach der Republik werden laut: die Studentenbewegung ist allmählich in eine Volksbewegung übergegangen, es sind alle Zeichen für einen ausbrechenden Bürgerkrieg da.
Aufregend wird die Sache am nächsten Tag, Donnerstag, den 10. Februar.
Nur mit äußerster Mühe gelingt es dem Rektor, einen blutigen Zusammenstoß der Studentenschaft mit den Kürassierabteilungen vor der Universität zu verhüten, indem er den Kommandierenden zum Abzug bewegt und die Ruhe der Studenten verbürgt.
Die vereinigten fünf Korps, Franken, Schwaben, Pfälzer, Bayern und Isaren, sind in corpore anmarschiert, eine Abordnung überreicht dem Rektor eine Beschwerdeschrift, darin die Burschenschafter unter Darlegung der letzten Ereignisse die Auflösung der Alemannia verlangen und erklären, daß sie lieber die Aufhebung der eigenen Korps sehen wollten, ehe sie neben jener Verbindung weiterbestehen würden. Das Schriftstück an den Rektor ist bestimmt, dem Kultus- und Unterrichtsminister Fürst Wallerstein und durch diesen dem König zur Entscheidung und Schlichtung des Streits vorgelegt zu werden.
Aber der König hat bereits entschieden. Seine Tat war rasch. Als die Studentenschaft um neun Uhr morgens in der Universität erscheint, findet sie am schwarzen Brett den Anschlag: daß nach königlicher Verfügung die Universität bis zum nächsten Oktober geschlossen sei und jene Studenten, die nicht in München domiziliert sind, die Stadt binnen vierundzwanzig Stunden, längstens übermorgen, Freitags zwölf Uhr mittags zu verlassen haben.
»Es ist nur eingetreten, was Sie bei unbefangener Erwägung selbst als unvermeidlich zu erwarten gehabt haben,« sagte der tiefbewegte Rektor seinen Studenten, »und so ist denn die schwere Stunde der Trennung gekommen. Vergelten Sie durch ruhige Ergebung in das Unvermeidliche die Teilnahme, die Liebe, die wir Ihnen zum Schluß noch bezeugen, und leben Sie wohl!«
Als sich die Studentenschaft von ihrer ersten Bestürzung erholt hatte, erhob sich laut die allgemeine Klage, daß Hunderte von Hörern für den Augenblick nicht die Mittel der Reise aufbrächten, die sie binnen vierundzwanzig Stunden antreten sollen.
»Gleichwohl müssen Sie,« erklärte der Rektor, »ohne weiteres zur festgesetzten Stunde abreisen, und muß es sein, so suchen Sie selbst als Bettler den Weg in die Heimat. Sagen Sie überall, Sie seien arme Studenten aus München, die man aus der Stadt gewiesen hat aus Gründen, die Sie vor aller Welt aussprechen dürfen. Sagen Sie das überall, und jedes Herz, jede Hand wird sich Ihnen öffnen, jede Hütte wird Sie als Gastfreund an ihrem Herd empfangen, Sie von ihrer Armut speisen und getröstet weitersenden.« Bei diesen Worten rannen dem alten Mann Tränen über die Wangen, von schmerzlichem Gefühl überwältigt, vermochte er nicht weiterzureden.
Die frische Jugend nahm die Sache von der fröhlichen Seite und sang: »Gaudeamus igitur ...« Dann zogen sie in geschlossenen Reihen vor das Kultus- und Unterrichtsministerium, um auch dem Fürsten Wallerstein zum Abschied ein Ständchen zu bringen.
Hell schmetterte der Gesang: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte ...« Ein ungeheurer Volkshaufen ist hinterher, so wälzt sich der Heerwurm durch die Straßen.
Noch einmal singend am Hause des »Vaters Thiersch« vorbei in der Karlstraße. Menschen an allen Fenstern, gerührte Herzen, nasse Blicke, ein Schwenken von bunten Mützen, manches »Lebewohl« von oben, Tränen aus weiblichen Augen, verweinte Tüchlein wehend in zarter Hand, die lieben Thierschtöchter, und unten Wolfram, blind gegen das nahe Glück, den heißen Haß im verdursteten Herzen ...
Bei der Michaelskirche bricht Gendarmerie zu Pferd und zu Fuß hervor und dringt unter dem Befehl des Hauptmanns Anton v. Baur-Breitenfeld mit gefälltem Bajonett auf die Massen, Studenten und Volk, ein. Der Hauptmann zählt zu den Freunden der Gräfin v. Landsfeld; er mochte den in seiner Art harmlosen und heiteren Studentenaufzug für einen gefährlichen Aufruhr gehalten haben. Aber der Aufruhr beginnt jetzt erst, von Polizei, Gendarmerie und Militär künstlich, mit Bajonetten ... Der Haß des Volkes und der Studenten kehrt sich jetzt gegen den Hauptmann, der Straßenkampf entbrennt, Wolfram stürzt als erster getroffen nieder ...
*
Um ein Uhr versammeln sich gegen zweitausend Bürger im alten Rathaussaal, Tausende von anderen stehen Kopf an Kopf vor dem Rathaus auf dem Schrannenplatz (Marienplatz). Stürmisch verlangt der Volkswille: Absetzung des Hauptmanns v. Baur, Entfernung der Gräfin v. Landsfeld, Wiedereröffnung der Universität.
Wie üppig schoß plötzlich die Wunderblume des Altruismus aus dem dumpfen Krämergrund empor! Die verwundbarste Stelle der Spießerseele war getroffen, der Geldbeutel. Anderthalbtausend Studenten, was das bedeutet an Miet- und Kostverabreichung, von den Geschäftsleuten gar nicht zu reden! Ein Betrag von mindestens sechzigtausend Gulden im Monat wurde in der Eile ausgerechnet, und das sollte die Stadt durch die Schließung der Universität verlieren! Um des klingenden Interesses willen entdeckte jeder Pfisterer und Pfefferstößler ein Herz für Kunst und Wissenschaft. Eine Adresse wird in Eile verfaßt, der Biedersinn drapiert sich mit Mut, Ehre und Hochherzigkeit, indem er klagt, daß »die jungen Männer aus den gewohnten Kreisen ihres schönen Berufes müßiger Tatenlosigkeit in die Arme geschleudert würden ...«, plätschert ein wenig in den ungewohnten Höhen des Idealismus herum, kehrt aber rasch in die praktische Wirklichkeit zurück, wo der Erdenbürger festen Boden unter sich spürt; er beweist den materiellen Schaden, der den Hunderten von Familien des Königreichs und insbesondere der Residenz München erwachsen würde, was denn auch der eigentliche Inhalt der von Idealismus aufgedunsenen Phrasen ist.
Eine Deputation unter Führung des Bürgermeisters Dr. Steinsdorf sollte dem König die Adresse überbringen und auf Antwort warten.
Vor dem Königsbau auf dem Max Josephplatz will die Bürgerschaft der Entschließung des Königs harren. Auf die vorherige Anmeldung zur Audienz wird der Bescheid, daß der König nicht in der Residenz sei. Gleichzeitig geht die Nachricht um, daß die Studenten beschlossen hätten, sich dem königlichen Willen nicht zu unterwerfen und in der Stadt zu verbleiben.
Inzwischen hatte sich der hohe Magistrat in die Staatstracht geworfen und fuhr im feierlichen Aufzug zur Residenz ab, die Adresse zu überreichen. In langen Reihen, sittsam zu zwei und zwei, folgten die Bürger und nahmen auf dem Max Josephplatz in einem Umkreis von Kürassieren und Infanteristen Aufstellung, lautlos und folgsam wie ein Zug von Konfirmanden.
»Lieber würde ich das Leben lassen, ehe ich mein Wort zurücknehme,« erklärte der König kategorisch der Deputation. Aber ein Blick auf den Max Josephplatz stimmt ihn nachgebiger, und in sänftiglicherem Ton bemerkt er: es habe einer solchen Massenabordnung vor sein Haus nicht bedurft, abtrotzen werde er sich nichts lassen; die Bürger möchten nur ruhig wieder abziehen, er wolle erst nach gründlicher Erwägung mit seinem Kronrat Entscheidung treffen; die allerhöchste Entschließung werde dann sofort ans Rathaus bekannt gegeben werden.
Also zog die Bürgerschaft wieder zu zwei und zwei in schöner Ordnung zum Rathaus zurück und wartete auf die allerhöchste Entschließung.
Es wurde Abend; das lange Warten macht müde und ungeduldig, ein Geschimpfe erhebt sich und erleichtert das Gemüt. Endlich erscheint Staatsminister von Berks und verkündet, daß der König allergnädigst bewilligt hätte: die Universität dürfe im zweiten Semester, also nach Ostern wieder eröffnet werden. Die königliche Antwort, die er verliest, lautet: »Jetzt, da die Bürger sich ruhig zurückbegeben haben, ist es mein Vorhaben, daß, statt erst mit dem Wintersemester, bereits mit dem Sommersemester die Universität wieder eröffnet werde, wenn bis dahin Münchens Einwohner sich zu meiner Zufriedenheit benehmen. Das Wohl der Bürger liegt mir am Herzen, das bewies ich seit mehr denn zweiundzwanzig Jahren. Ludwig.«
Das Erscheinen des mißliebigen Ministers, der nun schon einmal der allgemeinen Erregung als Prügelknabe dient, seine Erklärung, die trotz des Zugeständnisses nicht die volle Erfüllung der Wünsche bringt – alles wirkt zusammen, die Unzufriedenheit neuerdings zu entfesseln. Der Minister bekommt unangenehme Dinge zu hören, er muß sich eine schimpfliche Behandlung gefallen lassen und schließlich froh sein, heiler Haut davon zu kommen. Die Bürger gehen mit der Verabredung nach Hause, daß sie am nächsten Morgen um acht Uhr wieder vor dem Rathaus erscheinen wollen.
Ernstliche Unruhen brachen nachts aus. Ein Volkshaufen hatte sich mit ausgebrochenen Pflastersteinen und Latten von den Gartenzäunen des Karolinenplatzes bewaffnet und drang in die Barerstraße vor. Die Gendarmerie wehrte den wütenden Angriff ab. Dann zog der Haufen vor das Polizeigebäude, um dort Vergeltung wegen der Attacke des Hauptmanns Baur vom Vormittag zu üben. Die ausfallende Gendarmerie wurde mit Steinen bombardiert und zurückgetrieben. Die Bürger setzten sich in den Betten auf und lauschten halb schadenfroh, halb angsterfüllt auf den Schlachtruf, der durch die Nacht gröhlte:
»Pereat Lola!«
*
Zitterte die Hand, die sonst so fest und selbstbewußt zugriff? Einem unsicheren Spieler gleich, der unschlüssig zögert, seinen Angriff bereut, Zug um Zug zurücknimmt und am Verlieren ist, so widerrief am nächsten Morgen der König die Entschlüsse, die kurz vorher noch unerschütterlich schienen.
»Lieber wollt' ich das Leben lassen ...«
Das bedeutete: die Universität ist bis nächstes Wintersemester geschlossen! Es bleibt beim Entschluß vom 9. Februar.
Am 10. Februar abends lautete es schon viel weniger kategorisch: die Universität werde schon mit dem Sommersemester wieder eröffnet werden.
Und an diesem Morgen, den 11. Februar gestattet die königliche Huld, daß die Universität sofort wieder eröffnet werde.
War die Position nicht mehr zu retten? Was bedeutete dieses Schwanken und Zurückziehen? Hatte der Gegner die Übermacht? Der drang ungestüm vor:
» Schach der Dame!«
Um 8 Uhr morgens hatten sich die Bürger vor dem Rathaus wieder versammelt, eine Abordnung begab sich neuerdings zum König; dichte Scharen umlagerten die Residenz, entschlossen, nicht zu weichen, bis ihre Wünsche erfüllt werden.
Nun drängten von allen Seiten die Bürger an und setzten dem König zu, sämtliche Minister und Räte, die um ihn waren, die Mitglieder der königlichen Familie, die Abgeordneten des Magistrats unter Führung ihres Bürgermeisters: alle beschworen ihn, indem sie die Lage als unhaltbar schilderten.
Schach der Dame!
Noch blieb der König standhaft.
Da trat sein Ratgeber, der Staatsminister v. Berks, ganz dicht an ihn heran und flüsterte:
»Majestät, die Krone wankt; opfern Sie die Dame und alles ist gewonnen: die Autorität des königlichen Machtwillens, die Festigkeit des Throns, das Ansehen der Majestätsrechte. Bringen Sie das Opfer freiwillig – es gibt sonst keinen Ausweg. Was vermögen wir wenigen Getreuen gegen ein Rudel reißender Wölfe? Entwaffnen Sie dieses Volk durch Ihre Großmut – die Wölfe werden augenblicklich in eine Herde Lämmer verwandelt sein!«
Die wogende Menge in den Straßen machte die Begleitmusik zu diesen Worten; in dem Brausen ertönten einzelne Rufe wie der Geierschrei vor dem Gewitter:
»Pereat Lola!«
Ein plötzlicher Schmerz klüftete das Antlitz des Königs, das Haupt sank vornüber, der Axthieb hatte den Widerstand gebrochen.
Mit zitternder Hand warf er ein paar Zeilen hin, die Gräfin möge sich angesichts der drohenden Gefahren für die nächste Zeit aus München entfernen.
Einem Matt auszuweichen, hatte der König die Dame geopfert.
Mit dem Brief in der Hand winkte der nach Popularität haschende Minister, der der Reihe nach um Frauengunst, Königsgunst und Volksgunst buhlte, der Menge zu:
»Euere Sache steht gut!«
Brausende Hochrufe der festgestauten Masse.
An der Tür des Audienzsaales hatte schon Graf Arco-Valley mit gierigen Blicken gelauert:
Der Minister an ihm vorbei, indem er zurückrief:
»Achtung, daß Sie nicht mitstürzen!«
Und in rasender Fahrt hinaus zur Gräfin. Zuerst Berks, hinter ihm her der Graf Arco.
*
In der Barerstraße hatten sich bereits am Morgen aufregende Vorgänge abgespielt.
Zwar war die Straßenseite des Palais militärisch bewacht; aber die Infanterie stand ruhig Gewehr bei Fuß und ließ es geschehen, daß durch die Nachbarhäuser der Pöbel von rückwärts gegen den Garten anstürmte.
Wie eine gereizte Löwin sprang die Gräfin der Horde entgegen, bis vor zu dem Bassin, wo das reißende Rudel über die Mauer gesprungen war und ihr geifernd ein hundertfaches Pereat entgegenfletschte.
»Wollt Ihr mein Leben, da nehmt es!«
War es die unwiderstehliche Kraft der Raserei und der Verzweiflung, diese Magie des Gorgonenhauptes, die den Haufen erstarren machte? Der Pöbel hielt inne wie einst in der Theresienstraße, als sein lechzendes Fletschen sich in jenes blöde Lächeln verwandelte, mit dem er zu ihren Fenstern hinaufstierte und dann Zuckerwerk aus ihrer Hand fraß. Dieser grausame, gewalttätige, feige Haufen, der schmeichlerisch demütig Wohltaten und Almosen heischte und schließlich wie eine heimtückische Bestie die Tatze zum Schlag erhoben hatte! Scheu wich er zurück und suchte den Rückzug wieder über die Gartenmauer – ein Weib konnte ihn in die Flucht schlagen, wenn es die rechte Entschlossenheit besaß.
Unterdessen hat sich der vornehmere Pöbel, der von der Wache unbehelligt durch den vorderen Eingang kam, ihres Salons bemächtigt. Die Schmeichler und Schmarotzer sind es, die sich an ihrem Tisch gemästet hatten, die Meyerhofers, Metzgers und Genossen, die es gewittert haben, daß der Stern im Sinken ist. Den Hut auf dem Kopf, die Zigarre im Mund, stiefeln sie frech in den Zimmern umher, werfen achtlos um, was sie berühren, hier eine Vase, dort einen Stuhl, lassen sich in den Überkleidern auf die schwellenden Damastkissen fallen und reißen gemeine Witze, wobei sie der Gräfin den Rauch ins Gesicht blasen und ihre Aufforderung, das Haus zu verlassen, mit Wiehern und Grunzen beantworten. Sie geben sich zwanglos und benehmen sich wie die übermütigen Freier Penelopes. Sie ahnen es, daß Odysseus nicht wiederkehrt. An seiner Stelle tritt Berks in den Kreis der Edlen.
Sie blickt mit abwesenden Augen hilflos umher und will die Hand des Ministers fassen – zum erstenmal bedarf sie seiner Stütze.
Der Minister weicht zurück.
Ein blauer Blitz ihrer Augen, als sie den Brief des Königs gelesen:
»Das haben Sie getan!«
Berks schweigt.
»Was fürchtet man? Haben wir nicht Kanonen, haben wir nicht Bajonette?«
Ein Gelächter von den Sofas und Polsterstühlen her, wo die Herren mit den schmutzigen Stiefeln auf den seidenen Stoffen wohlig lagern.
»Sieh da, mein Täubchen, Kanonen und Bajonette – um Alkovengeheimnisse zu schützen!«
»Berks, wollte ich nicht einst gehen, freiwillig gehen, und bat mich der König nicht, daß ich bleiben sollte? Ich bleibe an der Seite meines Königs und weiche vor dem Pöbel nicht, eher ließe ich mich in Stücke zerreißen! Habt ihr nicht gesehen, wie die grimmige Hyäne, die meinen Garten stürmte, zurückprallte, als sie sah – wie viel Mut, wie viel mehr Mut ein Weib besitzt, als all ihr Kecken und Verwegenen, die ihr da frech herumlümmelt, mit dem Munde habt! Ihr habt den König belogen, ihr habt ihn überrumpelt und eingeschüchtert; es ist nicht sein Wille, daß ich gehe, es ist nicht sein Wille!«
»Es ist der Wille des Volkes,« sagte der Minister mit feierlicher Haltung, indessen die anderen stumm glotzend den Straßenschmutz wieder von den seidenen Möbeln wischten und da und dort eine gestürzte Vase oder einen umgeworfenen Sessel aufrichteten. Auch die Zigarre legten sie still weg und nahmen den Hut ab, den sie säuberlich auf einen Stuhl legten.
»Feiger Verräter!« Sie schlug ein grelles, häßliches Lachen an. »Haben Sie den Willen des Volkes befragt, als Sie Minister wurden? Hat Sie das Volk ernannt? Die Königsmaitresse hat Sie ernannt! Die Königsmaitresse gibt Ihnen den verdienten Tritt!«
Schweigend ertrug er den Schimpf.
»Haben Sie noch nicht gelernt, wie man stehen und wie man fallen muß, wenn der Pöbel rebelliert?«
Und indem sie höhnisch den Kreis der Erbärmlichen musterte und dazwischen ihr hysterisches Lachen hatte, das sie krampfartig anfiel:
»Wie ihr plötzlich Mut bekamt – ihr Feiglinge! Wie ihr Mut zeigt – dem Pöbel nachzugeben! Mut – ein Weib mit Gewalt aus der Stadt zu jagen! Zittert, verkriecht euch – ich werde bleiben! Denken Sie an mich, Berks, wenn Ihre Stunde kommt!«
Graf Arco-Valley stürmte zur Tür herein:
»Kein Aufschub, Gräfin! Das Volk plündert! Der Wagen steht bereit, Sie sind verloren!«
Halb mit Gewalt wurde sie in den Wagen gehoben; Polizeidiener rissen die Tore auf, nachdem sie einen Weg durch die Menge gebahnt hatten. Berks warf den Wagenschlag zu mit den Abschiedsworten: »Ins Jagdschloß Blutenburg – erwarten Sie dort die Weisungen des Königs!« Und ehe der Volkshaufen wußte, was geschehen, sauste das Gefährt dahin.
In einem zweiten Wagen Graf Arco-Valley hinterher, um sich von der Flucht zu überzeugen. Ein dritter Wagen mit verhängten Fenstern hatte sich angeschlossen.
Unterwegs gab die Gräfin dem Kutscher die Weisung, nach der Residenz zu fahren; der Wagen raste sinnlos die Ludwigstraße hinab, dem englischen Garten zu, machte dann kehrt und versuchte von rückwärts in die Residenz zu gelangen, umsonst! Alle Zufahrten waren besetzt, Volk, Militär, kein Eindringen möglich. In wahnsinniger Fahrt ging's durch die engen Gassen und Gäßlein, ohne Unglück, jedes Hindernis überwältigend – ein kühner Kutscher, den die Angst trieb, die Angst vor den nachstürmenden Massen – durch das Gewirr hinter dem Hofbräuhaus, durch die Herrenstraße nach dem Isartor, vom Isartor nach dem Sendlingertor, hinaus auf die Sendlingerstraße – ins offene Land. Lärm und Verfolgung blieben zurück. Der Graf Arco kehrte um, als er durch den Augenschein überzeugt war, daß die »Landeskalamität« wirklich aus der Residenz vertrieben war. Fünftausend Gulden spendete er in seiner Freude über die Erlösung von dem Alp an die Armen Münchens, worauf ihm der König, erbittert über den Jubel, der seinen Schmerz tiefer ätzte, den Zutritt bei Hofe verbot ... Die Sphinx war gestürzt, ihn hatte sie zunächst mitgerissen –
*
Um 11 Uhr vormittags konnten die Minister den versammelten Bürgern verkünden, daß alles bewilligt sei. Der König ließ dem Volk sagen, daß die Gräfin den Auftrag erhalten habe, die Stadt zu verlassen, und daß er zur sofortigen Wiedereröffnung der Universität die Erlaubnis erteilt habe.
Niemand ist mehr zwischen König und Volk.
Unendlicher Jubel, stürmische Ovationen und Adressen, eine Überschwenglichkeit der Freude, ebenso groß, als die an sich geringfügigen Vorfälle zu wichtigen Haupt- und Staatsaktionen emporgeschraubt worden waren. Huldigungszug der Studenten, beim Anmarsch der Burschenschafter trat die Hauptwache der Residenz unter das Gewehr, alle Zeichen der Achtung und Anerkennung wurden der Universitätsjugend zuteil, die eigentlich das Beispiel der Widersetzlichkeit und Auflehnung gegen den Souverän gegeben hatte. Und Reden wurden gehalten, daß Leuten mit grauen Haaren die hellen Tränen über die Wangen liefen ...
»Sie haben dem König und Vaterlande gezeigt,« sagte Thiersch in einer Ansprache an die Studenten, »daß nicht unruhige Gelüste, daß nicht anarchische Bestrebungen Sie beherrschen, sondern daß Sie gesucht haben, Ehrenhaftigkeit und Sitte unter sich zu wahren, unter deren Schirm allein Ordnung und Gesetz gedeihen können. Noch eine Kunde habe ich dieser Freudenbotschaft beizufügen. Während ich zu Ihnen spreche, werden sämtlichen Mitgliedern einer Ihnen wohlbekannten und sehr mißliebigen Gesellschaft auf der Polizei Pässe zur Reise nach Leipzig ausgestellt.«
Von Satz zu Satz steigert sich der Jubel, und als er den Höhepunkt erreicht, führt ihn der Rektor zu einem heiteren Ziel, indem er seine Zuhörer auffordert:
»Seien wir aber großmütig, meine Herren, und wünschen wir den Abziehenden eine glückliche Reise!«
Zum Schluß aber die Mahnung: »Zeigen Sie nun, meine teueren Freunde, in der Freude dieselbe Mäßigung, die Sie im Schmerz so männlich bewahrt haben! Keine störende Erinnerung mehr an die schlimme Vergangenheit! Keine Trübung der heiteren Sonne, die wieder über uns leuchtet! Alle Gefühle und Bestrebungen müssen sich in dem Enthusiasmus für Ehrenhaftigkeit, für Ordnung und Sitte, für das öffentliche Wohl, für das Vaterland, für den König vereinigen, dem für seine wiederkehrende Huld hiermit der erste Gruß unseres Dankes gesagt werde!«
»Quatsch!« brummt der respektlose Weinschöppel, der sich den ganzen Rummel mit angehört hat. »Wiederkehrende Huld? Alles Quatsch!« Und zu seinem Nachbar gewendet: » Furcht war's, nicht Huld! Ist doch bekannt genug, wie barsch und willkürlich der König gegen alle Gehorchenden verfährt und wie windelweich er wird, sobald er auf entschiedenen Widerstand oder auf einen unbeugsamen Willen stößt. Wir haben's oft genug erlebt. Wenn er sich nicht fürchtet, sagte einer aus seiner Umgebung, ist mit dem Mann nicht auszukommen – – Die Furcht hat ihn wieder gepackt, drum hat er schnell alles zugestanden! Er war doch eigentlich im Recht! Was ging sein Verhältnis die Leute an? Und was die sauberen Herren Studenten betrifft, da bleibt mir lieber vom Leib! Die lieben Herren Musensöhne, waren die vielleicht berechtigt, der edlen Dame Lola die Fenster einzuwerfen? Waren sie berechtigt, den König zu zwingen, die edle Dame auszuweisen? Als ob wir keine größeren Sorgen und Beschwerden hätten! Bin kein Anhänger einer Weltgeschichte im Unterrock, nein, meine Herren, aber diese Weltgeschichte in Pantalons sieht mir auch nicht viel besser aus. Adje, meine Herren, hab' in meiner Wirtschaft zu tun!«
*
Da wird dem König die Kunde gebracht, daß der Pöbel in der Barerstraße nach der Abfahrt der Gräfin vor ihrem Palais tobe und mit der Demolierung beginne.
Schon sind die Tore erbrochen, die Fenster zertrümmert, der Wintergarten ist verwüstet, als der König erscheint. Allein, inmitten einer rohen, aufgeregten, zerstörungslustigen Menge. Seine Aufforderung, man möge sein Eigentum in Frieden lassen, wird sofort befolgt. Im Nu hat sich der Pöbel verkrochen. So groß ist noch jene »abergläubische Ehrfucht«, über die die Radikalen vergebens spotten.
In dem leeren Hause geht der König umher. Wandert von Zimmer zu Zimmer. Atmet noch einmal die Luft, die von feinen Wohlgerüchen duftet und geladen ist mit der magnetischen Ausstrahlung und Wärme der Geliebten. Sie ist unsichtbar da, fast körperhaft ist ihre unsichtbare Anwesenheit zu spüren, wie in einem Hause des Todes der Verstorbene noch immer auf eine geheimnisvolle Weise da ist. Nun ist es um die Haltung des Königs geschehen; seine Starrheit löst sich in krampfhaften Wogen – er liegt halb am Boden, das Gesicht in den gelben seidenen Kissen, die kurz vorher der schmutzige Stiefel eines der »Kavaliere« geschändet hatte, vergraben, stoßweise schluchzend, ein hilfloser, armer, gebrochener Mensch, der seinen Schmerz in das Polster hineinweint ...
Ein Vivat in allen Straßen. Schreie der Begeisterung über den König, der dem Volk zuliebe sein eigenes Herz besiegt hat ...
Aufrecht verläßt er das Haus, niemand sieht ihm die Seelenerschütterung an, der er eben erlegen ist, die Tränen, die er geweint hat.
»Heil unserm König, Heil!« fängt das Volk auf der Straße zu singen an, als es ihn erblickt. In einer plötzlichen Eingebung singt es die Nationalhymne in der Freude über die Erlösung des Königs aus den Banden eines Dämons.
Ohne Gruß und Dank schreitet er durch das spalierbildende Volk, empört über die verletzende Handlungsweise der Menge, die ein wahres Dankfest zu Ehren des Sieges feiert, den sie über ihn errungen hat ...
*
Gegen Abend erreichte die Gräfin auf Umwegen das königliche Jagdschloß Blutenburg. Elias von Vilseck ist in dem einsamen, verödeten Jagdschloß erschienen – sie umarmt ihren Liebling im ersten Freudensturm des Wiedersehens: »Du Einziger von den abtrünnigen Freunden, der die Treue gehalten hat ...«
Sie blickt in dem Saal um. Schlechte Fresken mit Jagdbildern und olympischen Szenen: Aktäon, der Jäger, der zur Strafe, weil er die keusche Göttin Artemis im Bade belauscht hatte, in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. Dann: die verlassene Ariadne auf dem öden Gestade von Naxos vergeblich nach dem Sohne Cytherens rufend. Getreuer als er, wiederholt nur das Echo ihr Angstgeschrei, vermischt mit Tränen und Gewissensbissen ...
Es sind schreckliche Bilder, sie machen furchtsam und abergläubisch, man könnte an ihre schlechte Bedeutung glauben.
Der Krondomänenpächter und sein Weib im Hause unten sind gute, sorgsame Leute; trotzdem, die Gräfin will nicht bleiben. Was soll sie hier? Befehle erwarten? Mein Gott, Befehle! Sie, die selbst zu befehlen weiß. War es nicht töricht, sich von München fortlocken zu lassen?
»Man hat den König belogen! Verloren? Was ist verloren? Nichts ist verloren! Es ist wohl möglich, daß die Leute verloren sind, die sich die ›Stützen des Throns‹ nennen, und die den König in Angst versetzten, weil sie längst selbst den Kopf verloren hatten! Wäre ich in seiner Nähe geblieben, der König hätte nicht die geringste Unruhe gezeigt! Er hätte dem Volke nicht nachgegeben!«
Sie will nach München zurück, zum König. Noch ist alles wiederzugewinnen. Nur wer das Spiel aufgibt, verliert. Elias, der Anker in der Not, soll sie nach München zurückführen, noch in dieser Nacht.
Aber mit Elias ist eine Wandlung vor sich gegangen. Der Knabe ist plötzlich wieder erwacht, in einem Augenblick der Selbstbesinnung erkennt er die Lebensziele wieder, die er vom väterlichen Turm aus erblickt hatte einst, und nach denen er wandern wollte. Aber alles war anders gekommen. Und nun merkt er, daß er in die Irre gegangen war, von einem schönen Trugbild gelockt. Er möchte in Tränen ausbrechen, weinen über sich und sein Mißgeschick; nun droht er sich zu entleiben, er könne die Schande nicht überleben.
»Ich getraue mich ja gar nicht mehr den Menschen unter die Augen zu treten ... Ich war so jung und unerfahren ... warum hast du mir das angetan?«
Der letzte der Freunde fiel von ihr ab, für dessen Verwandte sie gesorgt und den sie am meisten von allen ihren Kostgängern geliebt, beschenkt und verhätschelt hatte, damit ihm »die Freude zu den Studien, zur Sittlichkeit und Humanität« nicht verkümmert werde.
Sie sieht seine unmännliche Schwäche und Verzagtheit und wird hart:
»Geh, Feigling!«
»Ich habe ja nicht gewußt,« schreit der Knabe, »daß du eine Dirne bist, eine Dirne, eine Dirne!«
Im dunklen Flur rennt er fast eine dunkle unkenntliche Gestalt um, die vor der Tür lauert. Am Waldrand steht ein Wagen mit zugezogenen Vorhängen an den Fenstern. Er achtet es nicht und stürmt in der Dämmerung fort. Der Abend lindert mit kühler Hand die Hitze seiner Schläfen und Wangen.
Ein Mensch mit verbundenem Arm umschleicht das Schloß. Fieberig brennen seine Augen in der Dunkelheit wie die Lichter eines Wolfes.
Sie kennen sich und rufen sich an.
»Wolfram!«
»Elias!«
Ein Dritter kommt angeschlichen, ziemlich herabgekommen von Aussehen, und gesellt sich zu den beiden – ein aus dem Range der Halbgötter gestürzter Paris – der ehemalige Leutnant Nußbaum.
Schweigend gehen sie nebeneinander her, stadtwärts. Einer schämt sich vor dem anderen, daß sie sich hier treffen.
Die Gedanken fangen schließlich von selber zu reden an.
»Das Glück war mit dir, Elias, mich hat es verstoßen,« flüstert Wolfram.
»Glück?« keucht der andere, »mein Leben ist so viel wert, daß ich es hinwerfen könnte, da!«
Wolfram horcht auf. Das Elend des Freundes macht ihn wieder um so größer und reiner, je tiefer ihn dessen Glück früher gedrückt hat.
»So redest du, der Glückliche?«
»Der Elendeste bin ich!« klagt sich Elias an. »Ich habe gehandelt wie der Schlechteste unter ihren verräterischen Freunden ... Vielleicht war es Feigheit, aber ich konnte nicht anders. Ich habe ihr geflucht, obgleich ich ihr danken sollte, und muß sie hassen, obgleich ich sie lieben muß; ich habe sie treulos verlassen, obgleich ich Treue schuldig bin, und ich bin geflohen, mich zu retten, obgleich ich mich erst jetzt verloren habe. Das große Leben, Wolfram, ich verstehe es nicht, es war stärker als ich ...«
»Lebt wohl, ihr beide,« sagt der dritte von den Unglücksgefährten, die dem großen Leben unterlegen waren, »morgen geht es dahin! Habe mich dem preußischen Heere verdingt, meinen verlorenen Leutnant wiederzuerlangen und das Leben von vorn anzufangen, besser vielleicht, wenn Gott will ...«
Er taumelt abseits durch die Gassen der Stadt. Wenige Wochen darauf war er auf den Düppeler Schanzen im Deutsch-Dänischen Kriege gefallen.
»Das Leben von vorn anfangen ...« Gott hat es so gewollt.
»Leb wohl, Wolfram! Auch ich gehe, fort in die Welt; mich leidet's hier nicht mehr. Wir wollen in Freundschaft einander gedenken.«
»Leb wohl, Elias!«
»Das Leben von vorn anfangen, besser vielleicht ...« Jedem geht das Wort nach.
Nach Amerika ging der eine, heim nach Dinkelsbühl der andere. Das große Leben und die großen Wissenschaften! Wie geht das Dasein in der Heimat so friedlich und still! Zuweilen kommt Kunde aus der weiten Welt. Elias ist Freiwilliger der Unionsarmee! Elias ist zum Oberst vorgerückt! Elias ist in den Bürgerkriegen eines ehrenvollen Todes gestorben! Wie frech lärmen die Spatzen in den Kirschbäumen! Wolfram hängt neue Nistkästen an die Stangen. Und lauscht auf das alte Starenlied, so Jahr um Jahr. Die große Sehnsucht singt mit ...
*
Die Wände des öden Schlosses spiegeln das Schicksal der Gräfin – sie ist allein wie die verlassene Ariadne auf dem trostlosen Gestade ... Diese häßlichen Bilder an den feuchten Wänden, die moderige Luft, diese Angst ...
Die Tür steht halb offen, leise Schritte werden hörbar ... ist es Elias, der reumütig zurückkehrt?
Die dunkle Erscheinung im Flur, an der Elias vorübergerannt ist, klopft; langsam und weit tut sich die Tür auf –
»Ah!« ein fürchterlicher Schrei von den Lippen der Gräfin, als sähe sie ein Phantom –
Der geheimnisvolle Fremde steht auf der Schwelle.
»Fürchten Sie nichts,« sagt er mit leise dringender Stimme, »ich bin bei Ihnen!«
Sie streckt die Hände von sich:
»Fort, fort!«
»Gräfin, ich liebe Sie ...«
»Diener der Kirche ...!«
»Ihre Seele,« verbessert er sich, »die Kirche liebt Sie und will Ihre Seele retten ...!«
Sie schüttelt sich:
Ueberall hinausgetrieben,
Ueberall davongejagt,
Ist mir kein Asyl geblieben,
Nirgends mehr, Gott sei's geklagt!
Bayern, das aus Nacht und Pfütze
Ich zum Spaß ein wenig hob,
Bayern, meine letzte Stütze,
Warf hinaus mich bayrisch grob.
Ach! wohin die Schritte wenden?
Nach Italien? in die Schweiz?
Zahlt man dort mit vollen Händen
Meiner Frechheit eignen Reiz?
Kriechen dort wohl auch Minister,
Staatsbeamter, Offizier,
Alemanne und Philister, –
Kriechen sie dort auch vor mir?
Find' ich dort wohl auch Gensdarmen,
Mich zu schützen stets bereit?
Sticht man dort auch ohn' Erbarmen
Auf das Volk, das tobt und schreit?
Ach! gar viel hab' ich verloren,
Was nicht zu ersetzen ist,
Selbst den Titel »Hochgeboren«
Raubt man mir zu dieser Frist.
Flüchtig muß durch's Land ich ziehen,
Flüchtig, sag' ich, vogelfrei,
Selbst verlästert und verschrieen
Von der hohen Polizei.
Hätt' ich nicht in guten Zeiten
Geld in Sicherheit gebracht,
Noth und Hunger müßt' ich leiden
Durch das Volk bei Wind und Nacht.
Ich, die eines Königs Lieder
Für das schönste Weib erkannt,
Die geschmückt die schlanken Glieder
Mit Rubin und Diamant;
Schlage jetzt das Aug' zu Boden,
Daß mich nicht verräth die Gluth,
Denn am liebsten bei den Todten
Sähe mich des Volkes Wuth.
Ich gesteh's, ich lieb' das Laster,
Was die Welt so Laster nennt,
Schwelge gern und rauche Knaster,
Wollust ist mein Element;
Sollt' ich etwa besser scheinen,
Als ich dennoch wirklich bin?
Darum wirft man mich mit Steinen,
Hat zu tödten mich im Sinn?
Mir ist's recht, ich bin geborgen,
Und geborgen ist mein Geld,
Eine Zukunft ohne Sorgen
Beut mir jetzt die ganze Welt;
Ich verlor durch's Straßenpflaster
Nur vom Haupt den gold'nen Reif, –
Für das ungeschminkte Laster
Ist die Welt jetzt noch nicht reif.
Münchener Spottgedicht auf Lola Montez aus dem Jahre 1848.