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Elftes Kapitel.

An diesem Tage – immer noch dem ersten, der auf die Bankettnacht folgte, in der dritten Nachmittagsstunde – ereignete es sich, daß eine indische Gauklertruppe die Seitengasse, woran das Polizeipräsidium mit dem Gewahrsam stößt, lärmend heraufgezogen kam, um möglichst viel Neugierige anzulocken, denen sie für geringe Kupfermünzen ihre phantastischen Künste zeigen wollten.

Die Truppe, sechs Mann stark, wurde von einem würdevollen Alten angeführt. Selbstbewußt und des Befehlens scheinbar gewohnt, trat der Alte auf. Trotz seines Alters entbehrte der Körper des Mannes gleichwohl nicht einer elastischen Geschmeidigkeit. Das ließ besonders sein federnder Gang erkennen. Die von Natur aus nicht niedrig gebaute Stirn hatte durch das abrasierte Vorderhaar an Höhe und Wölbung nur gewonnen. Große, die zuströmenden Gaffer wie absichtlich übersehende Augen, von langen Wimpern umrandet, erweckten durch die eigentümliche Höhlenwölbung und dicht zusammengewachsenen Brauen darüber den Eindruck, daß hinter diesen weltabgekehrten Blicken träumerischer Glanz, Kraft und Glut verborgen sein müsse. Er sowohl, wie seine Gefährten trugen an Kleidung weiter nichts auf ihren nackten Bronzeleibern, als eine weite, nur von den Büsten bis zum Knie reichende, baumwollene Hose. Der Kopf war mit dem landesüblichen Turban angetan. Farbe jetzt unbestimmbar: früher möglicherweise blau oder grün gewesen.

Unmittelbar vor dem großen Tor zum Gewahrsam machte der Trupp Halt. Mit einer Behutsamkeit und spannungerregenden Langsamkeit ließen die Gaukler zwei Körbe zu Boden, die sie an langen, biegsamen Bambusstangen über der Schulter getragen hatten. Der Führer und zugleich Hauptakteur der Gauklerbande wartete mit der Ruhe eines geborenen Philosophen die Beendigung der Vorbereitungen ab.

Plötzlich schlug er voll die Augen auf, musterte die drängende, halsreckende Menge, und augenblicks verstummte aller Lärm.

Nicht ohne eine gewisse feierliche Wichtigkeit nahm er aus den Händen eines seiner Gefährten die Tumril entgegen. Diese von allen indischen Schlangenbeschwörern benutzte Flöte ist ein Mittelding zwischen einer solchen und einem Dudelsack. Sie besteht aus einer Pfeife, die in einem gehöhlten Kürbis steckt, aus dem nach unten zwei etwas längere Röhren mit Löchern hervorstehen. Indem der Schlangenbeschwörer diese Löcher abwechselnd öffnet und schließt, entlockt er dem Instrument sanfte, schläfernde und doch eindringliche Töne. Die ganze, nur uneigentlich so zu nennende Melodie besteht im Grunde genommen aus einem einzigen, stets sich wiederholenden, gleichsam fixen Gedanken von drei Tönen, die durch einen traumverlorenen Dreivierteltakt zu einem musikalischen Ganzen gebunden werden.

Gleich beim ersten Klange klappten die Deckel der dickbauchigen, wie Riesenkürbisse anmutenden Körbe zurück, und heraus ringelten sich mehrere ausgewachsene Exemplare der ungemein gefährlichen Gattung der Brillenschlangen. Sie umringten den Bläser und standen für eine kurze Weile aufgerichtet da. Dem schaukelnden Oberkörper diente lediglich das zusammengerollte Schwanzende als Stützpunkt.

Rückwärts schreitend, beschrieb der Beschwörer mehrere Kreise und verschlungene Figuren, gefolgt von dem giftigen Gewürm. Bei allen seinen Vorführungen achtete der Beschwörer darauf, daß die am Ende der Flöte befestigten, glitzernden Gläser von den Schlangen stets gesehen werden mußten. Vor allem lockte er damit seine Lieblingsschlange, ein gewaltiges Tier, an sich. Plötzlich streckte er seinen nackten linken Arm aus und schwenkte ihn dicht vor ihrem Rachen. Die Kobra schoß wie ein Blitz darauf zu, hieb ihre spitzen, rückwärts gebogenen Zähne in das Fleisch und schlang ihren Leib um den Körper ihres Herrn.

Voll der Verwunderung über diese glänzende Leistung legten die Zuschauer den Finger des Beifalls auf die Lippe des Schweigens.

Plötzlich wurden barsche Rufe laut. – Polizeisoldaten erschienen auf der Bildfläche und trieben mit Knüffen und Püffen das müßige Volk der Gaffer auseinander, um Raum zu schaffen, für einen schwarzangestrichenen, kastenartigen Wagen, der durch das geöffnete Eisentor in den Polizeigewahrsam hineinrumpelte. Unbegreiflicherweise hatte der Beschwörer darüber die anderen Schlangen aus dem Auge gelassen, so daß es geschehen konnte, daß einige in den Hof des Gewahrsams entwichen, ehe noch der Schlüsselmeister Zeit gefunden hatte, das Tor wieder zuzuschlagen. Mit der Natur dieser gefährlichen Tiere sehr wohl bekannt, fluchte, bat und beschwor er den Anführer der Gauklertruppe, doch ja die Biester wieder einzufangen.

Der Beschwörer hörte den Beamten gelassen an und sagte Erfüllung zu. Als er an der Seite des Schlüsselmeisters die Pforte durchquerte, blieb er plötzlich stehen, schüttelte nachdenklich den Kopf und murmelte in einem fort: »Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

Basakuta, der gleichfalls stehen geblieben war, schaute den Beschwörer verwundert an. »Was willst du damit sagen? – Was soll hier nicht mit rechten Dingen zugehen?«

Der Gaukler trat dichter an den Beamten heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Das will ich dir gleich erklären. Höre mich an, Bruder, und vernimm, daß dies das erste Mal in meinem langen Leben ist, daß sich die Schlangen meiner Macht entzogen haben. Soweit ich die Zeichen der Gottheit verstehe, bedeutet das, daß hinter diesen Mauern geknechtete Unschuld um ein Gottesgericht seufzt. Sprich selbst, Bruder, und stehe Antwort, ob hier nicht ein frisches Verbrechen um Sühne schreit?«

Der Schlüsselmeister mußte seiner frischen Missetat gedenken und wurde ungeduldig und unruhig. Rasch genug jedoch ließ ihn der feste Glauben an das seiner Göttin wohlgefällige Werk seine Beherrschung wiederfinden. Und er erwiderte mit dreister Stirne: »Wenn Selbstmord ein Verbrechen ist, mögen deine Worte vom Tau der Wahrheit benetzt sein.«

»Von wem redest du, Bruder?«

»Von wem sonst, als von der blonden Engländerin, die sich aus Reue, Verzweiflung und Gewissensbissen heute morgen in ihrer Zelle erhängt hat.« Und mit einer deutenden Handbewegung auf die schwere, eiserne Gittertür zum Gefängniskorridor: »Schau selbst, eben trägt man den Sarg hinein.«

Beim Anblick des sehr ärmlichen, rohgezimmerten Bretterkastens, der gerade durch die Zellentür geschoben wurde, stieg in der Brust des Gauklers eine furchtbare Ahnung auf. – »Du willst doch damit nicht sagen, daß Mrs. –«. Im letzten Augenblicke hielt er mit dem Worte noch zurück, als wäre er im Begriffe gewesen, eine Unvorsichtigkeit zu begehen.

Basakuta musterte den Gaukler mit einem mißtrauischen Blicke, »was sagen –? Kennst du denn auch die Mrs. Besant – he?«

»Nein –, woher auch?« ereiferte sich der Beschwörer. »Der Name ist mir neu. Darf man wissen, was sie begangen hat?«

Dem Schlüsselmeister blieb zur Beantwortung dieser Frage keine Zeit mehr. Die am entgegengesetzten Ende des Korridors liegende Verbindungstür zwischen Präsidium und Gewahrsam hatte sich geöffnet. Seinen überraschten Blicken zeigte sich zunächst die hohe Gestalt eines vornehmen Engländers, der bei seinem Eintritt unwillig schnupperte, als protestierten seine beleidigten Geruchsnerven gegen den hier herrschenden üblen Geruch. Mit der rechten fingerte er nach einem Goldkettchen mit einem blitzenden Glas, das er sich ins Auge klemmte. Hinter ihm tauchte das dem Schließer schon besser bekannte Gesicht des Polizeirats Rocket auf, der sich respektvoll zur Linken der unbekannten, aber sicherlich sehr hohen Persönlichkeit hielt und eifrig auf den Herrn einsprach.

»Gerade kein angenehmer Aufenthalt«, meinte Seine Lordschaft der Gouverneur von Bombay mit einem Blick über die niedrigen Zellentüren.

»Sie haben vollkommen recht, Mylord«, beeilte sich der stellvertretende Polizeichef beizupflichten, getreu seiner Zwienatur: biegsam und widerspruchslos nach oben, hart und eigenwillig nach unten. Auf dem kurzen Wege von seinem Dienstzimmer nach dem Gewahrsam hatte er sich vergebens den Kopf darüber zerbrochen, weswegen wohl der Gouverneur ausgerechnet diese verflixte Besant zu sehen wünschte, wo Seine Lordschaft sich doch täglich, ja stündlich die Schaustellung eines gehenkten, geköpften, erschossenen oder sonstwie getöteten Hindu hätte leisten können. Da sich seinem grübelnden Verstande kein anderer greifbarer Anhalt bot, mußte John Rocket irgendeinen krankhaften Sinnenantrieb als bewegende Ursache voraussetzen.

»Mylord haben vollkommen recht«, fand Mr. Rocket als Ausdruck seines bedingungslosen Glaubens an die Richtigkeit der Aussprüche des Herrn Gouverneurs zu wiederholen für geboten. »Falls jedoch gestattet sein sollte, den eigentlichen Bestimmungszweck dieses Hauses in Berücksichtigung zu ziehen, so ist es wohl nicht zu viel, wenn man sagt: Für einen Hindu immerhin eine komfortable Sommerwohnung, ein Erholungsheim sozusagen?«

» Very well«, nickte der Gouverneur kurz.

Er hatte den Genußmenschen der letzten Nacht jetzt völlig abgestreift, war nur noch englischer Verwaltungsbeamter. Dieser hatte die selbstverständliche Pflicht, alle staatlichen Einrichtungen unbeschadet ihrer etwa mangelhaften Beschaffenheit für gut zu befinden. Er weilte hier offiziell. Erschien in höchsteigener Person im Polizeigewahrsam, um sich eine Frauensperson vorführen zu lassen, die sich auf dem vorabendlichen Bankett in einer gegen die Sicherheit des britisch-indischen Dominions gerichteten Weise bemerkbar gemacht hat, und erfährt hier aus dem Munde des stellvertretenden Polizeichefs, daß sich die hier verdächtige Person am selben Morgen durch den Tod des Erhängens dem irdischen Richter entzogen hat. – Das ist doch ein seltenes Beispiel peinlichster Gewissenhaftigkeit seitens eines indischen Gouverneurs, dem Millionen von Menschen unterstehen.

Daß die Selbstmörderin einst dem skrupellosen Genießer nahegestanden hat, das ist des Lords Privatsache. Daß beim unvermuteten Anhören der Todesnachricht einer Frau, die ihn in unliebsamer Weise eines Tages hätte bloßstellen können, nicht der flüchtigste Schimmer schadenfreudiger Genugtuung sein Antlitz durchschienen hatte, das ist Sache des Trainings. Keines gemeinen Sterblichen Auge brauchte von diesem versteinten Antlitz abzulesen, was für Gedanken hinter der breiten, geglätteten Stirn kamen und gingen.

Vor der Tür der Zelle Trümmer 7 angelangt, hielt der Gouverneur einen Augenblick inne. Eine Vorfreude will voll ausgekostet sein.

Seine Lordschaft mußten sich etwas bücken, um durch die niedrige Tür eintreten zu können. Polizeirat Rocket wechselte einen raschen Blick mit dem herbeigeeilten Schlüsselmeister. Streifte mit einem zweiten Blick, wie fragend, die Gestalt des Schlangenbeschwörers und folgte dem Gouverneur in die Zelle.

Beim Eintritt der hohen Herrschaften waren die Träger gerade dabei, den Deckel des Sarges abzunehmen. Verschoben aber diese Arbeit bis zum Weggang des Sahibs und traten stumm zurück. Über die Leiche hatte man eine Decke geworfen. Sicherlich nicht aus Mitleid. Oben am Fenstergitter wehte das blonde Haar im Zugwinde.

In demselben Augenblick hatte irgend jemand auf dem Korridor draußen ein schrilles Pfeifen ausgestoßen.

Gleichzeitig erscholl aus dem Bauche des Sarges ein dumpfes Geräusch. Und langsam und lautlos, wie von Geisterhänden getragen, hob sich der Deckel des Sarges in die Höhe und polterte seitwärts auf die harten Fliesen.

Träger und Schlüsselmeister wichen entsetzt von hinnen. Mr. Rocket, dem das Gewissen zu schlagen begann, fand nicht mehr Kraft zu entfliehen. Leichenfahl taumelte er gegen den Türpfosten. Ihn schauderte bis ins innerste Mark. Alle Stärke war von dem gewaltigen Manne gewichen.

Der Gouverneur selbst stand wie zur Bildsäule erstarrt da, den Oberkörper halb umgewendet.

Näher und näher glitt der Basiliskenblick der dem Sarg entstiegenen Kobra auf ihn zu. –

»Hilfe! Lu–ft –«

Und er fand doch keine.

Unerbittlich schnürte die gereizte Kobra den Körper des Gouverneurs ein. Ganz dicht vor seinen Augen sah der Lord die schwarzen, brillenartigen Ringe auf der geblähten Kragenhaut.

Sein letzter Gedanke galt – Lady Garcia–...

Dann schwanden ihm die Sinne. Und nicht eher gab der muskulöse Schnürleib den Eingeengten frei, bis daß ihm Brustkorb und Wirbelsäule eingedrückt waren–...

Zum zweiten Male an diesem schicksalschweren Tage hatte der Allwürger Tod seinen Einzug in Zelle Nummer 7 gehalten.


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