Karl May
Auf fremden Pfaden
Karl May

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Der Kutb

In Kairo

Zufall oder Schickung? Lieber Leser, was von diesen beiden ist wohl richtig? Hoffentlich gehörst du nicht zu denjenigen, welche an den ersteren glauben, sondern zu denen, welche wissen, daß, wie die heilige Schrift sagt, kein Haar ohne »Seinen« Willen von unserem Haupte fällt.

Wie oft habe ich während meiner vielen Reisen an mir selbst erfahren, daß eine allweise Hand meinen Weg ganz anders lenkte, als es mein Wille war, und zwar stets zu meinem Glücke! Wie oft wurde ich aus einer mißlichen oder gar gefährlichen Lage durch einen ganz geringfügigen Umstand befreit oder errettet, den ein Anhänger der Zufallslehre geradezu für eine Unmöglichkeit erklären würde, der mir aber ein Wink von oben war, dem ich zu folgen hatte! Ein kurzes, schnell vorübergehendes Ereignis, welches ohne alle Bedeutung zu sein schien, eine rasche, impulsive That, scheinbar von nicht dem geringsten Werte, ein gelegentliches Wort, welches ich schon einige Augenblicke später vergessen hatte, trat plötzlich nach Jahren und in einem ganz andern, fernliegenden Lande mit seinen Folgen bestimmend oder erlösend vor mich hin, so daß mir wie ein Lichtstrahl die Erkenntnis kam, daß die gerechte Vorsehung jede That und jedes Wort des Menschen verzeichnet und die belohnende oder bestrafende Wirkung desselben im geeigneten Augenblicke eintreten läßt. Wie viele Thaten würden nicht geschehen und wie viele Worte würden nicht gesprochen, wenn alle Menschen der Überzeugung wären, daß alles, was sie erleben, reden oder thun, nicht unter der Herrschaft des sogenannten Zufalles steht, sondern unter einem höheren, weisen Gesetze, welches ebenso die Sonnen am Firmamente wie den Flug des kleinsten Käfers lenkt!

Zufall oder Schickung? Auf diese Frage soll das, was ich jetzt erzählen will, die Antwort geben, daß alles, was man einen Zufall nennt, nicht Zufall, sondern eine Wirkung dieses Gesetzes ist.

Ich war in der nubischen Wüste gewesen und kehrte nach Kairo zurück, um zunächst, was mein Äußeres betraf, einen andern, neuen Menschen aus mir zu machen. Die Art, wie ich reise, bringt es mit Sich, daß ich mich nicht mit großer Ausstattung und strotzendem Geldbeutel auf der großen, belebten Heerstraße bewege. Ich suche Gegenden auf, die fernab davon liegen, und da ist es mit den »Hilfsmitteln«, selbst wenn man sie besitzt, sehr bald zu Ende; sie haben allen Wert verloren, und zur Geltung kommt allein nur die Person, also das, was man ist und was man kann.

Infolgedessen befand ich mich bei meiner Rückkehr äußerlich in einem Zustande, den man im Volksmunde mit den allerdings sehr unästhetischen Worten »zerrissen und zerlumpt« zu bezeichnen pflegt. Das darf ich aufrichtig gestehen, weil es für einen Mann, der sich so lange Zeit unter den Völkerschaften des obern Nil herumgetrieben hat, ganz unausbleiblich und also keine Schande ist. Ich freute mich darum auf meinen großen, vollen Koffer, dessen Inhalt mehr als hinreichend war, mich vollständig neu auszustatten. Ich hatte ihn Ben Musa Effendi, meinem Gastfreunde, in Verwahrung gegeben, bei dem ich vor meinem Aufbruche nach Süden drei Wochen gewohnt hatte. Dieser Ben Musa Effendi war ein außerordentlich ehrlicher Mann, dem ich ein ganzes Vermögen hätte anvertrauen können, und so war ich nicht wenig überrascht, als ich seine Wohnung leer fand und von den Nachbarn erfuhr, daß er ganz plötzlich verschwunden sei und keinem Menschen gesagt habe, wohin er gehe. Zu dieser Überraschung gesellte sich noch die Betroffenheit, denn mein Koffer war ebenfalls mit ihm verschwunden.

Ich stand da und sah sehr trüben Blickes an mir nieder. Wie sah mein Anzug aus! Und im Koffer lag ein vollständig neues Habit! Aber nicht bloß das, sondern es befanden sich darin auch meine Wertpapiere, die ich jetzt in bare Münze hatte verwandeln wollen. Sie repräsentierten zwar keine große Summe, denn ich bin all mein Lebtage kein mehrfacher Millionär gewesen, aber doch einen für meine Zwecke hinreichenden Betrag.

Was nun thun? Zu dem Vertreter meiner Heimat gehen und Reisegeld leihen? Nein, das lag nicht in meiner Art. Hadschi Emir Kara Ben Nemsi »pumpt« sein Vaterland nicht an! Ben Musa Effendi ist ein ehrlicher Mann und muß wieder auf der Bildfläche erscheinen. Ich werde nach ihm suchen!

Aber wie und wovon leben, bis ich ihn gefunden habe? Von meinem »Rettungsgelde« natürlich. Ich trage nämlich auf allen meinen Reisen einige eingenähte Goldfüchse bei mir, welche für unvorhergesehene Fälle meinen »eisernen Fonds«, mein Rettungsgeld bilden, mein Derahim el Kefahle, wie der Araber sagt. Zehn Zwanzigmarkstücke, das reichte schon eine Weile. Freilich durfte ich mich da nicht im Hotel d' Orient einlogieren und mich auch noch nicht von meinem jetzigen Anzuge trennen.

Ich suchte mir zunächst ein billiges Quartier und fand es bei einem Pfeifenreiniger, welcher unverheiratet war und zwei kleine Räume innehatte, von denen er mir den einen gegen einen ganz geringen Betrag abtrat. Sein nicht ganz, geruchloses Geschäft bestand darin, von Haus zu Haus, von Kunden zu Kunden zu gehen, um die Köpfe und Rohre der Tabakspfeifen auszuputzen. Das ist zwar keine hervorragend geistreiche und staatserhaltende Beschäftigung, aber sie verfolgt doch einen gewissen Zweck und kam mir als Mieter nebenbei sehr zu gute, denn das höchst lobenswerte Prinzip der Reinlichkeit, welches seinem nützlichen Berufe zu Grunde lag, machte sich auch in seiner Wohnung geltend. Er verwendete seine freien Stunden in ganz und gar nicht orientalischer Weise darauf, die Diele zu scharren, die Wände abzukratzen, alle Winkel auszuwischen, die Decke, auf der er schlief, wie ein Wütender zu bearbeiten und seinen thönernen Tiegel blank zu lecken. Diese Decke und dieser Tiegel bildeten nämlich die einzige Ausstattung seines trauten Heimes.

Bei dieser sich täglich mehrmals wiederholenden Reinigung unserer beiden »Salons« konnte natürlich kein Stäubchen aufkommen, und infolge des Lärmes, den er dabei machte, waren alle diejenigen Tierchen ausgerissen, welche man zu den beißenden und stechenden Insekten rechnet und die in den Wohnungen und den Kleidern der Morgenländer eine so große Rolle spielen. Ich habe jenseits des Mittelmeeres nie so sauber und insektenlos gewohnt, wie bei diesem braven Ausputzer der muhammedanischen Tabakspfeifen.

Aber leider keine Rose ohne Dornen! Der Dorn in der lieblichen Rose unsers Wohlbefindens war ein alter Nachbar, welcher uns allabendlich besuchte, um seinen Tschibuk bei uns zu rauchen und dazwischen einige Knoblauchzwiebeln zu verzehren. Wie er eigentlich hieß, das hatte ich nicht erfahren können; er wurde von allen, die ihn kannten, nur esch Schahad, der Bettler, genannt. Damit ist gesagt, wovon er lebte.

Esch Schahad zog nicht etwa bettelnd in der Stadt herum; 0 nein, zu den armseligen Proletariern, die dies thaten, gehörte er keineswegs! Er hatte einen »Stand«, und zwar was für einen! Dieser Stand war der beste Platz, den es für sein Gewerbe in ganz Kairo gab; er brachte ihm nicht nur Almosen in Hülle und Fülle ein, sondern dazu auch noch eine Art von Heiligenschein, der ihn hoch über alle seine Erwerbsgenossen erhob.

Wer in Kairo gewesen ist und sich nur einigermaßen in der Stadt umgesehen hat, dem ist ganz gewiß das Binnenthor Bab Zuweileh bekannt, welches nach auswärts einen Spitzbogen in hoher Wand bildet und nach der innern Stadt eine rot und weiß gebänderte Bastion vorschiebt, auf der die Minarehs der benachbarten Moscheen sitzen. An diesem Thore stand oder saß esch Schahad vom Morgen bis zum Abende, und kein gläubiger Muhammedaner, der vorüberging, versäumte es, sich durch ein Almosen unter den ganz besonderen Schutz Allahs und der Geisterwelt zu stellen.

Im Kopfe des Moslem wimmelte es von Djinns, Geistern und andern unbegreiflichen Wesen, die zwischen Himmel und Erde und zumal in den Märchen leben und einen großen Einfluß auf die Menschen haben. Diese unsichtbaren Wesen fliegen und schweben in so großer Anzahl umher, daß man kein Wasser ausschütten und nichts wegwerfen darf, ohne vorher »Mit Erlaubnis!« zu rufen, weil man sonst einen Geist auf den Kopf treffen und damit seine Rache herausfordern könnte. Der berühmteste und mächtigste unter den Geistern Kairos aber wohnt in dem Bab Zuweileh und hat seinen Aufenthalt in einem kleinen Raume des östlichen Thorweges, der durch den hölzernen Thorflügel verdeckt wird.

Dieser Geist ist der berühmte »Kutb«, welcher fast die Allmacht Allahs besitzt. Er kann in einem einzigen Augenblicke um die ganze Erde fliegen; er hört alles, sieht alles und kann alles. Wer es mit ihm verdirbt, der ist verloren, und wer sich seine Gunst erwirbt, der kann auf die Erfüllung aller Wünsche rechnen. Dieser Kutb hat Macht über alle frommen Moslemim, mögen sie wohnen, wo sie wollen, in dem westlichsten Winkel der Sahara oder tief im Osten bei den Chinesen; er kennt sie alle und ist auch ihnen allen bekannt, wenn ihn auch noch keiner gesehen hat. Will er einmal in sichtbarer Gestalt erscheinen, so geschieht das in der Gestalt des Bettlers, der sein Diener und sein Vertrauter ist. Man kann sich also denken, wie hochwichtig und wie wertvoll der Bettlerplatz am Thore Zuweileh ist! Esch Schahad hätte ihn nie freiwillig hergegeben und um seinen Besitz mit jedem Konkurrenten bis auf den Tod gekämpft. Welche Ehren genoß er da! Kein Moslem ging an ihm vorüber, ohne die Fatcha, die erste und einleitende Sure des heiligen Kuran zu beten! Und wer einen Wunsch, eine Bitte an den Kutb, hatte, der blieb stehen, um sie in lauten, flehenden Worten auszusprechen. So erfuhr der Bettler manches Geheimnis, welches er in seiner verschwiegenen Brust verschlossen hielt.

Also dieser hochwichtige Mann war der Dorn in unserer Rose! Er kam alle Abende so sicher wie der Abend selber, rauchte seinen fürchterlichen Tabak oder kaute seinen ebenso genußreichen Knoblauch und sprach dabei von allen möglichen Dingen, aber nur nicht von dem Kutb, über den ich doch so gern etwas Näheres erfahren hätte. Das war sein Amts- oder vielmehr Geschäftsgeheimnis. Er duftete nach allen möglichen Gerüchen, die einem Bettler anhaften können, und paßte nicht in unsere reinliche Behausung, wurde aber trotzdem von meinem Wirte geduldet, weil er der Nachbar desselben und ihn durch seine Besuche gewohnt geworden war. Auch ich war ihm nicht unbekannt, denn ich hatte ihm früher, so oft ich durch das Bab Zuweileh und an ihm vorüber gegangen war, stets ein Geschenk gegeben, und da meine Kleidung diejenige eines Europäers gewesen war, hatte er sich über diese Gaben gewundert und sich mein Gesicht gemerkt. Als er mich dann zum erstenmal in meiner jetzigen Wohnung traf, war er zugleich verwundert und erfreut darüber und fragte mich, warum ein solcher Effendi gezwungen sei, bei einem »Manne der Pfeifenreinigung« zu wohnen. Ich hatte keinen Grund, ihm die Auskunft zu verweigern, und er nahm solchen Anteil an mir, daß er mir versprach, den Kutb zu befragen, wohin der verschwundene Ben Musa Effendi mit meinem Koffer gekommen sei. Leider aber verging ein Tag nach dem andern, ohne daß der sonst so allwissende Geist sich herbeiließ, die erbetene Antwort zu erteilen. Ich hielt das für eine unverantwortliche Rücksichtslosigkeit, zwar nicht gegen mich, aber doch gegen den Bettler, der sein Diener und Vertrauter war.

So vergingen zwei Wochen, ohne daß ich eine Spur von Ben Musa Effendi entdeckte; das Schicksal entschädigte mich dafür dadurch, daß mir esch Schahad seine ganz besondere Zuneigung schenkte; ich bemerkte, daß er mich von Tag zu Tag lieber und lieber gewann, und es kam mir zuweilen so vor, als ob er etwas auf dem Herzen habe, was er mir gern anvertrauen wolle, was sich aber weigere, ihm über die Lippen zu gehen. Aus den verschiedenen Fragen, mit denen er um diesen Gegenstand »herumging«, schloß ich, daß es etwas Ärztliches sein müsse; es wurde ihm aber außerordentlich schwer, es auszusprechen. Wäre er verheiratet gewesen, so hätte ich geschlossen, daß es sich um seinen Harem handle.

Da. eines Abends, zwang er sich endlich zu dieser Mitteilung; nur sprach er sie nicht unvermittelt aus, sondern er steuerte auf einem Umwege auf sie los, indem er sich erkundigte:

»Hast du heute wieder nichts von diesem Ben Musa Effendi erfahren?«

»Nein,« antwortete ich.

»Er ist vielleicht doch ein Dieb!«

»Gewiß nicht; er ist ein ehrlicher Mann.«

»Da hätte er deinen Koffer stehen lassen müssen!«

»Das wäre unvorsichtig gewesen; er durfte ihn andern Leuten nicht anvertrauen.«

»So mußte er bei seinem Fortgange sagen, wohin er gehen wollte!«

»Er hatte wahrscheinlich alle Gründe, gerade dies zu verschweigen. Hat dir der Kutb, der mächtige Geist des Bab Zuweileh, auch noch keine Auskunft darüber erteilt?«

»Nein.«

»Das wundert mich eigentlich, denn du bist sein Liebling, und er ist allwissend.«

»Ja, Effendi, er weiß alles und kann alles; aber es ist sehr leicht zu erklären, warum er schweigt.«

»Nun, warum?«

»Er ist nur für die wahren Gläubigen da; du aber bist ein Christ.«

»Das ist gar nicht lieb von ihm. Wenn wir Christen an solche Geister glaubten, würden diese mit ihren Wohlthaten gewiß keinen Unterschied zwischen uns und euch machen.«

»Wie, ihr glaubt nicht an solche Wesen?«

»Nein.«

»Ihr habt also auch keinen Kutb?«

»Nein.«

»Das ist sonderbar, die Christen sind doch sonst so kluge Leute; besonders du, Effendi, bist gelehrt in allen Dingen, du warst in allen Ländern und bei allen Völkern; du kennst alle Steine, alle Pflanzen, alle Wege und Flüsse, alle Berge und alle Thäler und alle – – o, Effendi,« unterbrach er sich, »sag' mir, ob du wohl auch alle Krankheiten kennst!«

»Ja,« antwortete ich, denn die Namen der Krankheiten waren mir allerdings bekannt.

»Und auch die Mittel, mit denen man diese Krankheiten heilt?«

»Allah allein ist allwissend; er allein kennt alles; des Menschen Wissen ist nur Stückwerk; aber ich gebe zu, daß die Bewohner des Abendlandes in dieser Beziehung mehr, weit mehr wissen, als diejenigen des Morgenlandes.«

»So möchte ich dir eine Frage vorlegen.«

»Thue es! Ich will doch nicht befürchten, daß du selbst an einer Krankheit leidest?«

»Ich nicht,« antwortete er zögernd.

»Wer denn?«

»Ich – – habe – – einen Freund,« dehnte er in der Weise, in welcher man spricht, wenn man nicht recht weiß, ob man die Wahrheit sagen soll oder nicht.

»Und dieser Freund ist krank?«

»Er selbst auch nicht.«

»Also ein Glied seiner Familie?«

»Ja, so ist es.«

»Wer?«

»Man darf nicht davon sprechen, Effendi.«

»Dann kann ich auch nicht helfen. Wer eine Krankheit beseitigen soll, der muß unbedingt wissen, wer der Kranke ist.«

»Auch wenn es sich um den Harem handelt?«

»Selbst dann.«

»So erfahre, daß es sich allerdings darum handelt. Es ist die junge Haremeh meines Freundes.«

»Ist's die Frau oder die Tochter?« fragte ich in sonst verbotener Weise.

»Allah! Mußt du das wissen?«

»Ja.«

»Es ist die Tochter,« antwortete er mit einem tiefen, mich anklagenden Seufzer.

»Und worin besteht die Krankheit?«

»O, Effendi, ich habe nicht geglaubt, daß Allah dich mit so großer Neugierde ausgerüstet hat!«

»Wenn du nicht sagen willst, was es ist, so kann der Kranken nicht geholfen werden. Sprechen wir also nicht davon.«

Ich wendete mich ab, als ob ich nichts mehr hören wollte, da fiel er schnell ein:

»Halt, Effendi! Ich werde es dir doch sagen, denn diese Krankheit ist ein Schandmal ihrer Schönheit und ein großes Hindernis ihrer Verheiratung. Sie weint Tag und Nacht darüber und ihr Vater und ihre Mutter grämen sich zu Tode.«

»Haben sie denn noch keinen Arzt gefragt?«

»Alle, alle! Ihr Vater war bei den berühmtesten Zauberern und Gelehrten; sie alle haben Mittel gegeben, welche viel Geld kosten, aber keines hat geholfen.«

»Also ein Schönheitsfehler. Wie heißt er?«

»Mein Mund sträubt sich dagegen, ihn zu nennen. Kannst du es nicht erraten?«

»An welcher Stelle des Körpers befindet er sich?«

»Vorn am Halse. O Muhammed, o Abubekr! Gerade vorn am Halse, wo er so leicht zu sehen ist! Könnte er nicht lieber am Rücken sein? Warum hat es Allah so eingerichtet, daß die Krankheiten immer an der falschen Stelle sitzen!«

»Das hat er zum Besten der Kranken so gefügt. Wenn der Schönheitsfehler, den du meinst, auf dem Rücken säße, störte er weniger und würde nicht kuriert.«

»Du ahnst also, was es ist?«

»Ja; es ist ein Ghodda

»Maschallah! Du hast es erraten. Ihr Ungläubigen seid doch kluge Menschen!«

»Wie groß ist er?«

»So groß wie meine Faust. Möge er in der tiefsten Hölle braten!«

»Und wie alt ist die Tochter?«

»Erst fünfzehn Jahre! Und einen Ghodda, so groß wie meine Faust! Denke dir mein Herzeleid!«

»Dein Herzeleid?«

»Nein, nein,« rief er schnell. »Ich meine das Herzeleid meines Freundes, welches allerdings auch mir zu Herzen geht. Sag', o sag', Effendi, ob so ein entsetzlicher Ghodda zu kurieren ist?«

»Er ist zu heilen.«

»Und kennst du das Mittel?«

»Ja.«

»Wie heißt es? Teile es mir schnell mit!«

»Es giebt verschiedene Mittel, je nachdem die Krankheit verschieden ist. Es giebt nämlich drei Arten des Kropfes. Die beiden ersten Arten heilen die abendländischen Ärzte durch eine Arznei, welche Jod genannt wird; im Morgenlande giebt man ein Mittel, welches aus Dura beda, gebranntem Sfunga und Fulful zusammengesetzt ist.«

»Willst du meinem Freunde dieses Mittel bereiten, wenn ich dich darum bitte, Effendi?«

»Nein.«

»Allah!« rief er erstaunt. »Ich denke, du hast mich lieb! Und du schlägst mir diese Bitte ab!«

»Weil ich nicht leichtsinnig sein will. Ich muß wissen, von welcher Art der Ghodda ist, sonst könnte ich die Gesundheit der Patientin schwer verletzen.«

»Wie willst du das erfahren?«

»Ich muß den Ghodda sehen und untersuchen.«

»Ia dschasara, ia kystachla – o Kühnheit, o Verwegenheit! Du willst den Hals dieser Tochter betasten?«

»Ich muß es, wenn ich ihr helfen soll.«

»Weißt du nicht, daß kein Mann den Harem betreten darf? Am allerwenigsten ein Christ!«

»Das ist auch nicht notwendig. Dein Freund mag die Tochter hierherbringen.«

»Damit du deine Hand an ihren Ghodda legst?«

»Ja.«

»Das geht nicht; das ist ganz unmöglich! Wie könnte man das vor Muhammed und allen seinen Nachkommen verantworten!«

»Ganz wie du denkst! Die Tochter mag also ihren Ghodda, das Hindernis ihres Glückes, behalten.«

Dabei blieb ich; aber er beruhigte sich nicht und fing immer wieder von dem Schönheitsfehler an, beharrte aber doch dabei, daß ein Christ unmöglich eine Muhammedanerin berühren dürfe. Da kam ich endlich auf einen vermittelnden Einfall:

»Höre, Schahad, du befindest dich in einem großen Irrtum. Gehört denn der faustgroße Ghodda eigentlich zum Körper der Tochter deines Freundes?«

»Nein. Er ist sogar höchst überflüssig; er soll weg!«

»Wenn ich ihn berühre, berühre ich da den Körper, zu dem er nicht gehört?«

»Maschallah! Gottes Wunder! Das ist ja wahr! Und du glaubst, ihn heilen zu können?«

»Ja.«

»So werde ich vielleicht mit meinem Freunde sprechen. Ich will es mir heut nacht überlegen. Ich gehe jetzt fort, augenblicklich fort. Leïltak sa 'ide – gute Nacht!«

Er sprang auf und eilte hinaus.

Mein Wirt blickte ihm lächelnd nach und fragte mich:

»Hast du gesehen, wie aufgeregt er war, Effendi?«

»Ja.«

»Und hast du gehört, wie er sich versprach?«

»Er sprach allerdings von seinem Herzeleid, nicht von dem seines Freundes.«

»O, er hat gar keinen Freund; er verkehrt ja nur mit mir und dir. Sollte man da nicht meinen, daß es sich um seine eigene Tochter handle?«

»Hm! Es ist rätselhaft. Er nimmt viel Geld ein; er ist reich, und ich halte es für möglich, daß er einen Harem hat, ohne es wissen zu lassen.«

»Ja. Warum läßt er keinen Menschen zu sich? Nicht einmal mich? Er hat ein Geheimnis. Daß er reich ist, habe auch ich schon gedacht, denn er bekommt an Bab Zuweileh täglich sehr viel Geld geschenkt. Ich habe ihn einmal zufällig in einem schönen, seidenen Kaftan und mit einem neuen, prächtigen Turban gesehen; er hatte sich gewaschen und sah ganz anders aus als sonst, fast wie ein vornehmer Herr. Ich redete ihn an; er aber wollte mich nicht kennen und eilte fort. Ich bin sehr neugierig, was er morgen sagen wird.«

Der gute Pfeifenreiniger war nicht der einzige Neugierige; ich war es auch. Ich hegte die Überzeugung, daß unter der schmutzigen Hülle des Bettlers ein Mann von mir allerdings jetzt noch unbekannter Bedeutung steckte. Als er am nächsten Abende kam, brachte er die Rede zunächst auf ein anderes Thema:

»Effendi, hast du deinen Koffer noch nicht entdeckt?«

»Nein.«

»Das ist sehr beklagenswert für dich und mich.«

»Warum?«

»Weil du ohne den Koffer nicht fort kannst von hier.«

»Freilich! Aber das klingt ja ganz so, als ob du meine Abreise wünschtest!«

»Ich wünsche sie auch.«

»Und ich habe gedacht, du seiest mein Freund!«

»Der bin ich auch; aber gerade deshalb will ich, daß du nicht lange mehr hier bleibst.«

Das klang sonderbar. Dabei war sein Gesicht sehr ernst; es hatte einen ganz eigenen Ausdruck, der mir auffallen mußte.

»So giebt es wohl einen Grund, der dir diesen Wunsch eingiebt?« fragte ich.

»Ja.«

»Welcher ist es?«

Er sah schweigend vor sich nieder und antwortete erst auf eine Wiederholung meiner Frage:

»Ich darf es dir nicht sagen.«

»Höre, Schahad, wenn ich mir deine Worte zurechtlege, kann ich nicht anders annehmen, als daß du der Ansicht bist, daß ich hier etwas zu erwarten habe, was mir nicht lieb sein kann.«

»Da hast du das Richtige getroffen, Effendi.«

»Dann ist es deine Pflicht, offen gegen mich zu sein.«

»Es giebt noch eine höhere Pflicht, welche mir das verbietet.«

»Droht mir etwas Unangenehmes?«

»Etwas noch Schlimmeres.«

»Etwa gar eine Gefahr?«

»Ja.«

»Von wem? Von welcher Seite?«

»Darüber muß ich schweigen.«

Was hatte er nur? Ich drang noch einigemal in ihn, konnte aber nichts Näheres erfahren; er teilte mir schließlich, und zwar ganz widerstrebend, nur das mit, daß die Verhältnisse, weiche mich bedrohten, politische seien. Ich mußte unwillkürlich laut auflachen.

»Du lachst!« rief er aus. »Glaubst du meinen Worten nicht?«

»Hm! Ich halte dich für einen wahrheitsliebenden Mann; du wirst also glauben, mir die Wahrheit zu sagen, aber du wirst dich irren.«

»Ich irre mich nicht; ich weiß, was ich weiß.«

»Unmöglich! Ich habe mit der Politik ja gar nichts zu thun.«

»Sehr viel sogar, Effendi!«

»Das müßte ich doch wissen!«

»Nein. Der Vogel hat mit der Schlange ja auch nichts zu thun, und sie kommt dennoch und frißt ihn auf.«

»Das ist etwas ganz anderes. Die Politik ist gerade dasjenige, was mir am fernsten liegt. Wie kann mir von daher Gefahr drohen? Ich beschäftige mich daheim nicht mit ihr, hier noch viel weniger.«

»Allah! Du willst mich nicht hören, und ich wiederhole dennoch meine Warnung.«

»Warnung sagst du? So ist die Gefahr, welche mir nach deiner Ansicht droht, eine große?«

»Ja. Es kann sich um dein Leben handeln.«

»Maschallah! Welcher ägyptische Politiker kennt mich? Welcher von diesen Herren trachtet mir nach dem Leben?«

Er machte eine Bewegung der Ungeduld und rief heftig aus:

»Willst du mich denn wirklich zwingen, zu sagen, was ich nicht sagen darf? Es handelt sich gar nicht persönlich um dich!«

»Und doch ist meine Person in Gefahr? Du widersprichst dir selbst.«

»Nein. Ich meine, es handelt sich nicht um dich allein.‹,

»Um wen noch?«

»Um alle Europäer.«

»Ah! Stehen alle Europäer in Gefahr?«

»Ja.«

»Schahad! Das klingt ja ganz so, als ob es sich um eine Verschwörung gegen die Ausländer handle, welche hier leben!«

»Ich sage nichts.«

»An so etwas ist aber gar nicht zu denken.«

»Nicht?«

»Nein. Es ist ja hier im Lande alles ruhig. Es hat zwar vor einiger Zeit hier gegärt; aber das ist vorüber, seit der Khedive im vorjährigen Juli das Liquidationsgesetz unterzeichnet hat.«

»Nur der Seemann sieht es dem heitern Himmel an, daß trotz dieser Herrlichkeit ein Sturm im Anzuge ist. Du bist ein Laie. Nun aber habe ich genug gesprochen. Du hörst weiter kein Wort von mir!«

»Hm! Du meinst es jedenfalls gut, und ich danke dir. Aber du hast weit mehr gesagt, als du weißt.«

»Wieso, Effendi?«

»Wenn deine Warnung einen Grund hat, so kann es sich, wie gesagt, nur um eine Verschwörung, um einen Aufstand handeln; du mußt davon wissen und gehörst also zu den Verschwörern!«

»Allah 'l Allah, was fällt dir ein! Wie kann ein armer Schahad ein Verschwörer sein? Solche Leute müssen Männer von Einfluß und Bedeutung sein; ich aber lebe von den Almosen der Mildthätigen. Sprechen wir von etwas anderem! Ich soll dich grüßen, Effendi.«

»Von wem?«

»Von meinem Freunde.«

»Ah? So hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja.«

»Was sagte er?«

»Du sollst jetzt erfahren, wie lieb ich dich habe und welches Vertrauen ich in dich setze. Mein Freund ist ein strenggläubiger Moslem, der seinen Harem heilig hält. Als ich ihm sagte, was ich gestern mit dir besprochen habe, war er empört über so eine Zumutung –«

»Ich habe ihm nichts zugemutet,« fiel ich ihm in die Rede. »Mir liegt nichts an der Heilung seiner Tochter, die mir vollständig fremd ist. Mag sie ihren Ghodda behalten!«

»Werde nur nicht gleich zornig, Effendi! Ich habe dich doch mit dem Worte Zumutung gar nicht beleidigen wollen. Er wünscht allerdings sehr, daß diese Verunzierung der Gestalt verschwinde, und ich sagte ihm, daß dieser schlimme Ghodda mit der Zeit noch viel größer werden könne.«

»Das ist sehr richtig; er wird immer größer.«

»Ia semaji, ia robaji, hijarani – o mein Himmel, mein Schreck, mein Entsetzen! Wer möchte das mit ansehen! Er war ganz unglücklich, als er dies hörte, und seine Tochter, welche die Freude und der Glanz seines Alters ist, weinte vor Kummer. Da erklärte ich ihm, daß der Ghodda gar nicht zu ihrem Körper gehöre, was ihn sofort beruhigte. Er zeigte sich bereit, dir zu erlauben, den bösen Ghodda zu berühren.«

»Wann?«

»Schon heut abend.«

»Wo? Soll ich zu ihm kommen?«

»Nein; er wünscht, daß es hier geschehe.«

»So wird er mit seiner Tochter kommen?«

»Auch das nicht. Sein Stand verbietet ihm, hierher zu gehen. Er hat mich beauftragt, seine Stelle zu vertreten. Wenn du es erlaubst, werde ich jetzt gehen, um die Tochter zu holen.«

»Ganz wie du willst, Schahad.«

»Vorher muß ich dir sagen, daß dich eine große Belohnung erwartet, wenn es dir gelingt, die Tochter von dem Makel ihrer Schönheit zu befreien.«

»Ich thue es dir zu Gefallen und verlange nichts dafür.«

Er ging. Als er hinaus war, sah mich mein Reiniger der Pfeifen bei offenem Munde mit großen Augen an.

»Was sagst du dazu, Effendi?« fragte er. »Ist das ein Wunder oder keins?«

»Es ist kein Wunder, sondern nur Vaterliebe und Eitelkeit.«

»Er aber ist der Vater!«

»Natürlich!«

»So hat er einen Harem, also ein Haus?«

»Ja. Der Freund ist er selbst. Denn wenn dieser Freund eine so hohe Stellung hätte, daß er ihretwegen nicht zu uns gehen dürfte, so würde sie ihm noch viel mehr verbieten, seine Tochter einem Bettler anzuvertrauen, noch dazu des Abends.«

»Aber wo hat er seinen Harem, sein Haus? In der Ruine nebenan, wo er sich aufhält, wenn er nicht beim Thore Zuweileh sich befindet, kann er nicht mit Weib und Tochter wohnen. Er ist wirklich etwas ganz anderes als ein Bettler; er hat Heimlichkeiten, sage ich dir, vielleicht ganz wichtige Heimlichkeiten. Mit welcher Überzeugung und Sicherheit er dich warnte!«

»Pah! Wer weiß, was er gehört hat, und nun giebt er einem wahrscheinlich ganz harmlosen Worte grundfalsche Bedeutung.«

»Es könnte aber doch etwas an der Sache sein!«

»Nein.«

»Bedenke doch, wenn er wirklich kein bloßer Bettler, sondern ein ungewöhnlicher, geheimnisvoller Mensch ist, so solltest du von seiner Warnung anders denken!«

»Warten wir es ab.«

Der Schahad war noch keine ganze Viertelstunde fort, so kehrte er zurück; eine tiefverhüllte weibliche Gestalt folgte ihm.

»Das ist sie, die Tochter meines Freundes,« sagte er. »Sie wird dir jetzt den Ghodda zeigen. Der Reiniger der Pfeifen aber mag sich umdrehen, denn sein Auge darf nicht auf die Stelle der Schönheitstrauer fallen.«

Der Wirt kauerte sich so in die Ecke nieder, daß er uns seinen Rücken zukehrte. Die Frauengestalt bekam in der Gegend des Halses Bewegung; ihre Hände schoben die zwei Teile des Schleiers ein ganz, ganz klein wenig auseinander, und so entstand eine kleine Lücke, in welcher der unwillkommene Gegenstand der »Schönheitstrauer« erschien. 0 weh, es war kein Kräpfchen, sondern wirklich ein Kropf! Man konnte es der »Tochter des Freundes« nicht übelnehmen, daß sie ihn fortwünschte. Ich näherte meine Hand und untersuchte ihn so leise und schonend wie möglich. Wie freute ich mich, als ich fand, daß es weder ein Gefäß- noch ein gelatinöser Kropf, sondern ein Struma cystica war! Da konnte ich gleich helfen, denn hier handelte es sich nur um die Eröffnung und Entleerung der Anschwellung.

Als der Bettler sah, daß ich mit der Untersuchung fertig war, sagte er:

»Das ist rasch gegangen, Effendi. Glaubst du, daß du helfen kannst?«

»Ja. Ich habe das Mittel sogar drin in meiner Stube und werde es holen, um die Stelle des Kummers damit zu bestreichen. Es wird ein klein wenig schmerzen, doch gar nicht sehr. Wenn die Tochter deines Freundes stillhält, wird ihr Hals bald dem des Schwanes gleichen.«

»Sie wird stillhalten; ich verspreche es dir. Hat doch die Lieblingsfrau des Propheten auch nicht gezuckt, als ihr ein kranker Finger aufgeschnitten wurde.«

Ich ging in meinen Wohnraum, um nicht sehen zu lassen, daß ich mein scharfes, spitzes Federmesser öffnete und in die rechte Hand versteckte; zurückkehrend hielt ich die linke so, als ob die Salbe sich in ihrer Höhlung befände. Die Patientin mußte sich an die Wand lehnen; dann wendete ich mich an den Reiniger der Pfeifen:

»Du kannst dich herumdrehen; es ist vorüber.«

»Du bist fertig?« fragte der Bettler. »Sie kann also gehen?«

»Ja.«

»Giebst du ihr die Salbe mit?«

»Schau meine Hand! Es war keine Salbe, sondern mein Messer; ich habe den Ghodda geöffnet.«

»Allah! Bist du ein Mörder?«

»Ja, denn ich habe den Ghodda erstochen. Morgen abend wirst du wiederkommen und mir sagen, daß er verschwunden ist.«

Er hatte Angst; ich beruhigte ihn und sagte ihm, wie der Hals behandelt werden müsse; er wußte nicht, ob er mich ob meiner Kühnheit loben oder schelten sollte, und hielt es für das beste, zunächst gar nichts zu sagen und sich mit der glücklich Operierten zu entfernen.

Als er am folgenden Abende zu uns kam, strahlte sein Gesicht vor Freude; er reichte mir beide Hände und rief, noch ehe er sich setzte:

»Effendi, er ist weg, ganz weg! Man sieht nur noch die Stelle, wo dein Messer eingedrungen ist. Trotzdem macht die Tochter meines Freundes jetzt noch immer Umschläge, damit der Trübsinn ihrer Jugend nicht zurückkehren möge, Du bist weiser und klüger als alle gelehrten Männer und Zauberer, die nichts wußten. Was soll mein Freund dir zahlen?«

»Ich nehme nichts.«

»So sagst du jetzt, aber du wirst gezwungen werden, zu nehmen, was die Dankbarkeit dir bietet; das schwöre ich dir bei meinem Haare und Barte!« – –

Am nächsten Tage ging ich durch die Gasse, in der ich bei Ben Musa Effendi gewohnt hatte. Unser damaliger Nachbar, ein Silberarbeiter, saß unter der Thür seines offenen Ladens und rief mich zu sich, als er mich sah.

»Emir,« sagte er, »vorgestern habe ich mit Ben Musa Effendi gesprochen.«

»Ah! Wo?« fragte ich, freudig überrascht.

»Hier. Er kam zufälligerweise vorüber und ich sagte ihm, daß du nach ihm und deinem Koffer suchst.«

»Ich danke dir! Du erfreust mit dieser Nachricht meine Seele. Er hat dir natürlich gesagt, wo er jetzt wohnt?«

»Nein. Er that so geheimnisvoll. Er sagte, er sei jetzt gar nicht in Kairo gewesen; deinen Koffer aber habe er gut aufbewahrt. Er wollte deine Wohnung wissen, um ihn dir zu bringen oder zu schicken; aber ich wußte sie nicht. Da bat er mich, dich danach zu fragen und es ihm mitzuteilen, denn er werde wieder zu mir kommen.«

Das war sonderbar; später aber erfuhr ich den Grund seiner Heimlichthuerei. Ich teilte dem Silberarbeiter meine Wohnung mit und ging.

An diesem Abende kam der Bettler nicht zu uns und blieb auch die zwei folgenden aus. Das fiel uns auf; wir waren an ihn gewöhnt. Sollte er etwa krank sein? Ich ging am nächsten Morgen nach dem Bab Zuweileh; da saß er wie immer. Ich fragte ihn nach der Ursache seines Ausbleibens; er antwortete:

»Ich habe ein Gelübde gethan, welches mich zum Du 'a el Mesa zwingt, und muß also daheim bleiben. Wenn es vorüber ist, komme ich wieder.«

»Wann wird das sein?«

»Das weiß ich nicht.«

Sonderbar! Er mußte doch wissen, was er gelobt hatte und wie viele Abende er zu beten hatte!

Wir standen im Anfange des September, und es gab prachtvolle Abende. An einem solchen gefiel es mir nicht in der engen Stube, und ich stieg auf das platte Dach des Hauses, um da oben meinen Tschibuk zu rauchen. Am vordern Rande des Daches sitzend, konnte ich sehen, was auf unserer Gasse vorging. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß ein Mann kam, welcher an die Thür des Bettlers klopfte und eingelassen wurde. Nach einiger Zeit kam ein zweiter, ein dritter und vierter. Ich zählte zwölf Personen, welche eingelassen wurden. Was wollten sie bei esch Schahad, der sonst niemand zu sich ließ? Ich dachte an die »Verschwörung«, über welche ich gelacht hatte, und blieb sitzen. Erst nach Mitternacht entfernten sie sich wieder, und zwar einzeln, wobei sie sich sehr behutsam verhielten.

Also kein Gelübde und kein Abendgebet, sondern heimliche Versammlungen! Das mir Unbegreifliche dabei war die Zahl der Personen. Der Bettler bewohnte nämlich ein fast ganz in Ruinen liegendes einstöckiges Häuschen, von welchem niemand wußte, wem es gehörte. Wahrscheinlich war der Eigentümer der reiche Abu Gibrail, welcher auf der mit der unserigen parallel laufenden Gasse wohnte und an dessen Grundstück die Hütte des Bettlers stieß. Diese Hütte hatte in ihrem jetzigen Zustande keinen Raum, in welchem zwölf Menschen bei einander sein konnten. Wo hatte da esch Schahad die Leute, welche heute bei ihm gewesen waren, untergebracht? Das war mir ein Rätsel.

Am nächsten Abend kam er wieder nicht zu uns; ich ging also abermals auf das Dach und machte ganz dieselbe Beobachtung wie gestern. Sollte es sich wirklich um eine Verschwörung handeln? Lächerlich!

Eben als ich am darauffolgenden Vormittag ausgehen wollte, kam ein Wasserträger an unsere Thür. Als er mir den Krug gefüllt und die geringe Bezahlung erhalten hatte, fragte er mich: »Wohnt hier nicht ein fremder Effendi?«

»Ja.«

»Der Kara Ben Nemsi heißt?«

»Ja.«

»Wo ist er?«

»Hier; ich bin es.«

»So habe ich dir etwas zu geben.«

Er zog ein altes, schmieriges Tuch aus der Tasche, welches mit einer Schnur fest umbunden und verknotet war, warf es mir hin und ging.

Was befand sich in dem Tuche? Mich graute, es anzugreifen; ich hob es aber doch auf, zerschnitt den Bindfaden und zog es an den Zipfeln auseinander. Da fiel ein Lederbeutel heraus. Ich hob ihn auf und öffnete. Was! Goldstücke und dabei ein Zettel! Der letztere war zusammengeschlagen; ich machte ihn auf und las: »Nimm dieses Geld und verlaß die Stadt, wenn auch dein Koffer verloren ist!«

Ich zählte das Geld. Es waren nach deutschem Gelde dreihundert Mark. Wer schickte mir diese Summe?

Ich eilte hinaus auf die Gasse, um mich nach dem Wasserträger umzusehen; er war fort. Ich suchte ihn in den anstoßenden Gassen und fand ihn nicht. Er hatte von dem, der ihn zu mir geschickt hatte, die Weisung erhalten, sich schnell zu entfernen.

Wer aber hatte ihn geschickt? Jemand, welcher wußte, daß ich meinen Koffer suchte. Das waren nur wenige Personen, so daß es keines großen Scharfsinnes bedurfte, es zu erraten: der Bettler. Ich ging sofort nach dem Bab Zuweileh und fragte ihn:

»Du hast jetzt einen Wasserträger zu mir geschickt?«

»Nein,« antwortete er.

»Ich bitte dich sehr, mir die Wahrheit zu sagen!«

»Ich sage sie.«

Dabei blieb er, obgleich ich weiter in ihn drang. Ich mußte das Geld behalten, obgleich ich das nicht gern that. Abends kam er wieder zu uns; er machte uns die Mitteilung, daß sein Gelübde zwar noch in Geltung sei, ihm aber den heutigen Abend frei gebe.

Während wir uns wie früher unterhielten, bemerkte ich, daß er innerlich sehr unruhig war. Dann fragte er, warum ich heut nach dem Wasserträger gefragt hätte; ich sagte es ihm und fügte hinzu, daß ich den Geber erraten hätte.

»So?« fragte er. »Wer ist es?«

»Du bist es!«

»Maschallah! Wie kann so ein armer Mann eine solche Summe besitzen oder gar verschenken! Aber sag', ob du das thun willst, was auf dem Zettel gestanden hat.«

»Nein.«

»Aber bedenke doch, Effendi! Ich habe dich gewarnt; du glaubtest mir nicht; jetzt warnt dich ein anderer; da müßt du es nun doch glauben!«

»Es ist kein anderer.«

Da wurde er zornig und rief:

»Gut, denke, was du willst, und thu', was du willst! Was soll ich mich mit dir streiten?«

Er hatte länger bei uns bleiben wollen, ging aber nun vor Ärger fort. Der Pfeifenreiniger machte diesmal ein sehr ernstes Gesicht und sagte:

»Er hat doch vielleicht recht, Effendi. Es muß gegen dich etwas im Anzuge sein.«

»Warum?«

»Du weißt, daß ich bei Tage nicht daheim bin; aber als ich in der Dämmerung nach Hause ging, erfuhr ich vom Nachbar, daß man sich nach dir erkundigt hat.«

»Wer?«

»Soldaten.«

»Wann?«

»Heut, gestern und auch schon vorgestern. Sie haben wissen wollen, ob der Effendi, welcher bei mir wohnt, ein Franke sei.«

»Wer weiß, aus welchem einfachen Grund dies geschehen ist.«

»O, Effendi, es ist hier nicht alles so, wie es sein sollte; es scheint in Kairo etwas vorgehen zu sollen.«

»Was?«

»Das weiß ich nicht; aber ich habe heut so manches beobachtet, was mir aufgefallen ist.«

»So sag' mir, was?«

Er brachte verschiedenes zum Vorschein, was er gesehen und gehört hatte, aber es war nichts dabei, was geeignet gewesen wäre, mich bedenklich zu machen.

Am andern Tage ging ich zu dem Silberarbeiter. Ben Musa Effendi war bei ihm gewesen und hatte meine gegenwärtige Wohnung erfahren. Warum war er nicht zu mir gekommen? Mochte der Grund sein, welcher er wollte, ich war nun sicher, endlich zu meinem Eigentum zu kommen, und spazierte befriedigt durch die Straßen und Gassen der Stadt.

Da fiel mir nun allerdings auf, daß ich nicht so viel wie sonst Leute in abendländischer Kleidung sah, dafür aber desto mehr militärische Personen, welche ungewöhnlich beschäftigt zu sein schienen. Das konnte mich aber nicht beunruhigen.

Gegen Abend kam ein Hamal, der mir endlich meinen Koffer brachte. Ich fragte ihn natürlich, von wem er ihn erhalten habe. Er zog einen Brief aus der Tasche, gab ihn mir und antwortete:

»Ich darf es nicht sagen, Effendi. Vielleicht steht es in diesem Schreiben.«

Er ging. Ich öffnete den Brief und las:

»Ich sende Dir Deinen Koffer und bitte Dich, Kairo augenblicklich zu verlassen. Wer ich bin, das weißt Du. Meinen Namen darf ich nicht unterschreiben, denn käme dieser Brief in unrechte Hände, würde ich großen Schaden haben.«

Das machte mich nun freilich stutzig. Ich erkannte Ben Musa Effendis Schrift. Warum mußte er seinen Namen verschweigen? Er warnte mich auch; ja, er that sogar noch mehr: er forderte mich auf, die Stadt sofort zu verlassen. Der Bettler hatte also wohl nicht ohne allen Grund gesprochen.

Ich öffnete den Koffer und fand, daß nichts fehlte. Sollte ich fort, oder sollte ich bleiben? Da ich jetzt meine Sachen hatte, hielt mich nichts mehr zurück; aber für heut war es zu spät; ich wollte warten bis morgen.

Eben war nach eingebrochener Dunkelheit der Pfeifenreiniger heimgekommen, da ging die Thür wieder auf und ein junger, sehr gut gekleideter Mann trat ein. Mein Wirt war sichtlich erstaunt über diesen Besuch, verbeugte sich mit gekreuzten Armen sehr tief und rief:

»Gibrail Bei! Welche große Ehre! Kommst du mit einem Befehle für den gehorsamen Reiniger deiner Pfeifen?«

»Nein. Ich möchte wissen, ob der Mann, den ich hier bei dir sehe, der fremde Kara Ben Nemsi Effendi ist.«

»Er ist's, o Herr.«

Da verneigte sich Gibrail sehr höflich gegen mich und sagte:

»Effendi, ich bin der Sohn von Abu Gibrail, welchem das große Haus auf der jenseitigen Gasse gehört. Ich habe erfahren, daß du klug und weise in allen Dingen bist, und soll dich bitten, jetzt einmal zu meinem Vater zu kommen, welcher mit dir zu sprechen wünscht.«

»Worüber will er mit mir reden?«

»Verzeih, Effendi! Er möchte es dir gern selbst sagen.«

»Gut, ich gehe mit.«

Abu Gibrail! Das war ja der Besitzer des großen Hauses, an welches hinten die Hütte des Bettlers stieß. Ich dachte zwar einen Augenblick lang an die mir gewordenen Warnungen, glaubte aber, gar nichts zu wagen, wenn ich jetzt mitging. Er führte mich durch eine Neben- in die Parallelgasse, wo ein Diener bereit stand, uns das Thor zu öffnen. Es ging durch den Hausgang in den Hof und von da aus in ein Zimmer, welches das Besuchszimmer zu sein schien. Durch zwei weitere Thüren brachte mich Gibrail Bei in ein drittes Zimmer, gegen dessen feine Ausstattung der Anzug, den ich trug, so abstach, wie das Gefieder einer Krähe gegen dasjenige eines Paradiesvogels.

»Setz' dich nieder, Effendi!« sagte mein Führer. »Erlaube, daß ich mich entferne! Mein Vater wird gleich kommen.«

Er ging, und ich ließ mich auf das Samtpolster nieder, welches sich an den drei Wänden des Zimmers hinzog. Wenige Augenblicke später brachte ein schwarzer Diener Kaffee, Pfeifen und köstlichen Tabak. Ich trank und rauchte. Vielleicht zehn Minuten vergingen, da kam ein anderer Diener, der – – ich sprang erstaunt in die Höhe – – meinen Koffer und meine Gewehre brachte. Ich öffnete den Mund, um eine Frage auszusprechen, da deutete er hinter mich und ging. Ich drehte mich um; da stand – – der Bettler, welcher durch die andere Thüre eingetreten war, der Bettler!

ja, er war es, er mußte es sein, obgleich er ganz anders aussah, als bisher. Aller Schmutz war von ihm verschwunden und das Gewand, welches er trug, von reinster Seide. Er streckte mir die Hand entgegen und fragte mich lächelnd:

»Mich hast du hier jedenfalls nicht erwartet, Effendi?«

»Nein, allerdings nicht,« antwortete ich.

»Du bist erstaunt; ich sehe es dir an. Du blickst in ein Geheimnis, welches ich dir nicht offenbaren würde, wenn ich dich nicht liebte und dich gegen deinen Willen retten wollte. Ich bin Abu Gibrail, der Besitzer dieses Hauses, und zugleich der Bettler vom Bab Zuweileh. Wie das zusammenhängt, wirst du später erfahren, falls du mir versprichst, es niemandem zu sagen. Ich habe dich durch meinen Sohn holen lassen, weil du bei dem Reiniger der Pfeifen heut nicht sicher bist.«

»Warum nicht sicher?«

»Darüber darf ich jetzt nicht sprechen. Du bist mein Gast. Setz' dich nieder! Willst du mir dein Wort geben, daß du in dieser Nacht mein Haus nicht verlassen wirst?«

»Ich gebe es.«

»Gut, so kann ich gehen. Es ist mir heut leider nicht möglich, dir Gesellschaft zu leisten, doch wirst du alles bekommen, was du wünschest. Du brauchst nur in die Hände zu klatschen, so kommt ein Diener herein. Gute Nacht, Effendi!«

Er gab mir die Hand und ging.

War das nicht ein Abenteuer? Wie ein Kapitel aus Tausend und einer Nacht? Ich bekam sehr gut zu essen. Man brachte mir sodann Bücher, damit ich mich nicht langweilen möge; aber ich konnte nicht lesen und später lange auch nicht einschlafen. Meine Gedanken waren ganz und gar von diesem Abenteuer in Anspruch genommen. Endlich aber schlief ich doch auf dem weichen Polster ein.

Ich erwachte nicht von selbst, sondern ich wurde geweckt. Esch Schahad stand mit einer Laterne vor mir und sagte in hastiger Weise:

»Steh schnell auf, Effendi; du mußt fort! Man hat den Reiniger der Pfeifen gezwungen, zu sagen, wohin du bist; man wird kommen und mein Haus nach dir durchsuchen. Der Militäraufstand ist im vollsten Gange; Ägypten den Ägyptern, heißt die Parole; den Europäern droht der Tod. Ich muß dich retten. Komm, und folge mir!«

Er führte mich in den Hof und auf der andern Seite desselben durch einen engen Gang. Eben begann der Morgen zu dämmern. Wir kamen an eine halb verfallene Mauer.

»Das ist die hintere Seite des Bettlerhauses,« sagte er. »Komm herein!«

Wir krochen durch ein Loch und befanden uns dann in der armseligen Bude, welche als die Wohnung des Schahad galt. Zerfetzte Kleidungsstücke hingen an den Wänden, und auf der Lehmdiele standen und lagen henkellose oder sonstwie zerbrochene Gefäße. Er setzte die Laterne nieder und fragte in sehr ernstem Tone:

»Willst du dich von mir retten lassen? Du hast nicht an die Gefahr geglaubt; nun ist sie da. Horch!«

Ich hörte durch die Thür die Stimmen und Schritte vieler Menschen.

»Es gilt also wirklich den Ausländern?« fragte ich.

»Ja. Es ist sogar möglich, daß der Khedive abgesetzt wird.«

»Kann ich aus der Stadt?«

»Unmöglich!«

»Willst du mich hier verbergen?«

»Nein. Auch hier bist du nicht sicher. Sicherheit findest du nur am Thore Zuweileh.«

»Ah, ich errate! Als Bettler?«

»Ja, als Bettler an meiner Stelle. Willst du? Es handelt sich wirklich um dein Leben.«

Wie viel hätte ich gegen diese Zumutung vorbringen können! Ich glaubte noch immer nicht an die Gefahr; die Sache kam mir lächerlich vor. Da aber machte sich die Abenteuerlust geltend; ich beschloß, mitzuthun, und erkundigte mich vorher nur:

»Wie steht es mit meinem Koffer und meinen Gewehren, wenn man mich wirklich bei dir sucht?«

»Daran wird man sich nicht vergreifen.«

»Werde ich am Bab Zuweileh nicht als Fremder erkannt werden?«

»Nein; dafür sorge ich.«

»Wie habe ich mich zu verhalten?«

»Wie ein Bettler; das ist alles. Wenn ein anderer Bettler bemerkt, daß ich nicht dort bin, so wird er es dem Dilendschi Baschi sagen: kommt dieser, so zeigst du ihm die Münze vor, die ich dir mitgebe; dann ist es gut. Heut abend kommst du hierher, wo ich auf dich warten werde.«

»Gut, ich mache mit!«

»So will ich dich umwandeln.«

Ich bekam einen noch schlechteren Anzug, als der meinige war, und wurde an Gesicht, Hals und Händen mit einer dunklen Flüssigkeit bepinselt. Wie ich nun aussah, konnte ich nicht sehen, weil es keinen Spiegel gab. Ich bekam die erwähnte Münze und den Schlüssel zur Thür; dann sagte er:

»Nun geh! Es ist die höchste Zeit. Die Thür hier schließest du von außen wieder zu. Heut abend sehen wir uns wieder.«

Er kehrte durch das Loch dahin zurück, woher wir gekommen waren, und ich schloß die Hausthür auf, um mich als Schahad nach dem Bab Zuweileh zu begeben und einen Tag lang der Liebling und Diener des Kutb zu sein.

Schon herrschte auf unserer Gasse reges Leben. Niemand kümmerte sich um mich. Ich sah, daß ich nicht erkannt wurde, so hatte mich das Anstreichen mit der Flüssigkeit verändert. Je weiter ich kam, desto deutlicher wurde es mir, daß es sich freilich um einen Aufstand handelte. An den Gassen- und Straßenecken standen bewaffnete Militärwachen, und auf einigen Plätzen sah ich sogar Kanonen. Es war jener g. September 188 1, an welchem Arabi Pascha mit 4000 Soldaten und 30 Geschützen den Abdinpalast umzingelte und den darin residierenden Vizekönig zwang, das Ministerium Riaz zu entlassen, eine Verfassung zu gewähren und das Heer auf i 8000 Mann zu vermehren. Das war das Vorspiel zu dem Europäermord in Alexandrien und der Beschießung dieser Stadt durch die englische Flotte. Jetzt wußte ich nun freilich, daß sich mein Leben in Gefahr befand.

Bei dem Thore Zuweileh angekommen, setzte ich mich dort nieder, um meinem heutigen Berufe als Schahad obzuliegen. Es war inzwischen völlig Tag geworden. Die Bevölkerung war noch in Aufregung und Bewegung, und ich bekam manche Gabe in die ausgestreckte Hand. Bald aber änderte sich das. Arabi Pascha hatte befohlen, daß jedermann daheim zu bleiben habe, und die Gassen wurden leer. Ich bekam nur noch Soldaten zu sehen; die aber geben nichts; sie nehmen lieber. Dafür wurde ich reichlich durch die Beobachtungen entschädigt, welche ich von meinem Sitze aus machte: ich hörte alle Bitten, welche dem Kutb vorgetragen wurden.

Da kamen Patrouillen, einzeln oder aus mehreren Soldaten bestehend, Pikette nach orientalischer Weise, abgelöste Posten, sonstige Trupps von Soldaten, Adjutanten und sonstige Offiziere. Kein einziger ging vorüber, ohne wenigstens den Anfang der heiligen Fatcha zu beten, und viele blieben stehen, um dem unsichtbar hinter dem Thorflügel wohnenden Geiste zu sagen, was sie von ihm wünschten. Ich bekam da sonderbares Zeug zu hören, und oft kam mich ein innerliches Lachen an.

Unter diesen Bittenden war einer, der einen tiefen Eindruck auf mich machte. Er kam matt und langsam herbei und war hager und abgezehrt; als ich ihm die Hand entgegenhielt, sagte er:

»Ich kann dir nichts geben, denn ich habe selbst nichts und brauche doch so viel!«

Dann kniete er nieder, verbeugte sich nach dem Winkel hin, in welchem der Kutb wohnen sollte, und betete:

»Allah il Allah wa Muhammed rassuhl Allah! Höre mein Flehen, o Kutb, du Geist der Gewährung aller Bitten! Laß mich die Meinen wiedersehen, den Vater und die Mutter, das Weib und das Kind, an denen mein Herz hängt. Gieb mir das Geld, welches ich brauche, um von hier fortzukommen, denn die Sehnsucht zehrt an meinem Leibe und an meiner Seele. Hilf mir, o Kutb, aber hilf bald, sonst nimmt der Gram mich weg aus diesem Leben!«

Dieses Gebet rührte mich tief. Der Mann war wirklich krank vor Heimweh und Sehnsucht. Als er sich wieder erhoben hatte, sagte er zu mir:

»O Schahad, du bist der Diener des Kutb; bitte für mich!« »Wo ist deine Heimat?« fragte ich.

»Im fernen Tunis.«

»Was bist du da?«

»Diener an der Okba-Moschee zu Kaïrwan.«

»Wie kommst du hierher?«

»Ich pilgerte nach Mekka, der heiligen Stadt. Auf dem Rückweg wurde ich hier schwer krank; ich blieb liegen und verlor alle meine Habe; noch war ich nicht ganz wieder gesund, da zwang man mich unter die Soldaten. Ich werde sterben, wenn der Kutb mir keine Hilfe sendet.«

»Du bittest ihn um Geld. Wenn er es dir gäbe, könntest du doch nicht fort.«

»Warum nicht?«

»Du bist Soldat und müßtest desertieren.«

»Allah beschützt jeden Gläubigen; er würde auch mich beschützen.«

»So wart' einen Augenblick!«

Der Mann erbarmte mich. Ich fragte ihn, ob er lesen könne; er bejahte es. Ich zog mein Notizbuch hervor, in der Hand eines Bettlers wohl ein seltener Gegenstand, riß ein Blatt heraus und schrieb darauf, natürlich in arabischer Sprache:

»Der Kutb kann dir nicht helfen; es giebt keinen Helfer außer Gott. Ich, der Bettler, bin kein Moslem, sondern ein Christ; dennoch gebe ich dir das Geld, denn du bist mein Bruder, weil alle Menschen Gottes Kinder sind.«

Diesen Zettel legte ich in den Beutel, den mir der Wasserträger gebracht hatte, band ihn fest zu und gab ihn dem Manne hin:

»Hier nimm! Wenn du mir gehorchest, findest du vielleicht Erhörung deiner Bitte. Wirst du thun, was ich dir sage?«

»Was soll ich thun?«

»Du steckst diesen Beutel jetzt ein und öffnest ihn nicht eher als morgen genau nach dem Nachmittagsgebete.«

»Eher nicht?«

»Nein, wenn du wirklich Hilfe erwartest.«

»Ich werde thun, was du begehrst, o Schahad; das verspreche ich dir bei meinem Barte und bei allen denen, nach denen ich mich sehne. Erhalte ich Hilfe, so sehen wir uns wieder, denn ich kehre hierher zurück, um dem Kutb zu danken.«

Er steckte den Beutel ein und ging. Ich hatte aus Mitleid und nach einer Eingebung des Augenblicks gehandelt. Öffnen sollte er den Beutel erst morgen, weil es für mich höchst gefährlich gewesen wäre, wenn er schon heut erfahren hätte, daß ich kein Moslem war.

Das, was an diesem Tage weiter geschah, ist hier von keiner Bedeutung; er verlief für mich ganz glücklich, während es andern Fremden traurig erging. Als es dunkel geworden war, machte ich mich nach dem Bettlerhause auf, in welches ich mit Hilfe des Schlüssels gelangte. Dort erwartete mich Abu Gibrail, wie er versprochen hatte. Er war doch sehr in Sorge um mich gewesen. Man hatte seine ganze Wohnung einigemal nach mir durchsucht und auch meine Sachen gesehen, sie aber glücklicherweise gar nicht beachtet.

Wir krochen durch das Loch, um in das große Vorderhaus zu gelangen. Dort führte er mich nach dem Zimmer, in welchem ich gestern gewesen war und geschlafen hatte. Er brachte mir da einen Spiegel. Als ich in demselben mein Gesicht erblickte, wunderte ich mich nicht darüber, daß mich niemand erkannt hatte; ich sah schrecklich aus. Der Diener mußte Wasser und Seife bringen, und nach einigem Bemühen gelang es mir, wieder zu meinem eigentlichen Aussehen zu kommen.

»Du wirst noch einige Tage mein Gast sein müssen, Effendi,« sagte der Hausherr. »Die Bewegung des heutigen Tages muß sich erst legen. Du kannst unmöglich schon fort.«

»Wird es so schnell vorübergehen?«

»Ich hoffe es, weil der Khedive auf die Bedingungen des Arabi Paschas eingegangen ist. Dadurch hat er vielen, vielen Europäern, welche sonst ganz gewiß getötet worden wären, das Leben erhalten.«

»Aber darf ich dich belästigen?«

»Es ist keine Belästigung, sondern eine Freude für Mich, da ich dir mein Geheimnis nun einmal habe offenbaren müssen. Du sollst bei mir in dem Hause wohnen, dessen Tochter und andere Bewohner du durch deine Weisheit so glücklich gemacht hast. Eine gute, passende Kleidung werde ich dir zunächst leihen; dann, wenn du ohne Gefahr für dich ausgehen kannst, magst du die deinige tragen.«

Ich wohnte sechs Tage bei ihm; dann konnte ich Kairo verlassen. Am fünften Tage ging ich zum erstenmal aus. Eben trat ich aus dem Thore, da kam der Soldat die Gasse herab, dem ich den Beutel gegeben hatte. Er wollte an mir vorüber, ohne mich zu erkennen; da sagte ich zu ihm:

»Halt, du Diener der Okba-Moschee zu Kaïrwan! Hat dir der Kutb geholfen?«

Er blieb stehen und starrte mich an, ohne zu antworten.

»Hast du den Beutel geöffnet, den dir der Bettler gab, der kein Moslem, sondern ein Christ war?«

»Ja,« antwortete er, indem sein Blick noch immer forschend an meinem Gesichte hing.

»War die erbetene Hilfe drin?«

»Ja; es waren achtzehnhundert Piaster.«

»Und nun wirst du desertieren?«

»Deser – – Allah! Ist es möglich? Bist du es, der der Bettler war, o Herr?«

»Ja.«

»Und du bist ein Christ?«

»Ja.«

»Und da wagtest du, an diesem Tage unter dem Thore des Kutb zu sitzen!«

»Warum nicht? Gerade dort war ich am sichersten.«

»Du bist reich, trotzdem du Bettler warst?,.,

»Reich bin ich nicht; ich habe gerade so viel, wie ich brauche.«

»Und hast mir so viel Geld geschenkt? Herr, das hätte kein Moslem gethan! Und unter den Christen bist du auch der allereinzige.«

»Da irrst du dich. Jeder gute Christ hätte dir das Geld gegeben, wenn er in meiner Lage und an meiner Stelle gewesen wäre.«

»Ist das wahr, Herr?«

»Ja.«

»Das glaube ich nicht, denn die Christen sind, dich ausgenommen, räudige Hunde, welche einer falschen, lügnerischen Lehre anhangen.«

»Kennst du diese Lehre?«

»Nein!«

»Wie kannst du da über sie urteilen?«

»Ich habe es von unsern Aimma gehört.«

»Die auch nichts davon wissen.«

»Du irrst. Sie verfluchen das Christentum und müssen doch wissen, warum.«

»Sie haben keine Ahnung von unserer Lehre. Wäre sie ihnen bekannt, so würden sie sie segnen, anstatt sie verfluchen. Hast du Hoffnung, nach deiner Heimat zu entkommen?«

»Ja.«

»Sag' mir deinen Namen!«

»Ich heiße Gilad. Du bist mein Wohlthäter; darf ich auch nach dem deinigen fragen?«

»Man nennt mich Kara Ben Nemsi Effendi.«

»Kara Ben – – –«

Er trat zwei, drei Schritte zurück; seine Augen funkelten, und er ballte die Fäuste; da aber dachte er an das Geld, welches ich ihm gegeben hatte, und sein Gesicht wurde wieder freundlich, als er fragte:

»Kara Ben Nemsi Effendi? So bist du der Christ, der vor einigen Jahren in Kaïrwan und in unserer heiligen Moschee gewesen ist?«

»Ja.«

»Wußtest du, daß kein Christ nach Kaïrwan darf?«

»Ich wußte es.«

»Daß jeder Andersgläubige getötet wird, der es wagt, die Stadt zu betreten?«

»Es war mir bekannt.«

»Allah, Allah! Mußt du ein kühner Mann sein! Du bist der einzige Christ, der Kaïrwan gesehen und gar in der heiligsten Moschee des Westens gewesen ist. Allah hat es zugegeben, daß du damals entkommen bist; aber wage es ja nie wieder, unsere Stadt durch die Schritte deines Fußes zu schänden!«

»Es ist keine Schande, sondern eine Ehre für euch, wenn ein Christ zu euch kommt. Das will ich dir beweisen. Du sollst Christum, den Sohn Gottes, kennen lernen. Komm mit herein in das Haus!«

Ich führte ihn nach meinem Zimmer und schenkte ihm die vier Evangelien und die Apostelgeschichte, in das Arabische übersetzt. Er steckte das Buch ein, sah mir ernst in die Augen und sagte dann:

»Effendi, eigentlich sollte ich dich für dein damaliges Verbrechen töten; aber du hast mir Wohlthat erwiesen; ich will dich schonen; wir sind quitt!«

Er ging fort, ohne einen Gruß zu sagen. Ich wünschte still hinter ihm her, daß es ihm gelingen möge, in die Heimat und zu den Seinigen zurückzukehren. – – –


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