Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ralph regenerirt sich und wird für eine halbe Stunde fromm. – Er singt den Vers einer Hymne, vermeidet eine Lüge und findet darin seine Belohnung, daß er zum Frühstück gebeten wird.
————
Welch' ein artiges, wechselvolles, sentimentales, freudiges, thränenreiches, scheltendes und lobendes Werk ließe sich nicht unter dem Titel schreiben: »Betrachtungen auf dem Stengenkopfe!«
Als ich gemächlich in meinem luftigen Domicile Platz genommen, blickte ich fast mit mitleidigem Gefühle auf das Schiff unter mir, dann schaute ich mit eigentlichem Entzücken um mich her, und endlich sah ich mit warmherziger Gluth der Anbetung nach oben. Auf meinem hohen Sitze kamen mir die Decken der Fregatte außerordentlich lang und schmal vor, und in der Vogelperspektive erschienen mir die darauf Wandelnden nur wenig größer und bedeutsamer, als eben so viele Puppen. Unter mir erblickte ich den ergrimmten Urheber meiner Erhöhung, da und dort hinhüpfend, um während des Waschens der Decke nicht durchnäßt zu werden. Ich konnte nicht umhin, zwischen der Widerlichkeit eines derartigen, unwillkürlichen Tanzes mit der Hinterwache, die mit klappernden Eimern umherging und mit nassen Schwappern ihre Dosen austheilte – und meinem gemächlichen, Alles überblickenden Ruhepöstchen auf den Kreuzbäumen eine Parallele zu ziehen. Ich sah auf Lieutenant Silva nieder und bemitleidete ihn – schaute umher und war im Herzen über die Maßen froh. Der obere Rand der Sonne spielte mit einer Scharlachwolke, während der größere Theil der Scheibe bereits scharf abgegränzt unter dem tiefblauen Horizont lag. Alles weiter oben bis zum Zenith war von leichten Dünsten gestreift, Schichte über Schichte, wie die Schuppen eines Brustharnisches von polirtem Golde. Die kleinen Wellen schienen neckisch mit der Glorie des Himmels wetteifern zu wollen, denn sie blitzten jetzt in lebenvollem Lichte, nahmen dann wieder die glühende Farbe der Rosenknospe an und bildeten da und dort Kränze von leichtem Schaum, das Lächeln der Jugend nachahmend, wenn sie ihre weißen Zähne zwischen den Schönheit hauchenden Lippen zeigten. Als ich mich auf meinem Posten mit der sanften Bewegung eines in der Wiege liegenden Kindes schwang und die Herrlichkeit meiner Umgebung betrachtete, hob sich mein Busen in hoch entzückter Erregung. Ueberall, so weit mein Auge reichen konnte, war das durchscheinende, beryllfarbige Wasser mit weißen Segeln bestreut, die in den Strahlen der Morgensonne rosig erglühten. Weit, weit im Sterne lagen mit nicht sichtbarem Rumpfe die ungeheuern Trägsegler, alle ihre Leeleinwand dem Winde preisgebend und mich an erschreckte Schwäne mit ausgebreiteten Fittigen erinnernd. Hauptsächlich fielen mir da die zwei schrägsegelnden Kriegbriggen in's Auge, die bald da, bald dort eine Kanone abfeuerten und ihren Donner mit melodischer Resonanz über das Wasser schickten, während die vielfarbigen Signale ohne Unterlaß abwechselnd flatterten. Sie waren die Habichte unter dem Schwarme der größern, weißgefiederten Vögel.
Unsere ritterliche Fregatte steuerte voll selbstbewußter Ueberlegenheit wie ein jugendlicher, königlicher Riese, noch majestätischer durch ihr leichtes Takelwerk, in der Mitte. Wie schon bemerkt, hatte sie eben ihre Bramsegel gesetzt, um ihre stolze Stellung im Vortrabe einzunehmen. Wir kamen nun an einem Schiffe nach dem andern vorbei, die, je nach ihren Segelkräften, mit verschiedener Menge von Tuch ausgestattet waren. Es war ein glorreicher Anblick, der in meinen Augen durch seine ruhige, erhebende Großartigkeit jede andere Heerschau, wie prachtvoll auch die Truppen und wie groß ihre Anzahl sein mochte, bei weitem übertraf. Dabei küßte die Brise ihre Wangen so frisch, flüsterte meiner aufgeregten Phantasie so angenehme Dinge zu und belebte die Fibern meines Herzens so erfreulich, daß ich mich auf meinem Posten überglücklich fühlte.
Wenn die Seele sich in edlen und reinen Gefühlen erweitert, sind auch die Empfindungen des Dankes nahe, und auf ihre lächelnde Einladung erscheint freudig die Frömmigkeit und faltet ihre Hände – nicht jene sektirerische Frömmigkeit, welche, statt des Erbarmens, die Schaale des Zorns auf eine irrende Welt ausgießt; nicht jene Frömmigkeit, welche mit Verdammniß um sich wirft und den Raum, in welchem nur die wenigen Geretteten eingepfercht sind, mit jedem Tage enger begränzt; auch nicht jene bigotte, auf die Sinne wirkende Frömmigkeit, welche auf dem Weihrauch, der den marmornen Altar umwirbelt, schwimmt und ohne die Vista der dunkeln Kirche, ohne Prozessionen, Chorgesänge, Fahnen und Reliquien keinen Gott sehen kann. Nein, in keiner derartigen Weise wird sich die Frömmigkeit eines Herzens kund geben, das über die Wohlthaten einer gütigen Allmacht jubelt. Warum hätte ich auch wünschen sollen, unter aufgethürmte, ekle Steinmassen zu kriechen? Mögen immer hochstrebende Architekten zu Theben vergängliche Bogen ausgespannt und in Rom nicht unsterbliche Säulen aufgerichtet haben, aber kann sich das Gehirn des Menschen einen schöneren Dom denken, als den, der über meinem Haupte glühte? Mit feurigem Golde durchwirkt und mit so herrlichen Wolken besäet, daß es fast Sünde wäre, nicht zu glauben, jede derselben verschleiere einen Engel; das endlose Gewölbe, rund umher auf dem saphirnen Horizonte sich aufstützend und zu meinen Füßen sich in jenes tiefe, unermeßliche Blau verlierend, welches der beste Typus der Ewigkeit ist – war dies nicht ein passender Tempel für die Andacht. Welcher Weihrauch ließ sich je mit dem vergleichen, welchen die Natur über die Wellen und durch die Lust gebreitet hat? Alles dies sah und fühlte ich. In meinem Aufblick nach oben war ich mit einemmale verzückt und gedemüthigt. Vielleicht dachte ich in jener Stunde zum erstenmal, seit ich die Tummelplätze meiner Schulknabenzeit verlassen hatte, an die Nähe Gottes. Ach, nur zu oft hatte ich sein Zeugniß freventlich anrufen und seinen geheiligten Namen eitel nennen hören müssen, aber in der letzten Zeit war ich an diese beharrliche Entweihung gewohnt worden. Das Werk der Demoralisation hatte begonnen – ich fühlte es – und dieses Bewußtsein erfüllte mein Herz mit dem Schmerzgefühle schuldiger Scham. Ich erhob mich voll Andacht auf den Kreuzbäumen, nahm meinen Hut ab und durchging im Geiste die Gebete, die man mich in der Schule gelehrt hatte. Als ich zu mir sagte: »ich habe gethan, was ich hätte unterlassen sollen, und habe unterlassen, was zu thun meine Pflicht gewesen wäre,« erschrak ich über das Uebermaß von Sünde, das ich zu bekennen hatte. Ich glaube, daß ich zerknirscht war, und nahm mir vor, mich zu bessern. Die harte Rinde, welche der kürzliche Leichtsinn meines Lebens um mein Herz angelegt, löste sich allmälig ab, und ich fühlte mich weich gestimmt gegen Alle, die mir je Liebe erwiesen hatten. Mein Geist vergegenwärtigte sich die Stunde, in welcher ich zum letztenmal mit derjenigen zur Kirche gegangen war, welche ich so gerne hätte für meine Mutter halten mögen. Diese stumme Andacht und diese Gefühle von Heimweh reinigten mein Inneres und machten mich über die Maßen glücklich. Endlich bemächtigte sich meiner eine so segenvolle, heitere Ruhe, daß ich für einen Augenblick ganz darauf vergaß, daß ich mich bloß lächerlich machen würde, und laut jene Morgenhymne zu singen begann, die ich viele Jahre, bis ich in den Dienst getreten war, nie unterlassen hatte.
»Erwache, Seel, und mit der Sonne
Beginne deinen Tageslauf.«
Und ich gestehe, daß ich die ganze erste Strophe durchsang.
Ich bin überzeugt, daß Niemand hierüber spötteln wird. Der Gute thut – der Böse wagt es nicht. Auch der Schlechteste unter uns, selbst wenn seine Sünde den Harnisch des Unglaubens angelegt hat, muß sich der Zeit erinnern, in welcher er an einen Gott der Liebe glaubte und sich dieses Glaubens freute. Um dieser Periode des Glückes willen wird und kann er nicht den Ausdruck seliger Gefühle verdammen, die er freiwillig – und wenn er sein Herz fragen und auf dessen Antwort hören will – unglücklicherweise weggeworfen hat.
Es wird übrigens lange anstehen, ehe ich den Leser wieder mit einem ähnlichen Ergusse belästige. Es kamen viele Tage des Irrthums und Nächte der Sünde, ehe ich auch nur ein einzigesmal wieder in meinem Herzen einkehrte. Die Gefühle, mit welchen ich auf dem Stengenkopfe betete, sind dahin – dahin für immer. Wie oft und mit wie bittern Gefühlen habe ich mir nicht gesagt: »O, daß du damals gestorben wärest!«
Wenn es im Himmel Erbarmen gibt – ich sage es mit Verehrung – so fühle ich mich überzeugt, daß ein Hingang zu jener Stunde für mich nur ein Schließen der Augen auf Erden gewesen wäre, um alsbald in dem Schooße einer glücklichen Unsterblichkeit zu erwachen. Seit jener Zeit hat die Welt ihren Fuß auf meine Brust gesetzt, und ich krümmte mich unter der widerlichen Last. Obschon im Staube kriechend, gab ich voll sündigen Stolzes und Selbstvertrauens Verachtung für Verachtung, Schimpf für Schimpf – und sogar Unrecht für Unrecht.
Ich bin ein jämmerlicher Hund gewesen, das ist gewißlich wahr; aber – –
Ich mußte sogar herbergen und heulen mit Hunden, die weit schlimmer waren, als ich selbst, und das ist gleichfalls wahr.
»Großer Stengenkopf da oben,« quickste der sehr unangenehme Diskant des Kapitän Reud, der eben auf das Deck gekommen war, als ich meine Hymne sang; »schüttelt Eure Trägheit ab und rafft Euch auf. Mr. Rattlin, was sagt Ihr?«
»Wie, Sir?«
»Ich frage, was Ihr sagt – wie viele Segel sind in Sicht?«
»Ich kann's nicht ausfindig machen, Sir.«
»Warum nicht? Habt Ihr sie denn nicht gezählt?«
Wie ich vorhin andeutete, hatte ich meinen Hut abgenommen und stand in einer Verzückung der Andacht da; der Kapitän aber dachte ohne Zweifel, ich sei nur deßhalb baarhauptig, um meine Augen beschatten und das Convoy besser zählen zu können. Eine Lüge lag nun nahe und ich fühlte mich versucht, die Frage mit Ja zu beantworten. Meine bessern Gefühle gewannen jedoch die Oberhand, und so antwortete ich auf die Gefahr eines Verweises hin:
»Noch nicht, Sir.«
In diesem Augenblicke gab Mr. Silva, der wachhabende Lieutenant, den Stengenkopfauslugern ihre Befehle und schickte den Signalmann hinauf, um mir im Zählen des Convoys Beistand zu leisten. Zu gleicher Zeit überbrachte mir Letzterer die Kunde, wenn wir die Zahl ausgefunden hätten, könne ich wieder hinuntergehen.
Ich kam auf das Deck und erstattete meinen Rapport.
»Freut mich sehr, Mr. Rattlin,« sagte der Kapitän beifällig, »zu sehen, daß Ihr so aufmerksam auf Euern Dienst seid. Ohne Zweifel gingt Ihr aus eigenem Antrieb herauf, um das Convoy zu zählen?«
»Nein, Sir,« versetzte ich mit vieler Demuth; »das war leider nicht der Fall.«
»Wie? ich meinte doch, als ich auf das Deck kam, Euch singen zu hören.«
»Ich wurde zur Strafe nach dem Stengenkopf geschickt, Sir.«
»Zur Strafe nach dem Stengenkopf geschickt? Der Tausend – weswegen?«
Bei dieser Frage schlich sich die Rachsucht mit ihrem hinterlistigen Hauche heran, um mir ihr Gift in's Ohr zu flüstern; aber eine Stimme, auf deren Warnungen ich leider nur zu selten hörte, schien in den Nischen meines Herzens Einrede zu thun und zu sagen: »sei großmüthig«. Hätte ich boshafterweise die Wahrheit gesagt, so würde ich zuverlässig Hohn, oder vielleicht gar Verweise auf das Haupt des Lieutenants herabgezogen und für mich selbst Beifall geärndet haben. Ich antwortete daher in Kürze:
»Wegen Ungebührlichkeit gegen Mr. Silva, Sir.«
Und ich fand einen reichlichen Lohn in dem beredten Blicke und in den fast sich feuchtenden Augen, die mein kürzlicher Verfolger auf mich warf. Ich wußte dies zu deuten und erkannte von Stund an, daß er ein weit besseres Loos verdiente, als fortgesetzte Neckerei, bloß deßhalb, weil er einen Ausdruck unglücklich in Anwendung gebracht hatte. Auch gelobte ich mir in meinem Innern, die Expedition auf- und abwärts auf dem Rio de la Plate mit exemplarischem Eifer zu lesen.
»Es freut mich,« sagte der Kapitän, »daß Ihr aufrichtig Euer Vergehen eingesteht und dasselbe nicht respektwidrig zu rechtfertigen versucht. Ich hoffe, Mr. Silva, es ist nicht von der Art, daß ich ihn nicht an unserem Frühstück Theil nehmen lassen könnte?«
»Keineswegs,« entgegnete Silva, und sein Gesicht funkelte von Entzücken; »er ist ein guter Junge. Ich habe Ursache, zu sagen – ein sehr guter Junge.«
Ich verstand ihn, und obgleich keine Erklärungen zwischen uns stattfanden, blieben wir doch, bis er von dem Schiffe vertrieben wurde, die besten Freunde.
»Nun,« sagte der Kapitän, während er sich umwandte, um die Halbdeckleiter hinunterzusteigen, »ihr Beide werdet zu der gewöhnlichen Zeit euch euern Weg in die Kajüte pflastern. Ich bin überzeugt, Mr. Silva, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden, wenn ich auch den Zahlmeister dazu bitte, denn da ich über das Passende des Ausdrucks noch nicht mit mir in's Reine gekommen bin, so können wir die Sache in einer freundlichen, gutmüthigen Weise besprechen.«
Mit diesen Worten verschwand er; in seinen Zügen zeigte sich aber ein so boshafter heiterer Blick, wie ihn kein anderes Gesicht, als das seinige, auszudrücken vermochte.
Beim Frühstücke ging es wie gewöhnlich zu. Autorität, welche die Schadenfreude unter der Maske der Verlegenheit verbarg, auf der einen, und schriftstellerische Hartnäckigkeit, die sich schnell in tiefen, persönlichen Groll auflöste, auf der andern Seite.
*