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Zweiunddreißigstes Kapitel

Da es immer schwieriger ward, den schmerzlichen Erfordernissen der Umstände zu entsprechen, so war es am 4. Mai im Rate der Dekurionen festgesetzt worden, sich um Hilfe und Beistand an den Statthalter zu wenden, und am 22. gingen von dieser Körperschaft zwei nach dem Lager ab, um ihm das Elend und die Bedrängnis der Stadt vorzustellen: wie ungeheuer die Kosten, wie erschöpft und verschuldet der öffentliche Schatz, die zukünftigen Einnahmen verpfändet wären, die laufenden Abgaben wegen der allgemeinen Verarmung nicht bezahlt würden, die aus so vielen Gründen und insbesondere aus der Verheerung des Krieges hervorgegangen; ihm sodann zu bedenken zu geben, daß, Gesetzen wie ununterbrochenem Herkommen gemäß, auch infolge einer ausdrücklichen Verordnung Karls V., die Unkosten der Pest dem Fiskus zur Last fielen. In jener von 1576 habe der Statthalter Marques de Ayamonte nicht nur alle Kammersteuern erlassen, sondern sogar mit vierzig, tausend Scudi aus derselben Kammer die Stadt unterstützt. Endlich verlangten sie viererlei von ihm: daß die Abgaben, wie schon damals, eingestellt würden; daß die Kammer Geld vorschösse; daß der Statthalter von dem Elend der Stadt und des Landes dem König Bericht erstatte; daß er das schon von den bisherigen kriegerischen Einquartierungen zugrunde gerichtete und verheerte Herzogtum mit neuen verschonte. Spinola gab zur Antwort Beileidsbezeigungen und neue Ermahnungen: er bedaure, nicht in der Stadt anwesend sein zu können, um alle Sorgfalt zu ihrer Erleichterung aufzubieten; jedoch hoffe er, daß der Eifer jener Herren alles ersetzen werde; in einer solchen Zeit müsse man keine Ausgaben scheuen und sich in aller Weise anstrengen; was die ausdrücklichen Forderungen beträfe, so werde er dafür so bestmöglichste Sorge tragen, als die gegenwärtige Zeit und Notdurft ihm gestatteten. Etwas Weiteres geschah nicht; man trug sich zwar mit Forderungen und Antworten von neuem hin und her, aber ich finde nicht, daß man einen bestimmteren Beschluß zuwege gebracht. Späterhin, in der größten Heftigkeit der Pest, befand der Statthalter für gut, durch einen Bestallungsbrief seine Gewalt auf den Großkanzler Ferrer zu übertragen, indem er, wie er schrieb, dem Kriege vorzustehen habe.

Zu gleicher Zeit mit diesem Entschlusse hatten die Dekurionen einen anderen gefaßt: den Kardinal Erzbischof darum anzugehen, einen feierlichen Umgang zu halten, indem er den Leichnam des heiligen Carlo durch die Stadt führte.

Der gute Prälat weigerte sich des aus vielen Gründen. Es mißfiel ihm die Zuversicht in ein willkürliches Hilfsmittel, und er fürchtete, daß, wenn der Erfolg dem nicht entspräche, wie er ebenfalls Sorge trug, die Zuversicht sich in ein Ärgernis verkehren würde. Er fürchtete überdies, daß, »wenn es dessenungeachtet solche Salber gäbe,« der Umgang eine gar zu bequeme Gelegenheit zu Verbrechen leihen möchte; »wenn es aber deren nicht gäbe,« eine solche Versammlung wohl schon an sich nicht ermangele, die Seuche immer mehr auszubreiten: »was eine weit wesentlichere Gefahr sei.« Denn der eingeschlafene Argwohn gegen die Einsalbungen war unterdessen allgemeiner und heftiger als vorher wieder erwacht.

Man hatte von neuem gesehen oder vielmehr zu sehen vermeint, daß Wände, Eingänge zu öffentlichen Gebäuden, Haustüren, Türklopfer beschmiert gewesen. Die Kunde von solchen Entdeckungen flog von Mund zu Mund, und wie es bei so großen Vorurteilen meist zu geschehen pflegt, so brachte schon das Hören die Wirkung hervor, die das Sehen hätte irgend hervorbringen können. Die von dem Bestehen der Übel immer mehr erbitterten, von der beharrlich drohenden Gefahr gereizten Gemüter nahmen um so leichter jenen Glauben an, denn der Zorn trägt eifriges Verlangen zu strafen, und will, wie bei derselben Gelegenheit ein Ehrenmann scharfsinnig bemerkt, die Übel lieber menschlicher Bosheit zuschreiben, an der er seine rächende Tätigkeit auslassen kann, als sie für etwas anerkennen, wogegen sich sonst nichts tun läßt, als daß man sich darin ergibt. Ein ausgesuchtes, augenblicklich wirkendes, schnell durchdringendes Gift, das waren Worte, mehr als ausreichend, die Heftigkeit, all die düsteren und regellosen Zufälle der Krankheit zu erklären. Man sagte, das Gift sei aus Kröten, Schlangen, Eiter und Geifer von Pestkranken, aus noch Schlimmerem, aus alledem bereitet, was eine verwilderte und verderbte Einbildungskraft nur Schmutziges und Abscheuliches ersinnen kann. Man fügte dann noch die Hexenkünste hinzu, durch die jede Wirkung möglich, jeder Einwurf entkräftet, jede Schwierigkeit gelöst wurde. Wenn keine unmittelbare Wirkung auf jene Einsalbung erfolgt war, so sah man ja das Warum; es war ein mißlungener Versuch noch unerfahrener Hexenmeister; jetzt war die Kunst vervollkommnet und der Wille auf den höllischen Vorsatz noch mehr erpicht. Wer fortan noch behauptet hätte, daß es eine Fopperei gewesen, wer das Dasein eines tückischen Anschlags geleugnet, würde für verblendet, für verstockt gegolten haben, wenn er nicht gar verdächtig geworden, seinen Vorteil dabei zu haben, daß er die öffentliche Aufmerksamkeit von der Wahrheit ablenkte, ein Mitschuldiger, ein Salber zu sein; dieses Wort ward bald gangbar und anerkannt und das allgemeine Entsetzen. Mit einer solchen Überzeugung, daß es Salber gäbe, mußte man deren unfehlbar entdecken. Aller Augen paßten auf; jede Gebärde konnte Argwohn erregen. Und aus dem Argwohn wurde so leicht Gewißheit, aus der Gewißheit Wut.

Zwei Beispiele davon führt Ripamonti mit dem Bedeuten an, daß er sie nicht etwa als die erstaunlichsten unter so vielen täglich vorkommenden ausgewählt habe, sondern weil er von beiden nur allzusehr als Augenzeuge sprechen könne.

In der Kirche Sankt Antonio wollte am Tage, ich weiß nicht was für eines Festes, ein mehr als achtzigjähriger Greis, nachdem er kniend gebetet hatte, sich setzen und stäubte zuvor mit dem Mantel die Bank ab. »Der Alte da salbt die Bänke!« schrien einstimmig einige Weiber, die ihn das tun sahen. Die Leute, die in der Kirche – in der Kirche! – waren, fallen über den Alten her, raufen ihm die weißen Haare aus, geben ihm Faustschläge und Fußtritte, schleppen ihn halb tot hinaus, um ihn ins Gefängnis, vor Gericht, auf die Folter zu bringen. »Ich sah ihn auf diese Weise fortschleifen,« schreibt Ripamonti, »und weiß nicht weiter, was aus ihm geworden ist; doch glaube ich, daß er nur noch wenige Augenblicke hat leben können.«

Der andere Fall, und er erfolgte am anderen Morgen, war ebenso seltsam, wenn auch nicht ebenso verhängnisschwer. Drei junge Franzosen, ein Gelehrter, ein Maler, ein Handwerker, die Italien hatten sehen, daselbst die Altertümer kennenlernen und Gelegenheit suchen wollten, etwas zu erwerben, waren, ich weiß nicht an welche Außenseite des Domes, herangetreten und betrachteten sie aufmerksam. Ein, zwei, mehrere Vorübergehende blieben stehen, es ward ein Trupp, indem alle ausschauten und diejenigen im Auge behielten, deren Kleidung, Haarschnitt und Reisesäcke sie als Fremde und, was noch schlimmer war, als Franzosen bezeichneten. Wie um sich zu vergewissern, daß es Marmor sei, streckten sie die Hand danach aus, um es anzufassen. Das war genug. Sie wurden umringt, ergriffen, gemißhandelt und mit argen Prügeln nach dem Kerker getrieben. Zu gutem Glück ist der Gerichtshof unfern des Domes, und zu noch größerem Glück wurden sie unschuldig befunden und wieder freigelassen.

Und solche Dinge fielen nicht bloß in der Stadt vor; der Wahnsinn hatte wie die Pest um sich gegriffen. Der Wanderer, dem Landleute etwa abseits der Straße begegneten, oder der auf dieser müßig herumlungerte, der Unbekannte, bei dem man etwas Absonderliches, Zweideutiges in Antlitz ober Tracht vorfand, war ein Salber; auf die Anzeige des ersten besten, auf den Schrei eines Knaben läutete man Sturm, lief man zusammen. Die Unglücklichen wurden gesteinigt oder festgenommen und mit Ungestüm in das Gefängnis geworfen. Und das Gefängnis war bis zu einer gewissen Zeit ein sicherer Hafen.

Die Dekurionen aber ließen sich durch die Weigerung des weisen Prälaten nicht entmutigen und wiederholten ihr Gesuch, dem die öffentliche Stimme lärmend beipflichtete. Jener widerstand noch eine Weile, suchte abzureden; soviel und nicht mehr vermochte der Verstand eines Mannes gegen die Stimmung der Zeit und die Beharrlichkeit vieler. Bei jenem Stande der Meinungen, bei der Vorstellung der Gefahr: so verworren, wie sie zu jener Zeit war, so bestritten und weit von der Augenscheinlichkeit entfernt, die für uns darin liegt, fällt es nicht schwer zu glauben, wie seine guten Gründe auch in seinem Geiste von den schlechten anderer besiegt werden konnten. Und ob an der Nachgiebigkeit, die er beging, eine Schwäche des Willens Anteil hatte, das sind nun eben Geheimnisse des menschlichen Herzens. Wenn es in irgendeinem Falle scheint, daß man den Irrtum durchs aus der Einsicht beimessen und das Gewissen freisprechen könne, so ist dies sicherlich der Fall, wo es die wenigen betrifft – und er war wohl von dieser Zahl – aus deren ganzem Leben ein entschiedener Gehorsam gegen das Gewissen hervorgeht, ohne Rücksicht auf zeitliche Angelegenheiten irgendeiner Art. Auf wiederholtes Ansuchen gab er also nach, bewilligte die Prozession, willigte überdies in den allgemeinen Wunsch, in das dringende allgemeine Verlangen, daß der Sarg, in dem die Reliquien des heiligen Carlo ruhten, nachher acht Tage lang auf dem Hochaltar des Domes öffentlich ausgestellt bliebe.

Ich finde nicht, daß das Gesundheitsamt oder wer anders die mindeste Schwierigkeit oder Vorstellung gemacht hätte. Nur die genannte Behörde traf einige Maßregeln, die, ohne daß sie der Gefahr vorbeugten, das Gefühl derselben zu erkennen gaben. Sie ordnete eine größere Strenge bei Zulassung von Leuten in die Stadt an und ließ die Tore verschlossen halten, sowie sie auch, um Angesteckte und Verdächtige von der Versammlung möglichst auszuschließen, die Eingänge der abgesperrten Häuser vernageln ließ, deren es, insofern die bloße Angabe eines Schriftstellers und zwar eines damaligen Schriftstellers, unter solchen Verhältnissen gelten kann, an fünfhundert gab.

Drei Tage wurden unter Vorbereitungen zugebracht; am 11. Juni, dem anberaumten Tage, bewegte sich die Prozession mit Tagesanbruch vom Dome aus. Voran zog eine lange Reihe Volks, die Mehrzahl Frauen, das Antlitz mit weiten Schleiern verhüllt, viele barfuß und in Sacktuch gekleidet. Darauf kamen die Zünfte, denen ihre Fahnen vorgetragen wurden, die Brüderschaften in ihren an Schnitt und Farbe verschiedenen Trachten; dann die Mönchsorden, dann die Weltgeistlichen, ein jeder mit den Zeichen seiner Würde und eine brennende Kerze tragend. In der Mitte, bei dem Glanze zahlreicher Fackeln und bei lauterem Klange von Gesängen, unter einem reichen Traghimmel kam der abwechselnd von vier Domherren im vollen Staate getragene Kasten. Durch die kristallenen Wände schien der verehrte Leichnam, die Glieder in prächtige bischöfliche Gewänder gehüllt, mit der Mitra auf dem Schädel, und aus der zerstörten und verstümmelten Bildung ließen sich noch Spuren des ehemaligen Aussehens herausfinden, wie es die Abbildungen darstellten, wie einige sich erinnerten, ihn geehrt und lebend gesehen zu haben. Hinter der sterblichen Hülle des toten Seelenhirten drein – sagt Ripamonti, von dem wir hauptsächlich diese Beschreibung entlehnen – und ihr zunächst, sowohl dem Verdienste, dem Blute und der Würde als jetzt auch der Person nach kam der Erzbischof Federigo. Nun folgte der übrige Teil des Klerus, hierauf die Obrigkeit im festlichen Gepränge; dann die Edelleute, einige pomphaft gekleidet, wie um ihre andächtige Verehrung desto feierlicher darzutun, andere zum Zeichen der Zerknirschung in Trauerkleidern oder barfuß, im Sackgewand, die Kapuzen über das Gesicht gezogen; alle mit großen Fackeln. Zum Schlusse ein anderer gemischter Volkshaufen.

Der ganze Weg war festlich geschmückt; die Reichen hatten das prachtvollste Hausgerät ausgestellt; die Vorderseiten der ärmlichen Häuser waren von bemittelten Nachbarn oder seitens der Stadt aufgeputzt worden; hier sah man mannigfache Festgehänge, dort über denselben grüne Zweige; allenthalben hingen Gemälde, Inschriften, Sinnbilder; auf den Fensterbrüstungen standen Vasen, alte Kunstwerke, kostbare Sachen zur Schau; allerwärts Fackeln. An vielen der Fenster schauten abgesperrte Kranke dem Gepränge zu und vermischten ihre Gebete mit denen der Vorüberziehenden. Die anderen Straßen schweigsam, öde; außer daß, auch von den Fenstern aus, einige nach dem umherschwärmenden Gesumme hinhorchten; andere, und unter diesen nahm man sogar Nonnen wahr, waren auf die Dächer gestiegen, ob sie nicht von dort aus den Kasten, den Zug, irgend etwas aus der Ferne sehen könnten.

Die Prozession ging durch alle Viertel der Stadt; bei einem jeden Kreuzwege oder jedem der kleinen Plätze, die an den Ausgängen der Hauptstraßen in die Vorstädte liegen und damals noch den alten Namen Carrobii führten, der jetzt nur einem einzigen verblieben ist, ward haltgemacht und der Kasten vor dem Kreuze niedergesetzt, das der heilige Carlo in der letztvergangenen Pest bei einem jeden hatte errichten lassen und von denen einige noch immer stehen, so daß Mittag schon lange vorüber war, als man nach dem Dome zurückkehrte.

Und siehe da, mit dem nächsten Tage, indem gerade jene vermessene Zuversicht, ja in vielen eine fanatische Gewißheit vorherrschte, daß die Prozession der Pest ein Ende gemacht haben müsse, nahmen die Todesfälle in jedem Stande, in jedem Stadtteile so unverhältnismäßig, mit einem so plötzlichen Sprunge zu, daß kaum noch jemand umhin konnte, die Veranlassung oder Ursache dazu in der Prozession selbst zu erblicken. Aber, o bedauernswürdige und unselige Gewalt eines allgemeinen Vorurteils! Nicht etwa dem so großen und so lange anhaltenden Zusammendrange von Menschen, nicht der unendlichen Vervielfältigung zufälliger Berührungen maßen die meisten diese Wirkung bei; sie maßen sie der Bequemlichkeit bei, die den Salbern daselbst geworden, ihre gottlosen Absichten im großen zu verfolgen. Man sagte sich, daß sie, in der Menge sich verlierend, so viele Menschen mit ihrer Salbe angesteckt hätten, als ihnen vorgekommen wären. Aber da es schien, als ob dies zu einer so überaus großen und in jedem Stande verbreiteten Sterblichkeit nicht halb ausreichend oder ihr angemessen gewesen wäre; da es, wie es sich zeigte, sogar dem so aufmerksamen und doch auch so leicht falsch sehenden Auge des Argwohns unmöglich gefallen war, Schmutz und Schmierereien der Art auf dem Wege des Zuges zu entdecken, so nahm man zur Erklärung der Sache seine Zuflucht zu der schon alten und damals in die allgemeine Wissenschaft Europas aufgenommenen Erdichtung von den giftigen Zauberpulvern; man sagte, daß solcherlei Pulver, des Weges entlang und besonders an die Ruhepunkte verstreut, sich an die Schleppsäume der Kleider und noch besser an die Füße festgeklebt hätten, die dieser Tage in großer Anzahl nackt einhergegangen waren.

»Man sah solchergestalt,« sagt ein gleichzeitiger Schriftsteller, »an eben dem Tage der Prozession die Frömmigkeit mit der Gottlosigkeit, die Treulosigkeit mit der Redlichkeit, den Verlust mit dem Erwerb im Kampfe liegen.« Und es war statt dessen doch der arme menschliche Verstand, der mit den selbstgeschaffenen Trugbildern kämpfte.

Von dem Tage an nahm die Heftigkeit der Seuche immer mehr und mehr zu: in kurzem gab es fast kein Haus mehr, das nicht ergriffen gewesen wäre; in kurzem wuchs die Bevölkerung des Lazaretts, nach der Angabe des vorgenannten Somaglia, bis zu zwölftausend an; in der Folge, wie fast alle aussagen, belief sie sich sogar auf sechzehntausend. Am 4. Juli, wie ich in einem anderen Briefe der Gesundheitsbeamten an den Statthalter finde, überstieg die tägliche Sterblichkeit die Zahl von fünfhundert. Weiterhin und auf der äußersten Höhe betrug sie, nach allgemeinster Berechnung, zwölf- bis fünfzehnhundert, wobei sie stehen blieb; wenn wir Tadino glauben wollen, zählte sie einigemal mehr als dreitausendfünfhundert.

Man stelle sich nun vor, wie bange es den Dekurionen sein mußte, denen die Last auferlegt war, für die öffentlichen Bedürfnisse zu sorgen, ein solches Drangsal abzuwenden, insoweit es abzuwenden war. Man mußte alle Tage die Zahl der öffentlichen Stadtdiener mannigfacher Art ergänzen, alle Tage sie vermehren, von denen Monatti, mit einem hier schon alten Namen dunklen Ursprungs, diejenigen benannt wurden, die zu den beschwerlichsten und gefährlichsten Diensten der Pest, nämlich dazu verpflichtet waren, die Leichen aus den Häusern, von den Straßen, aus dem Lazarett hinwegzuschaffen, nach den Gruben zu fahren und zu beerdigen, die Kranken ins Lazarett zu tragen oder zu führen, sie dort zu pflegen, die angesteckten und verdächtigen Sachen zu verbrennen, zu säubern; Apparitori, deren Amt insbesondere war, vor den Wagen herzugehen, und mit dem Schalle einer kleinen Glocke die auf der Straße wären zu warnen, sich zurückzuziehen; Kommissare, die diese wie jene unter den unmittelbaren Befehlen des Gesundheitsamtes beaufsichtigten. Das Lazarett mußte mit Ärzten, Wundärzten, Arznei- und Lebensmitteln, mit den vielen Bedürfnissen eines Krankenhauses versorgt gehalten werden; man mußte für die neuen Siechen ein neues Unterkommen ausfindig machen und herrichten. Man ließ dazu eiligst Hütten aus Holz und Stroh in dem inneren Raume des Lazaretts errichten; schlug ein neues Lazarett, wenn auch nur aus Hütten, mit einem Bretterverschlage, auf, das viertausend Menschen faßte. Und da dies nicht hinreichte, wurden zwei andere zu bauen beschlossen: auch legte man Hand daran; indessen blieben sie, aus Mangel an Mitteln aller Art, unvollendet. Mittel, Hände, Mut nahmen ab, je mehr die Notdurft überhand nahm.

Und nicht nur blieb die Ausführung immerdar hinter den Vorsätzen und Verordnungen zurück; nicht nur ward für viele genugsam anerkannte Bedürfnisse kaum mit Worten spärliche Sorge getragen; man kam aus Ohnmacht und Verzweiflung sogar so weit, daß man vielen, und zwar den Erbarmenswertesten, am dringendsten Bedürftigen, keinerlei Hilfe lieh. So kamen zum Beispiel wegen gänzlichen Mangels an Fürsorge eine große Menge kleiner Kinder um, deren Mütter an der Pest gestorben waren; das Gesundheitsamt beschloß, es solle für sie und für notleidende Wöchnerinnen eine Zufluchtstätte errichtet, es solle etwas für sie getan werden, und es konnte nichts zuwege bringen, »Man mußte nichtsdestoweniger,« sagt Tadino, »auch die Dekurionen der Stadt bemitleiden, wie sie von dem schon ohnedies und nun gar in dem unglücklichen Herzogtums zucht- und rücksichtslosen Kriegsvolke gebeugt, niedergeschlagen und gedrillt wurden, wenn man bedenkt, daß von dem Statthalter weder Beistand irgendeiner Art noch Vorkehrungen zu erwarten standen, weil Kriegszeiten wären und die Soldaten gut behandelt werden müßten.« So viel war an der Einnahme von Casale gelegen! So schön bedünkte ihn der Ruhm des Sieges, unabhängig von der Ursache, von dem Zwecke, weswegen gekämpft ward!

So geschah es denn auch, daß, als die große aber einzige Grube, die in der Nähe des Lazaretts gegraben worden, mit Leichen angefüllt war, und die neuen Leichname, deren Menge Tag für Tag zunahm, dort allenthalben unbegraben blieben, die Obrigkeit sich dahingebracht sah, nachdem sie vergebens gesucht hatte, zu der traurigen Arbeit Arme aufzutreiben, zu erklären, sie wisse nicht mehr, zu welchen Mitteln sie ihre Zuflucht nehmen sollte. Und man sieht nicht ab, was am Ende hätte aus der Sache werden können, wenn nicht eine außerordentliche Hilfe gekommen wäre. Der Präsident des Gesundheitsamtes sprach in Verzweiflung, mit Tränen in den Augen, jene beiden wackeren Mönche darum an, die dem Lazarett vorstanden; und Pater Michele verpflichtete sich, binnen vier Tagen alle Leichen aus der Stadt fortzuschaffen, und erklärte, in acht Tagen Zeit genug zu haben, nicht nur dem gegenwärtigen Bedürfnisse, sondern auch demjenigen abzuhelfen, das die schwärzeste Voraussicht in der Zukunft irgend ahnen könnte. Mit einem Pater Begleiter und einigen Gehilfen, die der Präsident ihm dazu überwiesen hatte, ging er zur Stadt hinaus, um Landleute aufzutreiben, und teils vermochte es das Ansehen des Amtes, teils das seines Gewandes und seiner Worte, daß er an die zweihundert zusammenbrachte, die er an drei besonderen Orten zum Ausgraben anstellte; worauf er aus dem Lazarett Monatti absandte, die Toten herbeizuholen, und sein Versprechen somit an dem bestimmten Tage seine Erledigung fand.

Einmal war das Lazarett von Ärzten entblößt, und nur durch Anerbietungen hohen Lohnes und hoher Ehren erlangte man deren wieder, wiewohl dies Mühe und Zeit kostete, und das Bedürfnis doch immer nicht befriedigt ward. Es befand sich oft auch in der äußersten Verlegenheit um Lebensmittel, so daß schon zu fürchten stand, es werde Hungersnot und noch dazu der Hungertod einreißen; und mehr als einmal ward zu rechter Zeit, derweil man alle Mittel und Wege aufbot, Geld oder Gut zu erlangen, und kaum hoffen durfte, dessen überhaupt, geschweige denn eben gar in der Not habhaft zu werden, durch die unerwartete Barmherzigkeit eines einzelnen mit zulänglichen Beisteuern geholfen. Denn, inmitten der allgemeinen Betäubung, der Gleichgültigkeit gegen andere, die aus der anhaltenden Sorge für das eigene Leben hervorging, gab es Gemüter, die zum Mitleid immer willig waren, gab es andere, in denen die Menschenliebe geboren ward, sobald alle irdische Heiterkeit erstarb; gleichwie es auch, indem so viele starben und flohen, die vorzustehen und zu behüten hatten, einige darunter gab, die am Körper immer gesund und frischen Muts auf ihrem Platze ausharrten, und wieder andere, die, von der christlichen Liebe angetrieben, Sorgen übernahmen und getreulich darin ausharrten, zu denen kein Beruf sie anhielt.

Wo jedoch die allgemeinste und eifrigste Treue gegen die schwierigen Pflichten der Zeitläufe hervorleuchtete, das war bei den Geistlichen. In den Lazaretten in der Stadt gebrach es nie an ihrem Beistande; wo es Leiden gab, waren sie zu finden; man sah sie immerdar unter die Hinfälligen und Sterbenden gemischt und verstreut, zuweilen selbst hinfällig und sterbend. Geistliche Hilfe teilten sie freigebig aus, zeitliche, soviel sie konnten; sie leisteten jedweden Dienst, der erfordert wurde. Mehr als sechzig Pfarrer allein aus der Stadt starben an der Seuche; von neun etwa acht.

Federigo war, wie von ihm zu erwarten stand, allen ein Antrieb und Beispiel. Fast seine ganze erzbischöfliche Dienerschaft starb um ihn her; Verwandte, hohe Würdenträger, benachbarte Fürsten gingen ihn darauf inständigst an, sich von der Gefahr hinweg nach irgendeinem abgelegenen Landgute zu begeben; er verwarf Rat und Bitten mit eben dem Mute, mit dem er an die Pfarrer schrieb: »Seid bereit, eher dieses sterbliche Leben als diese unsere Familie, diese unsere Kinder zu verlassen; geht der Pest mit Liebe entgegen, wie einem Leben, wie einem Lohne, wann ihr Christus eine Seele gewinnen könnt.« Er unterließ keine Vorsicht, die ihn nicht an seiner Pflicht behinderte; worüber er dem Klerus auch Lehren und Vorschriften erteilte; und zugleich achtete er doch der Gefahr nicht, ja schien sie sogar nicht zu bemerken, wo er an sie herantreten mußte, um wohlzutun. Ohne von den Geistlichen zu sprechen, bei denen er immer war, um ihren Eifer zu beloben und anzuleiten, um den zu ermuntern, der etwa kaltsinnig von ihnen zu Werke ginge, um sie an die Stelle derer abzusenden, die umgekommen wären, wollte er, daß der Zugang zu ihm jedwedem freistünde, der seiner nötig hätte. Er besuchte die Lazarette, um den Kranken Trost und ihren Wärtern Mut zuzusprechen; er durchstreifte die Stadt und brachte den in ihren Häusern abgesperrten Armen Hilfe, verweilte an den Türen, vor den Fenstern, um ihre Klagen anzuhören und ihnen dagegen Worte des Trostes und der Ermutigung zu sagen. Kurz, er stürzte sich mitten in die Pest und lebte darin, am Ende selbst darüber verwundert, daß er glücklich davongekommen.

So gewahrt man bei allgemeinem Unglück und in langen Störungen der sogenannten gewohnten Ordnung der Dinge immer eine Zunahme, eine Steigerung der Tugend; aber leider fehlt nur auch zugleich nicht eine und zwar in der Regel viel allgemeinere Zunahme der Ruchlosigkeit, und hier war diese ganz außerordentlich. Die Schurken, die die Pest verschonte und nicht in Schrecken setzte, fanden in der allgemeinen Verwirrung, in der Erschlaffung aller öffentlichen Gewalt eine neue Gelegenheit zur Tätigkeit, und für einige Zeit eine neue Sicherung ihrer Straflosigkeit. Ja sogar die Ausübung der öffentlichen Gewalt selbst befand sich großenteils in den Händen der Schlimmsten unter ihnen. Zu dem Amte eines Monatto oder Apparitore eigneten sich im allgemeinen nur Menschen, über die die Anziehungskraft des Raubwesens und der Zügellosigkeit mehr als die Schrecken der Seuche als jeder natürliche Abscheu vermochte. Es war ihnen auf das allerstrengste ihr Verhalten vorgeschrieben, mit den härtesten Strafen gedroht, man hatte ihnen ihre Bezirke angewiesen, Kommissare vorgesetzt; über diesen und jenen standen in jedem Viertel obrigkeitliche Personen und Edelleute, denen man die Macht übertragen hatte, bei jedem Vorfall summarisch nach Rechtens zu verfahren. Eine solche Einrichtung hatte ihren Fortgang und tat ihre Wirkung bis zu einer gewissen Zeit; aber sowie die Toten und die Auflösung, die Bestürzung der Überlebenden zunahm, wurden jene gleichsam aller Aufsicht entledigt, machten sie sich, besonders die Monatti, zu unumschränkten Herren über alles. Sie betraten die Häuser als Gebieter, als Feinde und der Plünderung der Art gar nicht zu gedenken, wie sie die Unglücklichen behandelten, die die Pest dahin gebracht hatte, in solche Hände zu fallen, legten sie ihre verruchten, angesteckten Hände an die Gesunden, an Kinder, Eltern, Gatten, Gattinnen, mit dem Androhen, sie ins Lazarett zu schleppen, wenn sie sich nicht teuer loskauften oder loskaufen ließen. Ein anderes Mal forderten sie einen gewissen Preis für ihre Dienste und weigerten sich, die schon in Fäulnis übergehenden Leichname für weniger als so und so viel Scudi wegzuschaffen. Man meinte – und bei der Leichtgläubigkeit der einen und der Gottlosigkeit der anderen ist es gleich unsicher, daran zu glauben und nicht zu glauben – man meinte, und Tadino bestätigt es, Monatti und Apparitori ließen angesteckte Sachen mit Fleiß von den Wagen fallen, um die Pest zu verbreiten und zu erhalten, die für sie ein Einkommen, eine Herrschaft, ein Fest geworden war. Andere Heillose, die sich für Monatti ausgaben und an den Füßen befestigte Schellen trugen, wie es diesen als Unterscheidungszeichen und zur Benachrichtigung von ihrem Nahen vorgeschrieben war, verschafften sich Eingang in die Häuser, um darin jede Willkür zu begehen. In einige, die offen standen und von den Bewohnern verlassen, oder nur etwa von irgendeinem Siechen, von irgendeinem Sterbenden bewohnt waren, drangen Diebe ungehindert ein, um Beute zu machen; andere wurden von Häschern überfallen, gewaltsam angegriffen, die darin Räubereien und Ausschweifungen aller Art begingen.

Gleichmäßig mit der Ruchlosigkeit wuchs der Wahnsinn an; alle schon mehr oder minder herrschenden Irrtümer gewannen durch die Dummheit und Aufregung der Gemüter eine außerordentliche Kraft, fanden weit umfassendere und vorschnellere Anwendung. Und alle dienten dazu, jenen Hauptwahnsinn mit den Einsalbungen zu verstärken und zu vermehren, der, in seinen Wirkungen, in seinen Ausgängen oftmals, wie wir gesehen haben, zu einer anderen Ruchlosigkeit wurde. Die Vorstellung dieser vermeintlichen Gefahr bedrängte und peinigte die Gemüter noch weit mehr als die wirkliche und gegenwärtige. »Und während,« sagt Ripamonti, »die vereinzelten und zusammengehäuften Leichname, die die Lebenden immerdar vor den Augen und Füßen hatten, aus der ganzen Stadt gleichwie ein einziges Leichenbegängnis machten, war etwas noch Betrübteres, eine noch größere öffentliche Abscheulichkeit jener wechselseitige Ingrimm, das Unbegrenzte, Unförmliche des Argwohns ...«

»Nicht bloß vor dem Nachbar, dem Freunde, dem Gaste trug man Scheu, sondern auch jene Namen, jene Bande der Menschenliebe, Mann und Frau, Vater und Sohn, Bruder und Bruder flößten Schrecken ein, und es ist schauderhaft und unwürdig, es auszusprechen! der häusliche Tisch, das Ehebett ward wie ein Hinterhalt, ein Schlupfwinkel der Hexerei gefürchtet.«

Der eingebildete große Umfang, die Seltsamkeit des Anschlages verwirrten aller Urteil, erschütterten alle Gründe des ganzen gegenseitigen Zutrauens. Außer dem Ehrgeiz und der Habsucht, die man von Anfang an als Beweggrund der Salber angenommen hatte, träumte man in der Folge von einer gewissen teuflischen Wollust beim Salben, von einer den Willen fesselnden Anziehungskraft und glaubte daran. Die Fieberphantasie der Kranken, die sich selber dessen anklagten, was sie von den anderen gefürchtet hatten, schienen Enthüllungen und bewirkten gewissermaßen, daß man einem jeden alles zutraute. Und schlagender als Worte mußten die Beweise sein, wenn es sich zutrug, daß irreredende Pestkranke solche Gebärden machten, wie sie in ihrer Einbildung die Salber machen müßten; ein zugleich sehr wahrscheinlicher und dazu geeigneter Umstand, über die allgemeinen Überzeugungen und die Versicherungen vieler Schriftsteller bessere Aufklärung zu geben. Auf die nämliche Art dienten, in der langen und traurigen Zeit des gerichtlichen Verfahrens in Hexensachen, die Bekenntnisse der Angeschuldigten, die nicht immer erpreßt waren, nicht wenig dazu, die über sie herrschende Meinung zu befördern und zu erhalten. Denn wenn eine Meinung erst eine weite und lange Herrschaft erlangt, so drückt sie sich auf alle Weise aus, versucht alle Wege, durchgeht alle Stufen der Überzeugung, und nicht leicht werden alle oder sehr viele von etwas Seltsamen auf die Länge glauben, es werde getan, ohne daß jemand käme, der es zu tun glaubt.

Unter den Geschichten, die jene Verrücktheit mit den Einsalbungen hervorbrachte, verdiente eine wegen des Ansehens und der Verbreitung, die sie genoß, erwähnt zu werden. Man erzählte nämlich, nicht alle auf dieselbe Weise – denn das würde ein zu seltsames Vorrecht für Fabeln sein – aber doch ungefähr so, daß ein gewisser Jemand an einem gewissen Tage einen Sechsspänner habe auf dem Domplatze anhalten und darin mit einem großen Gefolge eine hohe Person, von vornehmem Wesen, aber düsteren und gebräunten Gesichts mit flammenden Augen, zu Berge stehendem Haar und drohendem Ausdruck der Lippen sitzen sehen. Der Zuschauer war eingeladen worden, in die Kutsche zu steigen und war eingestiegen; nachdem man eine kleine Strecke gefahren, hatte man haltgemacht und war vor dem Tore eines Palastes ausgestiegen, wo er, mit den anderen eingetreten, anmutige und schreckliche Dinge, Einöden und Gärten, Höhlen und Zimmer und darin Gespenster gesehen hatte, die zu Rate saßen. Endlich hatte man ihm große Kassen mit Geld gezeigt und gesagt, er möge soviel davon nehmen als ihm beliebe, wenn er zugleich eine Salbenbüchse sich zustellen lassen und damit in der Stadt umhergehen und einsalben wolle. Da er sich nun dies zu tun geweigert, so hatte er sich augenblicklich wieder an dem Orte befunden, wo er abgeholt worden war. Diese Geschichte, die hier im Volke allgemein geglaubt und nachdem, was Ripamonti sagt, von verständigen Männern nicht genugsam verspottet wurde, ward in ganz Italien und sogar im Auslande bekannt; in Deutschland stach man eine Zeichnung dazu; der Kurfürst Erzbischof von Mainz fragte brieflich beim Kardinal Federigo an, was man von den Wunderdingen glauben dürfe, die von Mailand erzählt würden, und erhielt von ihm zur Antwort, es seien Träume.

Von gleichem Werte, wo nicht durchaus von gleicher Beschaffenheit waren die Träume der Gelehrten, sowie die Wirkungen derselben denn auch gleich unheilvoll waren. Die meisten derselben sahen die Ankündigung und zugleich den Grund des Elends in einem Kometen, der im Jahre 1628 erschienen war, und in einer Konjunktion des Saturns mit dem Jupiter. »Indem,« so schreibt Tadino, »die gedachte Konjunktion sich so klar über dies Jahr 1630 neigte, daß jedermann sie verstehen konnte. Mortales parat morbos, miranda videntur.« Diese Weissagung, die hinterdrein, ich weiß nicht wann und von wem, aufgestellt worden, ging, wie Ripamonti meldet, von Mund zu Mund. Ein anderer, im Juni desselben Pestjahres hinzugekommener Komet wurde für eine neue Warnung, ja für einen offenbaren Beweis für die Salbereien gehalten. Man forschte in Büchern nach Beispielen von angestifteten Pestseuchen, wie man sie nannte, und machte ihrer leider die Menge ausfindig; man führte den Livius, Tacitus, Dio, was sage ich? Homer und Ovid und viele andere Alte an, die ähnliche Fälle erzählt oder berührt haben; an neueren hatte man einen noch größeren Überfluß. Es wurden hundert andere Schriftsteller angeführt, die über Gifte, Bezauberungen, Salben, Pulver wissenschaftlich abgehandelt oder beiläufig davon gesprochen haben; man führte Cesalpino, Cardano, Grevino, Salto, Pareo, Schenchio, Zachia und um zu enden, den unseligen Delrio an, der, wofern der Ruhm der Schriftsteller sich nach der Größe des Guten oder Bösen richtete, das ihre Werke gestiftet haben, einer der berühmtesten sein müßte; jenen Delrio, dessen » Disquisizioni magiche« – das Destillat alles dessen, was die Menschen bis zu seiner Zeit über diesen Gegenstand gefaselt hatten – die größte, die unverwerflichste Autorität geworden waren und länger als ein Jahrhundert als Richtschnur und mächtiger Antrieb zu gesetzlichen, schreckbaren, ununterbrochenen Henkereien dienten.

Von den Erdichtungen der ungelehrten Menge eigneten sich die Gebildeten an, was mit ihren Begriffen übereinstimmte; von den Erdichtungen der gebildeten Leute nahm der gemeine Mann an, was und so wie er es begreifen konnte, und aus dem allen bildete sich eine unverdaute, unförmliche Masse allgemeinen Aberwitzes.

Was aber noch mehr in Erstaunen setzt, ist, die Ärzte zu sehen, ich meine die Ärzte, die von Anbeginn an die Pest geglaubt hatten, ich meine besonders Tadino, der sie vorhergesagt, kommen gesehen, in ihrem Fortschreiten sie gewissermaßen im Auge behalten, der gesagt und gepredigt hatte, sie sei die Pest und werde durch Berührung übertragen; wenn man ihr nicht Einhalt tue, werde eine allgemeine Ansteckung erfolgen; diesen selben Tadino also darauf aus eben diesen Wirkungen einen sicheren Beweisgrund für die vergifteten, verhexten Einsalbungen entnehmen zu sehen, während er doch an dem Carlo Colonna, dem zweiten, der in Mailand an der Pest Gestorbenen, den Wahnsinn als einen Zufall der Krankheit betrachtet hatte. Als einen Beweis der Einsalbungen und der teuflischen Beschwörung führt er einen Fall an, wie zwei Zeugen ausgesagt, sie hätten einen kranken Freund erzählen hören, wie eines Nachts Leute in seine Kammer gekommen, die ihm die Gesundheit und Geld angeboten, wenn er die benachbarten Häuser salben wollte, und wie auf sein wiederholtes Weigern jene fortgegangen und an ihrer Statt ein Wolf unter und drei große garstige Katzen auf dem Bette zurückgeblieben wären, »die allda verweilt, bis daß es Tag geworden.« Wenn eine solche Art und Weise zu sprechen bei einem einzelnen Menschen vorgekommen wäre, so würde man sie gern einer ganz besonderen Dummheit, Gedankenlosigkeit seinerseits beimessen, und die Sache wäre nicht danach angetan, sie zu erwähnen; da sie sich aber bei vielen zeigte, so ist sie die Geschichte des menschlichen Geistes, und man ersieht daraus, wie sehr ein geordneter und vernünftiger Ideengang von einem anderen Ideengange, der sich ihm entgegenwirft, gestört werden kann. Übrigens war dieser Tadino hier einer der angesehensten Männer seiner Zeit.

Zwei ausgezeichnete und wohlverdiente Schriftsteller haben behauptet, der Kardinal Federigo hätte die Einsalbungen als Tatsache bezweifelt. Wir wünschten, wir könnten diesem berühmten und liebenswürdigen Angedenken ein noch vollständigeres Lob erteilen und den guten Prälaten in dieser wie in so vielen anderen Sachen als von dem großen Haufen seiner Zeitgenossen abgesondert schildern; aber wir sind anstatt dessen gezwungen, aufs neue in ihm ein Beispiel von der Gewalt einer geltenden Meinung auch über die edelsten Gemüter aufzustellen. Man hat wenigstens aus der Art, wie Ripamonti seine Gedanken anführt, ersehen, wie er von Anfang an wahrhaft in Zweifel stand; er hielt nachmals immer dafür, daß an jener Meinung Leichtgläubigkeit, Unwissenheit, Furcht, der Wunsch, die lange Fahrlässigkeit zu entschuldigen, mit der man gegen die Seuche verfahren war, großen Teil hätte; daß vieles dabei übertrieben, einiges aber doch zugleich wahr daran wäre. In der Ambrosianischen Bibliothek bewahrt man ein von seiner Hand geschriebenes Werkchen über jene Pest auf und eine von vielen Stellen, worin sein Gefühl sich derart ausspricht, ist die folgende: »Über die Art und Weise, sotane Salben zu bereiten und zu verbreiten, wurde viel und mancherlei gesprochen, wovon wir einiges für wahr halten und anderes uns wie völlig eingebildet vorkommt.«

Es gab jedoch auch deren, die bis an das Ende und hinterdrein immer dafür hielten, daß alles Einbildungen wären, und zwar wissen wir es nicht von ihnen, denn niemand war vermessen genug, öffentlich eine Gesinnung kundzugeben, die der des Publikums so sehr widersprach; wir wissen es von den Schriftstellern, die sie wie ein Vorurteil von einigen, wie ein Irrtum, den man sich nicht getraute unverhohlen zu vertreten, der aber doch bestand, verlachen oder sie tadeln oder widerlegen; wir wissen es auch von jemand, der es aus der Überlieferung gefolgert hatte. »Ich habe kluge Leute in Mailand gekannt,« sagt der gute Muratori an dem vorgenannten Orte, »die von ihren Vorfahren gute Nachrichten hatten und von der Wahrhaftigkeit des Umstandes mit den vergifteten Salben nicht sehr überzeugt waren.« Man sieht, daß die Wahrheit sich heimlich Luft machte, daß Vertrauen bestand; die gesunde Vernunft war da; aber sie hielt sich aus Furcht vor der öffentlichen Meinung verborgen.

Die alle Tage mehr gelichtete, durch alles bestürzte und verwirrte Obrigkeit verwendete all die geringe Wachsamkeit, all die wenige Entschlossenheit, der sie fähig war, eigentlich nur auf die Erforschung dieser Salber. Und leider wähnte sie nur allzu viele erforscht zu haben.

Die Urteile, die infolgedessen gefällt wurden, waren sicherlich nicht die ersten in ihrer Art; auch kann man sie in der Geschichte der Rechtsgelehrsamkeit wohl nicht als eine Seltenheit betrachten. Denn um des Altertums gar zu geschweigen und nur einiges aus den Zeiten anzuführen, die derjenigen näher stehen, von der wir handeln, wurden in Genf im Jahre 1530, dann 1545 und wieder 1574, in Casale Monferrato 1536, in Padua 1555, in Turin 1599, in Palermo 1526, in Turin neuerdings in demselben Jahre 1630 bald einer und der andere, bald viele Unglückliche als schuldig, entweder durch Pulver, oder durch Salben, oder durch Zauberkünste, oder durch alles zusammen die Pest fortgepflanzt zu haben, gerichtlich verfolgt und zu meistenteils höchst grausamen Martern verdammt. Aber so wie der Handel wegen der sogenannten Mailänder Einsalbungen vielleicht derjenige war, dessen Ruf am weitesten drang und der das längste Aufsehen machte, also ist er auch vielleicht von allen der bemerkenswerteste, oder, um richtiger zu sprechen, so hat man ein geräumigeres Feld, um Bemerkungen darüber zu machen, weil umständlichere und ausführlichere Urkunden von ihm übriggeblieben sind. Und obwohl ein nur eben erst belobter Schriftsteller sich damit beschäftigt, so hat es uns dennoch geschienen, da er sich nicht sowohl vorgesetzt, die eigentliche Geschichte zu geben, als vielmehr eine Beihilfe von Beweisgründen für einen noch würdigeren und wichtigeren Vorwurf daraus zu entnehmen, als könnte die Geschichte der Gegenstand einer neuen Arbeit werden. Aber dies ist keine Sache, über die mit wenigen Worten hinzugehen, und es würde uns doch zu weit führen, wenn wir sie mit der ihr gebührenden Rücksicht behandelten. Überdies dürfte der Leser, nachdem er einmal bei diesen Angelegenheiten verweilt, gewiß nicht mehr danach verlangen, diejenigen kennenlernen, die von unserer Erzählung noch im Rückstande sind. Wir behalten uns demnach die Erzählung jener in einer anderen Schrift vor und kehren denn jetzt endlich zu unseren Personen zurück, um sie nicht eher als bis am Ende wieder zu verlassen.


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