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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Es hat sich schon mehr als einmal zugetragen, daß wir des Krieges Erwähnung getan, der damals wegen der Nachfolge in den Staaten des Herzogs Vincenzo Gonzaga, des zweiten dieses Namens, entbrannt war; aber es hat sich dies immer in Augenblicken großer Eile zugetragen, so daß wir noch nie mehr als eine flüchtige Andeutung davon haben geben können. Jetzt indessen erfordert das Verständnis unserer Erzählung schon eine umständlichere Nachricht. Es sind zwar Dinge, die ein jeder wissen muß, der etwas von Geschichte weiß; insofern wir aber, in gerechter Würdigung unserer selbst, annehmen müssen, daß dieses Werk nur von Unwissenden gelesen werden könnte, so wird es nicht uneben sein, wenn wir denjenigen, der es nötig hätte, oberflächlich damit bekanntmachen.

Wir haben gesagt, daß nach dem Tode jenes Herzogs der nächste zur Erbfolge berufene, Carlo Gonzaga, das Haupt eines jüngeren nach Frankreich, wo er die Herzogtümer Revers und Rhetel besaß, verpflanzten Zweiges, den Besitz von Mantua, und wir fügen jetzt hinzu von Monferrato, angetreten hatte, denn eben unserer Eile zufolge hatte wir dies in der Feder zurückgelassen. Die spanische Regierung, die unter jeder Bedingung – wir haben auch dies gesagt – von diesen beiden Lehen den neuen Fürsten ausschließen wollte, und eines Rechtes bedurfte, um ihn auszuschließen – weil ohne ein Recht geführte Kriege ungerechte sein würden –, hatte sich zur Beschützerin dessen erklärt, das auf Mantua ein anderer Gonzaga, Ferrante, Fürst von Guastalla; auf Monferrato, Karl Emanuel I., Herzog von Savoyen, und Margarete Gonzaga, verwitwete Herzogin von Lothringen, zu haben behaupteten.

Don Gonzalo, der aus dem Geschlechte des großen Feldherrn war und dessen Namen trug, und der schon den Krieg in Flandern geführt hatte und außerordentlich gern einen in Italien geführt hätte, schürte das Feuer vielleicht zu allermeist an, damit dieser unternommen würde, und indem er unterdessen die Absichten der vorgenannten Regierung sich auslegte und ihren Befehlen zuvorkam, hatte er mit dem Herzog von Savoyen einen Angriffs- und Teilungsvertrag wegen Monferrato abgeschlossen; die Bestätigung desselben hatte er vom Grafen-Herzoge unschwer dadurch erhalten, daß er ihm die Eroberung von Casale, welches der festeste Punkt des dem König von Spanien ausbedungenen Anteils war, als eine leichte Sache vorgespiegelt hatte. Er beteuerte jedoch, in dessen Namen kein Dorf anders als bloß zur Verwahrung besetzen zu wollen, bis daß der Spruch des Kaisers gefällt wäre, der mittlerweile teils auf die Einflüsterungen anderer, teils aus seinen eigenen Beweggründen die Belehnung dem neuen Herzog verweigert und ihm geboten hatte, die streitigen Lande ihm zur Beschlagsverwaltung einzuräumen; er werde sie danächst nach Anhörung der Parteien demjenigen übergeben, dem sie von Rechts wegen zuständen. Hierin nun hatte eben der Revers sich nicht fügen wollen.

Er hatte gleichfalls Freunde von Gewicht, den Kardinal Richelieu, die Herren von Venedig und den Papst. Aber der erstere, dem damals die Belagerung von Rochelle und ein Krieg mit England zu schaffen machte, und die Partei der Königin-Mutter, Maria von Medici, hinderlich fiel, die aus gewissen Gründen dem Hause von Revers entgegen war, konnte nichts als Hoffnungen geben. Die Venezianer wollten nicht eher aufbrechen, ja nicht einmal eher sich erklären, als bis ein französisches Heer nach Italien herabgestiegen wäre, und indem sie dem Herzog unter der Hand behilflich waren so gut sie konnten, standen sie mit dem Hofe zu Madrid und mit dem Statthalter von Mailand auf dem Fuße der Erklärungen, Anträge, friedfertiger, oder je wie es der Augenblick mit sich brachte, drohender Verhandlungen. Urban VIII. empfahl den Revers seinen Freunden an, verwendete sich für ihn bei seinen Gegnern, entwarf Vergleiche; Truppen ins Feld zu stellen, davon wollte er nichts hören.

Also konnten die beiden zum Angriffe Verbündeten um so zuversichtlicher die verabredete Unternehmung beginnen. Karl Emanuel war seinerseits in das Montferrato eingerückt; Don Gonzalo hatte Casale mit vielem Eifer eingeschlossen, fand aber davon nicht all den guten Erfolg, den er sich versprochen hatte, denn man muß nicht glauben, daß man im Kriege immer in einem Rosengarten wandelt. Der Hof half ihm bei weitem nicht mit allem aus, was er verlangte; der Verbündete half ihm nur allzuviel, ich will sagen, er schickte sich an, nachdem er seinen Anteil hinweggenommen hatte, auch den dem König von Spanien vorbehaltenen zu besetzen. Hierüber geriet Don Gonzalo in so hohen Zorn, wie es sich gar nicht sagen läßt; obwohl er ein Auge zudrücken, seinen Ärger verbeißen und eine gute Miene machen mußte, weil er fürchtete, daß, wenn er nur ein klein wenig laut werde, jener ebenso in Unterhandlungen gewandte und in Bündnissen wankelmütige als im Kriege tapfere Herzog sich Frankreich zuwenden möchte. Mit der Belagerung ging es auch nicht vonstatten, sie zog sich in die Länge, ging mitunter rückwärts, teils um der sicheren, klugen, entschlossenen Haltung der Belagerten willen, teils weil er wenig Truppen hatte, und, der Aussage einiger Geschichtschreiber nach, weil er viele Böcke schoß, worüber wir die Wahrheit dahingestellt sein lassen und geneigt sind, wenn sich die Sache wirklich so verhielte, sie für etwas ganz Vortreffliches zu halten, insofern sie verursachte, daß bei dieser Unternehmung einige Menschen weniger getötet, verstümmelt und zu Krüppeln wurden, und caeteris paribus, doch auch die Ziegel von Casale etwas weniger Schaden erlitten. In diesen Drangsalen ging ihm nun noch die Nachricht von der Empörung in Mailand zu, deretwegen er persönlich dorthin eilte.

Hier geschah denn auch in dem Berichte, den man davon erstattete, der aufrührerischen und zum Ärgernis gewordenen Flucht Renzos, der wahren und angeblichen Tatsachen Erwähnung, die seine Verhaftnahme veranlaßt hatten, und man wußte ihm desgleichen zu sagen, daß dieser Mensch sich in das Bergamaskische geflüchtet habe. Dieser Umstand fesselte Don Gonzalos Aufmerksamkeit. Er war von ganz anderer Seite her unterrichtet, wie hoch erfreut man in Venedig über den Aufstand in Mailand gewesen sei; wie man anfänglich dort geglaubt habe, er werde dadurch gezwungen werden, das Lager von Casale aufzuheben, und wie man dort noch immer dafür halte, er sei deshalb sehr niedergeschlagen und bedenklich, und dies um so mehr, als gleich nach jenem Vorfalle die von den Herren ersehnte und von ihm gefürchtete Nachricht von der Übergabe von La Rochelle eingetroffen war. Und insofern er nun als Mensch und Staatsmann gehörig mißvergnügt war, daß die Herren eine solche Vorstellung von seinen Taten hätten, so erspähte er jede Gelegenheit, ihnen ihren Irrtum zu benehmen und sie folgerecht zu überzeugen, daß seine alte Keckheit durchaus keinen Abbruch erlitten habe; denn wenn man geradezu sagt, ich fürchte mich nicht, so ist dies so viel als nichts gesagt. Ein gutes Hilfsmittel war, den Beleidigten zu spielen, Klage zu führen, sich zu beschweren, und als darum der Resident von Venedig ihn zu begrüßen kam und zugleich in seinem Gesicht wie in seinem Betragen nachzuforschen, wie es mit ihm stände – man achte auf alles, denn das ist Politik von der alten, feinen Art –, so brachte Don Gonzalo, nachdem er des Aufruhrs nur leichthin und gleich wie jemand gedacht hatte, der schon allem abgeholfen, auch Renzos Angelegenheit, so wie sie uns bekannt, denen ebenfalls bekannt ist, was daraus erfolgte, zur Sprache. Hernach bekümmerte er sich nicht weiter um eine so geringfügige und für ihn abgemachte Sache, und als ihm eine geraume Zeit darauf die Antwort in das Lager vor Casale zukam, wohin er zurückgekehrt war, und wo ihm ganz andere Dinge im Sinn lagen, hob er den Kopf empor und bewegte ihn hin und her wie ein Seidenwurm, der das Blatt sucht; er hielt sich einen Augenblick damit auf, um sich die Sache wieder lebendig ins Gedächtnis zurückzurufen, von der ihm nur noch ein Schatten verblieben war, erinnerte sich ihrer, hatte eine flüchtige und verworrene Vorstellung von der Person, kam auf etwas anderes und dachte nicht mehr daran.

Renzo aber, der nach dem wenigen, was er so dunkel davon wahrgenommen, auf etwas ganz anderes als auf eine so gnädige Nichtbeachtung schließen mußte, kannte eine geraume Weile keinen anderen Gedanken und kein anderes Bestreben als das, verborgen zu leben. Man denke sich, ob er Verlangen trug, den Frauen von sich Nachricht zu geben und dagegen von ihnen welche zu erhalten; aber dies hatte zwei große Schwierigkeiten. Die eine, daß auch er würde nötig gehabt haben, sich einem Schreiber anzuvertrauen, weil der Arme nicht schreiben und im ausgedehnteren Sinne des Wortes auch nicht lesen konnte, und wenn er darum, wie man sich vielleicht noch erinnert, von dem Doktor Notverhelfer befragt, mit Ja geantwortet hatte, so war dies keineswegs eine Prahlerei, geflunkert, wie man sagt; sondern es war die Wahrheit, daß er Gedrucktes, wenn er sich ein wenig Zeit nahm, lesen konnte; mit Geschriebenem war es ein ander Ding. Er mußte also sein Wohl und Wehe, ein so verfängliches Geheimnis, einem dritten anvertrauen, und einen Mann, der die Feder zu führen wußte, und auf den man sich verlassen konnte, fand man in jener Zeit und besonders nicht in einem Dorfe so leicht vor, wo man durchaus keine alten Bekanntschaften hatte. Die andere Schwierigkeit war, einen Boten aufzutreiben, einen Mann, der gerade in jene Gegend ginge, der sich mit dem Briefe beschweren und in der Tat die Sorge auf sich nehmen wollte ihn zu bestellen, lauter Dinge, die schwer bei einem Menschen anzutreffen waren.

Nach vielem Suchen und Aushorchen fand er endlich jemand, der für ihn schrieb. Aber da er nicht wußte, ob die Frauen noch in Monza wären oder wo sonst, so fand er für gut, den an Agnes gerichteten Brief mit einem an den Pater Cristoforo überschriebenen Umschlag und auch mit zwei Zeilen für jenen zu versehen. Der Schreiber übernahm zugleich den Auftrag, das Briefpäckchen zu besorgen; er übergab es jemand, der unweit Pescarenico vorüber mußte; dieser ließ es mit vielen Empfehlungen in einem Wirtshause am Wege auf dem nächsten Punkte; weil der Brief für ein Kloster bestimmt war, gelangte er auch an Ort und Stelle; was dann aber ferner daraus geworden ist, hat man niemals erfahren.

Da Renzo keine Antwort erhielt, so ließ er einen anderen Brief zu Papier bringen, der ziemlich ebenso wie der erste lautete und ihn einem anderen an einen Bekannten oder Verwandten von ihm in Lecco beischließen. Man suchte einen anderen Briefträger, fand ihn auf, und diesmal erreichte der Brief seine Bestimmung. Agnes trabte nach Magginaico, ließ ihn sich von jenem Alessio, ihrem Vetter, lesen und erklären; besprach mit ihm eine Antwort, die er niederschrieb; fand Mittel und Wege, ihn Antonio Rivolta an seinen Wohnort zuzusenden; alles dies jedoch nicht so geschwind, als wir es erzählen. Renzo erhielt die Antwort und schickte mit der Zeit die Gegenantwort ab. Kurz, es richtete sich zwischen beiden Seiten ein zwar weder lebhafter noch regelmäßiger, aber doch mit Sprüngen und in Zwischenräumen fortgesetzter Briefwechsel ein.

Um jedoch eine Vorstellung von dem Briefwechsel zu haben, muß man ein wenig wissen, wie es damals mit dergleichen Dingen herging, ja noch hergeht, denn in diesen Verhältnissen, glaube ich, wird sich nachgerade wenig oder nichts verändert haben.

Der Landmann, der nicht schreiben kann und notwendig etwas zu schreiben hat, wendet sich an einen, der sich auf diese Kunst versteht und den er, so gut es sich tun läßt, unter Leuten seines Standes auswählt, weil er sich vor anderen schämt oder ihnen wenig traut; er unterrichtet ihn mit mehr oder weniger Ordnung und Deutlichkeit von den Vorgängen, und setzt ihm in derselben Weise die aufzuschreibenden Gedanken auseinander. Der Gelehrte versteht ihn teilweise, teilweise mißversteht er ihn, gibt einen und den anderen Rat, schlägt die und jene Veränderung vor, spricht: laß mich machen, ergreift die Feder, übersetzt den ihm überlieferten Gedanken so gut es geht aus dem Mündlichen ins Schriftliche, berichtigt ihn auf seine Weise, verbessert ihn, verstärkt den Ausdruck oder mildert ihn, läßt auch wohl weg, je nachdem es ihm der Sache gemäßer zu sein scheint; denn es ist nun einmal nicht anders: wer davon etwas mehr als andere weiß, will kein blindes Werkzeug in ihren Händen sein und will, sobald er sich auf fremde Angelegenheiten einläßt, sie auch auf seine Weise handhaben. Bei alledem will es dem vorgenannten Gelehrten nicht immer gelingen, alles das zu sagen, was er möchte; zuweilen trägt es sich zu, daß er etwas ganz anderes sagt, was ja doch auch wohl uns, die wir für den Druck schreiben, widerfährt. Wenn nun der so abgefaßte Brief in die Hände dessen gelangt, für den er bestimmt ist, und der gleichfalls nicht recht Bescheid mit dem ABC weiß, so trägt ihn der einem anderen Sachkundigen desselben Schlages zu, der ihn ihm vorliest und erklärt. Es entstehen Zweifel über die Art, wie er zu verstehen sei, denn der Beteiligte stützt sich auf seine Kenntnis der Vorgänge und behauptet darum, gewisse Worte wollten das und das besagen; der Leser gründet auf seine Vertrautheit mit dem Schriftausdruck die Behauptung, daß sie ein anderes besagen wollten. Am Ende muß der Unwissende sich in die Hände des Wissenden geben und ihm die Besorgung der Antwort überlassen, die da, ganz so wie die erste Zuschrift angefertigt, demnächst einer ähnlichen Erklärung unterliegt. Wenn dann überdies der Gegenstand des Briefwechsels einigermaßen kitzlich ist, wofern Heimlichkeiten verhandelt werden, die man einem dritten nicht preisgeben möchte, für den Fall, daß der Brief fehlginge, wenn man aus dieser Rücksicht sogar mit der ausdrücklichen Absicht zu Werke schreitet, die Sachen nicht ganz klar zu machen; alsdann kommt es mit den Parteien, wie kurz auch der Briefwechsel dauere, dahin, daß sie sich so untereinander verstehen, wie ehemals wohl ein paar Scholastiker, die stundenlang über die werktätige Kraft gestritten hätten, um nicht von gegenwärtig bestehenden Dingen Gleichnisse herzuleiten, so daß wir gar hinterdrein etwa noch Kopfnüsse davontrügen.

Mit unseren beiden Briefwechslern fand denn nun genau der Fall statt, von dem wir gesprochen haben. Der erste in Renzos Namen geschriebene Brief enthielt vielerlei. Vorerst, außer einer Schilderung der Flucht, die zwar wohl bündiger, aber auch noch verworrener abgefaßt, als wir sie gegeben haben, einen Bericht von seinen gegenwärtigen Umständen, woraus Agnes ebensoweit als ihr Dolmetsch entfernt war, einen klaren, vollständigen Begriff von diesen zu entnehmen, heimliche Weisung, Namensveränderung, man sei in Sicherheit, müsse aber verborgen bleiben; Dinge, mit denen schon an und für sich ihr Verstand nicht sehr vertraut war, und die gar im Briefe noch ein wenig geheimnisvoll erwähnt wurden. Alsdann gab es darin bekümmerte, leidenschaftliche Fragen nach Luciens Schicksal, nebst dunklen, schmerzlichen Andeutungen der Gerüchte, die darüber bis zu Renzo gedrungen waren. Und endlich enthielt er ungewisse und entfernte Hoffnungen, auf die Zukunft gerichtete Pläne, und mittlerweile Versprechungen und Bitten, die angelobte Treue zu halten, weder Geduld noch Mut zu verlieren, Zeit zu erwarten.

Nicht lange hierauf fand Agnes eine sichere Gelegenheit, in Renzos Hände eine Antwort mit den fünfzig ihm von Lucia zugedachten Scudi gelangen zu lassen. Beim Anblicke so vielen Goldes wußte er nicht, was er denken sollte, und, im Innern von einer Verwunderung und von einer Ungewißheit bewegt, die keiner Freude gestatteten, aufzukommen, suchte er eilig seinen Schreiber auf, um sich den Brief erklären zu lassen und den Schlüssel zu einem so seltsamen Geheimnis zu erlangen.

In dem Briefe schilderte Agnes' Schreiber, nach einigen Klagen über die geringe Deutlichkeit der Zuschrift in wenigstens ebenso undeutlichen Ausdrücken die entsetzliche Geschichte jener Person – so sagte er –, und hier gab er Auskunft über die fünfzig Scudi; sodann kam er, aber mittels Umschreibungen, auf das Gelübde zu sprechen und fügte mit klaren und erläuternden Worten den Rat hinzu, das Herz zufrieden zu geben und nicht mehr daran zu denken.

Es fehlte wenig, so wäre Renzo dem verdolmetschenden Leser in die Haare geraten, er erzitterte, entsetzte sich, geriet über das, was er verstanden hatte und über das, was er nicht hatte verstehen können, in Wut. Drei-, viermal ließ er sich die schmerzliche Stelle wieder lesen, indem er bald besser verstand, bald ihm das, was ihm anfänglich klar geschienen hatte, dunkel ward. Und in diesem Fieber der Leidenschaften wollte er, daß der Schreiber gleich die Feder zur Hand nähme und antwortete. Nach den stärksten Ausdrücken des Mitleids und Entsetzens über Luciens Schicksal, die man sich vorstellen kann, fuhr er fort ihm in die Feder zu sagen: »Schreibt, daß ich mein Herz nicht zufrieden geben will und nimmer zufrieden geben werde, und daß das kein Rat ist, wie man ihn einem Menschen, wie ich bin, gibt, und daß ich das Geld nicht anrühren werde, daß ich es hinlege und zur Aussteuer des Mädchens aufbewahre; daß das Mädchen mein werden muß, und daß ich von keinem Gelübde was weiß; daß ich wohl immer habe sagen hören, die Madonna mache die Vermittlerin, um Bedrängten Hilfe zu leisten und Gnaden zu erlangen, aber um etwa Verdruß zu stiften und wortbrüchig zu machen, nimmermehr, und daß das nicht so werden kann, und daß wir das Geld dazu haben, uns hier einzurichten, und daß, wenn wir jetzt ein wenig in der Klemme stecken, das ein Unglück ist, das bald vorübergeht.« Und dergleichen mehr.

Agnes erhielt darauf diesen Brief und ließ wieder schreiben, und so nahm der Briefwechsel seinen Fortgang auf die Art, wie wir gesagt haben.

Als die Mutter Lucia, ich weiß nicht durch welche Gelegenheit, hatte zu wissen tun können, Renzo sei gesund und wohlbehalten und benachrichtigt, so fühlte diese darob eine große Erleichterung und wünschte nichts mehr, als daß er sie vergäße, oder, um es richtiger auszudrücken wie es war, daß er daran dächte, sie zu vergessen. Sie ihrerseits faßte hundertmal des Tages einen ähnlichen Entschluß in bezug auf ihn, und bot auch jedes Hilfsmittel auf, ihn ins Werk zu setzen. Sie war unermüdlich bei ihrer Arbeit, strebte, ihr ganzes Gemüt darauf zu richten; stellte sich ihr Renzos Bild vor, so begann sie innerlich Gebete herzusagen oder abzusingen. Aber dies Bild, recht als ob es voller Arglist gewesen wäre, überkam sie meistenteils nicht so offen, es schob sich verstohlen hinter anderen drein, so daß das Gemüt erst, nachdem es eine Zeitlang darin verweilt hatte, sich seines Vorhandenseins versah. Luciens Gedanken waren oft bei ihrer Mutter; wie hätten sie auch nicht dort sein sollen? und da gesellte sich denn Renzo in ihrer Einbildung ganz leise als ein drittes dazu, wie der wirkliche sooft getan hatte. So aber drängte er sich mit allen Personen, an allen Orten und Enden, bei allen Erinnerungen der Vergangenheit ein. Und wenn die arme Kleine zuweilen darauf verfiel, in dem Dunkel ihrer Zukunft umherzusinnen, so erschien er desgleichen hier, um wenn auch nur zu sagen: »Ich werde doch immer darin vorkommen.« Wiewohl es indessen ein verzweifeltes Unterfangen war, nicht an ihn zu denken, so gelang es Lucia doch, bis zu einem gewissen Grade dies weniger und nicht mehr so anhaltend zu tun, als das Herz gewünscht haben möchte. Es würde ihr noch besser gelungen sein, wenn sie es allein gewünscht hätte. Aber da war Donna Prassede, die, ihrerseits ganz erpicht darauf, den Menschen aus ihrem Herzen zu reißen, kein besseres Mittel dazu aufgefunden hatte, als von ihm oft mit ihr zu sprechen.

»Nun,« sagte sie dann wohl zu ihr, »wie ist es? Denken wir noch an den?«

»Ich denke an niemand,« versetzte Lucia.

Donna Prassede ließ sich eine solche Antwort nicht genügen, erwiderte, es bedürfe der Taten und nicht der Worte, ließ sich über die Art der jungen Mädchen aus, die da, sagte sie, wenn ihr Herz einmal an einem Bruder Liederlich hängt – und zu so was haben sie einen recht eigentlichen Hang –, gar nicht mehr von ihm ablassen wollen. Denn gesetzt, daß etwa durch irgendein Mißgeschick eine ehrbare, vernünftige Partie mit einem braven, ordentlichen Manne sich zerschlägt, gleich ergeben sie sich darin; aber so ein Erztaugenichts schlägt ihnen eine unheilbare Wunde.

Und nun hob sie die Lobrede des armen Abwesenden an, des Schuftes, der nach Mailand gekommen, um da zu morden und zu plündern, und wollte Lucia die Schurkereien eingestehen machen, die er auch in seinem Dorfe begangen habe.

Mit einer Stimme, die vor Scham, Schmerz und Entrüstung erbebte, soweit sie nur in ihrem sanften Gemüte und niedrigen Stande Raum finden konnten, beteuerte und bezeugte Lucia, daß man in ihrem Dorfe dem Ärmsten niemals etwas anderes als Gutes nachgesagt habe; sie wünschte nur, es wäre irgend jemand von dort zugegen, damit sie sein Zeugnis anrufen könnte. Auch wegen der Mailänder Abenteuer, denen sie doch nicht auf den Grund gehen konnte, verteidigte sie ihn eben mit der genauen Kenntnis, die sie von ihm und seiner Aufführung von Kindheit auf gehabt hatte. Sie verteidigte ihn oder war willens, ihn aus purer Christenpflicht, aus Liebe zur Wahrheit, und um denn die eigentliche Formel herauszusagen, mit der sie ihr Gefühl vor sich selbst rechtfertigte, als ihren Nächsten zu verteidigen. Aber aus diesen Schutzreden zog Donna Prassede neue Beweisgründe, um Lucia zu überzeugen, daß sie noch immer in ihn verliebt sei. Und in Wahrheit wüßte ich nicht recht zu sagen, wie es sich damit in solchen Augenblicken verhielt. Das unwürdige Bild, das die Alte von dem Armen entwarf, erweckte, aus Widerspruch, lebendiger und bestimmter als je, in dem Herzen des Mädchens die Vorstellung, die darin durch einen so langen Umgang sich gebildet hatte; die gewaltsam unterdrückten Erinnerungen tauchten in Menge wieder auf; der Widerwille und die Verachtung riefen so viele alte Beweggründe zu Achtung und Mitgefühl zurück; der blinde und wilde Haß hob das Mitleid desto stärker hervor, und wer weiß denn, wieviel unter diesen Seelenregungen von jener anderen sein mochte, die sich hinter ihnen drein so leicht in die Gemüter einschleicht; ja stellen wir uns gar einmal vor, was dieselbe da erst bewirken mag, wo man sie gewaltsam auszutreiben sucht. Wie dem indessen auch sei, so würde von Luciens Seite das Gespräch sich doch nie sehr in die Länge gezogen haben, denn alsbald lösten ihre Worte sich in Tränen auf.

Wenn etwa Donna Prassede von einem eingewurzelten Hasse gegen ihn bewogen worden wäre, sie so zu behandeln, so hätten jene Tränen sie vielleicht besiegt und zum Schweigen gebracht; aber da sie für einen guten Endzweck eiferte, so ging sie immer darauf los, ohne sich rühren zu lassen, gleichwie Wehklagen und flehentliches Geschrei wohl der Waffe eines Feindes, aber nicht dem Stahle eines Wundarztes Einhalt tun könnten. Nachdem sie jedoch jedesmal ihre Schuldigkeit wohl getan, ging sie vom Tadeln und Verweisen aufs Ermahnen und Anraten über, das sie nebenbei auch mit einigem Lobe versetzte, um so das Herbe durch das Süße zu mildern und ihre Absicht desto besser zu erreichen, indem sie in jeder Weise auf das Gemüt einwirkte. Ganz gewiß blieb von diesen Wortgefechten – deren Anfang, Mitte und Ende ungefähr immer die nämlichen waren – in der guten Lucia eigentlich kein Groll gegen die bittere Sittenpredigerin zurück, die im übrigen doch ganz menschenfreundlich mit ihr umging und eben auch hierin eine gute Absicht zu erkennen gab. Es verblieb ihr aber doch eine solche Wallung und Aufregung der Gedanken und Gefühle, daß sie nicht wenig Zeit und viele Mühe bedurfte, um wieder zu der Art von Ruhe von vordem zu gelangen.

Ein Glück für sie, daß sie nicht die einzige war, der Donna Prassede wohlzutun hatte; so daß der Zänkereien nicht allzu viele werden konnten. Außer der übrigen Familie, lauter Köpfen, denen es mehr oder weniger not tat, zurechtgewiesen und angeleitet zu werden, außer allen sonstigen Gelegenheiten, die sich ihr darboten oder die sie ausfindig zu machen wußte, vielen, denen sie weiter nicht verpflichtet war, den nämlichen Dienst aus gutem Herzen zu erweisen, hatte sie auch fünf Töchter, keine zwar im Hause, die ihr aber doch viel mehr zu sorgen gaben, als wenn sie dagewesen wären. Drei waren Nonnen, zwei verheiratet, so daß denn Donna Prassede natürlicherweise drei Klöster und zwei Haushaltungen zu beaufsichtigen hatte, ein großes und verwickeltes Unternehmen, das um so schwieriger war, als zwei Ehemänner mit dem Rückhalte von Vätern, Müttern, Brüdern, und drei Äbtissinnen, denen andere Würden und viele Nonnen zur Seite standen, ihre Oberaufsicht nicht gelten lassen wollten. Es war ein Krieg, ja, es waren fünf, bis zu einem gewissen Grade verheimlichte rücksichtsvolle, aber eifrige, rastlose Kriege; es herrschte an einem jeden dieser Orte eine beständige Achtsamkeit, ihrer Fürsorge auszuweichen, ihren Gutachten den Zugang zu versperren, ihren Nachfragen sich zu entziehen, sie bei allen Vorfällen möglichst im Dunkeln tappen zu lassen. Ich erwähne nicht des Widerstandes, der Schwierigkeiten, denen sie in der Betreibung anderer noch ungewöhnlicherer Geschäfte begegnete; man weiß ja, daß die Menschen in den meisten Fällen das Gute gewaltsam vollbringen müssen. Wo ihr Eifer aber freie Ausübung und freien Spielraum hatte, das war zu Hause; hier war männiglich in allem und allezeit ihrem Ansehen unterworfen, ausgenommen Don Ferrante, mit dem es allerdings eine ganz eigentümliche Sache war.

Als Gelehrter liebte er weder zu befehlen noch zu gehorchen. Daß in allen häuslichen Angelegenheiten seine Frau Gemahlin die Herrin wäre, mochte sein; aber er der Diener, nein. Und wenn er, dazu aufgefordert, gelegentlich mit seiner Feder diente, so geschah dies, weil er Gefallen daran fand; übrigens war er auch imstande, hierin nein zu sagen in Fällen, wo er nicht von dem überzeugt war, was sie ihn wollte schreiben lassen. »Strengen Sie Ihren Kopf an,« sagte er dann, »machen Sie es selbst, da die Sache Ihnen so klar dünkt.« Nachdem Donna Prassede eine Zeitlang umsonst versucht hatte, ihn zu bewegen, hatte sie sich darauf beschränkt, des öfteren gegen ihn zu murren, ihn einen Hans Ohnesorge, einen Eigensinn, einen Studierten zu nennen, eine Benennung, worin sich neben dem Verdruß doch auch ein wenig Wohlgefallen mischte.

Don Ferrante brachte viele Stunden in seinem Studierzimmer zu, wo er eine beträchtliche Büchersammlung, nicht viel weniger als dreihundert Bände hatte; lauter ausgesuchte Sachen, alles Werke, die zu den namhaftesten in verschiedenen Fächern des Wissens gehörten, in denen er durchweg mehr oder weniger bewandert war. In der Astrologie ward er mit vollem Rechte für mehr als einen bloßen Dilettanten gehalten; denn er hatte sich davon nicht allein die allgemeinsten Begriffe und den gewöhnlichen Wortkram von Einflüssen, von Aspekten, von Konjunktionen angeeignet, sondern wußte auch bei Gelegenheit und wie vom Katheder von den zwölf Himmelshäusern, von den Positionskreisen, von den hellen und dunklen Graden, von Aufsteigung und Abweichung, von Durchgängen und Umläufen, kurz von den bestimmtesten und geheimsten Grundzügen der Wissenschaft zu sprechen. Und es waren wohl schon zwanzig Jahre her, seitdem er in häufigen und langen Wortkämpfen die Einteilung des Himmels des Cardano gegen einen anderen gelehrten Mann verfocht, der mit Ungestüm der des Alkabetz, und zwar aus bloßer Halsstarrigkeit anhing, wie Don Ferrante sagte, der wohl gern die Überlegenheit der Alten einräumte, es jedoch nicht ausstehen konnte, wenn man den Neueren, auch wo sie offenbar recht haben, gar nichts lassen wollte. Er kannte ingleichen mehr als oberflächlich die Geschichte der Wissenschaft, wußte auf ein Haar die auffälligsten eingetroffenen Wahrsagungen anzuführen und auf eine sinnreiche und gelehrte Weise andere namhafte nicht eingetroffene Wahrsagungen zu beurteilen, um darzutun, daß nicht die Wissenschaft, sondern der sie dabei nicht anzuwenden verstanden habe, schuld daran sei.

Von der alten Philosophie hatte er so viel gelernt, als ihm hinreichen konnte, und er lernte noch fortwährend mehr im Lesen des Diogenes Laertius. Da man aber jene Systeme, wie schön sie auch sein mögen, doch nicht alle annehmen kann und man, um Philosoph zu sein, sich einen Autor auserwählen muß, hatte Don Ferrante sich den Aristoteles erkoren, der, pflegte er zu sagen, weder ein Alter noch ein Neuer ist; er ist der Philosoph schlechthin. Er besaß auch mehrere Werke der kundigsten und scharfsinnigsten Anhänger von ihm unter den Neueren; die seiner Gegner hatte er niemals weder lesen wollen, um nicht die Zeit zu verschleudern, sagte er, noch kaufen, um nicht das Geld wegzuwerfen. Nur ausnahmsweise gönnte er in seiner Bibliothek den berühmten zweiundzwanzig Büchern » De Subtilitate« und etwa noch einem und dem anderen antiperipathetischen Werke des Cardano einen Platz, um dessen Verdienste in der Astrologie willen; denn er sagte, wer die Abhandlung » De Restitutione temporum et mortuum coelestium« und das Buch » Duodecim geniturarum« habe schreiben können, der verdiene gehört zu werden, auch wenn er ungereimte Dinge vorbringe; der große Fehler dieses Mannes sei nur gewesen, daß er zuviel Verstand gehabt und niemand könne sich vorstellen, wie weit er es auch in der Philosophie gebracht haben würde, wenn er auf dem rechten Wege geblieben wäre.

Wiewohl übrigens in der Meinung der Gelehrten Don Ferrante für einen ausgemachten Peripathetiker galt, so hielt er doch dafür, daß er nicht genug davon wisse, und mehr als einmal mußte er daher mit großer Bescheidenheit eingestehen, daß die Wesenheit, das Allgemeine, die Weltseele, die Natur der Dinge nicht so klare Dinge wären, als man glauben dürfte.

Die Naturlehre hatte ihm viel mehr zu einem Zeitvertreib als zu einem Studium gedient; selbst die dahin einschlagenden Werke des Aristoteles hatte er nicht sowohl studiert als gelesen. Nichtsdestoweniger war er dadurch imstande, mit einigen Kenntnissen, die er beiläufig aus den Schriften über allgemeine Philosophie aufgelesen, mit einer flüchtigen Übersicht der Magia naturale des Porta, der drei Geschichten lapidum, animalium, plantarum des Cardano, der Abhandlung von Gräsern, Pflanzen, Tieren des Albertus Magnus, einiger anderen Werke von geringerer Bedeutung, zuzeiten eine Versammlung gebildeter Leute zu unterhalten, indem er von den wunderbarsten Kräften und seltsamsten Eigenschaften vieler Arzneikräuter sprach; indem er die Bildung und das Wesen der Sirenen und des einzigen Phönix beschrieb; indem er erklärte, wie der Salamander im Feuer verweile ohne zu verbrennen; wie der Ansauger, das kleine Fischchen, die Kraft und Geschicklichkeit besitze, jedwedes noch so große Schiff plötzlich auf offener See festzuhalten; wie die Tautropfen im Schoße der Muscheln zu Perlen werden; wie das Chamäleon von der Luft lebe; wie aus dem allmählich gehärteten Eise im Laufe von Jahrhunderten das Kristall sich bilde, und andere der staunenswürdigsten Geheimnisse der Natur.

In jene der Magie und Schwarzen Kunst war er noch tiefer eingedrungen, weil es sich hier, sagt unser Anonymus, um eine noch weit beliebtere und notwendigere Wissenschaft handelte, deren Ergebnisse nicht nur von ganz anderer Wichtigkeit sind, sondern die man auch mehr in der Hand hat, um sie bewähren zu können. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß er bei einem solchen Studium niemals eine andere Absicht gehabt hatte als die, sich zu unterrichten und die allerschlimmsten Künste der Hexenmeister kennenzulernen, um sich dagegen schützen und verteidigen zu können. Und vorzüglich unter der Anleitung des großen Martino Delrio – des Mannes der Wissenschaft – war er imstande, ex professo, von Liebe, Schlaf und Haß einflößendem Zauber und von den unzähligen Arten abzuhandeln, wie, so sagt der Anonymus wieder, diese drei Hauptgattungen von Behexungen unter den allertraurigsten Erfolgen auszuüben, leider nur allzusehr an der Tagesordnung sei.

Nicht weniger umfassend und gründlich waren seine Kenntnisse im Fache der Geschichte, besonders der allgemeinen, in der Tarcagnota, Dolce, Bugatti, Campana, Guazzo, kurz die berühmtesten seine Schriftsteller waren.

Aber was wäre denn wohl die Geschichte, sagte Don Ferrante oft, ohne die Politik? Eine Führerin, die immer zugeht, der jedoch niemand folgt, dem sie den Weg wiese, und deren Schritte also vergebens sind; gleichwie eben die Politik ohne die Geschichte jemand ist, der ohne Wegweiser wandert. Es war folglich von seinem Büchergestelle ein Brett den Statistikern angewiesen, wo, unter vielen von kleinerem Formate und zweitem Range, Bodino, Cavalcanti, Sansovino, Paruta, Boccalini hervorstachen. Zwei Bücher dieses Faches aber waren es, die Don Ferrante eine geraume Weile allen vorzog; zwei, die er bis zu einem gewissen Zeitpunkte die ersten zu nennen pflegte, ohne sich jemals entscheiden zu können, welchem von beiden ausschließlich dieser Rang gebührte; das eine » Il Principe« und » I Discorsi« des berühmten Florentiner Staatssekretärs; ein Schelm, ja, sagte Don Ferrante, aber tief; das andere, » La Ragion di Stato« des nicht minder berühmten Giovanni Botero; ein Ehrenmann, aber scharf. Aber gerade kurz vor der Zeit, in der unsere Gerichte spielt, war ein Buch herausgekommen, das die Streitfrage über den Vorzug entschied, indem es, sagte Don Ferrante, sogar den Werken dieser beiden Matadore den Rang ablief; das Buch, in dem, und gleich wie ausgesucht, alle Bosheiten, um sie zu erkennen, und alle Tugenden enthalten sind, um sie ausüben zu können; das zwar an Umfang geringe, aber goldene Buch; mit einem Worte » Lo Statista Regnante« des Don Valeriano Castiglione, dieses hochgefeierten Mannes, von dem man sagen kann, daß die größten Gelehrten wetteiferten, ihn zu preisen, und um den die vornehmsten Personen sich rissen; des Mannes, den der Papst Urban VIII., wie bekannt, mit den freigebigsten Lobsprüchen ehrte; den der Kardinal Borghese und der Vizekönig von Neapel, Don Piedro di Toledo, dringend anlagen, der erste, die Taten des Papstes Paul V., der andere, die Kriege des katholischen Königs in Italien zu beschreiben, einer wie der andere vergebens; des Mannes, den König Ludwig XIII. von Frankreich, auf Anraten des Kardinals Richelieu, zu seinem Historiographen ernannte; dem der Herzog Karl Emanuel von Savoyen dasselbe Amt erteilte; zu dessen Ruhm, anderer glorreicher Zeugnisse zu geschweigen, die Herzogin Christine, Tochter des allerchristlichsten Königs Heinrich IV., in einem Gnadenbriefe unter vielen anderen Titeln »die Vollgültigkeit des Ruhmes« mit anführen konnte, »den er als der erste Geschichtsschreiber unserer Zeiten in Italien erlangt.«

Wenn nun aber in allen den vorgenannten Wissenschaften Don Ferrante sich erfahren nennen konnte, so gab es auch eine, in der er den Ruf eines Professors verdiente und genoß, die Wissenschaft von der Ritterlichkeit. Nicht nur besprach er dieselbe mit einer wahren Kennerschaft, sondern gab auch, oftmals aufgefordert, Ehrensachen zu vermitteln, immer irgendeine Entscheidung ab. Er hatte in seiner Bibliothek, und man kann sagen in seinem Kopfe, die Werke der namhaftesten Schriftsteller über diesen Gegenstand: Paris del Pozzo, Fausto da Longiano, den Urrea, den Muzio, den Romei, den Albergato, den ersten und den zweiten Forno des Torquato Tasso, von dem er auch alle die Stellen des »Befreiten« und des »Eroberten Jerusalems«, die in Sachen des Ritterwesens zur Richtschnur dienen können, in Bereitschaft hatte und nötigenfalls auswendig herzusagen wußte. Der Autor der Autoren war jedoch, nach seinem Dafürhalten, unser berühmter Francesco Birago, mit dem er auch mehr als einmal zusammenkam, um über Ehrensachen zu urteilen, und der seinerseits von Don Ferrante in Ausdrücken vorzüglicher Achtung sprach. Und von der Zeit an, daß » I Discorsi Cavallereschi« dieses ausgezeichneten Schriftstellers erschienen, sagte er ohne Zaudern voraus, dieses Werk würde des Olevano Ansehen zugrunde richten und nebst den anderen edeln Geisteskindern dieses Autors als ein Gesetzbuch von höchster Gültigkeit den Nachkommen verbleiben; eine Weissagung, sagt der Anonymus, die sich bewährt hat, wie jedermann erkennen kann.

Von hier geht er dann zu den anmutigen Wissenschaften über; wir fangen jedoch an zu zweifeln, ob der Leser in der Tat große Lust haben möchte, in dieser Durchmusterung ihn ferner zu begleiten, ja fast zu besorgen, wohl gar schon den Titel eines gemeinen Abschreibers und langweiligen Schwätzers, in welchen letzteren wir uns mit dem vorbelobten Anonymus zu teilen hätten, uns zugezogen zu haben, weil wir ihm bis hierher so treuherzig in einer Sache gefolgt sind, die mit der eigentlichen Erzählung eigentlich nichts zu tun hat, und auf die er sich wahrscheinlicherweise nur in der Absicht so weit eingelassen, um Gelehrsamkeit auszukramen und darzutun, daß er nicht hinter seiner Zeit zurückgeblieben sei.

Indessen mag geschrieben stehen bleiben, was einmal geschrieben ist, damit wir unsere Mühe nicht verlieren, und wollen wir denn das übrige auslassen, um unsere Erzählung weiterzuführen, und zwar dies um so mehr, als wir damit eine gute Strecke werden zu durchlaufen haben, ohne irgendeinem unserer Helden zu begegnen, und eine noch größere, bevor wir diejenigen wiederfinden, an deren Erlebnissen der Leser gewiß den meisten Anteil nimmt, sofern nämlich überhaupt etwas von alledem ihm solchen einflößt.

Bis zum Herbst des nächstfolgenden Jahres 1629 verblieben alle, einer gern und willig, der andere notgedrungen, ungefähr in demselben Zustande, wie wir sie verlassen haben, ohne daß irgendeinem etwas zustieß, oder daß andere etwas vollbringen konnten, das wert gewesen wäre, erwähnt zu werden. Es kam der Herbst, in dem Agnes und Lucia darauf gerechnet hatten, wieder zusammenzukommen; aber ein großes öffentliches Ereignis machte, daß diese Rechnung nicht zutraf, und zwar war dies gewiß eine seiner geringsten Wirkungen. Es erfolgten dann andere große Ereignisse, die jedoch keine wesentliche Änderung in dem Schicksale unserer Helden herbeiführten. Endlich gelangten neue, allgemeinere, stärkere, äußerste Vorfälle auch bis zu ihnen, bis zu den Letzten von ihnen, dem Laufe der Welt gemäß; so wie ein gewaltig anstürmender Wirbelwind, der umhertobt, Bäume entwurzelt, Dächer zerstört, Turmspitzen herabreißt und die Trümmer hier- und dorthin schleudert, auch die im Grase versteckten Halme und kleinen Reiser aufwühlt, in den Winkeln die leichten, dürren Blätter aussucht, die ein minder heftiger Wind dahingetrieben hatte, und in seinen Raub sie verhüllend, sie mit sich von dannen wälzt.

Damit nun also die Privatangelegenheiten, die wir noch zu erzählen haben, klar hervortreten, müssen wir hier eine bestmögliche Erzählung der öffentlichen vorausschicken und deshalb wieder ein klein wenig zurückgehen.


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