Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Enthält eine Vorlesung über Liebe aus dem Munde der personificirten Liebenswürdigkeit; – zeigt ferner, daß der Aberglaube so gut seine Süßigkeiten als seine Schrecken hat – desgleichen wie man den Einfluß eines bösen Auges vermeiden kann.
————
Als wir allein waren, untersuchte sie sorgfältig meine Kleider, um sich zu überzeugen, ob sie auch vollkommen reinlich seien. Es wäre vielleicht ein glücklicher Umstand für mich gewesen, wenn mich Mr. Root am nämlichen Tage oder sogar vierzehn Tage früher gepeitscht hätte, da die Spuren seiner Züchtigungen nicht sehr schnell vorübergingen. Ja, ich weiß nicht, ob eine Ausstäupung, die vor einem Monat vorgenommen worden wäre, nicht gleich entsprechende Dienste gethan haben würde. Er schrieb in der That eine starke, kühne Hand mit rother Dinte, die nicht so leicht verwischte. Da er jedoch seit meiner Krankheit keine Notiz von mir genommen hatte, so vermochte ich keine derartigen Merkmale aufzuweisen.
Nachdem sie mir meinen Anzug wieder zurecht gemacht hatte, zog sie mich abermals an ihre Seite und umarmte mich; wir sahen einander geraume Zeit stumm in die Augen.
»Ralph,« sagte sie endlich, ganz vergessend, daß der Fehler wechselseitig war, »weißt du nicht, daß es sehr unartig ist, den Leuten so scharf in's Gesicht zu sehen. Warum thust du es, mein Knabe?«
»Weil Ihr so gar, gar, gar hübsch seid und Eure Stimme so sanft ist; und weil ich Euch so sehr liebe.«
»Aber du mußt mich nicht zu viel lieben, mein süßer Knabe, weil ich nicht bei dir bleiben kann, um deine Liebe zu erwiedern.«
»Ach, Himmel, das schmerzt mich recht – weil – weil mich Niemand lieben wird, wenn Ihr's nicht thut. Der Schulmeister liebt mich nicht – die Unterlehrer lieben mich nicht – und bei den Knaben ist es der gleiche Fall; sie nennen mich nur den – –«
»Stille, Ralph! stille, mein armer Knabe,« unterbrach sie mich bis an die Stirne erröthend. »Du mußt mir nicht sagen, wie sie dich nennen. Kleine Knaben, welche Anderen Unnamen geben, sind gottlose und boshafte Knaben. Höre mich, Ralph! Du bist jetzt bald zehn Jahre alt. Du mußt dich ermannen und Niemand zu viel lieben – nicht einmal mich – denn allzuviel Liebe macht die Leute sehr unglücklich. Verstehst du mich, Ralph? Du mußt gegen Alle freundlich sein, und Alle werden deine Freundlichkeit erwiedern; aber es ist das Beste, nichts mit Leidenschaft zu lieben, den ausgenommen, Ralph, der dich lieben wird, wenn dich auch Alles haßt – der für dich sorgt, wenn dich Alles verläßt – deinen Gott!«
»Davon weiß ich nicht gar viel,« lautete meine Antwort. »Mr. Root sagt uns wöchentlich einmal, wir sollen auf Gott vertrauen – er werde die Unschuldigen beschützen, und dergleichen; und dann peitscht er mich wegen gar nichts, obgleich ich nach Kräften vertraue und ich doch gewiß weiß, daß ich unschuldig bin.«
Meine gute Pathe war hierüber nicht wenig erschüttert und bemühte sich, mich zu überzeugen, daß solche Ausdrücke gottlos seien, indem sie mich versicherte, alle Leiden geschehen nur zu unserem Besten; wenn mich daher Mr. Root ungerecht züchtige, so werde mir's jenseits vergolten, er selbst aber dafür bestraft werden – ein Trost, der nicht sonderlich bessernd auf meine moralischen Gefühle wirkte, da ich mich stillschweigend entschloß, mich meinem Schulmeister zu einigen extra ungerechten Züchtigungen in den Weg zu stellen, damit derselbe die volle Wohlthat davon in einem künftigen Zustande zu genießen kriege.
Der frühen Jugend sollten nur die Lehren der Moral eingeprägt, dagegen die Geheimnisse der Religion einem reiferen Alter überlassen werden. Nach häufigen Liebkosungen und vielen guten Rathschlägen, die ich um des innigen Tones willen, in welchem sie gegeben wurden, für sehr schön hielt, bat ich die Dame auf's Flehentlichste und unter einem Schauer von Küssen, sie solle mich zu meiner Mutter nach Hause nehmen.
»Ach, mein lieber Knabe,« lautete die Antwort. »Mrs. Brandon ist nicht deine Mutter.«
»Ich habe dies früher nie glauben können; – aber gleichviel, ich liebe sie ebenso sehr, als ob sie's wäre. Doch wo ist meine Mutter? Wenn Ihr nicht so schön wäret, würde ich Euch bitten, meine Mutter zu sein. Die andern Knaben haben alle eine Mutter und einen Vater dazu.«
Die Dame drückte mich an ihre Brust, küßte mich unter Thränen und sagte:
»Ralph, ich will deine Mutter sein, obschon du mich nur als deine Pathe betrachten darfst.«
»Oh, wie freue ich mich darüber; und wie soll ich Euch nennen?«
»Mama, mein liebes Kind.«
»Nun, Mama, wollt Ihr mich nicht mit nach Hause nehmen? Ich meine nicht jetzt, sondern nur an Vakanztagen, wenn alle Andern zu ihren Mama's gehen? Ich will ja gewiß gut sein. Wollt Ihr nicht, Mama?«
»Komm her, Ralph. Ich hatte Unrecht. Du mußt mich nicht Mama nennen. Ich könnte es nicht ertragen. Ich bin dir nie eine Mutter gewesen, mein armes Kind. Auch kann ich dich nicht mit nach Hause nehmen. Mit der Zeit geschieht's vielleicht. Denke nicht zu viel an mich, aber glaube ja nicht, daß du nicht geliebt seiest. Oh, du wirst in der That sehr heiß geliebt; aber jetzt mußt du machen, daß auch deine Schulkameraden dich lieben. Ich habe zu Mr. Root gesagt, er solle dir wöchentlich sechs Pence geben; da hast du auch acht Schillinge, und in der Halle wirst du eine Schachtel mit Spielzeug und einen großen Rosinenkuchen finden. Deinen Kameraden mußt du deine Spielsachen borgen und deinen Kuchen mit ihnen theilen. Aber jetzt, mein lieber Knabe, kann ich nicht länger bei dir bleiben. Du mußt nicht denken, daß ich deine Mutter sei, sondern darfst mich blos als eine sehr gute Freundin betrachten. Gott segne dich und wache über dir. Werde nicht kleinmüthig und vergiß nicht, daß man für dich sorgt und dich liebt – oh, und wie zärtlich liebt!«
Mit einem glühenden Segenswunsche und einer gleich glühenden Umarmung trennte sie sich von mir. Als ich mich umsah und fand, daß sie das Zimmer verlassen hatte, war es mir, als ob sich die Sonne plötzlich verdunkelt hätte und ich im Dämmerlichte weiter wandern müsse. Die Dame war so ungemein schön und mußte in dem Hause, wo sie wohnte, wie ein lichter Geist umherwandeln; ja, ich dachte mir ihre liebliche Person von einem verkörperten Strahle der Freude und des Segens umgeben.
Als ich traurig nach meinem Bette hinausging und unter die Decken kroch, fühlte ich schon in dem Umstande, sie wieder gesehen zu haben, einen Schutz gegen die Unheimlichkeit meines Schlafgemachs. Das Haus, welches jetzt in eine große Schule umgewandelt worden, war früher einer von den Vorstadt-Palästen der Königin Elisabeth gewesen und hatte sehr weite Räume; einige von den Zimmern prunkten jetzt in einem modernen Anstrich, andere aber waren belassen worden, wie sie vor Jahrhunderten gewesen. Das Gemach, in welchem ich schlief, war eines der kleinsten und enthielt nur zwei Betten, das eine für die Wirthschafterin, eine sehr achtbare, alte Dame, das andere für mich selbst. Je zuweilen hatte ich einen Schlafkameraden, zu andern Zeiten aber auch nicht. Das Zimmer war dem Anscheine nach ursprünglich eine Vestibule oder ein Vorgemach zu einem größeren gewesen; jetzt aber stand es als Abgrenzungszeichen für das Gebäude da, denn auf der einen Seite war Alles alt, auf der andern Alles modern. Es erhielt sein Licht durch ein einziges, schmales, aber hohes gothisches Fenster, dessen kleine runde Scheibchen zum Theil noch farbig waren. Die fachartig gewölbte Decke trug noch stellenweise eine verblichene Vergoldung. Die Simse und Steinverzierungen sprangen aus den vier Ecken hervor und liefen in dem Mittelpunkte zusammen, wo ein gut erhaltener und in großer, gespenstischer Schönheit gearbeiteter Medusenkopf in der Mitte seiner Schlangenlocken grinste. Außerdem gab es an der Decke noch andere groteske Gestalten, obschon die Meduse das hervorstechendste Ornament war und, wo man nach ihr aufblicken mochte, den Beschauer durch ihre gemalten hölzernen Augen mit dummer Strenge ansah. Wenn ich einen Schlafkameraden hatte, so war es stets ein Auswürfling wie ich – irgend ein armer Tropf, der nicht nach Hause gehen und sich beklagen konnte, daß er in der »Gespensterkammer« habe schlafen müssen. Die Knaben erzählten sich seltsame Geschichten von jenem Gemache, und Alle glaubten, daß der Boden mit Blut befleckt sei. Ich stellte oft, sowohl bei Tag als bei Nacht, Untersuchungen an; die Dielen waren sehr alt, von Eichenholz, dunkel und mißfarbig, aber auch meine aufgeregte Phantasie vermochte nichts zu entdecken, was wie Blutflecken aussah. Dennoch konnte ich, wenn ich allein in dem Gemache war (denn die Wirthschafterin erschien selten vor Mitternacht) und das stets auf dem Tische stehende, flackernde matte Lampenlicht seine unsicheren Strahlen aufwärts warf, so daß der Medusenkopf wie lebendig zitterte – entsetzt unter meine Decken kriechen und in der Angst meines Herzens beten, daß es Morgen sein möchte. Es war in der That ein furchtbares Gemach für ein träumerisches Kind, wie ich, dem man die Existenz der Geister wie einen Glaubensartikel eingeprägt, und das man schon früher durch abergläubische Schreckbilder bis an den Rand des Grabes gehetzt hatte.
Aber über alles Dies beklagte ich mich nie. Ich habe nicht Verdienst genug, um mich rühmen zu können, daß ich stolz bin, denn der Stolz hat stets etwas Adelndes an sich; aber ich war eitel, und die Eitelkeit befähigte mich, mir die Außenseite des Muths anzueignen. Wenn ich von den wenigen Schulkameraden, die mit mir umgehen mochten, gefragt wurde, wollte ich nichts von Geistern oder Furcht wissen. Dies wurde mir in der Folge zur Ehre angerechnet. Außerdem hatte ich ein eigenthümliches Gegenmittel gegen den Blick des bösen Auges an der Decke aufgefunden. Was ich nun berichte, mag auffallend und bei einem zehnjährigen Knaben unglaublich erscheinen, aber doch ist es reine, ungeschminkte Wahrheit. In demselben Augenblicke, in welchem ich für diese Memoiren zu meiner Phantasie und nicht zu meinem Gedächtnisse Zuflucht nehmen müßte, würde ich die Feder niederlegen. Ich fühle mich überzeugt, daß ich viel Pikanteres und Unterhaltlicheres berichten könnte, wenn ich erfinden wollte, aber dann ginge die moralische Kraft der wirklichen, strengen Wahrheit an meinen Lesern verloren.
Kehren wir jedoch zu dem erwähnten Gegenmittel zurück. In der Kirche, welche wir besuchten, befand sich ein Altarblatt von kräftigem Kolorit; es stellte die jungfräuliche Mutter vor, welche sich mit unaussprechlicher Anmuth über das schlafende Jesuskind niederbeugte. Der Stuhl, in welchem ich saß, war entfernt genug, um die Produktion des Künstlers recht täuschend zu machen, und der Heiligenschein um das Haupt der Madonna wurde durch meine Einbildungskraft noch mehr gehoben. Bei solchen Gelegenheiten schenkte ich jenem Antlitze und der wohlwollenden Haltung weit größere Aufmerksamkeit, als dem Gottesdienste. Wenn dann die Schrecken meiner verlassenen Lage mich in dem einsamen Bettchen zu beschleichen begannen, so konnte ich, ohne meine Phantasie sehr anzuspornen, mir jenes holde Mutterbild vergegenwärtigen, so daß es für mich sichtbar in dem Gemache schwebte und den todten Blick des Gesichtes über mir austilgte. Ich pflegte vor mich selbst die Worte hinzuflüstern: »Dame mit dem Heiligenscheine, komm und bleibe bei mir.« Dann konnte ich meine Augen schließen und mir vorstellen, ja sogar fast versichert sein, daß sie zugegen sei. Unter einem solchen Schutz schlief ich dann friedlich ein.
In der Nacht nach dem Besuche meiner Pathe rief ich aber, als ich trostlos in mein Bettchen kroch, nicht mehr nach der Dame mit dem Heiligenscheine, sondern nach meiner süßen Mama, und auch sie kam und segnete meinen sanften Schlummer. Zuverlässig muß jenes schöne Wesen meine Mutter gewesen sein, denn sie kam lange und spielte die Rolle eines Schutzengels an der Seite ihres Kindes, indem sie über meinem Pfühle wachte, bis ich in die Ruhe der Unschuld sank.
Erst kürzlich, in einem Alter von vierzig Jahren, besuchte ich abermals jene Kirche. Ich betrachtete angelegentlich das Altarblatt, war aber erstaunt und unangenehm berührt. Das Ganze war eine grobe Kleckserei. Die Frische des Kolorits hatte sich durch den Schmutz der Jahre und durch den Mehlthau einer feuchten Atmosphäre verdunkelt. Von der Schönheit des Ausdrucks und von der Eleganz der Haltung waren wohl noch einige Reste vorhanden, aber als Kunstwerk konnte es nur eine untergeordnete Stelle einnehmen. Das Alter zerstört leider so manche schöne Täuschung. In der That, die Jugend und die Begeisterung sind die besten Maler.
*