Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der fünfte November. – Kriegerische Bewegungen, denen schulmeisterliche Beredtsamkeit vorangeht – und ein versalztes Diner, welchem Dunkel-Arrest und Entschiedenheit folgt.
————
Ich will nun die schmerzliche Schilderung der Epoche, welche ich als die trostlose bezeichnete, zum Schlusse bringen. Der fünfte November kam heran. Ich war jetzt beinahe zwei Jahre in der Schule gewesen, ohne viel mehr als die harte Lehre des Duldens gelernt zu haben; letztere aber hatte ich aus dem Grunde studirt. Bis jetzt war ich noch nicht so glücklich gewesen, Freunde zu finden. Knaben sind abwechslungsweise sehr tyrannisch und sehr edel. Sie quälen und unterdrücken den Paria einer Schule, weil es Brauch ist, dies zu thun, erheben aber in gleicher Weise ihren Helden und sind sehr empfänglich für die Bewunderung wagehalsiger und wilder Thaten. Ihre erste Tugend ist der Muth, während der edle Sinn mehr eine untergeordnete Rolle spielt. Sie schmiegen sich unter den Starken um des Schutzes willen, und machen dem Freigebigen aus Eigennutz den Hof. In alledem unterscheiden sie sich vom den Erwachsenen in nichts, als daß sie unmaskirt zu Werke gehen. Nun, der fünfte November kam heran, an welchem ich die enthusiastische Epoche meiner Schulknabenexistenz beginnen sollte. Ich war nun zwölf Jahre alt. Durch das schulmeisterliche Prügelsystem fast unempfindlich gegen körperlichen Schmerz gemacht, war ich groß und kräftig, gleichgültig und furchtlos geworden. Meine erste Heldenthat fand in Mitte der Aufregung eines »Ausschließens« Statt – und zwar eines, das gegenwärtig noch in der Umgegend, wo es stattfand, im Gedächtniß ist.
Ich habe bereits bemerkt, daß die Schule nie weniger, als zweihundert und fünfzig Zöglinge – bisweilen sogar fast dreihundert – zählte. In der Zeit, von der ich spreche, war die Anstalt eigentlich überfüllt; auch hatten wir viele ziemlich herangewachsene Jünglinge unter uns. Es waren nicht mehr die Zeiten, in welchen sich Personen von neunzehn und zwanzig Jahren auf das Roß setzen ließen und ihre paar Dutzend mit demüthiger Erbauung hinnahmen. Heutzutage kultiviren wir in diesem Alter unsere Schnurrbärte, sprechen von unsern Joe Mantons, schicken einen Freund aus, um Erklärungen zu fordern, und was dergleichen mehr ist. Oh, wie sehr hat sich Alles zum Bessern gekehrt! Freilich, in jener Periode war die Ruthe kein eingebildeter Popanz.
Man hatte nur die Wahl zwischen Hinnahme der Straft oder Verstoßung, und da die Regierungsform eine despotische – obendrein eine despotische von dem gehässigsten Charakter war, so traten je zuweilen große Erschütterungen ein. Ich will nun die größte unter der Herrschaft von Root dem Ersten schildern.
Mr. Root war launenhaft. Bisweilen trug er seinen schönen Kopf wohlgepudert, das anderemal gelockt, ohne Puder, wieder zu andern Zeiten schlichtes Haar, ohne Puder oder Locken. Er gehörte zu den Kirchenpflegern, und wenn sein Kopf voll Amtseifer war, so konnte man dies schon an der Masse des Mehles in seinen Haaren erkennen, da dasselbe ganz im Einklange mit den Ideen von seiner eigenen Bedeutsamkeit und Untrüglichkeit aufgetragen war. An Konzertabenden im Ballsaale trug er Locken – dies die Zeit seiner verliebten Eroberungen; und wenn er als Kapitän der berittenen – – Freiwilligen zur Parade zog, war sein Haar schlicht: das militärische Feuer ließ ihm keine Zeit, sich mit den Zierereien der Mode abzugeben. Dies sind nur kleine Eigenthümlichkeiten, die übrigens in dem Charakter eines großen Mannes eine hohe Bedeutsamkeit gewinnen. Mit gekräuseltem Haar war er scherzhaft und neckisch – im schlichten hielt er auf strenge Mannszucht und militärische Subordination; dies war die Zeit, in welcher die Ruthe besonders freigebig geschwungen wurde. Im Puderprunke war er jedoch ganz unerträglich. Er vereinigte dann in sich die ganze Strenge des Soldaten und die Rechthaberei des Pädagogen, nebst der Selbstgenügsamkeit des Gecken und der Herrschsucht eines Kirchenpflegers.
An dem denkwürdigen fünften November erschien Mr. Root mit ausgesucht gepudertem Haare in dem Schulzimmer.
Die kleinen Knaben zitterten, während die von fünfzehn bis zwanzig unter verschiedenen Vorwänden hinauszukommen suchten. Die großen machten finstere und entschlossene Gesichter. Es war zwölf Uhr, und etliche Dreißig oder Vierzig – mich selbst mit eingeschlossen – hatten gebührend die Ruthe genossen, wie dies in der Mittagsstunde üblich war. Nach Ablauf dieser periodischen Operation, bei welcher der weiße Kopf viel Puder umherstreute, kommandirte der Schuldespot Stillschweigen. Sogar die gegeißelten Knaben gewannen es über sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken; das Scharren der Füße hörte auf, und die mit Schnupfen Behafteten unterdrückten ihren Niesereiz. Nachdem ein Knabe wegen Hustens nachträglich abgestraft war, begann Mr. Root folgendermaßen:
»Junge Gentlemen, es ist bisher Brauch gewesen – herkömmlich ist's gewesen, sage ich, daß ihr Erlaubniß erhaltet, in den Feldern ein Freudenfeuer anzuzünden und an diesem Reminiscenztage des fünften Novembers euer Feuerwerk abzubrennen. Kleine Knaben, nehmt eure Wörterbücher und schlagt das Wort Reminiscenz auf.«
Ein Gewühl nach den Büchern, während Mr. Root sich breit machte und auf- und abstolzirte. Zwei Knaben balgten sich um dasselbe Wörterbuch; einer davon erhielt einen Schlag auf die Nase, daß er laut aufschrie – ein Verbrechen, für das er augenblicklich gepeitscht wurde. Die Ruthe in der Hand, fuhr nun Mr. Root fort:
»Junge Gentlemen, ihr kennt meine Methode – meine Methode ist euch wohl bekannt, sage ich – Unterhaltung mit Belehrung zu verbinden. Nun, junge Gentlemen, die große Conflagratio – zehnte, neunte und achte Bank, schlagt das Wort Conflagratio auf – die große Conflagratio, sage ich, durch diese pyrotechnische Schaustellung veranlaßt – siebente, sechste und fünfte Bank, sucht das Wort pyrotechnisch. Mr. Reynolds (dies war der Hauptlehrer der alten Sprachen), Ihr werdet mich ganz besonders verbinden, wenn Ihr, während ich spreche, weniger laut Eure Prise nehmt, denn das Schnüffeln ist ganz unausstehlich!«
»Schlagt das Wort ›Schnüffeln‹ auf!« rief eine Stimme aus dem hintern Ende der Schule. Große Verwirrung – der Schuldige blieb unentdeckt, und ungefähr vierzig auf zwei verdächtigen Bänken wurden je zu viertehalb Pence Strafe verurtheilt. Mr. Root fuhr in großer Entrüstung fort:
»Ich werde kein Freudenfeuer mehr erlauben – nein, gar keins mehr; weder Feuerwerk, noch etwas der Art.«
Alles dies sagte er in seiner natürlichen Stimme. Dann schwoll mit seiner Würde auch seine Diktion, indem er beifügte:
»Was übrigens den großen Haufen verbrennbaren Materials betrifft – ich sage, was das verbrennbare Material betrifft, welches ihr gesammelt habt, so soll – damit ihr des Verdienstes einer guten Handlung nicht beraubt werdet – gedachtes Material – das heißt, die Holzscheite und die Reisbündel sammt dem Pfahle und dem Theerfaß verkauft und das Geld am nächsten Sonntag in die Armenbüchse gelegt werden, welche ich, als einer der Kirchenpfleger an der Kirchenthüre hinhalten werde; denn an gedachtem Tage wird der hochwürdige Vater in Gott, der Herr Bischof von Bristol, über die christliche Liebe predigen. Es ist eure Christenpflicht, den Armen Almosen zu geben. Alle Klassen, mit Ausnahme der ersten und zweiten, sollen das Wort Almosen aufschlagen. Ich sage, man müsse den Armen Almosen geben. Ihr werdet mir daher alles Feuerwerk, das ihr in euern Spielschachteln habt, zu demselben löblichen Zweck ausfolgen. Der Diener wird nach dem Mittagessen herumgehen und es einsammeln. Ich sage, der Diener soll es nach dem Mittagessen einsammeln. Außerdem, junge Gentlemen, habe ich euch noch zu sagen, daß die Kirchenpfleger und die städtischen Obrigkeiten entschlossen sind, den Guy Faux abzuschaffen, und er soll demgemäß abgeschafft sein. So also, junge Gentlemen, werdet ihr besser thun, eure Erholungszeit vor dem Mittagessen zu benützen, denn Nachmittags wird keine Vakanz sein, und ich werde es nicht dulden, daß einer nach dem Thee hinausgeht, damit kein Unheil geschehe.«
Nachdem er also gesprochen, entließ er die Schule und schritt majestätisch von hinnen.
O Leser! kannst du dir das Entsetzen, den Unwillen und die Wuth denken, welche der Hof der Aldermänner entfalten würde, wenn sie sich hungrig zu einem Bürgermahle niederließen und auf einmal die Nachricht erhielten, daß alles Eß- und Trinkbare von einer Gesellschaft Leiterdieben entführt worden sei? Kannst du dir den Zorn vergegenwärtigen, welcher in den Gesichtern einer ganzen Familie adlicher Synekuristen entbrennen würde, wenn sie die amtliche Eröffnung erhielten, daß hinfort ihre Gehalte nur ihren Dienstleistungen entsprechen sollen? Nein, Alles dies kannst du dir nicht vergegenwärtigen; aber weder ein nach Schildkrötensuppe lüsterner Alderman, noch ein von Leckerbissen gemästeter Synekurist vermöchte unter gedachten Belästigungen an Wuth und Haß dem der demüthigsten Knaben in Mr. Roots Schule nur halbweg nahe zu kommen, als ihnen der volle Umfang der tyrannischen Beraubung, welche an ihnen begangen werden sollte, vor Augen trat. Hatten sie nicht lange schon gehofft? Waren sie nicht vertrauensvoll dem Pfannenkuchenladen aus dem Wege gegangen – waren sie nicht sehnsüchtigen Blicks an dem Pastetenbäcker vorbeigeschlichen – und hatten sie nicht andächtig der Versuchung des Zwiebackofens widerstanden, um ihr Taschengeld für diese eine, große Gelegenheit aufzusparen; und nun sollten alle ihre Hoffnungen und Opfer in Rauch aufgehen? Ja, wäre dies nur noch der Fall gewesen; so aber war es entschieden, daß weder Feuer noch Rauch dabei in Frage kommen sollte. Bethörter Pädagoge! Unglückliche Entscheidung!
Die Knaben machten keinen Gebrauch von der Erlaubniß, zum Spielen hinauszugehen. Sie rotteten sich einmüthig zu finstern Haufen zusammen, und die Rebellion schritt auf den Zehnspitzen von einer Partie zur andern. Die kleinen Knaben machten großartige, und die großen noch großartigere Gesichter; die Jünglinge sahen bedeutungsvoll drein, und die Halbpensionäre flüsterten ihre Besorgnisse den Unterlehrern zu, während letztere sich halblaut mit den Lehrern, und diese sich vorsichtig mit den lateinischen, französischen und mathematischen Hauptlehrern besprachen. Diese brachten ihre Bedenken bis zu den Ohren des furchtbaren Dominus selbst, welcher jedoch nur mit geringschätzigem Lachen seinen gepuderten Kopf schüttelte.
An jenem kalten, nebeligten fünften November saßen wir Alle so kalt, wie der Tag, zum Mittagsmahle nieder, und unsere Blicke waren so düster, wie die Atmosphäre. Unter dem Geklapper der Messer und Gabeln verbreitete sich von Tisch zu Tisch das Gerücht, daß eben ein Karren den ungeheuren Vorrath von Brennmaterial, der für das Freudenfeuer gesammelt war, wegführe. Wir hatten muthige Geister unter uns, und auf Vielen lagerte der Ausdruck ruhigen Trotzes. Der Grund erklärte sich bald, denn ehe wir von unserm Mahle aufstanden, stiegen ungeheure Flammensäulen von dem Felde auf. Der Haufen war an zwanzig Orten zumal angezündet worden, und bei diesem Anblick erschütterte ein gleichzeitiger, ununterdrückbarer Jubel die Wände des Schulzimmers. Die Dienstmädchen, welche bei Tische aufwarteten, schrien in ihren eigenthümlichen musikalischen Noten, und eilten vor Furcht und Verwunderung hinaus. Auch die Schüler stürzten gegen die Thüre, und einige Wenige gingen die Treppe hinunter. Die Lehrer hatten jedoch bald die Thüre geschlossen, und diejenigen, welche entkommen waren, wurden zurückgebracht. Auch die Läden der Fenster, welche nach dem Feuer hinausgingen, wurden zugemacht, und so befanden wir uns mitten am Tage in einem Zustande der Dämmerung.
Jeden Augenblick eine thätliche Kollision mit ihren Zöglingen erwartend, sammelten sich die Haupt- und Unterlehrer, etwa sechszehn an der Zahl, an dem untern Ende des Gemachs in der Nähe der Thüre, einmal, um sich gegenseitig unterstützen, und dann, um zeitig entfliehen zu können. Der halbunterdrückte Lärmen unter dreihundert Knaben, die theilweiser Finsterniß an Heim gegeben waren, wurde mit jedem Augenblick stärker; er glich dem Tosen unter dem Boden, das einem Erdbeben vorangeht. Noch keiner hatte bis jetzt lauter als der andere gesprochen – die Stimme des Schulmeisters war noch nicht vernommen worden. Der dumpfe Lärm war wie ein fernes Summen, und hätte er nicht so gar nachdrücklich und so gar menschlich getönt, so hätte man ihn mit der Wuth von Myriaden Bienen, die zu ihrer todten Königin in das Dunkel ihres Korbes eingezwängt sind, vergleichen können.
*