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Achtzehntes Kapitel.

Mr. Harry Webster, der Unermüdliche, wandelte nachdenklichen Blickes in seinem Arbeitszimmer auf und ab, das herausdestillierte Ergebnis seiner bisherigen Entdeckungen noch einmal überdenkend. Von Zeit zu Zeit blieben seine Blicke auf dem Schreibtisch haften, aus dessen Platte in friedlichem Beieinander so verschiedene Gegenstände, wie: eine Haarlocke Durlanas, die er sich zu Vergleichszwecken von ihrem Vater hatte ausbitten lassen, ihre blauschwarzen Flechten, der Roßschweif, die fremdartige Gemme und mehrere Bände Sanskrit-Literatur ein erzwungenes Stilleben bildeten.

Dies ungefähr war die Gedankenreihe die sich Mr. Harry Webster in der Stille seines Arbeitszimmers noch einmal durch den Kopf hatte gehen lassen:

Basakuta, Kerkermeister im Bombayer Polizei Gewahrsam, hatte unter verdächtigen Begleiterscheinungen einen seiner angeblich erkrankten Frau abgeschnittenen Haaresschopf zum Verkauf gebracht. Schätzungsweise mußte der Inder hoch in den fünfziger Jahren stehen. Seine Frau konnte demnach nicht sehr viel jünger sein. Höchstens zehn Jahre. In diesem Alter ist aber das Haupthaar selbst einer Inderin nicht mehr von so intensivem Schwarz und wohl auch nicht mehr so geschmeidig wie das erstandene. Gegen einen überraschenden Besuch bei seiner Frau, der alles auf gedeckt hätte, hatte sich der Inder mit Händen und Füßen gesträubt. Andrerseits hatte das bloße Gegenüberhalten von Durlanas Locke und dem gekauften Haar augenscheinlich den Beweis der gemeinsamen Herkunft beider erbracht. Locke wie Haar waren gleicherweise zart und geschmeidig. Beide teilten sich in die tiefschwarze Farbe, die bei gewissen Lichteinwirkungen, wie die praktischen Versuche lehrten, denselben unverkennbaren Schimmer ins Stahlblaue hatte. Auch die Länge stimmte mit Dschidschibhais Angaben überein.

Hinzu kam das wichtigste Geständnis Basakutas, Durlâna habe sich in ihrer Zelle erhängt. Dieser Fassung schenkte der Detektiv nur halben Glauben. Mit zwanzig Jahren – so alt war Durlâna – stirbt sichs nicht leicht. Alles im Menschen drängt in diesen Jahren nach Lebensbejahung. Die Jugend liebt das Leben mit einer an fanatische Inbrunst grenzenden Leidenschaftlichkeit. Zäh hält sie am Leben im Lichte fest. Sie kämpft erforderlichenfalls darum bis zum äußersten.

Aus seiner reichen Praxis erinnerte sich der Detektiv zweier bezeichnenden Beweisfälle. Im ersten Falle handelte es sich um einen bald sechzigjährigen zum Tode verurteilten Mann. Mit schlotternden Knien, geistig und körperlich völlig gebrochen, war er zum Schafott gewankt. Die Gehilfen des Scharfrichters hatten den Mann förmlich stützen müssen, sonst wäre er leichtlich am Fuße des schauervollen Gerüstes zusammengebrochen. Anders ein achtzehnjähriges Mädchen und dreifache Mörderin. Der Anblick des unheimlichen Hochgerichts, wo sie unter dem harrenden Fallbeil ihr junges, schäumendes Blut verspritzen sollte, peitschte sie in einen regelrechten Tobsuchtsanfall hinein. Jede Fiber in ihr schrie, jeder Blutstropfen kochte nach Leben. Sie rang buchstäblich darum mit ihren Henkern. Krallte sich in ihre Arme ein, biß, kratzte, schlug, trat und spie um sich wie eine Wildkatze. Nur mit Aufgebot aller Kraft war es den vereinten Bemühungen der drei muskulösen Männer möglich geworden, diesen sprühenden Paroxismus eines um ihr rettungslos verwirktes Leben verzweiflungsvoll kämpfenden Mädchens zu ersticken. – »Ich bin doch noch so jung!« schrie sie in einem fort, daß es schaurig von den düstere Kerkermauern widerhallte. »So jung und schon sterben. Laßt mich leben!«

Triftige Gründe also sprachen entschieden gegen den behaupteten Selbstmord der Parsi. Nach der Darstellung des Inders hätte Durlâna mit ihrem eigenen Haar sich an das Fensterkreuz der Zelle aufgeknöpft Wie hätte sie das bewerkstelligen sollen? Dazu hätte sie doch eines scharfen Gegenstandes – eines Messers oder Schere – bedurft, um das Haar abschneiden zu können und dann eine Schlinge daraus zu drehen. Die Haftvorschriften gestatten aber nicht den Besitz eines scharfen Gegenstandes. Und dann: wäre das Haar wirklich am Fensterkreuz festgeknüpft gewesen und hätte es mindestens für die Dauer von fünf Minuten die Last eines hängenden Körpers zu tragen gehabt, dann müßte dieses Haar auf jeden Fall Spuren einer so gewaltsamen Einwirkung aufweisen. Hinterläßt doch schon bei nur kurzer Anwendungsdauer ein einfacher Lockenwickel auf Stunden, ja Tage, seine welligen oder krausen Spuren. An Durlânas Haar war aber nicht das geringste dem ähnliches zu bemerken.

Wesentlich anders – und das war fürs erste noch rätselhaft – lagen die Dinge bei dem gefärbten Roßschweif, den Mr. Webster ohne sonderliche Mühe als solchen entlarvt hatte. Ihrem Aussehen nach konnten diese Pferdehaare sehr wohl um einen Gegenstand geschlungen gewesen sein. Hier lag höchstwahrscheinlich ein Betrugsmanöver vor. Basakuta, der nach seinen eigenen Worten die schwarzen Haare mit in den Sarg hätte legen sollen, unterließ aus gemeiner Habgier solches. Zugegeben nun die Richtigkeit der Annahme, daß Durlâna von dritter Hand gewaltsam vom Leben zum Tobe gebracht wurde, zugegeben, daß der gefärbte Roßschweif an das Fensterkreuz geknüpft worden war, was anders folgert daraus, als daß irgendwer irgend jemand den Tod der Mrs. Besant vortäuschen wollte. »Dem Namen nach starb die Besant,« hatte der Inder ja selbst gesagt. Diesem konnte nur an seinem Vorteil etwas gelegen sein, der geistige Urheber des herzlosen Schwindels mußte wo anders zu suchen sein. – Wo nun gleich?

Halt –! Der Schlüsselmeister hatte sich ja selbst als abgesagten Feind vom Zeitungslesen bekannt. Eine eingehende begründete logische Schlußfolgerung hatte den Detektiv früher schon darauf gebracht, in dem Polizeirat John Rocket den Urheber der Dreizeilennotiz zu sehen. Vom Wort zur Tat ist nur ein Schritt. Die richtige Besant mußte aus der Zahl der Lebendigen gestrichen werden. Damit mußte die Tat gleichen Schritt halten. Es wäre nun ein mehr als erwünschter Zufall, hätte sich ausgerechnet an dem Tage eine Inhaftierte erhängt, wo Mr. John Rocket einer weiblichen Leiche bedurfte, um Mrs. Mary Besant desto sicherer totsagen zu können. Da der Schlüsselmeister, der ja »mehr wußte als alle Zeitungsleser zusammen«, Besants Namen als den der Toten nicht aus der Zeitung erfahren hatte, mußte er naturnotwendigerweise vom Polizeirat selbst instruiert worden sein.

Wer von beiden war nun der Mörder?

Daß sich ein Engländer die Hände mit der Berührung einer » damned coloured« beschmutzen würde, war nicht sehr wahrscheinlich. Mr. John Rocket hatte dies gemäß seiner Stellung auch garnicht nötig. Er brauchte nur zu befehlen. Sache der Untergebenen war es, blindlings zu gehorchen. Nun liegt es aber, wie eine alte kriminalstatistische Erfahrung lehrt, sozusagen im Instinkt eines Verbrechers, möglichst wenig Mitwisser zu haben, wenn sich deren schon nicht entraten läßt. Es ist dies das oberste Gebot eines eingeborenen Selbstschutzes. Jeder weitere Mitschuldige ist eine gesteigerte Gefahr des Entdecktwerdens. Geradezu typisch lag der Fall bei dem elften Ludwig von Frankreich, den seine Furcht vor Mitwissern so weit trieb, daß er sogar die Mütze, unter der sein verbrecherischer Sinn eine neue Missetat ausgesonnen hatte, sofort und eigenhändig verbrannte. »Sie könnte etwas verraten!« waren ständig seine Worte. – Allerdings ist dieses Schulbeispiel ein besonders krasses. Aber geschichtliche Tatsache.

Den Schlüsselmeister mußte der Polizeirat ins Geheimnis einweihen, da anzunehmen war, daß er wenigstens bis zur Masseneinlieferung der Straßendemonstranten die üblichen Namenlisten geführt hatte. Aus dem Mitwisser wurde dann der Mitschuldige. Dann stand die Sache immer noch auf nur vier Augen, was dem Prinzip des größtmöglichen Selbstschutzes in diesem Falle entsprochen haben würde.

Der sehr ehrenwerte Mr. John Rocket war demnach der Spiritus rector des gemeinen Mordes an Durlâna; der skrupellose Basakuta ihr Mörder.

Dies war das Endergebnis der Kombinationen Mr. Websters.

Daß Basakuta trotz seiner erwiesenen Habgier sich in der Teestube so flink aus dem Staube gemacht hatte, ohne die Bezahlung des Roßschweifes abzuwarten, konnte zum Teil auf der Furcht beruhen, als Fälscher und Betrüger entlarvt zu werden. Mit dieser Möglichkeit hatte er aber von vornherein rechnen müssen. Die näheren Begleitumstände seines plötzlichen Verschwindens wiesen noch auf einen anderen Grund hin.

»O Kali! Omra Nurrheddin!«

Mr. Webster hatte lange Zeit über die Bedeutung dieses Ausrufes des beim Anblick des Steines am Halse der Leiche so heftig erregten Kerkermeisters nachgesonnen, sich sogar durch Nachschlagewerke und Lexika aller möglichen Idiome hindurchgewühlt, ohne den Sinn dieser Worte erschließen zu können. Sie schienen einer Geheimsprache zu entstammen. Der Widerstand der Materie reizte den Detektiv.

Noch einmal ging er sorgfältig die Bestände der Hausbibliothek, die ihm der Nizam zur Verfügung gestellt hatte, durch und zog nach längerem Suchen ein vergilbtes Buch von ziemlich unscheinbarem Äußern ans Licht, das handschriftlich in Ramasyana abgefaßt war. Wie aus einer Erläuterung des neuindischen Übersetzers hervorging, war dies die Geheimsprache der Thugs, der schon näher beschriebenen Sekte der Würger. Nach mühseligem Studium hatte der Detektiv endlich herausgefunden, daß »Khali«, auch »Kali« und »Kaley« geschrieben, gleiche Namen seien für die furchtbare Göttin des Todes, der jeder Würger möglichst viele Menschenopfer darzubringen verpflichtet ist. Aus der nachfolgenden Schilderung des Geheimbundes und ihrer Gebräuche ersah der Detektiv, daß die Thugs ein Seidentuch, Rumal genannt, ihren unglücklichen Opfern über den Kopf zu werfen pflegen, um es dann mit der Phansi, einer elastischen Schlinge aus Aloefasern, vollends zu erdrosseln.

Plötzlich, durch einen Seitenblick auf Durlânas Haar ausgelöst, durchzuckte den Detektiv eine blitzhaste Ideenassoziation, und die letzten Zusammenhänge der Mordaffäre entschleierten sich seinem geistigen Blicke.

»Aha –!« sagte er und erhob sich langsam vom Schreibtisch, »der Ring schließt sich. Dieser Basakuta ist zweifelsohne ein Thug, der nach der Vorschrift seiner entsetzlichen Religionslehre die arme Durlâna statt mit der üblichen Schlinge aus Aloefasern einfach mit ihrem eigenen Haupthaar erdrosselte. – Arme Durlâna!–...

»Der Ausruf: »O Kali! Omra Nurrheddin!« fuhr er in seinem Gedankengang fort, »mag unter Umständen das Kennwort der Eingeweihten jenes Würgerbundes sein. Man muß ihn sich auf alle Fälle merken. Auch ihre sonstigen Erkennungszeichen. Und dieser Stein hier,« – Mr. Webster wendete und betrachtete die geschnittene Gemme von allen Seiten – »was mag der wohl zu bedeuten haben? Ist es nur eine Auszeichnung? Oder ein Abzeichen – –«

Es klopfte.

Ehe er öffnen ging, räumte der Detektiv die Gegenstände zur Seite; einem inneren Antrieb jedoch folgend, legte er sich die Schnur mit dem Stein um den Hals, nachdem er durch einen Fernspiegelapparat sich vergewissert hatte, daß ein indischer Diener draußen harre.

Das Gesicht der Tür zukehrend rief er laut: »Herein!«

Der Diener erscheint, macht die vorgeschriebenen Salaams, stockt nach den ersten Schritten. Die Hand, die das Tablett mit dem Telegramm hält, befällt ein starkes Zittern, wie hypnotisiert, starrt der Kuli nach dem tiefleuchtenden Stein auf seines Herrn Brust, wirft sich ihm zu Füßen und schlägt, unverständliche Worte murmelnd, deren Sinn Mr. Webster jetzt besser errät, als das erstemal bei Basakuta mit der Stirne dreimal auf den Fußboden.

»Steh auf!« gebietet ihm der Detektiv. – Die Probe aufs Exempel war überraschend gut gelungen.

»Du erkennst also in mir –« fuhr er mit feierlicher Stimme fort und pausierte in Erwartung des Eingehens des Kuli auf seinen Satzanfang.

»Ja, Sahib,« flüsterte der Kuli in ehrfürchtiger Scheu, »ich erkenne in dir einen erwählten Priester der feueräugigen Göttin.«

»Es ist gut,« fuhr Mr. Webster fort, »von dir erwarte ich, daß du unverbrüchliches Schweigen bewahrst über das, was du hier gesehen.«

»Es geschehe nach deinem Wort, Erwählter der Göttin Kali.«

Ein Wink Mr. Websters, und der Kuli zog sich mit allen Zeichen demütigster Verehrung zurück.


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