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Vierundzwanzigstes Kapitel.

La allah ilallah!

Dies ist der dritte Tag, der auf die Bankettnacht folgt. Es ist der Tag der Entscheidung. Der Tag des Gerichtes der Prophetensöhne über die verruchten Faringihunde. Es ist der heilige Tag des großen Moharremfestes. Es ist der Tag der Tage, der auf den Schwingen der Morgenröte wie eine strahlende Taube zur Erde herabgeflogen kam und wieder aufstieg gen Himmel auf blutbesäumten Fittichen, wie ein feuertrunkener Phönix–...

La allah ilallah! – Es gibt keinen Gott außer Gott! Gott ist groß, und Mohammed sein Prophet.

Wer da begnadet war, – es waren ihrer aber nur wenige – mit den Augen inbrünstiger Gläubigkeit die Welt und ihre Wunder zu schauen, der sah in der ersten Frühe dieses Tages, wie eine ungeschlachte Riesin – das war die Nacht – den tiefblauschwarzen, gestirnten Traummantel fester um ihre Schultern zog und mit gewaltigen Schritten die westlichen Bergeshänge hinanstieg, auf deren höchster Kuppe sie Halt machte. Und sie breitete mit einer weltverlorenen Bewegung weit, weit die müden Arme aus und stürzte sich kopfüber in das dumpfschauerliche Totenchorale orgelnde Meer. Und es begab sich, daß die wie irrsinnig tanzenden Strudelringe, die der Aufschlag des riesigen Leibes verursacht hatte, entsetzt die Stätte der schauerlichen Tat flohen und mit großer Gewalt und unter dröhnendem Wehklagen an das gefühllose Gestade der Residentschaft Bombay schlugen.

Und zum anderen Male trug es sich zu, daß die Begnadeten ein Gesicht hatten. Diesmal erschauten sie am östlichen Horizont die schmucke Gestalt eines noch sehr jugendlichen Riesen. Das war der Tag. Königlich wallte der flammende Purpur um die breiten Schultern her. Der junge Gott war gleicherweise herrlich von Angesicht wie Gestalt. Und er grub seine ehernen Lüste in das rottintige Gewölk unter ihm und spannte, nachdem er kräftig Stand gefaßt hatte, mit sehnigen Armen den klingenden Bogen und schoß mit einer Sturzflut von Feuerpfeilen ganz Bombay in Brand.

Von den vergoldeten Kuppeln und Zinnen der Tempel und der neunundachtzig Moscheen der Stadt rannen Feuerbäche und bengalisch erleuchtete Kaskaden ohne Unterlaß zur Erde. Mitten drinnen aber, im lustjauchzenden, freudegezeugten Sonnenlichte, standen die transparenten Gestalten der weißumhüllten Muessins auf den Galerien der schlanken Minaretts und riefen mit gewaltiger Stimme die Gläubigen zum ersten Gebet auf.

La allah ilallah!

Mr. Harry Webster war kein Begnadeter und doch in seiner Art ein wissender Seher. Er wußte, daß an diesem Tage noch ganz Bombay ein einziges Flammenmeer entfesselter Leidenschaften sein würde. Ihm mangelte es an beschaulicher Muße, dem mystisch-symbolischen Feuerangriff des hitzköpfigen Sonnenkriegers auf die erwachende Stadt mit der gläubigen Bewunderung des Naturkindes zuzuschauen. Und so geschah es, daß er an diesem Frühmorgen nur die Gemeinheiten der Menschen zu sehen bekam. Sein recht sachliches Interesse galt jetzt ausschließlich dem frisch ausgegrabenen Sarge der »Mary Besant«, von dem soeben der Deckel losgehämmert wurde. Als man dann den Deckel heruntergehoben hatte, da schaute er in das Gesicht des bejammernswerten Parsenmädchens Durlâna Dschidschibhai. Und er kniete neben der freigelegten Leiche hin, hob mit beiden Händen den Kopf mit dem knabenhaft verschnittenen Haar etwas an und untersuchte eingehend und fachkundig den bloßen Hals nach Würgspuren, die er denn auch in Form eines blau angelaufenen dünnen Ringes rundum entdeckte.

Es war dies jener Ring, womit Basakuta die Jungfrau dem finsteren Tode vermählt hatte.

Als der Detektiv, nicht ohne innere Ergriffenheit das Mädchenhaupt wieder in die raschelnden Hobelspähne zurückbettete, sagte er, aber mehr zu sich selbst, als zu den stumm und teilnahmslos dastehenden Totengräbern:

»Ihr Tod war gewaltsam, aber rasch. Der Thug verstand sein Geschäft.«

Fünf Stunden später. Zehn Uhr vormittags.

Mit dem zehnten Glockenschlage schallen durch die trauernden Straßen der Stadt Bombay dumpfe Pauken- und gedämpfte Trommelwirbel. Langsam setzte sich der pompöse Trauerkondukt vom Gouvernementspalast aus in feierlich-gemessene Bewegung. Selbstverständlich ist das Begräbnis des »leider allzufrüh und nach Gottes unseres Lords unerforschlichem Ratschluß plötzlich und unerwartet infolge eines Herzschlages abgeschiedenen Gouverneurs von Bombay Sir James, Earl of Castleford«, ein Staatsbegräbnis allererster Klasse. Daß, wie aus der öffentlichen Traueranzeige hervorzugehen schien, der right honourable Earl of Castleford es viel mit dem Herzen zu tun gehabt hatte, beruhte auf Wahrheit, weniger freilich mit seinem eigenen Herzen, als mit den Herzen vertrauender Frauen. – Aber das sind schließlich Privatsachen, die in eine öffentliche Anzeige nicht hineingehören.

Den Zug eröffneten Peons und Polizeimannschaften zu Pferde. Es folgte der Bläserchor des 12. Sikhregiments. Dröhnend fielen nach dem schweren Rhythmus der Trauermarsches die hoch and kühn geschwungenen Schlegel auf die umflorten Kesselpauken beiderseits der Pferde. Dahinter ritt eine Schwadron Sikhs, ein verwegener stolzer Männerschlag. Die Sikhs, geborene Krieger und Reiter, sind Prätorianer des indischen Imperiums, die seit je den Tapfersten und Glücklichsten auf ihren Schild erhoben haben. Ganz gewiß nicht Freunde der Engländer, hassen sie doch fast noch mehr die Sepoys, das eingeborene Fußvolk, weil mit deren Hilfe die Engländer im großen Aufstand das Pendschab unterjocht und den Unabhängigkeitssöhnen ihre so lange bewahrte Freiheit geraubt hatten.

Aber was 1857 nicht glückte, das kann und muß nach ihrer festen Überzeugung in einem der nachfolgenden Jahrzehnte einmal Tatsache werden 1806/7, 1817, 1827, 1837, 1847, 1857 sind Aufstände in Indien gewesen. Alle zehn Jahre wieder werden die Inder vom Fieber der Empörung ergriffen.

Von acht schwarzgeschirrten Pferden gezogen, rollte die Geschützlafette mit dem kranzlosen, aber reichen Sarg des einst so hochmögenden Gouverneurs von Bombay vorüber. Voraus schritt die anglikanische Geistlichkeit im großen Trauerornat und die üblichen zwei hohen Offiziere mit den prunkenden Orden des verewigten auf Samtkissen. Hinter dem Sarge führte der Stallmeister des Gouverneurs dessen aufgezäumtes Pferd; ganz wie bei Fürsten von Geblüt auch.

Aus der bunten wimmelnden Schar der Leidtragenden – den Spitzen der zivilen und militärischen Behörden der Residentschaft – ragte die Gestalt des Nizam von Haidarabad besonders hervor. Der Fürst trug ein grünseidenes, langes Gewand, diskret mit Goldborten verbrämt, und am Mittelfinger seiner rechten Hand als einziges Juwel einen breiten Goldreif mit einem jener so seltenen schwarzen Diamanten. Wie so der Nizam langsam hinter dem Sarge einherschritt, konnte man recht eigentlich den feinen, fast weichlichen Wuchs seines mittelgroßen Körpers erkennen, wie man ihn bei den meisten Stämmen und Klassen der Hindus vorfindet. Undurchdringlicher Ernst lag über seinem männlich-schönen Antlitz ausgegossen. Sein Teint wies als Besonderheit jenen matten, lichten Anhauch von Goldgelb auf, wie er vielen italienischen Frauen zur nationalen Zierde gereicht. Mit einem unbestimmbaren Ausdruck blickten seine schwarzen Augen den Sarg auf der rollenden Lafette vor ihm an, die flankiert war von Abordnungen aller Regimenter der Residentschaft. Zur Seite des Nizam schwebte in einer Wolke schwarzen Krepps die Gestalt der Gouverneurin dahin.

Unmittelbar dahinter schritt der Bombayer Polizeipräsident in Galauniform, der es sich trotz seines noch etwas angegriffenen Gesundheitszustandes nicht nehmen lassen wollte, dem befreundeten Gouverneur das letzte Geleit zu geben. Das Gefolge des Nizam, ohne das sich ein indischer Fürst niemals in der Öffentlichkeit zeigt, war zahlreich und glänzend. Seine sämtlichen Minister, Würdenträger, Hofbeamte, nebst vielen anderen indischen Edelleuten, Rajahs und Barone, gaben dem verblichenen Gouverneur das letzte Geleit.

Etwas befremdend in einem Trauerkondukt konnte die berittene Leibwache des Nizam wirken, fünfhundert Mann hoch zu Roß, die funkelnden Schilder auf dem Rücken; in der Faust die altertümlichen Flambergs von schlangenförmiger Klingenform, vermutlich hatten sie als Ehreneskorte auf der Rückfahrt ihres Gebieters zur Stadt zu fungieren. Der Leibwache vorauf trottete, von dem Spitzstock eines Kornack auf dem riesigen Nacken des Tieres gelenkt, mit plumpen, aber majestätischen Bewegungen der Leibelefant des Nizam. Zähne und Schwanz des Reittieres waren vergoldet. Auf dem breiten mit Schabracken über und über bedeckten Rücken des Elefanten schaukelte die mit Goldblech beschlagene und reich mit Edelsteinen verzierte Haudah, ein auf zierlichen Säulen ruhender Doppelbaldachin, in dessen hinterem, kleinerem Abteil die Gestalt eines Mohrenknaben kauerte, den großen, jetzt noch untätigen Pfauenschirm an langem Bambusstabe in beiden Händen haltend. Den Beschluß des langen Zuges endlich machte jene 4. Kompagnie des 32. Sepoy-Regiments, deren indischer Subadar von dem unauffindbaren englischen Offizier durch Berühren seines Tilluk bis zur Entehrung beleidigt worden war.

Vor dem Eingang zum Friedhof der Europäer wurde der Sarg von sechs englischen Unteroffizieren von der Lafette gehoben und zur offenen Gruft getragen. Als sei dies die gegebene Aufstellung, formierten die Truppen, Sikhs, Sepoys und Leibwache, ein geschlossenes Karree um die Trauerversammlung. Zu Häupten des auf zwei Querbalken über der Gruft ruhenden Sarges hatten die ersten Leidtragenden Aufstellung genommen, am Fußende die Geistlichkeit.

In einer wohlgesetzten Grabrede feierte der anglikanische Bischof die zahlreichen Verdienste der hohen Verstorbenen. Er schilderte den Gouverneur als einen Mann nach dem Herzen Gottes und füllte dieselbe Luft, die auch um den Sarg der armen Durlana ein schwüles Grablied gehaucht hatte, an mit salbungsvollen Sätzen, wie solche auf den Sargdeckel der sang und klanglos verscharrten Parsi nicht herniedergegangen waren. Gerecht und klug als Staatsmann, liebevoll und treu als Gatte, hilfsbereit und mildtätig als Mensch, so zeige sich, mit wenigen Strichen umrissen, das charakteristische Bild eines Mannes, der in der Hauptsache aus seiner tiefen Gottesfurcht, wie sie jeden wahrhaft großen Mann ziere, die schier übermenschliche Kraft zur Ausfüllung seines schweren und verantwortungsvollen Amtes so Tag für Tag geschöpft habe. »Und da geschrieben steht,« so rief zum Schlusse Seine bischöfliche Gnaden mit einer schönen Beglaubigungsgeste und feierlich vibrierender Stimme über den Sarg und die Häupter der Trauerversammlung hinweg, »daß einem jeden vergolten werden wird nach seinen Werken,« so lasset uns, hochansehnliche Trauerversammlung, zu dem Herrn hoffen, daß er seinem Knecht, Earl of Castleford, die ewige Seligkeit schenken möge. – Amen.«

Während der Rede hatten die Augen des Nizam unverrückbar an den Lippen des zuversichtlichen anglikanischen Bischofs gehangen. Mit Ausnahme des Feuers in seinen Augen und des leichten Zuckens der Mundwinkel verriet nichts, daß Leben in diesem zur schweigenden Ruhe einer Statue erstarrten Körper wohne, wie hätte auch das Weinen einer trauernden Gattin seinem Herzen die Veranlassung geben können, ihr mit Trostworten zur Seite zu stehen, wo doch das Ableben des Gouverneurs für Millionen seiner bedrückten, im Stillen klagenden Volksgenossen gleichbedeutend sein mußte mit dem Aufleben eines nie ganz zu ertötenden, großen Wendewunsches in ihrem Schicksal? Einzelschicksal und Völkergeschicke – ein Wassertropfen im Ozean!

Dann wurde der Sarg etwas angehoben, die Querbalken flogen zur Seite, und langsam verschwand der Sarg in der Gruft. Die Musik intonierte einen Choral, die Ehrenkompagnie feuerte dreimal Salut. Die Seile prasseln auf den Sargdeckel nieder, fahren darunter hinweg und schnellen auf der anderen Seite in die Höhe. Dumpf kollern, von der Hand der Witwe geworfen, die ersten drei Schaufeln Erde auf den Sarg. Auch der Nizam von Haidarabad erweist diese Ehre dem Verstorbenen. Er war Weltmann und achtete die Sitten und Gebräuche derer, die diese Erde ihren recht mäßigen Besitzern entrissen hatten.

Zur Überraschung vieler trat in diesem Augenblick ein hochgewachsener, breitschulteriger Mann an die offene Gruft. Es war Mr. Webster. Mit der Rechten machte er eine Bewegung nach der Schaufel hin, die Hand erlahmte aber auf halbem Wege und blieb in vorgestreckter Haltung gerade über der offenen Gruft in der Luft regungslos stehen. Sein metallisches Organ klang hart, fast drohend, und die Worte, so sein Mund aussprach, trugen Verwirrung und Bestürzung in die hohe Trauerversammlung und Entsetzen unter alles Volk, das mit anwesend war. Einem aber unter allen dröhnten diese Worte in das Ohr mit der betäubenden Kraft der die Seelen der verstorbenen und die Gewissen der Lebendigen erweckenden Posaunen des jüngsten Gerichts. Dieser eine war fast im selben Augenblick an das obere Ende des Grabes herangetreten, als die Gestalt des Detektivs am entgegengesetzten Rand aufgetaucht war. – Also aber sprach Mr. Webster:

»Ich wage nicht, auch nur eine Handvoll Erde auf den Leichnam hier unten zu werfen, um ihn nicht im Tode noch zu beschimpfen. Ich habe Ihnen die Eröffnung zu machen, daß die ganze anwesende Trauerversammlung das Opfer eines ungeheuerlichen Betruges geworden ist! Denn nicht die sterblichen Überreste Seiner Lordschaft des Gouverneurs von Bombay, Earl of Castleford, birgt dieser Sarg hier, sondern den Leichnam der in Zelle Nummer 7 des hiesigen Polizeigewahrsams am vorgestrigen Tage, morgens zwischen 7 und 8 Uhr, mit ihrem eigenen Haupthaar von dem als Mörder gedungenen Thug und Schlüsselmeister Basakuta erdrosselten Parsi Durlana Dschidschibhai!!«

Der Sprecher machte eine kurze Pause.

Der Polizeirat John Rocket, der dicht am oberen Rand der Gruft stand, und dem bei den Worten des furchtbaren Anklägers alles Blut aus den Wangen gewichen war, erlitt einen ganz unmännlichen Schwächeanfall. Er taumelte, suchte nach einem Halt, faßte ins Leere und wäre unrettbar in das offene Grab hinabgestürzt, hätte ihn nicht im letzten Augenblick die Hand des Nizam selbst bei den Schultern zu fassen bekommen und zurückgerissen.

»Steh fest!« raunte der Fürst dem Wankenden zu. »Und nicht allein das: Stehe Rede und Antwort obendrein, Elender!«

Und sich von dem Schurken ab und rasch zu der zu Tode erschrockenen Gouverneurin wendend, redete er diese mit einer sehr höflichen Verbeugung an: »Mylady haben, dessen bin ich sicher, das denkbar größte Interesse, daß die volle Wahrheit an das Tageslicht kommt. Mylady werden zweifelsohne in sofortige Öffnung des Sarges einwilligen. Unerhörtes scheint sich hier begeben zu haben.«

Ohne die ausgesprochene Einwilligung der Frau Gouverneurin erst abzuwarten, befahl der Detektiv, den Sarg wieder hochzuheben und den Deckel abzuschrauben. Der Polizeirat erkannte, daß unbedingt etwas geschehen müsse, um dem Verhängnis in den Arm zu fallen. Mit aller Gewalt schüttelte er die unrühmliche unselige Schwäche von sich ab. Wie konnte es nur geschehen, daß er die Welt und alle Dinge und Menschen um sich her nur wie durch einen Schleier sah! Und schließlich tanzten gar allerlei seltsame Funken und Sterne und Sonnen und feurige Schlangen ihm vor den glasigen Pupillen herum. Und es waren nicht einmal Schlangen, sondern windgepeitschte tiefblauschwarze Haare, an denen ein schwefelgelbes Feuer hochleckte. Wie so kraus und phantastisch das alles war! – Weg damit, und die letzte Kraft aus Mark und Nerven herausgepreßt!

Der Detektiv sah und empfand, daß hundert erwartungsvolle Augen fragend an seinen Lippen hingen und noch immer zögerte er, die atembebeklemmende Spannung aller zu entlasten. Als dann endlich eine menschliche Stimme die buchstäblich so zu nennende Stille des Grabes durchsägte, war es die des Nizam, der sprach:

»Euer wohlgeboren, ich frage Euch: Wen zeiht Ihr des gemeinen Mordes an der Parsi Durlâna Dschidschibhai?«

Vorauf der Gefragte die rechte Hand gegen den Polizeirat ausstreckte und mit lauter und vornehmlicher Stimme erwiderte:

»Jenen Menschen dort – den sehr ehrenwerten Polizeirat John Rocket.«

Wäre eine Bombe in die Versammlung geworfen worden, die Aufregung hätte nicht allgemeiner und größer sein können. Mit berechneter Absichtlichkeit trat der Nizam einen Schritt von dem Gebrandmarkten zurück. Unwillkürlich folgten die Nächststehenden seinem Beispiel. Die Gestalt der Gouverneurin war förmlich in sich zusammengeschauert. Ganz klein und nichtssagend sah sie jetzt aus.

Hilflos und verlassen von allen sah sich Mr. Rocket im eigentlichen Wortsinne am Rande des Grabes stehen. Ihn beschlich das lähmende Entsetzen, als stünde er mit einem Fuße sogar schon drinnen. – Und er sollte doch dieser christlichen Bestattungssitte in alle Ewigkeit nicht teilhaftig werden!

Gepeinigt bis aufs Blut von der entsetzlichen Furcht des belasteten Gewissens vor den geheimnisvollen Schauern des unergründlichen Jenseits, stachelte er sein Hirn zu einer äußersten Kraftreaktion auf. Er hätte selbst nicht mehr angeben können, ob er mit seiner Gegenklage recht habe oder nicht – er schleuderte einfach über das trennende Grab hinweg seinem öffentlichen Ankläger die Beschuldigung ins Gesicht:

»Geben Sie endlich Ihr vermessenes und frevelhaftes Intrigenspiel auf, Mr. Harry Webster! Sie sind erkannt. Sie haben kein Recht, eine heilige Handlung in den Kot der niedrigen Dienste Ihrer staatsgefährlichen Umtriebe herabzuzerren und unbewiesene Beschuldigungen aufzustellen. Ich verhafte Sie hiermit wegen öffentlicher Beamtenbeleidigung und des dringenden Verdachtes der Spionage in Tateinheit mit Volksaufwiegelung und Landesfriedensbruches. – Soldaten, ergreift ihn und führt ihn unter stärkster Bedeckung ab!«

Die Entscheidung stand auf des Messers Schneide. Der Augenblick war kritisch. Und sollte noch weit verhängnisvoller und gefährlicher werden. Noch zögerten allerdings die Polizeimannschaften, Hand an den Mann zu legen, dessen blitzendes Auge allein sie in Schach zu halten wußte.

Sir Bulwer, der Polizeipräsident von Bombay, fühlte, daß er sich nicht länger im Hintergrund halten konnte. Widerwillig, weil Unheil ahnend, griff er jetzt in den Gang der sensationellen Geschehnisse ein. Mit betonter Würde trat er vor den öffentlichen Störer einer heiligen Handlung hin und maß den Detektiv für Sekunden mit Blicken, die streng sein sollten, aber gleichwohl eine gewisse Unruhe und Befangenheit nicht verbergen konnten.

Mr. Webster war der erste, der den atemberaubenden Bann der Minute brach. »Ich hatte bereits einmal die hohe Ehre, Herr Präsident,« sagte er mit einem ganz leisen Anflug feiner Ironie, »mit Ihnen verbunden gewesen zu sein. Sie wissen –, auf telephonischem Wege.«

»Ich weiß,« winkte Sir Bulwer unwirsch ab. Dabei riß ein nervöses Zerren an seinen Mundwinkeln. »Ich weiß,« wiederholte der Polizeipräsident noch einmal. Eine gewisse Hartnäckigkeit und doch auch wieder etwas Erzwungenes lag in dieser Bestätigung einer unliebsamen Episode. »Ich weiß. – Doch geben Sie jetzt zu, daß Sie Ihr Spiel verloren haben, überreichen Sie mir zum Zeichen Ihrer freiwilligen Unterwerfung Ihren Browning, den Ihresgleichen ja stets mit sich zu führen pflegen.«

»Nie und nimmer soll das geschehen!« versetzte der Detektiv und warf stolz das Haupt in den Nacken.

»Dann,« fuhr der Präsident mit einem malitiösen Lächeln fort, »dann sollen Sie erkennen, daß es Mittel gibt, Ihren unzeitigen Trotz zu brechen. – Soldaten, entwaffnet und fesselt ihn!«

Das war die Krisis.

Unerwartet aber kam der Umschwung. Der Nizam von Haidarabad machte einen raschen Schritt auf die beiden Gegner zu und sagte:

»Es sei ferne von mir, den Lauf der Gerechtigkeit aufhalten zu wollen. Im Gegenteil –, es geschehe Gerechtigkeit, und sollten wir alle daran zugrunde gehen. Es sind hier Beschuldigungen erhoben worden, deren Nachprüfung an Ort und Stelle, gleichsam in einem Lokaltermin, dem Beschuldigten selbst, in diesem Falle dem Polizeirat Rocket, nur erwünscht sein kann. Die Würde meiner Stellung als eines regierenden Fürsten gestattet mir nicht, mit dem beschämenden Bewußtsein hier vom Platze zu gehen, vielleicht doch das Opfer eines unerhörten Betruges geworden zu sein. Ich habe ein Recht und bestehe darauf, mich durch persönlichen Augenschein stehenden Fußes davon zu überzeugen, ob ich dem anglikanischen Gouverneur von Bombay die letzte Ehre der drei Schaufeln Erde erwiesen habe oder aber durch Aufwerfen von Erde auf den Leichnam einer Parsi eine ganze Religionsgesellschaft aufs tiefste beleidigt habe. – Ich sage: Wehe dem ersten Urheber dieses Irrtums, wenn dem wirklich so ist.«

Ein dumpfes Murmeln lief durch das Karree der in religiösen Dingen so empfindsamen indischen Truppen. Der Polizeipräsident bemerkte das sehr wohl und hütete sich, diese Menschen unnütz zu reizen. Die Haltlosigkeit der erhobenen Beschuldigungen mußte sich ja in kürzester Frist herausstellen. So ordnete er denn die verlangte Exhumierung an. Mit atemloser Spannung folgten die Blicke aller der Öffnung des Sarges. Und so groß und so tief war die unheimliche Friedhofsstille, daß man das Knirschen der Schrauben in ihren Gewinden bis hinüber zur Friedhofsmauer hören konnte.

Jetzt ein Befehl.

»Hebt auf!«

Der Deckel wurde heruntergehoben, und –

… Großer Gott, wie ist das möglich!–... – Im Sarge liegt wahrhaftig eine – Frauenleiche!

Ungeheuer ist die Erregung aller. Wie eine Sturmflut drängt es sich vor und ebbt wieder zurück. Die Offiziere rasseln empört mit den Säbeln. Die Gouverneurin stößt einen markdurchdringenden Schrei aus und sinkt in Ohnmacht. Der Nizam fängt sie in seinen Armen auf. Und winkt eine gleichfalls tiefverschleierte Dame zum Beistand herbei. Es war Mrs. Besant.

So konnte es geschehen, daß Mrs. Mary Besant der Frau des Mannes ihrer ersten und einzigen Liebe, der so unehrenhaft an ihr gehandelt hatte, im Angesicht der toten Durlana, die an ihrer, Mrs. Besants Stelle, eines so unnatürlichen Todes sterben mußte, was dann wiederum den gewaltsamen Tod des Gouverneurs zur Folge hatte, einen Liebesdienst erwies.

Und jetzt – wie vom Himmel her geführt – spaltet plötzlich mit der Schärfe eines Schwertes ein wilder Schrei die Lüfte. Aus der Reihe der Inder, die wie auf geheime Verabredung sich zusammen geschart hatten, stürzt die vornehme Gestalt eines Ehrfurcht gebietenden greisen Inders hervor. Vor dem Sarge stockt sein Fuß. Die rechte Hand fährt jäh nach dem stürmischen Herzen, die linke streicht mit dem Rücken über die Stirn, wie um einen schrecklichen Anblick wegzuwischen. Dann aber erhebt der Alte mit der überwältigenden Gebärde eines die Rache der Gottheit herabflehenden Priesters die zitternden, bald ausgespreiteten, bald zur Faust sich ballenden Hände gen Himmel. Dabei schwirren seine Lippen, als schickten sie ein gellendes Rachegebet empor zu den ewigen Richtern, die ob den Wolken thronen. Irgend ein Laut war aber gleichwohl nicht zu hören. Stumm in seinem größten Schmerz sank Dschamsedschi Dschidschibhai, der Vater des unglücklichen Parsenmädchens, über der Leiche seiner einziggeliebten Tochter zusammen. Und er zerriß sein Gewand vor heiligem Schmerz und raufte sich die Haare.

Da fand es der Präsident Sir Bulwer hoch an der Zeit, der unerträglichen Szene ein Ende zu machen. »Wie erklären Sie sich diese Leichenvertauschung, Mr. Rocket?« herrschte er seinen Beamten an.

Statt aller Antwort fuhr des Polizeirats Hand ungewiß durch die Luft, als wollte er damit, wie mit einem kühnen Federstrich, alles aus der Welt streichen. Krampfhaft zuckte seine linke Hand dann nach der Brusttasche und krallte sich im Tuch fest. Hier ruhte das wunderwirkende Lebenselixier, womit er immer noch seine erschlafften Nerven zu neuer Spannkraft aufzurichten vermocht hatte. Aber wo steckt sie nur, die Golddose mit den köstlichen Pillen?

»Eine einzige Pille nur!« stammelt er mit blödem Lächeln. »Opium – Opium! Ah! Nur eine Pille, und ich – meinen allmächtigen Polizeiwillen. – Haha!–... Weh mir, man hat mir das Letzte gestohlen, das Beste. Ein Simson ohne Kraft, weil ohne Haare –«

In dieses Wort schnappte sein Verstand wieder ein.

»Wo sind die Haare – he?« höhnte er Mr. Harry Webster an. »Die Haare –, ja die Haare–... Wie kann das Mensch mit ihrem eigenen Haar erdrosselt worden sein, wenn sie gar keins hat?!«

Der vernichtenden Wirkung seines Schachzuges, durchaus sicher, knöpfte Mr. Harry Webster mit ruhigem Bedacht den obersten Knopf seines Rockes auf und brachte das abgeschnittene Haar Durlanas zum Vorschein. Er zeigte es erst im Kreise herum und legte es dann ostentativ über die Schultern der Leiche, damit sich auch jedermann augenscheinlich davon überzeugen könne, daß Flechten und Haarwurzeln zusammen stimmten. Die Bestürzung der Umstehenden wuchs ins Übermäßige. Hier erhoben Tatsachen ihre furchtbare Stimme, die kaum mehr ganz weggeleugnet werden konnten. Am deutlichsten empfand Sir Bulwer die Mißlichkeit der Stunde. Er konnte und durfte seinen beschuldigten Untergebenen nicht einfach preisgeben – das verlangte schon die Autorität der Polizeibehörde; andererseits ging es nicht gut an, nicht dennoch alles nur irgend mögliche zu versuchen, um für den Augenblick wenigstens seinen Beamten von der schweren Anschuldigung weißzuwaschen. Nach bekannter Manier richtete er daher an den Polizeirat die Frage, »ob er sich schuldig bekenne?«, worauf dieser natürlich ebenso prompt mit einem entschiedenen »Nein«! antwortete.

Worauf der Präsident mit lauter Stimme verkündete, daß damit die Sache einstweilen erledigt sei. Den wahren Schuldigen aber solle die ganze Strenge des Gesetzes treffen.

»Nach Lage der Dinge,« ergriff hierauf Mr. Webster das Wort, »bin ich jetzt in die Stellung eines angeklagten Verleumders gedrängt worden. Als solchem steht mir das Recht der Verteidigung zu. Meine Behauptung, daß der indische Schlüsselmeister Basakuta der tätliche, Polizeirat Rocket aber der intellektuelle Mörder der Parsi Dschidschibhai ist, halte ich nach wie vor aufrecht. Ich werde sofort den Wahrheitsbeweis erbringen.«

Der Detektiv winkte nach diesen Worten mit einer halben Wendung des Oberkörpers in die hinter ihm stehende Menge hinein. Von zwei Mann begleitet wurde Basakuta an das Grab geführt.

»Wie nennt man dich?« richtete der Detektiv an ihn das Wort.

»Basakuta ist mein Name.«

»Erkennst du diese Tote hier?«

Der Thug heftete mit der größten Gleichgültigkeit den Blick auf sein Opfer und versetzte:

»Ja. – Es ist die Parsi Durlâna Dschidschibhai aus Zelle 7.«

»Hast du sie ermordet?«

»Ja.« – Ohne Zögern, ohne das geringste Anzeichen von Reue und Bedauern kam das Geständnis über die Lippen des religiösen Fanatikers.

»Auf wessen Anstiften begingst du den Mord?«

Wissend, daß er sein Leben verwirkt, von dem Polizeirat also nichts mehr zu fürchten hatte, gab er gleichgültig zur Antwort:

»Auf Befehl des Polizeirats John Rocket Sahib.«

Wieder ging eine anhaltende Bewegung durch die Trauerversammlung. Der Polizeipräsident Sir Bulwer bemühte sich vergebens, die Führung dieser erzwungenen Gerichtsverhandlung gegen seinen Beamten an sich zu reißen.

»Sir!« hielt ihm der Nizam blitzenden Auges entgegen, »auch Sie sollten vor der Gerechtigkeit Achtung genug besitzen, um nichts zu unterlassen und alles zu tun, damit der Fall einwandfrei geklärt wird und das Verbrechen seine schuldige Sühne finde.«

Angesichts der Haltung der Menge, selbst in ihrer europäischen Zusammensetzung, wagte der Polizeipräsident Sir Bulwer nicht, durch das beliebte polizeiliche Auskunftsmittel eines brutalen Gewaltaktes die Situation zugunsten seines Beamten zu retten. In Indien wird ja viel gemordet, – ganz gewiß. Ein so gemeines Komplott mit einem »schmutzigen« Hindu aber ging doch über die gesellschaftlichen Begriffe von Moral und Nationalehre. Auf denselben Grund baute auch – merkwürdig genug – Mr. Rocket sein letztes rettendes Argument auf: Der Europäer mußte gegen den Hindu ausgespielt werden. Die Rassensolidarität würde jene zwingen, ihm, dem rassenreinen Engländer, zu glauben. Und: »Er lügt, der farbige Hund!« schrie er. Und immer wieder: So ein farbiger Hund! Farbiger Hundesohn!«

Die Sache bekam einen entschieden dramatischen Anstrich. So wenigstens fanden es die kultivierten Ladies und Gentlemen, die die Heiligkeit des geweihten Ortes ganz vergessen haben mußten. Man fühlte sich jetzt schon als Partei oder als Statisten. Die Rassenfrage, das feindlichste Urprinzip menschlicher Entzweiung, war wie ein blutiges Banner unsichtbar über aller Häupter entrollt worden. Daher fand man es nur folgerichtig, daß des Polizeirats Hand nach dem Säbelgriff zuckte. Halb geduckt wollte er gegen den Inder angehen. Ein gebieterischer Blick aus des Detektivs harten Augen hielt ihn jedoch in Schach.

»Kennst du jenen Mann dort,« rief der Detektiv dem Inder zu,« der soeben Miene machte dich niederzustechen?«

»Ja, ich kenne ihn.«

»Wer ist es?«

»Es ist der Polizeirat Sahib John Rocket.«

»Und wußtest du, Basakuta,« setzte Mr. Webster, unbeirrt um die Einwände seines Rivalen, das peinliche Verhör fort, »daß es die Parsi Durlana Dschidschibhai war, die du erdrosseltest?«

»Ja.«

»Und nicht die Engländerin Mrs. Mary Besant?«

»Auch das wußte ich.«

»Du fälschtest dann aber die Namensliste der Gefangenen dahin um, daß Mary Besant als der Name der Toten eingetragen wurde, – ja oder nein?«

»Ja.«

»Tatest du das aus eigenem Antrieb?«

»Nein, der Polizeirat gab mir den Auftrag dazu.«

»Hast du Mrs. Mary Besant jemals gesehen?«

»Nein.«

»Und Sie, Mr. John Rocket,« wandte sich der Detektiv an diesen, »kennen Sie eine gewisse Mary Besant?«

»Nein.«

So sinn- und zwecklos es war, zu leugnen, der Polizeirat leugnete, wie nur je ein verstockter Bösewicht leugnet. »Nein!« sagte er dreist. Jetzt zum mindesten hätte der Präsident Sir Bulwer wissen müssen, daß sein Beamter ein Lügner ist, folglich auch direkt oder indirekt in die Mordaffäre verwickelt sein mußte. Möglich, daß dem Polizeipräsidenten jetzt sogar eine blasse Ahnung aller Zusammenhänge aufdämmerte. Und gleichwohl durfte er seinen Beamten vor der Öffentlichkeit nicht fallen lassen. Ja, jetzt erst recht nicht!

»Hoheit,« wandte er sich mit einer erzwungenen Verbeugung an den Nizam, »die Sache ist mit der bestimmten Erklärung meines Beamten ein für allemal entschieden.«

Der Nizam trat einen Schritt vor, wie um seine Meinung zu dieser Sache zu äußern. Er mochte das Gefühl haben, daß die Aufmerksamkeit der Versammlung in diesem Augenblick ausschließlich seiner Person galt. Seine Antwort konnte durchaus nicht gleichgültig sein. Denn der Aussage des englischen Polizeibeamten so ohne weiteres Glauben beimessen wollen, hieße die indische Rasse einfach und glatt ins Unrecht setzen. Daher hielt er es augenscheinlich für angezeigt, erst seine Worte sorgsam abzuwägen und dann zu sprechen.

Mr. Webster machte mit der rechten Hand das verabredete Zeichen, worauf Mrs. Besant von rückwärts an den Polizeirat herantrat, Im nächsten Augenblick fühlte dieser, wie sich eine Hand auf seine linke Schulter legte.

Er zuckte leicht zusammen, wandte sich nach der Seite um und:

»Sie hier?!« entfuhr es ihm unbedacht. Und wie ein echter Büttel kriegte er die »verstorbene« Mrs. Mary Besant beim Handgelenk zu fassen, schüttelte die Lady derb und schrie ihr ins Gesicht: »Ah! Sie Hochverräterin, diesmal sollen Sie der Macht der Polizei nicht mehr entrinnen!«

»Was geht hier vor?« tat der Detektiv verwundert. »Was wollen Sie eigentlich von der Dame? Ja, kennen Sie sie denn überhaupt, Mr. Rocket?«

Der Polizeirat merkte zu spät, daß er sich vergaloppiert hatte und trat den Rückzug an. Er ließ von der Dame ab und entschuldigte sich mit einer reservierten Verbeugung: »Verzeihen, Mylady, – ein Irrtum!«

»Herr Polizeipräsident,« wandte sich der Detektiv an sein Original, »sollten Sie vielleicht die Dame kennen?«

Der Gefragte streifte mit einem raschen Blick die Lady, die er vorher längst mit vernichtenden Blicken gemessen hatte; und er konnte nicht umhin, die Antwort zu geben, wozu ihn widerwillig die stärkeren Verhältnisse zwangen und der Fluch der lawinenartig anschwellenden ersten Lüge: und er sagte mit kühler Reserve:

»Ich habe nicht die Ehre –«

Gleichzeitig hatte er beabsichtigt, dem anmaßenden Auftreten des Detektivs endlich ein Ende zu machen. Mr. Webster, der die Absicht erraten haben mochte, hinderte dessen Ausführung, indem er dem Präsidenten zuflüsterte, daß er auf alle weiteren Auseinandersetzungen verzichten wolle und nur noch eine Frage an den Nizam zu stellen habe. Mit lauter Stimme wandte er sich an diesen.

»Hoheit,« rief er, »dürfte ich mir erlauben, Sie zum Kronzeugen aufzurufen? Wenn ja, dann bitte ich, vor allem Volk es mit lauter Stimme zu bekennen und uns zu sagen, wer diese Dame dort ist?«

Und es antwortete der Fürst mit lauter und fester Stimme:

»Diese Dame ist niemand anders als Mrs. Mary Besant selbst. Ich muß sie kennen, denn sie steht unter meinem besonderen Schutze.«

Da gab der böse Geist des Verhängnisses dem Polizeirat John Rocket den absurdesten und doch schlauesten Gedanken ein, der je sein Hirn gereizt hatte. Die Gesamtheit der Menschen da vor ihm, soweit sie britisch und englandfreundlich war, wollte er an ihrer diffizilsten Stelle, dem empfindlichen Nationalbewußtsein und Patriotismus packen und kitzeln und sie samt und sonders als Vorspann benutzen, um den bös verfahrenen Karren seiner verunglückten Selbstverteidigung aus dem Sumpf zu ziehen. Wenn das nicht zog, dann würde überhaupt nichts mehr ziehen, und er mußte sich endgültig für verloren geben – Aber das mußte wirken! Die Sache einfach aus dem niedrig Persönlichen in das allgemein Ideale rücken! – Triumph! Der Erfolg würde ihm noch einmal lächeln, und der Sieg sein werden!

»Britishers und Freunde der anglo-indischen Regierung,« rief er mit äußerster Stimmkraft in die Versammlung hinein, »ihr alle habt eben aus dem Munde des Nizam von Haidarabad selbst die Worte gehört, dass jene Person dort unter seinem besonderen Schutze steht. Nun hat aber auf dem vorgestrigen Bankett des Gouverneurs zu Ehren seines Gastes, des Nizam, dieselbe Mrs. Besant, die ich dem Namen und der Person nach sehr wohl kenne, und zwar als eine ganz abgefeimte, gefährliche Hochverräterin, an der bedeutungsvollsten Stelle der Bankettrede den Nizam unterbrochen und sie in seinem Sinne mit den umstürzlerischen Worten zu Ende geführt: »Ein europäischer Friede ohne nachfolgende Verwirklichung angekündigter indischer Verwaltungsreformen würde das Signal zum allgemeinen bewaffneten Aufstand der Inder gegen die bestehende Regierung werden!« Jetzt hat sich der Nizam offen zu der Revolutionärin bekannt und also auch zu ihren politischen Überspanntheiten, und deshalb erhebe ich meine warnende Stimme und sage: Wir stehen in Gefahr! Aufgetan hat sich unter unseren Füßen der Krater der Revolution. Auf denn zu den Waffen, ehe uns der tobende Vulkan verschlungen! Dort steht der Höllenfürst und hier sein Einheizer, ein gewisser Harry Webster, Deutsch-Amerikaner obendrein und der geriebenste Staatsverbrecher und gefährlichste Volksaufwiegler, den je die weitverzweigte geheime islamitische Vierbundsverschwörung gegen den Bestand des indischen Imperiums an unser heimisches Gestade spie. In den Staub mit allen Feinden Englands! Hoch Britannia!«

Die fulminante Rede verfehlte nicht ihre Wirkung. Säbel rasseln aus der Scheide, Klingen blitzen im Sonnenlichte. Die Erregung unter den Sikhs und Sepoys ist allgemein, tief und nachhaltig. – Aber auf wessen Seite würden sie sich schlagen? – das ist die große Frage.

Der Nizam und seine Vertrauten hatten nicht erst nötig, zu einem Kriegsrat zusammenzutreten. Mit einem festen, wohlerwogenen Plan in der Tasche waren sie in die Kampfarena getreten. Nach einem raschen Blick des Einverständnisses mit dem kurz nickenden Detektiv war die Hand des Nizam unter das grünseidene Gewand gefahren. Im nächsten Augenblick steht die breite Dschambea, des Fürsten Streitaxt, wie ein zornglühender Blitz in der Luft. Und mit einer Stimme, die man der feinen Gestalt dieses Mannes nie zugetraut hätte, ruft er in die Versammlung hinein:

»Man hat uns offene Kampffehde angesagt, – wohlan, es sei! – Söhne Indiens, ich rufe euern Unabhängigkeitssinn und eure erprobte Tapferkeit zum größten nationalen Kampfe aus, der je Indiens Fluren, Wälder und Dschungeln durchtobte. Nieder mit den Feinden des freien Indiens! Vernichtet die fremde Schlangenbrut! Ram! – Ram! – Mahadeo! – La allah ilallah!«

Wie der zündende Funke ins Pulverfaß, schlägt der altindische Schlachtruf in die Seelen der Hindus. Bis an den Hals hinan schlug das Herz vor jäher Freude. Der wohlbekannte Hinduschlachtruf findet lebendigstes Echo in der Brust der islamitischen Sepoys. Ohne Zaudern entschieden sie sich für die Sache des höchsten indischen mohammedanischen Fürsten. Und: » Jai – Jai – Kar!« schallt donnernd ihr Gegenruf aus hundert rauhen Männerkehlen über die brütende Stille der christlichen Gräber hin.

Nur die Sikhs schwanken noch. Mit Mühe bändigen sie die unruhig gewordenen, in die Kandare schäumenden Rosse. In der Brust der Männer streiten sich die alte Stammesfeindschaft gegen die Sepoys und der Fremdenhaß gegen die britischen Eroberer um die Vorherrschaft. – Würden sie heute abermals mit den Feinden aller gemeinsame Sache machen gegen ihr eigenes Blut?

Die englischen Offiziere hatten im ersten Moment geglaubt, daß nur sein wildpulsendes Tropenblut aus Wut über die Worte des Polizeirats den Nizam zu einem so leidenschaftlichen, ungezügelten Gefühlsausbruch fortgerissen hätte; aber das ganze Benehmen des Fürsten und nicht zuletzt das jähe Überspringen des aufrührerischen Geistes auf die einheimischen Truppen bewies ihnen, daß dies eine vorbedachte, ja vorbereitete Sache sei, deren Folgen äußerst verhängnisvoll werden konnten. Der rangälteste britische Offizier, ein alter, im Kolonialdienst ergrauter Krieger, General Clewing, trat mit gerunzelter Stirn an den Nizam heran und schrie:

»Hoheit, was bedeutet das? Ich hoffe doch nicht Verrat oder Empörung!«

»Beim Barte des Propheten, – Krieg bis aufs Messer!« donnerte der indische Fürst den Engländer an. Aus dem Glühen seiner Wangen und dem wilden Funkeln seiner Augen brachen bei diesen Worten so unversöhnlicher, bisher geschickt verborgener, jetzt aber offen durchbrechender Haß und Feindseligkeit hervor, daß Schreck und Bestürzung die Entschlossenheit selbst der Mutigsten unter den Europäern lähmten.

Inzwischen hat sich die Leibwache des Fürsten schrittweise bis ans Grab vorgeschoben. Zwei fürstliche Bereiter führten den Elefanten vor. Gehorsam streckte das gelehrige Riesentier den Rüssel zur Seite aus. Der Nizam setzte seinen Fuß darauf und ließ sich in die Haudah heben. Mr. John Rocket glaubte diesen günstigen Augenblick nicht unbenutzt verstreichen lassen zu dürfen, um an dem »Verräter« Basakuta seine kleinliche Rachsucht zu kühlen. Fluchend rannte er dem Inder die Säbelklinge zwischen die Rippen, daß der Getroffene blutüberströmt zusammenbrach und tot in das offene Grab hinabstürzte, das eigentlich Seiner Lordschaft dem Gouverneur bereitet worden war.

Aber da war noch ein Mensch, der reif geworden war für die Rache des wütenden Polizeirats –, die verhaßte Mary Besant, die Urheberin all dieser Unannehmlichkeiten und Arbeiten. Mit verdoppelter Wut kehrte sich sein ganzer Zorn gegen diese größte Feindin. Mr. Webster erkannte die Gefahr, in der seine Freundin schwebte, und war mit einer blitzhaften Bewegung an ihrer Seite. Ein kunstgerechter Boxhieb, – und der schurkische Rocket wand sich ächzend am Boden. Zu den Füßen des Sarges seines Opfers fiel er nieder.

Da fuhr der greise Inder jäh hoch aus der Versunkenheit seines tränenlosen Schmerzes. »Töte ihn nicht, Sahib!« flehte er in atemloser Hast den Detektiv an. »Nicht töten! Sein Leben gehört der Rache des kinderlosen Vaters.«

»Nimm hin, Freund!« willigte der Detektiv ein. Und verfahre mit seinem Leben nach Recht und Gerechtigkeit.«

»Die Vergeltung steht bei den Satzungen unseres heiligen Glaubens,« versetzte der Inder ernst. Und zitternd vor Furcht, die Seele könnte schon aus dem Leibe des Verbrechers gefahren sein, warf er sich über den Liegenden hin und hörte mit aufgelegtem Ohr gespannt nach dessen Herzschlag. Ein freudiger Schimmer zog über sein Gesicht, als er festgestellt hatte, daß das Leben noch nicht entflohen sei. Sich in seiner freudigen Verwirrung der Pietätlosigkeit seiner Handlungsweise kaum noch bewußt werdend, ergriff er Durlânas Haupthaar und schnürte damit ihrem indirekten Mörder die Hände auf dem Rücken zusammen. –

Der Nizam von Haidarabad hatte nicht sobald in der Haudah Platz genommen, als der Elefant den Rüssel hob und einen wilden Trompetenstoß in die Luft schmetterte. Dazwischenhinein schallte die laute Stimme des Herrschers von Haidarabad, der rief:

»Heldengeschlecht Indurs, Kinder der heiligen Ganga und ihr, Söhne des Propheten, die euch nach ruhmvollem Ende auf blutiger Walstatt die beseligendsten Wonnen in den Armen der mandeläugigen Huris im siebenten Himmel des Paradieses erwarten – euch alle rufe ich auf zum Heiligen Krieg, zum Kampfe gegen das Otterngezücht der fremden Krämer und Tyrannen. Ihr aber, ihr hochmütigen Faringi, vernehmet es und wisset, daß dies der große Tag des heiligen Moharremfestes ist, der Tag, an dem eure angemaßte Herrschaft über das tausendjährige Geschlecht der stolzen Hindostani hinsinken soll in Nacht und Schatten der Vergangenheit. – Auf zum Kampfe! Ram! – Ram! – Mahadeo!«

Und donnernd schallt als Antwort wieder der Kriegsruf von bärtigen Lippen der bereits in heller Empörung begriffenen Sepoys: » Jai –! Jai –! Kar!« Da ihre Kugeln – die Truppen waren damit merkwürdigerweise versehen – ebenso gut Freund wie Feind hätten treffen können, pflanzten sie die Bajonette auf und rückten mit stoßbereiter Waffe gegen die Gruppe der eingeschlossenen Engländer vor. Bestürzt wichen diese beim Anblick der aus den dunklen Gesichtern weiß hervorleuchtenden Pupillen zurück.

Da brach sich auch die alte Kampflust, der Väter stolzes Erbe, in den Herzen der Sikhs Bahn. Sie überwanden die trennenden Stammesgegensätze und warfen sich der Revolution in die Arme. Ihr dröhnender Schlachtruf: » Ramchandri-ky – jai!« mischte sich mit den Mahadeo-Rufen der indischen Brüder zu einem brausenden Orkan.

General Clewing konnte sich der schmerzlichen Einsicht nicht verschließen, daß ein Unterhandeln mit den Rebellen zwecklos sei, im ausbrechenden Kampfe aber das Häuflein der englischen Offiziere und Soldaten glatt überrannt werden würde. Wohlan, so wollte man wenigstens in Ehren sterben wie tapfere Soldaten und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen!

»Kameraden!« schrie General Clewing und zog seinen Degen. »Schließt euch dichter zusammen und formiert ein Gegenkarree! Entweder wir schlagen uns mit Gottes Hilfe durch oder wir sterben als Helden nach alter englischer Tradition. »Vorwärts marsch! England for ever! Hurreh!«

» Hurreh!« nahmen die Offiziere den Ruf auf und rückten geschlossen gegen die Seite der Sikhs zu, wo sie die relativ geeignetste Durchbruchsstelle vermuteten.

»Soldaten!« rief General Clewing den Sikhs zu, »ich fordere euch auf, unverzüglich zum Gehorsam zurückzukehren. England, das unbesiegbare, wird weiter herrschen in Indien, wie es allen Aufstandsbewegungen zum Trotz seit alters in diesem Lande geherrscht hat. Mein Wort zum Pfand: das dankbare England wird eurer Verdienste nie vergessen und eure Treue zu belohnen wissen.«

»Was redet die doppelzüngige Schlange für Wind?«

– »Reißt ihm die Zunge aus dem Halse!« – Und: » Ramchaudkri-ky – jai!« schallt es als einmütige Antwort dem General entgegen.

»Voran, Jungens!« feuert der General sein todesmutiges Häuflein an. »Gebt's den aufrührerischen Schurken. Hurrah für Alt-England!«

Mit gezücktem Degen stürmt der alte Soldat voran. Da trifft ihn mitten im Laufen, von des Nizam kundiger Hand geschleudert, die Schneide der Dschambea und spaltet ihm den Schädel. General Clewing bricht in die Knie, das erste Opfer des jungen Aufstandes. Einen um den anderen senden die Revolutionäre in das finstere Schattenreich. Die Engländer starben ausnahmslos wie Helden, weil kein anderer Ausweg blieb.

Nur zwei entrannen dem schrecklichen Blutbad, die Frau Gouverneurin, Herzogin von Castleford, und Mr. John Rocket, der sehr Ehrenwerte. Mrs. Mary Besant hatte Edelmut und christliche Nächstenliebe genug besessen, den Nizam um das Leben der Engländerin zu bitten. Ritterlich willfahrte er nicht nur der Bitte, sondern bot sogar sein eigenes Reittier der Lady an. Auf ein Zeichen seines Mahud beugte der Riese mit plumper Grazie das rechte Knie. Über eine herabgelassene kleine vergoldete Leiter bestiegen Mrs. Besant und die Herzogin die Haudah.

»Ihr haftet mir für das Leben der Herzogin,« hatte der Nizam der Eskorte zugerufen, als sich der Elefant in Bewegung setzte. »Und daß der Dame kein Haar gekrümmt wird – bei Strafe meines Zornes.« Und er senkte respektvoll den juwelenstrotzenden Degen vor den Damen.

Den schurkischen Polizeirat aber stießen die aufgebrachten Parsen zum Friedhof hinaus, der aufgehört hatte, eine Stätte des Friedens zu sein.

Von diesem Tage an nennt der Volksmund den Friedhof der Europäer den »Blutsacker«.


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