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Vierunddreißigstes Kapitel

Was den Eintritt in die Stadt anbelangte, hatte Renzo so von weitem sagen gehört, daß der schärfste Befehl gegeben sei, niemand ohne Gesundheitspaß einzulassen; daß in der Tat aber sehr leicht hineinzukommen, wenn man sich nur ein wenig zu helfen und seine Zeit wahrzunehmen wisse. So verhielt es sich in der Tat, und auch abgesehen von den allgemeinen Gründen, aus denen zu jeder Zeit jedwedes Gebot wenig beachtet wurde; abgesehen von den besonderen, die die strenge Vollziehung des gegenwärtigen so schwierig machten, befand sich Mailand dermalen in einer solchen Lage, daß man nicht recht einsah, wem es etwas helfen sollte, wenn es behütet würde und wovor es zu behüten wäre, und wer dahin kam, der konnte viel mehr um sein eigenes Heil besorgt sein als das der Bürger zu gefährden.

Auf diese Nachrichten hin war es Renzos Absicht, bei dem ersten Tore, auf das er treffen würde, den Durchgang zu versuchen; wenn irgendein Hindernis sich zeigte, es von außen zu umgehen, bis daß er ein anderes leichter zugängliches fände. Und der Himmel weiß, wie viele Tore Mailand in seiner Einbildung haben mochte.

Unter den Mauern angelangt, blieb er hier stehen und sah umher, wie einer der nicht weiß, wohin sich zu wenden das geratenste für ihn sei, und der darum von allen und jedem irgendeine Weisung zu erwarten und zu fordern scheint. Aber zur Rechten und zur Linken erblickte er nichts als zwei Strecken einer gewundenen Straße, sich gegenüber ein Stück Mauer; nirgends ein Anzeichen einer lebendigen Seele, außer daß er an einer Stelle des Erdwalles eine dichte Säule schwarzen, dicken Rauches aufsteigen sah, der, indem er sich erhob, sich auseinanderbreitete und zu gewaltigen Ballen zusammenwälzte, in den regungslosen, aschgrauen Lüften darauf sich verlierend. Es waren Kleider, Betten und anderer angesteckter Hausrat, der verbrannt wurde, und so trübselige Freudenfeuer zündete man fortwährend nicht bloß hier, sondern auf allen Seiten der Mauer an.

Das Wetter war düster, die Luft dick, der Himmel allenthalben umwölkt oder von einem gleichförmigen, trägen, schweren Nebel umschleiert, der die Sonne zu verdunkeln schien, ohne doch Regen zu versprechen; das umliegende Land zum Teil unbestellt und ganz ausgedörrt, alles Grün erstorben und nicht ein Tropfen Tau auf den verschrumpften, hinfälligen Blättern. Dazu gesellten die Einsamkeit, die Stille einer so großen Masse von Wohnungen eine neue Bestürzung zu Renzos Unruhe und machten alle seine Gedanken desto schwermütiger.

Nachdem er eine Weile so dagestanden, wendete er sich aufs Geratewohl rechts und schritt, ohne es zu wissen, der Porta nuova zu, die er, wie nahe er ihr auch war, wegen eines Bollwerkes nicht wahrnehmen konnte, hinter dem sie dazumal verborgen lag. Nach wenigen Schritten begann Schellengeklingel, das abwechselnd aufhörte und sich wiederholte, und darauf der Klang menschlicher Stimmen sein Ohr zu treffen. Er schritt weiter vor; um die Ecke der Bastei biegend, war das erste, was er auf dem freien Platze vor dem Tore entdeckte, eine hölzerne Bude und vor derselben eine Schildwache, die sich mit einer gewissen Ermüdung und Sorglosigkeit auf ihre Muskete stützte; dahinter war ein Zaun von Pfählen und im Hintergrunde das Tor, das heißt, zwei gemauerte schmutzige Torwände mit einem Wetterdache darüber zum Schutze der Flügel, die ebenso wie auch die Pforte des Zaunes weit offen standen. Jedoch gerade vor der Öffnung stand ein trauriges Hindernis, eine auf dem Boden niedergesetzte Bahre, auf der eben zwei Monatti einen armen Mann zurechtlegten, um ihn fortzutragen, es war der Oberzöllner, an dem nun erst die Pest ausgebrochen. Renzo blieb auf dem Flecke, wo er sich befand, stehen und wartete das Ende ab. Sobald der Zug fort war und niemand erschien, um die Pforte wieder zuzuschließen, schien es ihm Zeit, und er eilte darauf los; die Wache aber schrie ihm mit böser Miene ein »Holla!« zu. Er stand sogleich still, winkte jenem verstohlen und zog einen halben Dukaten heraus, den er ihm zeigte. Dieser, der entweder schon die Pest gehabt hatte, oder sie vielleicht weniger fürchtete als er die halben Dukaten liebte, bedeutete Renzo, ihm denselben zuzuwerfen, und da er ihn sogleich sich vor die Füße fallen sah, murmelte er: »Mach geschwind durch!« Renzo ließ es sich nicht zweimal sagen; schritt durch die Umpfählung, schritt durch das Tor, lief zu, ohne daß jemand sich seiner versah oder auf ihn achtete, außer daß er, nachdem er etwa vierzig Schritt gegangen war, ein abermaliges Holla hörte, das ein Zöllner hinter ihm drein rief. Er tat, als ob er es nicht hörte, und anstatt sich umzukehren, beschleunigte er seinen Schritt. »Holla!« rief der Zöllner von neuem, wiewohl mit einer Stimme, die mehr Unwillen als Entschlossenheit verriet, sich Gehorsam zu verschaffen, und da er diesen nicht fand, so zuckte er die Achseln und kehrte in seine Bude zurück wie ein Mensch, dem mehr daran gelegen war, den Reisenden nicht allzunahe zu kommen als viel nach ihren Angelegenheiten zu fragen.

Die Straße, die man durch dieses Tor betritt, lief damals so wie jetzt bis zu dem Il Naviglio genannten Kanal geradeaus; zu beiden Seiten waren Zäune oder Mauern von Küchengärten, Kirchen und Klöster und einige wenige Häuser; am Ende dieser Straße und mitten in der, die an dem Kanal hinläuft, ragte ein Kreuz empor, das das Kreuz des heiligen Eusebius hieß. Und wieweit auch Renzo ausschauen mochte, etwas anderes als das Kreuz kam ihm nicht zu Gesicht. Zu dem Kreuzwege gelangt, der die Straße ungefähr in zwei gleiche Hälften teilt, sah er sich rechts und links um und gewahrte rechts, in der, die die große Straße der heiligen Therese heißt, einen Bürger, der eben seine Richtung ihm entgegennahm. – »Endlich eine Christenseele!« – sagte er bei sich und bog rasch in die Straße ein, willens, von diesem Nachrichten einzuziehen. Derselbe faßte den nahenden Fremden desgleichen scharf ins Auge und zwar maß er ihn, wie er aus der Ferne herschritt, um so mehr mit einem gewissen argwöhnischen Blicke, als er sich versah, daß er gerade auf ihn zukam, anstatt seines Weges zu gehen. Sobald Renzo in geringer Entfernung von ihm war, zog er, als der ehrerbietige Bergbewohner, der er war, seinen Hut ab, steckte, indem er ihn mit der Linken hielt, die andere Hand hinein und ging nunmehr schnurstracks auf den Unbekannten los. Der aber drehte sich fast ganz die Augen aus, tat einen Schritt zurück, hob einen Knotenstock in die Höhe, den er trug, und der, einem Stoßdegen ähnlich, unten eine spitze Zwinge hatte, und richtete diese unter dem Zurufe: »Fort, fort, fort!« Renzo auf den Leib.

»Oho!« rief der junge Bursche auch seinerseits und bedeckte sich, und da er, wie er nachmals sagte, indem er die Sache erzählte, nichts weniger als Lust hatte, in diesem Augenblicke einen Streit anzufangen, so drehte er dem unfreundlichen Manne den Rücken zu und wanderte seines Weges, oder besser zu sagen, des Weges weiter, den er eingeschlagen hatte.

Der zornschnaubende Bürgersmann setzte auch den seinigen fort, indem er von Zeit zu Zeit Blicke hinter sich schoß. Und wie er zu Hause angekommen war, erzählte er, daß ein Salber auf ihn zugetreten sei, mit einem sanften demütigen Wesen, mit einer verruchten Gaunermiene, die Büchse mit der Salbe oder die Düte mit dem Pulver – er war nicht recht gewiß, was von beiden – in der Hand, im Hutkopfe haltend, um ihn seinen Possen zu spielen, wenn er ihn nicht fernzuhalten gewußt hätte. »Wenn er mir noch einen Schritt näher kam,« fügte er hinzu, »so spießte ich ihn ohne weiteres auf, ehe der Schurke Zeit hatte, mich anzuschmieren. Zum Unglück waren wir nur an einem so abgelegenen Orte; denn wenn es mitten in Mailand gewesen wäre, hätte ich Leute gerufen und ihm über den Hals geschickt. Sicherlich hätten wir die heillose Sauerei bei ihm im Hute vorgefunden. So aber, Mann gegen Mann, mußte ich zufrieden sein, ihn von mir abzuhalten und durfte mich nicht etwa noch gar in einen schlimmen Handel verwickeln, denn ein wenig Pulver ist bald gestreut, und die Kerle haben darin eine besondere Geschicklichkeit und dann ja auch den Teufel auf ihrer Seite. Jetzt wird er nun in Mailand herumrennen, wer weiß, was er für Verderben anrichtet!« Und so lange er lebte, was viele Jahre waren, führte er jedesmal, wo die Rede auf Salber kam, seinen Fall an und fügte hinzu: »Wer da noch behauptet, es sei nichts daran gewesen, der muß nur mir damit nicht kommen, denn solche Dinge muß man mit angesehen haben.«

Weit entfernt, sich einzubilden, welcher Gefahr er entronnen sei, und viel mehr von Unwillen als von Furcht erregt, überdachte Renzo unterwegs diese Bewillkommnung und erriet so ziemlich, welche Meinung der Bürger von seinen Absichten gehabt haben mochte; aber die Sache kam ihm so unvernünftig vor, daß er bei sich annahm, jener müsse wohl bald wahnwitzig gewesen sein. – »Das fängt übel an,« – dachte er darum – »es ist, als ob in dem Mailand ein Unstern über mich waltete. Wenn ich hereinkomme, ist mir alles günstig, und dann, wenn ich herein bin, finde ich den Verdruß ordentlich für mich zugestutzt. Na ... mit Gottes Hilfe ... wenn ich sie ... wenn es mir nur gelingt, sie zu ... ei! so hat das ja alles nichts zu sagen.«

Bei der Brücke angekommen, wendete er sich, ohne sich zu besinnen, links und schlug den Weg ein, der die Straße San Marco genannt wird und in das Innere der Stadt führt. Und indem er so zuschritt, spähte er mit den Augen ringsumher, ob er nicht irgendein menschliches Wesen entdecken könnte; aber er sah nichts derart als einen entstellten Leichnam in dem kleinen Bache, der zwischen den wenigen Häusern – denn damals waren es noch weniger – und dem Wege eine Strecke lang hinrinnt. Als er dies Stück Weges gegangen war, vernahm er ein Geschrei, das wie ihm geltende Zurufe klang, und sobald er den Blick dahin aufschlug, von wo der Schall kam, sah er unweit auf einem Balkon eines armseligen vereinzelten Häuschens eine arme Frau mit einem Häufchen Kinder um sich her, die, immerfort rufend, ihm auch mit der Hand winkte, näher zu treten. Er lief hinzu, und als er da war, sagte die Frau: »Ach, junger Mann, habt um Eurer armen Toten willen die Barmherzigkeit und geht zu dem Kommissar und sagt ihm, daß man uns hier vergessen hat. Man hat uns als verdächtig hier im Hause abgesperrt, weil mein armer Mann gestorben ist; man hat uns die Tür zugenagelt, wie Ihr seht, und seit gestern früh ist niemand gekommen und hat uns was zu essen gebracht; seit so vielen Stunden, daß ich hier bin, habe ich nicht einen Christenmenschen finden können, der mir diesen Liebesdienst geleistet hätte, und die armen unschuldigen Kleinen kommen vor Hunger um.«

»Vor Hunger!« rief Renzo aus und fuhr mit den Händen in die Taschen. »Da, da,« sprach er und langte die zwei Brote heraus. »Laßt was herab, um sie hinaufzuziehen.«

»Gott vergelte es Euch; wartet einen Augenblick,« sagte die Frau und ging und holte ein Körbchen und eine Schnur, um es daran herunterzulassen. Renzo fielen inzwischen die Brote ein, die er bei seiner ersten Ankunft in Mailand unter dem Kreuz gefunden hatte, und er dachte: – »Siehe da, das ist ein Ersatz und vielleicht besser so, als wenn ich den Eigentümer selbst gefunden hätte, denn das ist hier wahrlich ein Werk der Barmherzigkeit.«

»Was den Kommissar anlangt, von dem Ihr sprecht, gute Frau,« sagte er darauf, die Brote in den Korb legend, »da kann ich Euch doch nicht dienen, denn, die Wahrheit zu sagen, bin ich ein Fremder und weiß an diesem Orte gar nicht Bescheid. Indessen, wenn ich jemand begegne, der ein wenig zugänglich und menschlich aussieht, mit dem sich ein Wort reden läßt, so werde ich es ihm sagen.«

Die Frau bat ihn, das zu tun und gab ihm den Namen der Straße an, damit er sie bezeichnen könnte.

»Auch Ihr,« hob Renzo wieder an, »glaube ich, könntet mir einen Dienst, eine wahre Wohltat, ohne daß es Euch beschwerlich fiele, erweisen. Wüßtet Ihr mir wohl von dem Hause einer vornehmen adeligen Herrschaft hier in Mailand, von dem ***schen Hause anzugeben, wo es liegt?«

»Ich weiß recht wohl, daß es so ein Haus hier gibt,« versetzte die Frau, »aber wo es liegt, das weiß ich gar nicht. Wenn Ihr weiter hineingeht, nach der Seite zu, werdet Ihr schon jemand finden, der Euch zurechtweist. Und denkt nur auch daran, daß Ihr von uns etwas sagt.«

»Verlaßt Euch darauf,« sagte Renzo und ging weiter.

Mit jedem Schritte hörte er ein Geräusch stärker werden und näher kommen, das schon angefangen hatte, sich ihm bemerklich zu machen, als er noch im Gespräch begriffen dastand, ein Geräusch von Rädern und Pferden, mit einem hellen Schellengeklingel, und von Zeit zu Zeit Peitschengeknall und Geschrei. Er spähte umher, sah aber nichts. An den Ausgang der krummen Straße gelangt und den Sankt-Markusplatz betretend, waren das erste, worauf sein Blick traf, zwei aufgerichtete Balken mit einem Seile und gewissen Zugwinden, und er stand nicht an – denn dies war zu jener Zeit eine alltägliche Sache –, dies abscheuliche Folterwerkzeug zu erkennen. Es war an diesem Orte und nicht an diesem allein, sondern auf allen Plätzen und in den geräumigsten Straßen angebracht, damit die Verordneten jedes Viertels, die dazu mit aller Machtvollkommenheit versehen waren, ungesäumt einen jeden foltern lassen konnten, der ihnen strafwürdig erschien, es sei entweder einen, der ein abgesperrtes Haus verlassen, oder einen öffentlichen Diener, der sich ungehorsam gegen Befehle gezeigt hatte, oder sonst irgendwen; es war eines jener maßlosen und unwirksamen Mittel, mit denen man in jenen Zeiten, besonders in jenen Augenblicken, so verschwenderisch umging.

Derweil nun Renzi dies Gerüst betrachtet und überlegt, weshalb es an diesem Orte errichtet worden sein könne, und das Geräusch sich immer mehr nähern hört, sieht er plötzlich an der Ecke der Kirche einen Mann zum Vorschein kommen, der eine kleine Glocke hin und her bewegte. Es war ein Apparitore, und hinter ihm zwei Pferde, die mit vorgestrecktem Halse und schwerfälligen Füßen sich mühsam daherschleppten, und zwar wurde von ihnen ein Leichenwagen gezogen, nach dem ein anderer und noch ein anderer und wieder ein anderer kam, und allenthalben zu den Seiten der Pferde gab es Monatti, die sie mit Peitschenhieben, mit Stößen, mit Flüchen antrieben. Die Mehrzahl der Leichname waren nackt, einige notdürftig in zerrissene Bettücher geschlagen, aufeinander gehäuft, ineinander verschlungen wie ein Bündel Schlangen, das sich in der lauen Frühlingsluft langsam auseinanderwickelt, denn bei jedem Stoße, bei jeder Erschütterung sah man die jammervollen Haufen erbeben und in scheußliche Verwirrung geraten. Köpfe herunterbaumeln, jungfräuliches Haar sich auflösen, Arme sich losmachen und auf die Räder schlagen, um dem schon entsetzten Auge darzutun, wie ein solcher Anblick noch kläglicher und ekelhafter werden könnte.

Der Jüngling hatte sich an der Ecke des Platzes verhalten, dicht am Geländer des Kanals, und betete unterdessen für diese unbekannten Toten. Ein gräßlicher Gedanke blitzte ihm durch den Sinn: – »vielleicht da dabei, da darunter ... Ach, Herr! gib, daß es nicht wahr ist! gib, daß ich nicht mehr daran denke!«

Sobald ihm das Leichenbegängnis aus dem Gesicht war, setzte er sich in Bewegung, schritt über den Platz weg und schlug, ohne einen anderen Grund zu seiner Wahl zu haben, als den, daß der Zug nach der anderen Seite gegangen, die Straße links hin, dem Kanal entlang, ein. Er legte die paar Schritte zwischen der Seite der Kirche und dem Kanal zurück und nahm dann rechter Hand die Marcellinobrücke wahr; er ging darüber und gelangte durch den schrägen Engpaß in die Straße Borgo nuovo. Und indem er sich immer zu dem Ende umsah, jemand ausfindig zu machen, den er um Auskunft ansprechen könnte, erblickte er am anderen Ausgang der Straße einen Priester im Wams, mit einem Stöckchen in der Hand, der gesenkten Hauptes, das Ohr an die Öffnung gelehnt, vor einer halb zugemachten Tür stand, und sah ihn bald danach die Hand erheben, um zu segnen. Er setzte voraus, wie es sich in der Tat verhielt, daß er soeben jemand habe beichten lassen, und sagte bei sich: – »Das ist mein Mann. Wenn ein Priester in priesterlicher Amtsverrichtung nicht ein wenig Mitleid, ein wenig Menschenliebe und Wohlwollen hat, so muß man sagen, daß auf dieser Welt nichts mehr davon anzutreffen.«

Währenddessen entfernte sich der Priester von dem Eingange und kam auf Renzo zu, sich mit großer Vorsicht inmitten der Straße haltend. Als Renzo noch vier bis fünf Schritte von ihm war, zog er seinen Hut und bedeutete ihn, daß er ihn zu sprechen wünsche, indem er zugleich stehenblieb und durch seine Gebärden zu verstehen gab, er wolle sich unbescheidenerweise nicht allzusehr nähern. Jener blieb ebenfalls stehen und bezeigte sich durch seine Haltung willig zu hören, pflanzte jedoch seinen Stab vor sich auf den Boden hin, wie um sich ein Bollwerk daraus zu machen. Renzo tat seine Frage, und der Priester beantwortete sie nicht nur damit, daß er ihm den Namen der Straße nannte, wo das Haus lag, sondern auch, daß er ihm den Weg dorthin ein wenig angab, da er sah, wie dies dem Armen nötig sei; und zwar wies er ihn mit rechts und links, mit Kreuzen und Kirchen in die anderen sieben oder acht Straßen zurecht, die er durchwandern mußte, um dorthin zu gelangen.

»Gott erhalte Sie in dieser Zeit und immerdar gesund,« sprach Renzo, und sobald jener sich anschickte weiterzugehen, fügte er hinzu: »noch eine Gunst!« und nannte ihn die arme vergessene Frau. Der redliche Priester dankte ihm, daß er ihm diese Gelegenheit gegeben habe, eine so dringende Hilfe zu bringen, und war fort, nachdem er gesagt hatte, er werde gehörigen Ortes sogleich Anzeige davon machen.

Renzo machte einen Bückling und brach dann selber auf, und im Gehen bemühte er sich, die Angabe des Weges bei sich zu wiederholen, um so wenig wie möglich in den Fall zu kommen, fragen zu müssen. Aber man kann sich nicht vorstellen, wie beschwerlich ihm dies Unternehmen ward, und zwar nicht sowohl wegen der Verwirrung, in die er dabei geraten konnte, als wegen einer neuen Unruhe, die in seiner Seele aufgekommen war. Der Name der Straße, die Vorschrift des Weges hatten ihn so in Aufruhr gebracht. Es war die Auskunft, die er gewünscht und verlangt, ohne die er nichts anfangen konnte, und es war ihm damit auch keineswegs etwas gesagt worden, das ihm hätte können Unglück ahnen, geschweige denn gar voraussehen lassen; aber was war es denn? Die etwas bestimmtere Vorstellung eines nahen Zieles, wo er aus einer großen Ungewißheit gerissen werden sollte, wo man ihm sagen konnte: sie lebt; oder: sie ist tot; diese Vorstellung war in ihm so stark geworden, daß er augenblicklich vorgezogen haben würde, noch ganz im Dunkeln herumzutappen, sich noch im Anbeginn der Reise zu befinden, deren Ziel ihm jetzt bevorstand. Er sammelte indessen seinen Mut: – ei, sagte er zu sich, – wenn ich jetzt anfange, mich kindisch zu betragen, was soll daraus entstehen? – Also wiederum bestens ermutigt, verfolgte er seinen Weg und drang tiefer in die Stadt ein.

Welche Stadt! und was war sie gar erst jetzt, wenn man bedenkt, was sie schon im vergangenen Jahre infolge der Hungersnot gewesen war!

Renzo kam zufälligerweise gerade durch einen der zumeist verwüsteten und entstellten Teile: den Kreuzweg von Straßen, den man den Carrobio der Porta nuova nannte. – Hier stand damals am Ende des Korso ein Kreuz, und mit der Aussicht darauf, neben der Stelle, wo gegenwärtig San Francesco di Paola steht, eine alte, nach der heiligen Anastasia genannte Kirche. – So arg war in dieser Gegend die Heftigkeit der Seuche und die Ansteckung der umhergestreuten Leichname gewesen, daß die wenigen Überlebenden sich genötigt gesehen hatten, wegzuziehen; und derweil nun der Blick des Vorübergehenden von der hier ersichtlichen Einsamkeit und Öde betroffen ward, fühlte sich sein Sinn von den Anzeichen und Überbleibseln der noch jüngst dagewesenen Bevölkerung auf nur allzu schmerzhafte und allzu abschreckende Weise verletzt. Renzo beschleunigte seine Schritte, ermutigte sich mit dem Gedanken, daß das Ziel noch nicht so nahe sein dürfte und hoffte, ehe er es erreichte, den Schauplatz wenigstens zum Teil verändert zu finden; und in der Tat gelangte er unfern von hier an einen Ort, der doch noch eine Stadt der Lebenden genannt werden konnte; aber bei alledem was für eine Stadt und was für Lebende! Es waren aus Furcht und Schrecken alle Türen nach der Straße zu geschlossen, ausgenommen diejenigen, die infolge von Verödung oder Einbruch offenstanden; einige von außen vernagelt und versiegelt, weil in den Häusern an der Pest Gestorbene oder Kranke lagen; andere mit einem mit Kohle gemachten Kreuze bezeichnet, damit die Monatti wüßten, es wären Leichen abzuholen: was alles vielmehr auf dem Zufall als auf etwas anderem beruhte, je nachdem sich früher hier oder dort irgendein Kommissar des Gesundheitsamtes oder ein anderer Beamter gefunden hatte, der die Verordnungen vollziehen oder eine Bedrückung hatte begehen wollen. Allenthalben Lumpen, Verbände voller Eiter, verpestetes Stroh oder zu den Fenstern herausgeworfene Kleider oder Laken; mitunter Körper, die entweder plötzlich unterwegs verschieden und dagelassen worden waren, bis ein Karren vorüberführe und sie mitnähme, oder die von den Karren selbst heruntergeglitten oder zu den Fenstern herabgeworfen worden, so sehr hatte die Hartnäckigkeit und Wut des Unglücks die Gemüter verwildert und aller frommen Sorgfalt und geselligen Rücksicht entwöhnt! Da allüberall jedes Geräusch in den Werkstätten, alles Wagengerassel, alles Ausrufen der Verkäufer, alle Gespräche Vorübergehender aufgehört, so geschah es äußerst selten, daß diese Stille des Todes von etwas anderem als von dem Getöse der Totenkarren, von dem Wehklagen von Bettlern, von dem Gewimmer der Kranken, von dem Geheul Wahnsinniger, von dem Gerufe der Monatti unterbrochen wurde. Bei Tagesanbruch, mittags, abends gab eine Glocke vom Dome das Zeichen, gewisse vom Erzbischof vorgeschlagene Gebete herzusagen; auf diesen Glockenschlag antworteten die Glocken der anderen Kirchen, und alsdann konnte man die Leute an die Fenster treten und gemeinsam beten sehen; konnte man das Geflüster von Stimmen und von Ächzen hören, das eine Traurigkeit kundtat, die doch mit einigem Trost vermischt war.

Da zu jener Zeit vielleicht zwei Dritteile der Bürger gestorben, ein guter Teil der übrigen ausgewandert oder krank war, der Zufluß von außen sich aber fast auf nichts verringert hatte, würde es wohl von ungefähr haben geschehen können, daß man von den wenigen, die umhergingen, in einem weiten Umkreise nicht einen einzigen getroffen hätte, der nicht etwas Seltsames und schon an sich Hinreichendes an sich gehabt, um eine höchst traurige Umwandlung der Dinge zu belegen. Man sah die vornehmsten Männer ohne Mantel und Kappe, den damals äußerst wesentlichen Teil jeder bürgerlichen Kleidung; die Priester ohne Reverende, die Mönche ohne Kutte; kurz jede Art von Kleidung abgelegt, die mit den Zipfeln und Enden an irgend etwas treffen – oder was mehr als alles andere gefürchtet wurde – den Salbern Vorschub leisten konnte. Und nächst dieser Sorgfalt, soviel wie möglich in hochaufgeschürzter und enganschließender Tracht zu gehen, gab eines jeden Aussehen doch auch Vernachlässigung und Unordnung zu erkennen. Wer einen Bart trug, dem war er verwildert, dem, der ihn sich zu scheren pflegte, stehengeblieben; auch das Haar auf dem Kopfe zu lang gewachsen und durcheinandergewirrt, nicht nur infolge der Sorglosigkeit, die aus einer eingewurzelten Niedergeschlagenheit entsteht, sondern weil auch die Barbiere verdächtig geworden waren, seit man einen von ihnen, Giangiacomo Mora, als berüchtigten Salber eingezogen und verurteilt hatte, so daß seinem Namen, auf lange Zeit hinaus, soweit die Stadt reichte, Schimpf und Schande anhing, anstatt daß er eher verdient hätte, mit viel weiterverbreitetem und längerwährendem Mitleid genannt zu werden. Die meisten trugen in der einen Hand einen Stock, einige auch eine Pistole zur drohenden Warnung für denjenigen, der ihnen etwa hätte allzunahe kommen wollen; in der anderen wohlriechende Plätzchen oder durchbohrte Kugeln von Metall oder Holz, mit Schwämmen darin, die mit Kräuteressig getränkt waren, und führten sie von Zeit zu Zeit an die Nase oder hielten sie fortwährend daran. Mehrere hatten auch am Halse ein Fläschchen mit ein wenig Quecksilber hängen, überzeugt, daß dasselbe die Kraft besäße, jede pestilenzialische Ausdünstung abzuhalten oder in sich einzuziehen, und ließen sich dann angelegen sein, es von Zeit zu Zeit zu erneuern. Die Edelleute gingen nicht allein ohne das gewohnte Gefolge durch die Straßen, sondern wurden auch wohl mit einem Korbe am Arme gesehen, wie sie sich die notdürftigsten Nahrungsmittel selber holten. Freunde, wenn sich deren je zwei Lebende auf der Straße begegneten, begrüßten einander von fern, mit stummen, eiligen Winken. Es hatte ein jeder unterwegs genug zu tun die unflätigen, todbringenden Gegenstände zu vermeiden, die auf dem Boden verstreut waren und ihn hier und da auch ganz einnahmen: ein jeder suchte sich in der Mitte der Straße zu halten aus Furcht vor Unreinlichkeiten oder anderer noch üblerer Belästigung, die aus den Fenstern herab auf ihn treffen könnte, aus Furcht vor den verpestenden Pulvern, die man aus denselben, wie es hieß, des öfteren auf die Vorübergehenden fallen ließe, aus Furcht vor den Wänden, die eingesalbt sein könnten. So fügte jetzt die Unwissenheit, zur Unzeit sicher und vorsichtig, Angst zu Angst und rief falsche Schrecken zum Ersatze der vernünftigen und heilsamen hervor, die sie anfänglich benommen hatte.

So war es also nun um das minder Widrige und minder Bemitleidenswerte, was zum Vorschein kam, um die Gesunden, Wohlhabenden beschaffen; denn nach so vielen Gemälden des Elends, und in Hinsicht auf das noch schwerere, das wir noch zu durchgehen haben, werden wir uns jetzt nicht dabei aufhalten, den Anblick der Pestkranken, die in den Straßen umherlagen oder sich schleppten, der Bettler, Kinder, Frauen, zu schildern. Er war derartig, daß der Zuschauer gleichsam einen verzweifelten Trost in dem finden konnte, was den Entfernteren und Nachkommen auf den ersten Blick als der Gipfel des Unglücks erscheint; ich meine in dem Gedanken, in der Erkenntnis, bis auf wie wenige die Überlebenden zusammengeschmolzen waren.

Mitten durch diese Verwüstung hatte Renzo bereits ein gutes Stück seines Weges zurückgelegt, als er, noch viele Schritte von einer Straße entfernt, in die er sich wenden mußte, aus derselben ein verworrenes Getöse hervordringen hörte, in dem sich das gewohnte, entsetzliche Geklingel unterscheiden ließ.

Beim Eingang in die Straße, die eine der breitesten war, erblickte er in der Mitte derselben vier stillhaltende Karren; und so wie man auf einem Kornmarkte Leute kommen und gehen, Säcke aufladen und umstürzen sieht, glich dem auch das Getriebe an diesem Orte: Monatti, die sich in die Häuser drängten, Monatti, die herauskamen, eine Last auf den Schultern und sie auf den einen oder anderen Karren niederwarfen, einige mit dem Abzeichen der roten Farbe, andere ohne diese Livree, einige in einer noch widerwärtigeren, mit buntfarbigen Federbüschen und Kappen, die die Unseligen wie einen festlichen Schmuck bei so allgemeiner Trauer trugen.

Aus dem und jenem Fenster rief von Zeit zu Zeit eine klägliche Stimme: »Hierher, Monatti!« Und mit noch trübsinnigerem Klange erwiderte aus dem düsteren Gedränge eine rauhe Stimme: »Gleich, gleich!« Oder es waren die Klagetöne der Nachbarn, dringende Bitten, sich zu beeilen; worauf die Monatti mit Flüchen antworteten.

In der Gasse beschleunigte Renzo seinen Schritt und suchte jene Hindernisse nicht mehr zu bemerken als nötig war, um ihnen auszuweichen, als sein umherirrender Blick auf einen Gegenstand besonderen Mitleids, eines Mitleids traf, das das Gemüt anreizte, ihn zu betrachten; er blieb demnach, fast ohne es sich vorgenommen zu haben, stehen.

Es schritt über die Schwelle eines dieser Eingänge, und zwar auf den Zug los, eine Frau, deren Äußeres eine vorgerückte, aber noch nicht vergangene Jugend ankündigte, und es schien eine verhüllte, getrübte, aber von einem tiefen Kummer und einer tödlichen Ermattung noch nicht zerstörte Schönheit, jene zugleich weiche und majestätische Schönheit daraus hervor, die im lombardischen Blute glänzt. Ihr Gang war schwer, wiewohl nicht hinfällig; ihre Augen weinten keine Tränen, aber sie trugen die Merkmale an sich, viele vergossen zu haben; es lag in diesem Schmerze, ich weiß nicht, welche Geschlossenheit und Tiefe, die eine Seele verriet, die sich seiner ganz bewußt war und ihn um geteilt fühlte. Aber es war nicht ihr Anblick allein, der, unter so vielfachem Elend, sie als besonders erbarmenswert bezeichnete und für sie dies in dem Herzen jetzt erloschene, abgestumpfte Gefühl neu belebte. Sie hielt in ihren Armen ein totes, aber sorgsam angekleidetes Mädchen von etwa neun Jahren, das Haar auf der Stirn gescheitelt, in einem weißen, höchst reinlichen Gewände, als ob diese Hände es zu einem seit lange schon verheißenen und ihm zur Belohnung zugestandenen Feste geschmückt hätten. Auch trug sie es nicht liegend, sondern aufrecht, auf den einen Arm gesetzt, mit der Brust an ihre Brust gelehnt, wie lebend, nur daß ein weißes, wächsernes kleines Händchen mit so lebloser Schwere auf der einen Seite herabhing, und daß der Kopf mit einer Erschlaffung, stärker als die des Schlafes, an der Schulter der Mutter lag, denn, wenn auch die Ähnlichkeit der Gesichter dies nicht bezeugt, so hätte doch dasjenige von beiden es klar besagt, in dem sich noch eine Empfindung bemerkbar machte.

Und siehe, da trat ein abscheulicher Monatto zu der Frau und machte Miene, ihre Last ihr aus den Armen zu nehmen; wenn auch mit einer gewissen ungewohnten Ehrfurcht, mit unwillkürlichem Zaudern. Sie aber zog sich ein wenig zurück und sagte, zwar mit einer Gebärde, die weder Geringschätzung noch Unwillen verriet: »Nein! rührt sie mir jetzt nicht an; ich muß sie auf den Wagen legen; nehmt.« Bei diesen Worten tat sie eine Hand auf, zeigte eine Börse und ließ sie in die ihr dargestreckte des Monatto gleiten. Alsdann fuhr sie fort: »Versprecht mir, daß Ihr nicht einen Faden von ihr nehmen und auch nicht zulassen wollt, daß ein anderer das tut, und daß Ihr sie so in die Erde legt.«

Der Monatto legte sich die Hand auf die Brust, und ganz eilfertig und fast ehrerbietig, mehr dem neuen Gefühle gemäß, das ihn gleichsam beherrschte, als wegen des um vermuteten Gewinnes, bemühte er sich sodann, auf dem Karren ein wenig Platz für die kleine Tote zu machen. Die Frau gab dieser einen Kuß aus die Stirn, legte sie hin wie in ein Bett, legte sie zurecht, breitete ein blendend weißes Linnentuch Über sie und sprach noch die Worte: »Leb wohl, Cecilia! Ruhe in Frieden! Heute abend kommen auch wir, um immer beisammen zu ruhen. Bete indes für uns; ich werde für dich und für die anderen beten.« Dann wendete sie sich von neuem zu dem Monatto und sagte: »Wenn Ihr um die Vesper wieder hier vorbeifahrt, so kommt herauf, Ihr werdet mich auch abholen und mich nicht allein.«

Dies gesagt, ging sie in das Haus zurück, und einen Augenblick später erschien sie am Fenster, einen anderen, noch zarteren Liebling in den Armen haltend, der lebte, aber die Anzeichen des Todes im Antlitz trug. Sie sah dem so unwürdigen Begängnis des ersten zu, bis der Karren fortfuhr, solange er sichtbar blieb, alsdann verschwand sie.

Und was hatte sie sonst zu tun, als das einzige, was sie noch besaß, auf das Bett zu legen, und sich daneben, um gemeinsam mit ihm zu sterben? so wie die schon üppig auf ihrem Stiele blühende Blume zugleich mit dem noch in seinem Kelch verborgenen Blümchen vor der mähenden Sichel hinfällt, die alle Gräser der Wiese ebnet.

»O Herr!« rief Renzo aus: »Erhöre sie! Nimm sie zu dir, sie und ihre Kleine; sie haben genug gelitten! sie haben genug gelitten!«

Von dieser ungewöhnlichen Gemütsbewegung wieder zu sich gekommen, und derweil et sich die Wegweisung wieder in das Gedächtnis zu rufen strebt, um herauszufinden, ob er bei der nächsten Straße abgehen, und zwar ob nach der rechten oder linken Seite hingehen müsse, hört er aus dieser hervor einen anderen, verschiedenartigen Lärm, einen verworrenen Schall gebieterischen Geschreis, schwacher Wehklagen, langen Gewinsels, weiblichen Schluchzens, kindlichen Geplauders dringen.

Er schritt vorwärts, mit der gewohnten traurigen und bangen Erwartung im Herzen. Bei dem Kreuzwege angelangt, sah er von der einen Seite einen verworrenen Schwarm herannahen und blieb daselbst stehen, bis er vorüber wäre. Es war ein Zug von Kranken, der nach dem Lazarett ging; einige wurden gewaltsam fortgetrieben und widerstanden vergebens, schrien vergebens, sie wollten in ihrem Bett sterben, und beantworteten mit ohnmächtigen Verwünschungen die Flüche und Gebote der Monatti, die sie führten; andere schritten stillschweigend, anscheinend schmerzlos, hoffnungslos, wie sinnlos zu; Weiber mit kleinen Würmern am Halse; durch das Schreien, durch das Befehlen, durch die Begleitung mehr als durch die unbestimmte Vorstellung des Todes erschreckte Kinder, die mit lautem Gejammer nach der Mutter und nach ihren getreuen Armen und danach verlangten, in der gewohnten Behausung zu bleiben. Ach! und vielleicht hatte sich die Mutter, die sie nach ihrer Meinung schlafend auf ihrem Lager verlassen hatte, von der Seuche plötzlich befallen, sinnberaubt darauf hingestreckt, um auf einem Karren in das Lazarett, oder wenn der Karren zu spät ankam, in die Grube geschafft zu werden. Vielleicht, o Unglück, noch bitterer Tränen wert! hatte die Mutter, ganz von ihren Leiden befangen, alles, auch die Kinder vergessen, und nur den einen Gedanken noch: ruhig zu sterben. Doch auch noch in so großer Verwirrung sah man ein und das andere Beispiel von Ausdauer und frommer Liebe: Eltern, Geschwister, Kinder, Gatten, die ihren Lieben beistanden und sie mit Trostworten begleiteten; und nicht Erwachsene nur, auch kleine Knaben, kleine Mädchen sogar gaben ihren noch zarteren Geschwistern das Geleit und ermahnten sie mit mannhafter Verständigkeit zum Gehorsam, versicherten ihnen, daß man mit ihnen nach einem Orte ginge, wo andere für sie Sorge tragen würden, damit sie genäsen.

Inmitten der Traurigkeit und Rührung, die solche Anblicke ihm einflößten, bedrängte und bekümmerte eine noch entschiedenere Sorge unseren Wanderer. Das Haus mußte hier in der Nähe sein, und wer weiß, ob unter diesen Leuten ... Aber sobald die ganze Schar vorüber und ihm dieser Zweifel benommen war, wendete er sich an einen Monatto, der hinterdrein kam, und fragte ihn nach Straße und Haus Don Ferrantes. »Scher dich zum Henker, Bauernlümmel!« war die Antwort, die er von ihm erhielt. Er hütete sich wohl, etwas zu erwidern; da er aber nach einigen Schritten einen Kommissar wahrnahm, der den Zug beschloß und ein etwas christlicheres Aussehen hatte, so richtete er an diesen die nämliche Frage. Dieser deutete mit einem Stocke nach der Gegend, wo er herkam, und sagte: »Die erste Straße rechts, das letzte adelige Haus links.«

Mit einer neuen und noch heftigeren Angst im Herzen ging der Jüngling dorthin. Und in der Straße unterschied er das Haus bald von den anderen demütigeren, unscheinbareren; er nähert sich der Tür, die verschlossen ist, legt die Hand an den Klopfer und läßt sie darin ruhen wie in einer Urne, ehe er das Los zieht, worauf sein Leben oder Tod sieht. Endlich erhebt er den Klopfer und schlägt damit stark an.

Nach einigen Augenblicken öffnet sich ein klein wenig ein Fenster, streckt eine Frau den Kopf ein wenig heraus und schaut nach der Tür mit einer finsteren Miene, die zu besagen scheint: Monatti? Straßenräuber? Kommissar? Salber? Teufel?

»Gnädige Frau,« spricht Renzo mit nicht allzu sicherer Stimme hinauf, »dient hier ein junges Landmädchen, das Lucia heißt?«

»Die ist nicht mehr hier; marsch!« versetzt die Dame und schickt sich an, zuzumachen.

»Auf einen Augenblick, aus Barmherzigkeit! Sie ist nicht mehr hier? Wo ist sie?«

»Im Lazarett.« Und sie wollte von neuem zumachen.

»Aber auf einen Augenblick, um des Himmels willen! an der Pest krank?«

»Freilich. Eine große Neuigkeit, he? Marsch fort!«

»Warten Sie, he! war sie sehr krank? Wie lange ist es her? ...«

Aber unterdessen war das Fenster wirklich zugemacht worden.

»Gnädige Frau! gnädige Frau! auf ein Wort, aus Barmherzigkeit! Um Ihrer armen Toten willen! Ich will ja gar nichts von Ihnen haben, ohe!« Aber es war den Wänden gepredigt.

Von der Nachricht tief betrübt und über die Behandlung entrüstet, packte Renzo den Klopfer nochmals an, wand und drehte ihn in der Hand umher, indem er sich gegen die Tür stemmte, erhob ihn, um nochmals verzweifelt anzupochen, und er hielt ihn darauf in der Höhe. In dieser Auflegung sah er sich um, ob er nicht einen Nachbar entdecken könnte, der ihm vielleicht eine wohlwollendere Auskunft, der ihm irgend Nachweisungen, irgendein Licht gäbe. Aber die erste, die einzige Person, die er erblickte, war eine andere, etwa zwanzig Schritt entfernte Frau, die, mit einer Miene, die Schrecken, Haß, Ungeduld und Bosheit ausdrückte, mit gewissen verdrehten Augen, die zugleich auf ihn und in die Ferne sehen wollten, den Mund aussperrend, wie im Begriff, aus vollem Halse zu schreien, wiewohl auch den Atem an sich haltend, zwei fleischlose Arme emporhob, und zwei runzelige, krumme Hände nacheinander ausstreckte und einzog, als ob sie etwas damit an sich risse, so daß sie offenbar Leute herbeirufen zu wollen schien, ohne daß es jemand merken sollte. Als ihre Blicke sich begegneten, fuhr sie, noch häßlicher werdend, wie jemand, der ertappt wird, zusammen.

»Was zum Henker? ...« hob Renzo an, die Hände desgleichen gegen die Frau erhebend; diese aber hatte nicht sobald die Hoffnung verloren, daß er unversehens ergriffen werden könnte, als sie auch das bis jetzt unterdrückte Geschrei losließ: »Ein Salber! drauf! drauf! drauf! Ein Salber!«

»Wer? ich! ei du lügenhafte Hexe! schweig still!« rief Renzo und tat einen Sprung nach ihr hin, um sie einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Jedoch ward er gleich eingedenk, daß er vor allem an seine Angelegenheiten denken müsse. Auf das Gekreisch des Weibes liefen von beiden Seiten Leute herzu, kein solcher Schwarm, als in einem ähnlichen Falle drei Monate früher entstanden sein würde, aber nur leider übergenug, um einem Menschen den Garaus zu machen. In demselben Augenblick tat sich das Fenster abermals auf und ließ sich die nämliche unfreundliche Frau von vorhin diesmal vollständig daran schen, die auch ihrerseits schrie: »Greift ihn nur, greift ihn; er muß wohl einer von den Schurken sein, die herumlaufen! und die Türen ehrlicher Leute salben.«

Renzo überlegte im Nu, daß es geratener sei, sich aus dem Staube zu machen, als dazubleiben, um sich zu rechtfertigen; er ließ das Auge hin und her schweifen, auf welcher Seite die wenigsten wären, und nach dieser setzte er sich in Lauf. Er warf mit einem gewaltigen Stoße einen zurück, der ihm den Weg versperrte, gab einem anderen, der ihm entgegenrannte, einen ebensolchen Faustschlag auf die Brust, daß er acht bis zehn Schritte zurückwankte, und nun im Galopp, mit hoch geschwungener, fest geballter Faust, auf und von dannen. Die Straße vor ihm war leer; aber hinter sich drein hörte er immer stärker und stärker das bittere Geschrei: »Drauf! drauf! ein Salber!« in sein Ohr dröhnen, vernahm er, wie die Fußtritte der schnellsten Verfolger sich ihm näherten. Sein Zorn ward zur Wut, seine Angst verwandelte sich in Verzweiflung; es ward ihm wie ein Schleier vor den Augen; er griff nach seinem Dolch, zog ihn aus der Scheide, stand still, drehte sich mit dem Oberkörper um, sah mit einem grimmigeren, wilderen Gesicht, als er sein Lebtag eines gemacht hatte, zurück und schrie, den Arm ausstreckend und die leuchtende Klinge in der Luft schwingend: »Wer Herz hat, komme heran, Lumpenpack! ich will ihn damit im vollen Ernste salben!«

Aber mit Verwunderung und mit einem verwirrten Trostgefühl sah er, daß seine Verfolger schon in einiger Entfernung wie zögernd stehengeblieben waren und, immerfort brüllend, mit den erhobenen Händen gewisse Gebärden, gleich Besessenen, als wie nach Leuten in der Ferne, hinter ihm machten. Er wendete sich wieder um, sah vor sich hin und erblickte nahebei – denn seine große Gemütsbewegung hatte ihn denselben einen Augenblick früher nicht bemerken lassen – einen dahinfahrenden Karren, ja eine ganze Reihe solch gewöhnlicher Totenkarren, mit dem gewöhnlichen Geleite, und jenseits derselben ein anderes Häuflein Leute, die auch ihrerseits gern über den Salber hergefallen wären und ihn in die Mitte genommen hätten, aber auch sie wurden von demselben Hindernisse abgehalten.

Sobald er sich also zwischen zwei Feuern sah, fiel es ihm ein, daß, was zu jener Schrecken gereichte, zu seinem Heile gereichen könnte; er bedachte, daß es nicht an der Zeit sei, den Eklen zu spielen, steckte seinen Dolch wieder zu sich, machte sich auf die Beine, fing wieder an auf die Karren zuzulaufen, lief an dem ersten vorbei, nahm auf dem zweiten einen leeren Raum wahr; er faßt sein Ziel ins Auge, tut einen Satz, und oben ist er, auf dem rechten Fuße stehend, den linken in der Luft, die Arme emporgehoben.

»Brav! brav!« schrien einstimmig die Monatti, deren einige dem Zuge zu Fuße folgten, andere auf den Karren, noch andere, um das Entsetzliche geradeheraus zu sagen, auf den Leichen saßen und aus einer großen Flasche zechten, die ringsum ging: »Brav! ein gutes Stückchen!«

»Du hast dich in den Schutz der Monatti begeben; du sollst so sicher wie in der Kirche sein«, sagte einer von zweien zu ihm, die auf dem Karren standen, auf den er sich geworfen hatte.

Bei Annäherung des Leichenzuges hatten die Feinde meistenteils den Rücken gewandt und liefen, immer noch schreiend: »Drauf! drauf! ein Salber!« davon. Nur einer von ihnen zog sich langsamer zurück, indem er einmal übers andere stehenblieb und sich umwendete, um die Zähne zu fletschen und drohende Gebärden gegen Renzo zu machen, der dieselben, mit den Fäusten die Lust durchschneidend, vom Karren herab beantwortete.

»Laß mich machen«, sagte ihm ein Monatto, riß einen unflätigen Lappen von einem Leichnam herunter, wickelte ihn geschwind zusammen, faßte ihn dann bei einem Zipfel an und rief, ihn wie eine Schleuder gegen den Trotzigen schwingend und Miene machend, ihn damit zu werfen: »Warte, Lump!«

Auf diese Gebärde kehrten alle schaudernd um, und Renzo sah von seinen Feinden nichts mehr als den Rücken und die Fersen, die reißend schnell, nach Art von Wolken, durch die Luft tanzten.

Unter den Monatti erhob sich ein Siegesgeheul, ein schallendes, ungestümes Gelächter, ein langgedehntes Uh! wie zur Begleitung dieser Flucht.

»Aha! siehst du, ob wir rechtschaffene Leute zu schützen verstehen!« sagte jener Monatto zu Renzo: »Einer von uns wiegt mehr als hundert von den Memmen auf.«

»Gewiß, ich kann sage«, daß ich euch mein Leben schuldig bin,« versetzte er, »und ich danke euch von ganzem Herzen.«

»Nichts, nichts,« erwiderte der Monatto; »du verdienst es; man sieht, daß du ein braver Bursche bist. Du hast recht, das elende Gesindel einzusalben; salbe sie immerhin, rotte sie aus, sie sind doch nicht eher etwas wert, als bis sie tot sind; denn zum Danke für das Leben, das wir führen, verwünschen sie uns noch gar und sagen, wenn nur erst das Sterben alle wäre, wollten sie uns alle baumeln lassen. Sie sollen aber doch eher alle werden als das Sterben; die Monatti sollen allein übrigbleiben, um Viktoria! zu singen und in Saus und Braus in Mailand zu leben.«

»Es lebe die Pest und es sterbe das Gesindel!« schrie der andere, und mit diesem schönen Trinkspruch setzte er die Flasche an den Mund, tat, indem er sie unter den Stößen des Karrens mit beiden Händen festhielt, einen Zug und reichte sie dann Renzo mit den Worten: »Trink auf unsere Gesundheit.«

»Die wünsche ich euch allen aufrichtig,« sagte Renzo; »aber ich habe keinen Durst; es ist mir in diesem Augenblicke gar nicht nach Trinken.«

»Du hast eine tüchtige Angst ausgestanden, wie es scheint«, sagte der Monatto. »Du magst mir wohl ein armer Schlucker sein; wer den Salber machen will, muß ein ander Gesicht haben.«

»Es macht's halt ein jeder, so gut er kann«, sagte der andere.

»Gib mir einmal her,« sagte einer von denen, die zu Fuße neben dem Karren herschritten, »ich will auch einen Schluck auf das Wohl des Herrn tun, der sich in der schönen Gesellschaft befindet ... dort, dort, eben dort, mein' ich, in der Staatskarosse.«

Und mit einem wilden, verruchten Grinsen wies er auf den Karren, auf dem der arme Renzo stand; worauf er, das Gesicht zu einem noch scheelsüchtigeren, boshafteren Ernste verziehend, eine Verbeugung dorthin machte und wieder anhob: »Erlauben Sie, mein gnädiger Herr, daß ein armer, schlechter Monatto Ihren Keller versucht? Denn sehen Sie wohl: es gibt eben so mancherlei Lebensberuf; wir sind diejenigen, die Ihnen in die Kutsche geholfen haben, um Sie nach Ihrer Sommerwohnung zu fahren. Und dann bekommt doch auch mitunter der Wein den Herren schlecht; die armen Monatti haben einen guten Magen.«

Und unter dem Hohngelächter seiner Kameraden nahm er die Flasche, führte sie in die Höhe, wendete sich aber, bevor er trank, an Renzo und sagte zu ihm, indem er ihn scharf ansah, mit einem gewissen verächtlichen Mitleid: »Der Teufel, mit dem du deinen Pakt abgeschlossen hast, muß wahrhaftig nicht weit her sein; wenn wir dich nicht gerettet hätten, er stand dir eben nicht sonderlich bei.« Und unter abermaligem schallenden Gelächter setzte er die Flasche an die Lippen.

»Und wir? Na! und wir?« schrien mehrere Stimmen von dem Wagen vor ihm. Der Schelm trank soviel er wollte und stellte die gewaltige Flasche dann mit beiden Händen seinen anderen Genossen zu, die sie von einem zum andern wandern ließen, bis endlich der, der sie geleert hatte, sie beim Halse anpackte, ein- oder zweimal in der Luft herumschwenkte und unter dem Rufe: »Es lebe die Pest!« auf den Quadern in Stücke warf. Hinter diesen Worten drein stimmte er einen ihrer Gassenhauer an, und sofort fielen alle die anderen Stimmen des schändlichen Chores mit ein. Der höllische Gesang, vermischt mit dem Geklingel der Schellen, dem Geknarre und Getrampel scholl durch die öde Schweigsamkeit der Straßen und, in den Häusern widerhallend, schnürte er den wenigen, die sie noch bewohnten, das beklommene Herz zusammen.

Aber was kann doch zuweilen nicht zum Vorteil gereichen? Was kann in manchem Falle nicht gut erscheinen? Die Not eines Augenblicks vorher hatte Renzo die Gesellschaft dieser Toten und dieser Lebenden mehr als erträglich gemacht, und jetzt klang seinen Ohren sogar diese Musik süß, die ihn aus dem bösen Handel einer solchen Unterhaltung zog. Noch halb angst und bange und in voller Verwirrung dankte er inzwischen der Vorsehung in seinem Herzen bestens, daß er einer solchen Gefahr entkommen sei, ohne etwas Schlimmes zu erleiden oder zu begehen; bat sie, ihm gegenwärtig auch mitzuhelfen, sich von seinen Befreiern zu befreien, und war seinerseits auf seiner Hut, und sah bald auf jene, bald auf den Weg, um die gelegene Zeit wahrzunehmen, sich ganz heimlich hinabgleiten zu lassen, ohne ihnen Gelegenheit zu bieten, irgend Aufsehen zu erregen oder ein Ärgernis zu geben, das die Vorübergehenden aufhetzte.

Als auf einmal der Zug um eine Ecke ging, glaubte er den Ort, wo er vorbeikam, zu erkennen; er sah genauer hin und erkannte ihn an sichereren Zeichen wieder. Will man wissen, wo er war? Auf dem Korso nach der Porta Orientale, auf dem nämlichen Wege, auf dem er vor etwa zwanzig Monaten langsam hergekommen und eilig wieder hingelaufen war. Es fiel ihm gleich ein, daß es von hier geradeaus nach dem Lazarett ginge; und daß er sich also ohne sein Zutun, ohne Anleitung auf dem rechten Wege befand, nahm er für ein ausdrückliches Einschreiten der Vorsehung und für ein gutes Wahrzeichen in betreff des übrigen. Indes kam dem Karren ein Kommissar entgegen und rief den Monatti zu, anzuhalten, und ich weiß nicht, was sonst noch; genug, es wurde haltgemacht, und die Musik verwandelte sich in einen lärmenden Wortwechsel. Einer der Monatti, die auf Renzos Karren standen, war hinabgesprungen; Renzo sagte zu dem anderen: »Ich danke Euch für Eure Barmherzigkeit; Gott lohne sie Euch!« und rutschte an der anderen Seite nach.

»Lauf, lauf, armes Salbmännchen,« erwiderte dieser; »du wirst Mailand nicht zugrunde richten.«

Zum guten Glück war niemand da, der das hätte hören können. Der Zug hatte auf der linken Seite der Straße angehalten; Renzo läuft geschwind auf die andere und trabt der Mauer entlang nach der Brücke zu, schreitet darüber hin, verfolgt die bekannte Straße der Vorstadt, erkennt das Kapuzinerkloster, ist dem Tore nahe, sieht die Ecke des Lazaretts hervorblicken, geht durch das Gitter, und es eröffnet sich vor ihm der äußere Schauplatz dieses Bezirks; kaum eine Andeutung desselben, eine Probe davon, und dessenungeachtet ein weites, mannigfaltiges, unbeschreibliches Schauspiel.

Den beiden Seiten entlang, die sich an diesem Punkte den Blicken darbieten, war alles nur ein Gesiede und Gewalle, ein Zusammenfließen, Überlaufen, Stocken; Kranke begaben sich scharenweise nach dem Lazarett; einige saßen oder lagen an dem Rande des einen oder anderen Grabens, die an der Straße hinlaufen; entweder hatten ihre Kräfte nicht ausgereicht, sie bis in die Zufluchtsstätte hineinzutragen, oder sie waren aus Verzweiflung wieder herausgekommen, und die Kräfte waren ihnen gleichfalls ausgegangen, sich weiter fortzuschleppen. Andere Kranke irrten verstreut wie blödsinnig einher, und nicht wenige ganz von Sinnen. Der trug seine Einbildungen mit hitzigem Eifer einem Elenden vor, der von der Krankheit überwältigt dalag; jener raste; ein anderer zeigte ein lachendes Gesicht, als ob er einem heiteren Schauspiele beiwohnte. Aber die seltsamste, auffälligste Art einer solchen trübseligen Fröhlichkeit war ein lautes und anhaltendes Gesinge, das aus jener kläglichen Versammlung zu dringen schien, und zwar alle Stimmen derselben übertäubte: ein von heiterer, scherzhafter Liebe handelndes Volksliedchen, der Art, die man Villanelle nennt; und wenn man mit dem Blick dem Klange nachfolgte, um zu erspähen, wer doch wohl jetzt hier lustig sein könnte, so erblickte man einen Unglücklichen, der, ruhig in dem Graben unter der Mauer des Lazaretts sitzend, aus voller Kehle mit emporgerichtetem Antlitz sang.

Renzo war kaum einige Schritte weit an der mittäglichen Seite des Gebäudes hingegangen, als ein außerordentlicher Lärm und ein fernes Geschrei: »Vorgesehen! Halt auf!« in dem Gedränge losbrach. Er erhebt sich auf die Fußspitzen, schaut vor sich hin und sieht im gestreckten Lauf eine schmutzige Mähre, von einem noch schmutzigeren Reiter angetrieben, daherkommen. Es war ein Wahnsinniger, der das Tier losgeschirrt und unbehütet bei einem Karren stehen gesehen und ohne Sattel sich hinaufgeschwungen hatte, wo er denn mit den Fäusten auf seinen Hals losschlug und sich der Fersen als Sporen bediente, so daß es in wütender Eile mit ihm fortjagte, Monatti brüllend hinterdrein, und alles in eine weithin ziehende Staubwolke hüllte.

So gelangt denn der Jüngling, schon des Jammers müde und davon betäubt, zu dem Tore des Ortes, an dem vielleicht mehr Menschen zusammengedrängt, als in dem ganzen Raume, den er schon durchmessen, vereinzelt waren. Er steht vor dem Tore, tritt unter die Wölbung und verweilt einen Augenblick unbeweglich inmitten der Halle.


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