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Ein eigentümliches, röchelndes Grunzen weckte mich aus dem Schlafe. Oder war es nur das Schnarchen eines meiner Schlafgefährten oder einer meiner Schlafgefährtinnen gewesen? Es herrschte in der hermetisch verschlossenen Winterhütte eine Atmosphäre, welche ganz zum Verzweifeln war. In dem engen Raume hatten acht Menschen und fünf Hunde Platz gefunden, aber fragt mich nur nicht, wie! Diese dreizehn Geschöpfe staken mit ihren zweiundfünfzig Vorder- und Hinderbeinen so neben-, über-, unter- und durcheinander, daß die Entschlingung so zahlreicher und verworrener Gliedmaßen eine absolute Unmöglichkeit zu sein schien.
In der Mitte der aus Rentierfellen erbauten Zelthütte kohlten die Überreste eines riesigen Feuers, dessen stechender Rauch eine einzige, undurchdringliche Wolke bildete, da die Abzugsöffnung zugedeckt worden war. Ich lag mit dem Kopfe auf der fischthranduftenden Hüfte der guten Mutter Snjära, welcher Name zu deutsch »Maus« bedeutet; mein rechtes Bein stak unter dem Leibe des alten Onkel Sätte, welches Wort mit »Pfeil« übersetzt werden muß, und mein linker Fuß diente einem der Hunde als Kopfkissen. Vater Pent, d. i. Benedikt, der Gesegnete, hatte sich meinen Pelzrock aufgeknöpft, um sein teures Haupt auf die Gegend meines Magens zu betten, so daß der Schwanz des Hundes, welchem er selbst als Matratze diente, mir lieblich krabbelnd um die Nase strich. Zu diesen unschätzbaren Bequemlichkeiten kam die Hitze, welche sich innerhalb meiner luftdichten Fell- und Pelzbekleidung entwickelte, und der aromatisch-diabolische Duft einer dreizehnfachen Trans- und Respiration nebst der Lebhaftigkeit jener kleinen, ritterlichen Geschöpfe, welche in solcher Hundenähe unvermeidlich sind, und von denen der alte, lustige Fischart gesungen hat: »Mich beizt neizwaz, waz mag daz gseyn?« Zieht man dazu in Betracht alle diatonischen und chromatischen Herzensergießungen, deren schnarchendes Fortissimo das Zelt erfüllte, so wird man es nicht unbegreiflich finden, daß ich mich für einen Augenblick dem weichen Arm des Schlafs entwand.
Doch nein, es war kein Schnarchen gewesen, welches mich erweckte, denn ich vernahm jetzt, da ich munter war, jenes grunzende Röcheln zum zweitenmal. Es ertönte draußen in einiger Entfernung von der Hütte. Gleich darauf krachte ein Schuß, und eine laute Stimme rief:
»Attje, tassne le tarfok ... Vater, der Bär ist da!«
Im Nu waren alle zweiundfünfzig Extremitäten in schleunigster Bewegung, und jene scheinbar unmögliche Entwirrung hatte sich in Zeit von zwei Sekunden glücklich vollzogen. Die acht Menschen schrieen und brüllten; die fünf Hunde bellten und heulten; das Feuer wurde vollends zertreten, indem ein jeder nach seinen Waffen suchte und diejenigen eines anderen erwischte. Und doch befanden wir uns nach kaum einer Minute vor der Hütte und eilten nach der Gegend, in welcher noch immer Neete, der Sohn des alten Pent, um Hilfe rief. Er hatte mit Kakke Keira die Wache, kam uns in höchster Aufregung entgegengesprungen und schrie aus Leibeskräften: »Tarfok, tarfok le mesam ... der Bär, der Bär hat mein Rentierkalb!«
»Wo ist er?« fragte der Alte.
»Tuos, tuos, kwouto pluewai ... dort, dort, auf dem Sumpfe!«
»Nehmt eure Ski,« kommandierte Vater Pent; »eure Flinten, Messer und Spieße. Nehmt auch Stricke mit. Wir eilen ihm nach!«
Die Schneeschuhe lehnten alle an dem Zelte. Wir legten sie an, und fort ging es, dem Sumpfe zu, der sich in geringer Entfernung von der Lappenwohnung in die Ebene zog. Kakke Keira blieb bei der Frau und den drei Töchtern zurück. Wir anderen zählten fünf Personen: Pent, Onkel Sätte, Neete, ich und ein zweiter Knecht, welcher Anda, d. i. Andreas, hieß.
Es war vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, aber wir konnten dennoch recht gut sehen, denn am Himmel stand ein Nordlicht, wie ich es in dieser Pracht und Herrlichkeit noch niemals beobachtet hatte. Es war nicht jenes leise sich ausbreitende und wieder zusammenfallende, milde Farbenspiel, auch nicht jenes groß und ruhig am Firmamente stehende Phänomen, sondern es war ein ununterbrochenes, gewaltiges Emporschleudern strahlender Farbenbüschel, welche in die Unendlichkeit hinauszusprühen schienen, ein Wirbeln von tausend hintereinander in immer größeren Radien sich drehenden Feuerrädern, ein ununterbrochenes Kämpfen, Ringen, jagen und Haschen von allen möglichen Gluten, Lichtern, Farben und Nuancen, ein Schauspiel, welches wahrhaft überwältigend auf mich gewirkt hätte, wenn nicht der Jäger in mir erweckt worden wäre.
Die Spur des Bären war in dem tiefen Schnee ganz deutlich zu erkennen, und nach kurzer Zeit sahen wir ihn selbst als dunkeln, sich rasch fortbewegenden Punkt auf der weißen Fläche des Sumpfes erscheinen. Es mußte ein gewaltiges Tier sein, da er imstande war, bei einem so raschen Laufe das Rentierkalb mit sich fortzuschleppen.
Dennoch brauchten wir uns vor ihm nicht zu fürchten. Der lappländische Bär ist noch weniger gefürchtet als der Wolf; er besitzt nicht im entferntesten die Furchtbarkeit, welche z. B. den nordamerikanischen Grizzly so gefährlich macht, und wagt sich nur dann an den Menschen, wenn ihn die Notwehr dazu treibt. Die Lappen waren alle sehr gewandte Schneeschuhläufer. Wir flogen mit der Schnelligkeit eines Eilzuges über die Fläche dahin; aber dies schien dem alten Pent noch immer nicht flüchtig genug zu sein.
»Schneller,« rief er, »sonst erreicht er den Finop, und versteckt sich hinter die Plassait, wo wir ihm nur schwer folgen können.«
Wir griffen weiter aus; aber es war, als habe der Bär die Worte des Anführers vernommen. Er bog plötzlich nach links ab. Das Tier mußte seine Verfolger bemerkt haben und trottete nun dem Hügel zu, welcher den Vorläufer des Fjälls bildete, der mit seinem vom Schnee bedachten Tannendunkel auf das Sumpfland niederblickte. Wir suchten dem Flüchtlinge den Weg abzuschneiden, aber es gelang uns nicht; er war aus unserem Auge entschwunden, noch ehe wir den Hügel erreichten.
»Hier ist die Käja,« meinte Onkel Sätte; »sie führt gerade an der bösesten Stelle empor. Legt die Ski ab! Sie taugen hier nichts mehr.«
Wir hingen die Schneeschuhe über und stiegen die steile Lehne in die Höhe. Der Schnee lag mehrere Fuß tief, was den Aufstieg sehr beschwerlich machte. Wir gaben uns alle mögliche Mühe, so daß wir unter unserer schweren Kleidung in Schweiß gerieten, kamen aber doch nur langsam vorwärts. Endlich erreichten wir die Kuppe des Hügels, mußten uns aber mit der Spur des Bären begnügen; er selbst hatte einen bedeutenden Vorsprung gewonnen.
Das Terrain war hier außerordentlich zerrissen. Wir mußten uns zwischen scharfen, halb verschneiten Felstrümmern hindurchwinden, bald rechts, bald links, bald vorwärts, bald wieder zurück. Es war, als habe sich der Bär ein Extrapläsir gemacht, uns recht in die Irre zu führen. Und dabei durften wir die Vorsicht keinen Augenblick außer acht lassen, da es hinter jedem Steine möglich war, auf ihn zu stoßen.
Endlich erreichten wir eine kleine Erhöhung, wo er sich eine kurze Rast gegönnt hatte. Wir hatten es wirklich mit einem ganz ungewöhnlichen Schlaukopf zu thun. Er hatte sich für diesen erhöhten Standpunkt entschieden, weil er von hier aus unser Nahen bereits von weitem bemerken konnte, und war zugleich so klug gewesen, die ihm gewordene Frist zu einem schnellen Imbiß zu benutzen. Er hatte im allerhöchsten Fall zehn Minuten dazu übrig gehabt, aber während dieser kurzen Zeit war doch das Kalb beinahe ganz verschwunden.
»Wuoike ... o weh!« rief Vater Pent. »Dieser Partne pahakase hat uns nur die Haut und die Füße übrig gelassen. Hautesn so mon kalkap lapmet ... ich werde ihn zu Tode prügeln!«
Er schwang das Schaufelende seines Spießes drohend über dem Kopfe und nahm die Spur von neuem auf. Sie führte jetzt in einer steilen Schlucht zum Fjäll empor. Der hohe Schnee war uns außerordentlich hinderlich; wir glitten fast bei jedem Schritte wieder abwärts, und es dauerte eine lange Zeit, ehe wir die Höhe des Waldes erreichten. Es war von Vorteil, daß die Tannen des letzteren sehr licht standen; zahlreiche Felsen lagen zerstreut zwischen den Stämmen; die Spur war deutlich zu sehen.
Immer einer hinter dem andern, schritten wir lautlos vorwärts. Da, eben als wir auf eine Lichtung treten wollten, blieb Pent, welcher der vorderste war, hinter dem letzten Baume stehen.
»Was siehest du?« fragte Onkel Sätte laut.
Ich ging hinter Pent und hatte gerade wie er einen Mann gesehen, welcher links von uns in schnellem Laufe zwischen den Bäumen hervorkam. Als er aber die Stimme des Onkels hörte, eilte er schnell wieder in das Halbdunkel des Waldes zurück.
»Wer war dies?« fragte ich leise.
»Ich habe ihn nicht erkannt, Herr.« antwortete der Alte. »Was hat ein Mann zu dieser Zeit hier zu suchen!«
»Du bist ja wohl der einzige, der in dieser Gegend wohnt?«
»Ja. Sollte es ein Mann sein, der auf dem Aitoi geht?«
»Das glaube ich nicht. Er würde uns den Gruß nicht verweigert haben. Er ist geflohen, sein Weg muß also ein Weg des Unrechts sein.«
»Herr, meinst du dies wirklich?«
»Ja.«
»So muß man ihm folgen!«
Diese Worte waren in einem hastigen, sorgenvollen Tone gesprochen, den ich mir nicht gleich erklären konnte. Darum fragte ich:
»Denkst du, daß es ein Rentiermörder ist?«
»Nein, ich denke etwas anderes, Wäljam. Ich muß sehen, wer es ist. Folgt ihr unterdessen dem Bären!«
»Du darfst nicht allein gehen!« warnte sein Sohn Neete.
»Was weißt du, Knabe! Geht! Ich brauche keinen Menschen, welcher bei mir bleibt!«
Diese Worte waren in einem so befehlenden Tone gesprochen, daß wir ihnen ohne Widerrede gehorchten. Es war sicher nicht ohne Gefahr, sich hier im Walde und bei diesem Schnee mit einem Fremden zu befassen, der sich so verdächtig benommen hatte. Er mußte einen ganz besonderen Grund haben, allein zu bleiben, wo eine Begleitung doch so notwendig erschien. Wir ließen ihn gehen und verfolgten die Fährte des Bären weiter. Unsere Anstrengung sollte sehr bald belohnt werden. Die Spur führte bereits in kurzer Zeit nach einem freien Plätzchen, welches von Steingewirr bedeckt war. Hier lag das Tier versteckt, denn als wir den Ort umgingen, fanden wir nicht, daß die Fährte wieder herausführte.
Die Hunde waren bis jetzt bei uns gewesen, jeder mittels einer Schnur an seinen Herrn gebunden. Nun aber, als wir den Platz umstellt hatten, wurden sie losgelassen. Sie schossen zwischen die Steine hinein und bald vernahm ich neben ihrem wütenden Gebell ein tiefes und unmutiges Brummen. Der Lärm stand einige Zeit lang still und bewegte sich dann nach der mir entgegengesetzten Seite. Der Hund des Lappen benimmt sich, während er dem Wolfe sofort nach der Kehle geht, dem Bären gegenüber vorsichtig; er lockt ihn aus dem Lager, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben, und so war auch heute nicht zu hören, daß einer unserer Hunde einen Schlag erhielt. Dagegen aber fiel sehr bald darauf ein Schuß und gleich darauf ein zweiter. Dann erhob sich von seiten der Meute ein triumphierendes Geheul, dem man sofort anmerkte, daß der Bär erlegt worden sei.
»Neete, ist er tot?« rief Anda, welcher rechts von mir postiert worden war, über die Lichtung hinüber.
»Mije lepe winsam ... wir haben gesiegt!« antwortete der Gefragte herüber. »Wiesodake le tarfok ... der Bär ist tot. Kommt zu uns, Kratnatjeh!«
Wir eilten dem Rufenden zu; der Bär lag leblos am Boden. Der junge Neete hatte ihn bis auf zwei Schritte auf sich herankommen lassen, ihm dann den Lauf seines Doppelgewehres in den geöffneten Rachen gesteckt und zweimal losgedrückt.
»Er hat es gewußt, daß das Kalb mir gehört, welches er gefressen hat,« meinte er sehr gleichmütig, »und darum ist er zu mir gekommen, um sich von mir töten zu lassen.«
Bei den Lappen hat nämlich jedes Familienglied seine eignen Tiere bei der Herde, und für diese auch sein eignes, bestimmtes Zeichen. Bereits bei der Geburt schenkt der Vater dem Kinde ein Rentier; bei der Taufe erhält es ein zweites; wer den ersten Zahn bei ihm entdeckt, muß ihm ein drittes schenken. Auch das Gesinde erhält seinen Lohn und seine Extrageschenke in Rentieren, weshalb ein Knecht, der eine Magd heiratet und seine Tiere mit den ihrigen vereinigt, sehr leicht eine Herde zusammenbringt, die ihn zum selbständigen Manne macht. Daher giebt es eine eigentliche Armut bei den Lappen nicht, außer wenn einer durch die Seuche oder einen schneelosen Frost seine Herde verliert. In diesem letzteren Falle können die Tiere das Moos, welches ihre Winternahrung bildet, nicht von dem harten Eise befreien und müssen vor Hunger und Elend zu Grunde gehen.
»Sotn le änak ... es ist ein Männchen,« sagte der Onkel. »Zieht ihm das Fell ab, und schneidet ihn in Stücke, damit wir ihn leichter tragen können. Rupmaha le mijit, katjeh mije wattepe ... der Leib gehört uns, die Tatzen geben – –«
Er hielt mitten im Satze inne; meine Anwesenheit schien ihn an der Vollendung seiner Rede zu verhindern. Ich ahnte den Grund davon. Die Lappen sind zum großen Teile Christen, haben aber aus ihrer heidnischen Vorzeit noch viele Gebräuche mit herübergenommen, an denen sie zähe festhalten, obgleich sie dies dem Fremden gegenüber nur höchst ungern merken lassen. Vielleicht sollten die Bärentatzen dem Thiermes, einer ihrer früheren Gottheiten, geweiht werden, dessen Bilde, einem roh zubehauenen Holzklotz, noch viele Lappen im stillen Haine ein verborgenes Heiligtum errichten. Sie wurden auch wirklich von den Pranken getrennt und separat zusammengebunden.
»Seht, wie mager sie schon sind!« sagte Neete, der Sohn Pents. »Dieser Bär hat bereits in der Erde gesteckt und ist in seinem Winterschlafe gestört worden. Nun suchte er sich einen anderen Ort und hat dabei Hunger bekommen. Er kam so still, daß ich ihn erst gewahrte, als ich das arme Wesen zum letztenmal grunzen hörte. Möge seine Seele als Sjäkenes ewig im Metse spazieren gehen müssen!«
Die einzelnen Stücke des getöteten Tieres, welches eine Länge von sicher sechs Fuß gehabt hatte, wurden aufgenommen, und wir traten den Rückweg an. Als wir den Ort erreichten, an welchem Vater Pent sich von uns getrennt hatte, blieb ich halten.
»Er ist noch nicht wieder zurück,« sagte ich. »Wird es nicht besser sein, wenn wir nach ihm sehen!«
»Wir dürfen es nicht,« antwortete Onkel Sätte. »Er ist der Gebieter und hat befohlen, daß ihm keiner folgen solle. Wir müssen ihm gehorchen.«
»Aber, wenn ihm ein Unglück geschehen ist!»
»Das glaube ich nicht. Er kennt jeden Schrittbreit dieser Gegend, jeden Baum des Waldes und jedes Tier, welches hier lebt. Wir können ganz ruhig sein. Er wird bereits wieder nach der Hütte zurückgekehrt sein.«
»Das ist sehr zweifelhaft. Er als Jäger würde sich ganz sicher wieder angeschlossen haben, um uns zu helfen, den Bär zu erlegen.«
»Dazu waren wir ja Männer genug; das hat er gewußt. Laßt uns also ruhig weiter gehen!«
Wir legten die Strecke Waldes zurück, stiegen den felsigen Hügel hinab und befanden uns dann wieder auf der sumpfigen Ebene, wo wir die Schneeschuhe wieder anlegen und schneller vorwärts kommen konnten. Das Nordlicht war im Verglühen, als wir die Hütte erreichten.
Die Grundlage derselben bildete eine Anzahl von Stangen, welche rund in den Boden so gesteckt waren, daß ihre Spitzen oben zusammenstießen. Sie waren, da Vater Pent zu den wohlhabendsten Lappen zählte, mit einer doppelten Lage von Rentierhäuten bekleidet, und oben hatte man ein Loch gelassen, damit der Rauch abziehen könne; dasselbe wurde jedoch zur Schlafenszeit verschlossen, um die Wärme nicht entfliehen zu lassen. Dieser Hautüberzug ging rund um die Hütte noch eine Strecke über den Boden hin, um allerlei Vorräte darunter aufbewahren zu können. Jetzt, im Winter, war diese Wohnung von einer dichten Lage gefrorenen Schnees bedeckt, der keine Kälte in das Innere dringen ließ. In der Mitte des Wohnraumes befand sich, wie bereits gesagt, der Feuerherd, über welchem ein kupferner Kessel hing, der mit einer Kette oben an eine der Stangen befestigt war. Rundum hatte man über eine Lage von Heu weichgegerbte Felle ausgebreitet, um Lager und Sitze für die Glieder der Familie und – die Hunde – zu bilden. Das Geschirr hing an den schrägen Wänden, und oben, in der Nähe des Rauchabzuges, hatte man die Rentierkeulen nebst den Rentiermagen befestigt, welche den Käse und die gefrorene Milch, vielleicht auch das als Universalmedizin dienende Rentierblut enthielten.
Als wir anlangten, empfing uns Kakke Keira mit lautem Jubel, welcher seinen Grund wohl in dem Bärenschinken hatte, der den Lappen stets ein willkommener Leckerbissen ist. Auf seine lauten Rufe traten die Frauen aus der Hütte.
»Kussne le attje ... wo ist der Vater?« fragte Mutter Snjära, als sie bei dem Überblicke der Personen sah, daß der alte Pent fehlte.
»Ist er noch nicht angekommen?« erkundigte sich Onkel Sätte.
»Nein. Etnatjam, wo ist er geblieben?«
»Draußen im Walde.«
»Im Walde? Im Wuorai? Wenn nun ein Bär, ein Wolf oder gar ein Wuoikenes ihn überfällt! Weshalb ist er im Walde geblieben?«
»Er sah einen Mann, dem er gefolgt ist. Es war ein Ammats, der sich vor uns verbergen wollte.«
»Tije lepet takkam jerpmetipme ... Ihr habt unverständig gehandelt. Dieser Fremde ist vielleicht ein Rentiertöter, der viele Waffen bei sich hat. Warum habt ihr den Vater allein gelassen?«
»Sotn le trawam nau ... er hat es befohlen.«
»Dann habt ihr ihm gehorchen müssen,« beruhigte sie sich. »Was er befiehlt, das muß geschehen, denn er weiß, was er thut.«
Vater Pent war also wohl ein echter Patriarch, der unumschränkt regierte und seinem Willen stets die richtige Geltung zu verschaffen wußte. Bei der Erklärung, daß er selbst gewünscht hatte, allein zu sein, war sofort alle Sorge bei den Frauen verschwunden, und man beschäftigte sich nur noch mit der Jagdbeute, welche wir mitgebracht hatten. Die Tatzen verschwanden, ohne daß ich wußte, wohin; die Eingeweide wurden in den Kessel geworfen, um sogleich gekocht und gegessen zu werden, während man das Fleisch zum Gefrieren in die Kälte hing.
Menschen und Hunde saßen wieder traulich beim Feuer zusammen; den Schlaf hatte man vergessen. Da hörten wir es vor der Thür scharren, und das Fell, welches den Eingang bedeckte, wurde in die Höhe gehoben.
»Repe!« rief Mutter Snjära erschrocken.
So hieß nämlich der Lieblingshund des Alten, der ihn in den Wald begleitet hatte. Er kam unter dem Felle hindurchgekrochen und blieb mit eingezogenem Schwanze stehen, um ein klagendes Geheul auszustoßen.
»Repe, kusne le attje ... Repe, wo ist der Vater?« fragte der Onkel, sich schnell vom Lager erhebend.
Der Hund merkte, daß er verstanden worden sei. Er sprang winselnd an dem Frager empor und dann gegen die Thür zurück.
»Er will Hilfe holen,« sagte ich, nach meiner Büchse greifend. »Es ist seinem Herrn ein Unglück widerfahren. Wir müssen ihm schnell folgen!«
»Oder ist er dem Attje nur vorangesprungen,« meinte Kakke Keira, der Knecht, welcher von dem anderen Knechte abgelöst worden war.
»Nein. Das ist ganz das Gebaren eines Hundes, der Hilfe sucht.«
Wir traten vor die Thür und schrieen den Namen des Alten in die nordische, helldunkle Nacht hinaus. Die Kälte ließ den Ruf in weite Entfernung klingen, aber so scharf wir auch lauschten, wir konnten keine Antwort hören.
»Härra, du hast recht,« entschied der Onkel; »es ist ihm etwas passiert. Nehmt eure Ski und eure Gewehre, und laßt uns dem Hunde folgen!«
»Das ist nicht genug,« antwortete ich. »Nehmt auch Riemen, Stricke und Stangen mit. Er könnte in eine Sala gefallen sein.«
Die Frauen klagten und jammerten; wir aber nahmen schweigend alles Nötige mit uns, fuhren mit den Füßen in die langen Schneeschuhe und überließen uns nun der Führung des klugen Hundes, welchen der Onkel, als der vorderste in unserer Reihe, an einer Leine vor sich gebunden führte.
Wir verließen die Hütte in der entgegengesetzten Richtung als vorher. Bei Anfang unserer Bärenjagd hatten wir die Berge zu unserer Linken gehabt, jetzt aber lagen sie zur Rechten. Ihr Fuß stand auf dem Rande einer weiten Ebene, welche mit tiefem Schnee bedeckt war, und ihn entlang stürmte der Hund im raschesten Laufe dahin. Ohne die Schneeschuhe hätten wir ihm gar nicht zu folgen vermocht. So hatten wir vielleicht vier englische Meilen zurückgelegt, als er nach rechts einbog und sich nach einer Höhe wandte, welche keine große Steile zeigte, so daß wir uns also der Schneeschuhe nicht zu entledigen brauchten. Fast in derselben Schnelligkeit wie bisher ging es bergan, bis wir ein unbewaldetes Plateau erreichten, dessen Fläche auf der anderen Seite außerordentlich schnell wieder zur Tiefe stieg.
»lpmel«, rief der Onkel erschrocken, »sotn watsa salajägnai ... o Gott, es geht in das Spalteis hinein! Orrop wahrok ... laßt uns vorsichtig sein!«
Er zog die Leine an, zwang auf diese Weise den Hund, langsam zu laufen, und sondierte mit seinem Spieße jeden Schrittbreit des Bodens, ehe er ihn betrat.
»Ist dieser Boden gefährlich?« fragte ich ihn.
»Herr, wir gehen über Rutaimo, wo die bösen Geister wohnen. Jeder von ihnen hat sich eine Spalte gebohrt, die er mit Schnee bedeckt, um die Samelatjit zu betrügen. Tritt einer darauf, so stürzt er hinab in die Hölle, wenn nicht der Saiwaolmak seine Hand ausstreckt, um ihn festzuhalten. Zuweilen kommt auch ein heiliger Engel und zieht ihn wieder heraus.«
So vermischten sich in der Vorstellung des alten Lappländers christliche Bilder mit den heidnischen. Ihm war es schließlich sehr gleich, ob er von einem Engel oder einem Götzen Hilfe zu erwarten habe; vielleicht glaubte er, der eine sei so mächtig wie der andere.
Wir glitten also langsamer über das Plateau dahin und erreichten wirklich mehrere Spalten, über welche der Schnee eine zusammenhängende Kruste gebildet hatte, die zwar imstande war, den Hund, nicht aber einen Menschen zu tragen. Wir erkannten diese Stellen sowohl an der Formation als auch an der Farbe ihrer weichen Decke, über welche wir uns mittels unserer Spieße hinüberschwangen. Dann ging es abwärts. Hier mußten wir die Spieße fest einstemmen, um unsere vorsichtige Bewegungsart beibehalten zu können, da sich die Spalten zahlreicher zeigten als vorher; der Hund zerrte ganz gewaltig an der Leine, und bei einem unvermuteten Rucke gelang es ihm, dieselbe zu zerreißen. Er stürzte sich in weiten Sprüngen den Berg hinab, doch nicht weit, so blieb er halten, um ein lautes Geheul zu erheben.
»Dort ist es!« rief Onkel Sätte; »möchte es noch Zeit zur Hilfe sein!«
Wir bemühten uns, die kurze Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen, und standen bald vor einer engen, tief in den Boden gerissenen Kluft, durch deren Schneedecke ein Loch gebrochen war. Der Hund stand vor demselben und suchte es durch Scharren zu erweitern, hütete sich dabei aber doch vor der Gefahr, hinabzustürzen. Eine Ski-Spur führte von rechts zu der Stelle, aber nicht darüber hinaus.
Neete, der Sohn, legte sich platt nieder und rief hinab:
»Attje, totn lep tanne ... Vater, bist du hier?«
Keine Antwort erscholl, aber der Hund war ganz außer sich; er setzte wiederholt an, hinabzuspringen, wurde aber immer wieder von der Furcht zurückgehalten.
»Er ist unten«, sagte ich. »Lassen wir alles Fragen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Gebt die Stricke her; es muß einer hinab!«
»Ich gehe hinab,« antwortete Neete; »ich bin der leichteste. Härra, du bist der größte und stärkste von uns allen; du wirst die Kartsait halten!«
»Gut! bindet die Halkoit zusammen und legt sie quer über die Spalte, damit sie uns als Stütze dienen. Aber schnell!«
Nur eine Minute später schwebte der junge Mann in die Öffnung hinein, in welcher eine fürchterliche Kälte herrschen mußte. Er war noch gar nicht weit hinab, so gab er das Zeichen.
»Mon lep sot ... ich habe ihn,« rief er. »Gebt noch ein Seil herab!«
Diese Seile waren zwar dünn, aber aus unzerreißbaren Rentierhautriemen geflochten; man konnte ihnen den schwersten Menschen anvertrauen. Während ich den Sohn hielt, wurde ihm ein zweites Seil hinabgelassen, an welches er den Vater binden sollte. Dieses geschah in kurzer Zeit, und dann wurden beide heraufgezogen.
Vater Pent fiel steif auf den Schnee.
»Er ist tot!« jammerte Neete. »Die bösen Geister haben ihm das Leben geraubt!«
Ich untersuchte den alten Lappmann. Sein Herz schlug, und keines seiner Glieder schien verletzt zu sein. Darum tröstete ich die anderen:
»Sotn ela ... er lebt! Es fehlt ihm nichts als nur die Besinnung. Welche Stellung hatte er in der Spalte, Neete? Sie scheint nicht tief zu sein.«
»O, Härra, sie ist tief, sehr tief, und ganz mit Eis belegt,« antwortete er. »Aber sie ist schmal, und da hat sich sein Spieß eingeklemmt, der ihn gehalten hat.«
»Wekkes auto ... welch ein Wunder!«
»Ja, der heilige Jesots hat ihn bewacht. Aber sage, ob es möglich ist, daß er dennoch sterben kann?«
»Es ist möglich, daß er mit dem Kopfe an das Eis geschlagen ist. Er ist trotz der dichten Kleidung steif vor Kälte und muß sich also sehr lange in der Kluft befunden haben; das läßt mich wohl vermuten, daß er betäubt worden ist, denn von einer Ohnmacht wäre er längst wieder erwacht. Nehmt die Stangen und macht eine Bahre. Wir wollen ihn zur Hütte tragen! Einer mag voraneilen und den Rentierschlitten holen, damit wir schneller vorwärts kommen.«
»Ich werde es thun!« erbot sich der wackere Kakke Keira. »Ich werde so eilen, daß es mich nicht friert, und lasse euch meinen Pelz zurück, denn sonst könnt ihr keine richtige Trage machen.«
Er warf den weiten Pelz ab, ergriff seinen Spieß und sein Gewehr und glitt auf seinen Schneeschuhen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Mit Hilfe des Pelzes, der Stangen und der Seile wurde eine ganz passable Bahre zusammengesetzt; wir banden den Geretteten darauf fest und traten den Rückweg an. Dieser wurde uns natürlich schwer, denn es war keine Kleinigkeit, die Last wohlbehalten über die Spalten zu bringen. Dies nahm so viel Vorsicht und Zeit in Anspruch, daß der Schlitten bereits unten am Berge hielt, als wir die Ebene erreichten. Kakke Keira hatte sich einstweilen den Pelz Andas geborgt.
Der Besinnungslose wurde auf den Schlitten befestigt, und dann ging es im sausenden Laufe über die nun bequeme Fläche auf die Hütte zu. Natürlich kam der von dem windesschnellen Rentiere gezogene Schlitten mit Onkel Sätte, der ihn führte, eher an, als wir, und als wir die Schuhe abgelegt hatten und eintraten, fanden wir Vater Pent bereits am Feuer liegen. Er war noch immer besinnungslos; dennoch aber beschäftigte sich Mutter Snjära unter Assistenz ihrer Töchter sehr eifrig damit, ihm jammernd und wehklagend den gewaltsam aufgebrochenen Mund voll großer Stücke gefrorenen Rentierblutes zu stopfen.
»Wollt ihr ihn töten!« rief ich ihnen zu.
»Das Blut hilft für alles, Härra!« beteuerte sie mir.
»Hier schadet es nur! Nehmt es wieder heraus und öffnet ihm die Kleider. Ich habe eine bessere Medizin!«
Ich hatte in meinem sehr zusammengeschrumpften Reisesacke allerdings von Medikamenten weiter nichts als noch ein halbes Fläschchen Arnikatinktur, doch war dies gegen die Verletzung durch einen Fall ja ein ganz gutes Mittel, wenn nicht auch innere Teile gelitten hatten. Die Kleider wurden ihm geöffnet, um die Respiration zu erleichtern, und da Naphtha und Salmiakgeist oder ähnliches nicht vorhanden war, so bat ich um Schnupftabak. Alle erstaunten sehr weidlich darüber, daß ein Toter schnupfen solle, dennoch aber wurden mir gerade so viele aus Rentierhaut gefertigte Dosen entgegengestreckt, als männliche und weibliche Personen anwesend waren. Der Lappe liebt den Tabak außerordentlich, fast ebenso wie den Branntwein; aber da er den letzteren so viel entbehren muß, so raucht und schnupft er viel, und daher gab es hier Dosen genug in der Hütte.
Ich applizierte dem Betäubten eine ziemliche Prise in denjenigen Teil seines Gesichtes, welchen die Lappen Njuonne nennen, und hatte auch wirklich gar nicht lange auf die beabsichtigte Wirkung zu warten; seine spitze Stirn legte sich in Falten, die geschlossenen Augenlider begannen zu zittern, der Mund öffnete sich, zwar langsam, aber so weit wie möglich; die gegen Kälte und allerlei kleines Getier mit Pechsalbe beschmierten Wangen dehnten sich aus, und dann erfolgte jene bekannte Explosion, für welche die Sprachen aller Völker nur eine und dieselbe Bezeichnung haben – app ... zieh!
»Aeitnan ... zur Gesundheit!« ertönte es jubelnd aus aller Munde.
Der Bann war gebrochen; die Augen öffneten sich, bewegten sich einige Augenblicke staunend im Kreise, und dann erklang auch bereits, und zwar in sehr bestimmtem Tone, das erste hörbare Lebenszeichen:
»Muaji, wattopte malep ... gebt mir Blut!«
Mutter Snjära blickte mich fragend an. Ich nickte ihr zu, denn diesem imperativen Verlangen eines augenblicklich erst vom Tode Erwachten vermochte mein fühlendes Herz nicht zu widerstehen. Da der Inhalt des alten vielleicht nicht reichen würde, so wurde augenblicklich ein neuer Rentiermagen geöffnet und das darin aufbewahrte Blut herausgeschlagen. Dann warf sich die Mutter mit ihrem drei Assistentinnen über den Patienten, und er erhielt von vier Seiten den Mund so energisch vollgestopft, daß er fünfmal schlingen mußte, ehe er Zeit fand, einmal Atem zu holen. Die großen Stücke zu Eis gefrorenen Blutes verschwanden so schnell und massenhaft in der Speiseöffnung des armen Kranken, und er verriet eine so ausdauernde Inklination für diese Art, dem Tode zu entgehen, daß es mir angst und bange wurde und ich endlich Einhalt that. Kaum aber waren seine wiedererwachten Lebensgeister nicht mehr in dieser Richtung beschäftigt, so fuhr er sich mit der Hand an den Kopf und klagte:
»Mon lep luokatest, mon lep hawetetowum ... ich habe Schmerz, ich bin verwundet worden!«
Ich untersuchte die Stelle, welche seine Hand bezeichnet hatte, und entdeckte unter der dicken Pelzhaube, welche er trug, eine ziemliche Anschwellung. Er war also doch mit dem Kopfe aufgestoßen.
»Tunji mon kalkap wekketet ... ich werde dir helfen!« tröstete ich ihn und griff zu meiner Tinktur.
»Toteleppäsker ... du bist ein Doktor?»fragte er erstaunt.
»Ja,« antwortete ich, um ihm Vertrauen zu machen.
»Was hast du hier?«
»Das ist eine Arznei, welche dir die Schmerzen stillen wird.«
»Schmeckt sie gut?«
»Du wirst sie nicht trinken, sondern ich werde sie dir auf den Kopf legen.«
»Laß sie mich einmal riechen!«
Ich hielt ihm das geöffnete Fläschchen unvorsichtigerweise bereitwillig an die Nase. Er sog den Duft des kräftigen Spiritus mit wachsendem Wohlbehagen ein und bat dann mit verklärtem Gesichte:
»Gieb mir diese Arznei lieber zu trinken, Härra! Ich werde dann schneller gesund werden, als wenn du sie mir auf den Kopf legst.«
Ich schlug es ihm ab und ließ mir den Fetzen von einem alten Sommerkleide geben. Diesen befeuchtete ich und band ihn auf die Anschwellung. Da ich das Befeuchten nach einiger Zeit wiederholen wollte, so gab ich das Fläschchen nicht wieder in den Reisesack zurück, sondern schob es, mir leicht zur Hand, neben mir in das Heu meines Lagersitzes.
»Attje, wie bist du in die Spalte gekommen?« fragte jetzt der junge Neete, der mit dieser Frage der Neugierde aller zu Hilfe kam.
Der Alte schwieg eine Weile, dann antwortete er:
»Fragt mich nicht. Später werdet ihr es erfahren!«
Diesem Befehle mußte Gehorsam geleistet werden, obgleich ich nicht begreifen konnte, warum er die erbetene Auskunft verweigerte, zu der wir uns durch seine Rettung doch wohl eine hinreichende Berechtigung erworben hatten. Er seinerseits begehrte nun zu wissen, wie die Bärenjagd abgelaufen sei und welcher Umstand uns zu seiner Hilfe herbeigerufen habe. Er vernahm unseren Bericht und kaum erfuhr er, daß der Aufbruch des Bären sich noch immer im heißen Wasser des Kessels befinde, so gebot er, die Nipeh herzunehmen und das leckere Mahl sogleich zu beginnen.
Mutter Snjära stach die Eingeweidestücke aus dem Kessel und legte sie in ihren Lederschoß, dessen matter Glanz erraten ließ, was alles darin bereits ab-, auf- und ausgewischt worden sei. Dort wurden sie zerteilt, und männlich, weiblich und – hündlich hatte nun die Erlaubnis, sich wegzunehmen, was ihm beliebte.
Was mich betraf, so hatte ich das Glück, von der schönen Marja bedient zu werden. Sie war die älteste Tochter Pents, zählte vielleicht dreiundzwanzig Jahre und schien mich während meines vierzehntägigen Aufenthaltes in ihrer Hütte bereits sehr freundlich in ihr Herz geschlossen zu haben. Sie reichte mir gerade bis unter die Arme, hatte zwei Pfund Fett in ihren Zöpfen und dreißig Quadratzoll Pechsalbe auf ihren Wangen; ihre Lippen lächelten zwölf Centimeter breit; ihr Näschen glich einer Haselnuß, und ihre Äuglein hatten sich infolge des immerwährenden Schneeblendens ein Spitzmausblinzeln angewöhnt, welches auf mein unbewachtes Herz einen durch Logarithmen nicht ganz genau zu berechnenden Eindruck machte.
Sie zerzupfte die besten Stückchen, welche sie für mich aus den Zähnen der Hunde erwischen konnte, mit ihren dikken Teer-Rosen-Fingerchen und steckte sie mir in den sich vergeblich »nach rückwärts konzentrierenden« Mund. Die Eltern sahen dieser gastfreundlichen Schelmerei mit Wohlbehagen zu, und ich konnte mich diesem zutraulichen Ausgestopftwerden nur dadurch entziehen, daß ich mich erhob und für kurze Zeit vor die Hütte ging, um meiner Digestionsorgane wieder Herr zu werden.
Als ich wieder eintrat, fiel mir ein himmlisches Lächeln auf, welches mit einer Wärme von siebzig Grad Réaumur auf den Gesichtern thronte. Sofort ward ich mir meiner Unvorsichtigkeit bewußt, langte nach meiner Flasche und hielt sie gegen die Flamme – sie war leer, »bom bosch« würde der Türke sagen – »ganz leer«; die braven Lappen und Lappinnen hatten sich mit meiner Tinktur die Magen von innen eingerieben!
Ich verspürte große Lust, sie tüchtig auszuzanken, mußte aber dennoch lachen, als der alte Pent seine Entschuldigung vorbrachte:
»Härra, du wirst doch nicht schelten? Wir haben von dem Bären gegessen und schmeckten es, daß er krank gewesen ist; darum haben wir ein wenig von deiner Medizin genommen, die alle Krankheiten heilt. Für meinen Kopf ist sie nicht mehr nötig, denn der Schmerz ist fort, und ich bin gesund!«
Ich hielt ihm die leere Flasche hin.
»Hast du die Medizin genommen, so nimm auch die Flasche. Ich schenke sie dir!«
Mit diesem Geschenke richtete ich eine große Freude an, denn ein Glas oder eine Flasche ist in der Haushaltung eines Lappen eine kostbare Seltenheit. Darum meinte er sehr fröhlich:
»Härratjam, du bist ein sehr berühmter und gütiger Doktor, und mit dir ist ein großer Segen in meine Hütte gekommen. Du hast uns, als du kamst, drei Flaschen Spanska win mitgebracht, der unser Herz erleichterte, aber deine Medizin schmeckt noch besser. Hättest du doch mehr von ihr! Nun aber bin ich müde. Willst du dich wieder mit mir schlafen legen? Wenn wir erwachen, sollst du mich auf den Fjäll begleiten, denn ich habe etwas Wichtiges mit dir zu sprechen.«
Die letzten Stunden hatten uns alle mehr oder weniger ermüdet, und so wurde seinem Vorschlage Beifall gespendet. Man verschloß den Rauchfang, welcher wieder geöffnet worden war, von neuem und bald war die beneidenswerte Situation, aus welcher uns der Bär gerissen hatte, wieder hergestellt.
Der Mensch, und besonders der Reisende, gewöhnt sich bald an alles, und so schlief ich ganz glücklich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die holde Marja beim Wiederanfachen des Feuers meine langen Pelzstiefel näher zog, um sich ihrer als Schemel zu bedienen, obgleich zufälligerweise meine beiden Beine darin steckten. Ich hielt den Druck ihrer kleinen Person geduldig aus, bis sie fertig war und mir in anerkennungswerter Aufmerksamkeit meine ausgestreckten Kniee wieder an den Leib geschoben hatte. Dann erhob ich mich behaglich in sitzende Stellung, um zuzusehen, wie die Morgensuppe zubereitet wurde.
Als erste Ingredienz zu derselben diente natürlich der Absud, welcher vom Kochen des Bäreneingeweides im Kessel zurückgeblieben war. Dazu kamen Stücke geronnenen Blutes, zerbrockter Rentierkäse, welcher ungefähr so schmeckt, wie ein altes, hörnernes Spieldosengehäuse schmecken würde, wenn man es kauen wollte, sodann eine Portion Sick, welche ihre Anwesenheit durch einen mehr als zudringlichen Geruch zu erkennen gab, einige Hände voll Bläbär, etwas Salz, welches es nur darum geben konnte, weil Vater Pent ein reicher Mann war, eine kleine Gabe Mehl, welches aber trockenen Sägespänen ähnlich sah, und zuletzt noch das, ich weiß nicht auf welche Weise gereinigte, Gedärme des Bären, natürlich in Stücke zerschnitten und zerrissen, deren Purifikation von sehr zweifelhafter Natur zu sein schien.
Anstatt an diesem Mahle mich zu beteiligen, zog ich es vor, mir ein Stück Rentierfleisch auszubitten, welcher Wunsch auch herzlich gern befriedigt wurde, da man froh zu sein schien, meinen Suppenanteil mit verzehren zu können.
Nach diesem Frühstücke, welches eigentlich kein Frühstück genannt werden konnte, da wir jetzt die monatelange Winternacht des Nordens hatten, ersuchte mich Vater Pent, ihm in das Freie zu folgen. Wir nahmen unsere Spieße und Flinten zu uns und fuhren mit den Füßen in die Schneeschuhe. Er führte mich ganz denselben Weg, auf welchem wir gestern dem Bären gefolgt waren. Dies ließ mich vermuten, daß die angedeutete Unterredung sich auf sein letztes, unglückliches Abenteuer beziehen werde, doch glitt er schweigend voran und sprach nicht eher ein Wort, als bis er droben im Walde den Punkt erreichte, an welchem er sich von uns getrennt hatte.
»Piejo, Härra ... setze dich, Herr!« sagte er, indem er sich selbst in den weichen Schnee niederließ. »Ich werde mit dir über eine Sache reden, von welcher niemand etwas wissen darf.«
Ich nahm an seiner Seite Platz, und die Hunde, ohne welche kein Lappe seine Hütte verläßt, legten sich vor uns nieder. Selbst der Gast bekommt, wenn er längere Zeit bei ihnen bleibt, einen dieser treuen, immerwährenden Begleiter zugeteilt. Der Alte blickte eine Weile vor sich nieder; er schien nach dem rechten Eingang zu suchen, und ich hütete mich, sein Nachdenken durch ein Wort zu unterbrechen. Endlich begann er:
»Härra, du kannst schweigen?«
»Ja,« antwortete ich einfach.
»Und du wirst auch schweigen?« »Ja.«
»Ich glaube es dir, denn ich habe dich beobachtet und kann dir vertrauen. Willst du mir einen Dieb fangen?«
»Einen Dieb – –? Ich – –?« frug ich verwundert.
»Ja, du! Wenn bei uns eine böse That geschehen ist, so sendet der Konoks seine Soldaten her, welche den Thäter suchen müssen; aber es vergeht eine sehr lange Zeit, ehe sie die weite Reise beenden, und dann ist er bereits längst nach Norje verschwunden, wohin sie ihm nicht folgen dürfen. Auch sind diese Männer selten klug genug, um einen SamelatsSo nennt sich der Lappländer, während er das Wort »Lappe« beinahe als einen Schimpf betrachtet zu fangen, der die Gegend besser kennt, als sie.«
»Bist du bestohlen worden?« fragte ich.
Sein sonst so freundliches Gesicht nahm einen ganz grimmigen Ausdruck an.
»Ja.« antwortete er mit einem wilden Blicke seiner kleinen, zwinkernden Äuglein.
»Von wem?« »Ich weiß es nicht.« »Hast du Verdacht?« »Nein.« »Es ist keiner deiner Dienstboten?« »Nein.« »Was ist es, was dir gestohlen worden ist? ein Rentier?«
»O, Härra, wie könnte ich wissen, ob mir ein Ren gestohlen worden sei! Ich habe über tausend Stück, von denen sich oft eins verläuft. Und ein Ren, wenn es mir genommen worden ist, verursacht mir keinen solchen Schmerz. O nein, der Diebstahl ist viel schlimmer, denn mir fehlt Geld, viel Geld!«
Bei diesen Worten brach er in bittere Tränen aus. Das kindliche Gemüt des Lappen vermochte den Verlust nicht mit männlicher Resignation zu ertragen.
Jetzt ahnte ich den Zusammenhang. War der Mann, welcher sich vor uns flüchtete, der Dieb gewesen? Hatte er vielleicht eines der verborgenen Verstecke Pents entdeckt? Vater Pent war sehr reich; er besaß über tausend Rene, wie er mir soeben gesagt hatte; er hatte sicherlich viel Geld vergraben.
Wenn der Lappe einen Markt oder eine der wenigen Städte besucht, so läßt er sich den Preis seiner Felle und anderen Waren in harten Silberthalern bezahlen. Alljährlich wandern auf diese Weise bedeutende Quantitäten Silber nach den unwirtlichen Gegenden des hohen Nordens, wo sie verschwinden, denn der Bewohner der Lappmarken giebt selten oder nie einen Thaler wieder heraus, den er einmal eingenommen hat. Ist der Beutel voll geworden, so sucht er sich eine einsame Stelle im Walde, im Sumpfe oder zwischen Felsen, wo er die harten ›Riksdaler‹ versteckt; er beobachtet darüber das tiefste Schweigen und enthüllt sein Geheimnis erst dann seinen Erben, wenn er den unvermeidlichen Tod nahen fühlt. Um bei der zufälligen Entdeckung eines solchen Ortes nicht seine ganze Barschaft zu verlieren, verteilt er dieselbe in mehrere Verstecke, welche er von Zeit zu Zeit im geheimen aufsucht, um sich an dem Anblicke seiner Reichtümer zu erlaben. Nicht selten kommt es vor, daß ein Lappe unerwartet stirbt, ohne seine Verstecke entdecken zu können, oder daß dieselben so ungenau beschrieben wurden, daß sie von seinen Verwandten nicht aufgefunden werden konnten. Zuweilen treten auch Naturereignisse ein, welche ein solches Versteck vernichten oder unzugänglich machen, und so kommt es, daß bedeutende Summen verloren gehen, von denen man nicht hoffen kann, daß sie jemals wieder aufgefunden werden. Die wilden Einöden Lapplands bilden eine riesige Sparbüchse, welche ganz bedeutende Prozente verschlingt.
»Darf ich erfahren, wie viel Geld es ist?« frug ich den Alten.
»Kwekte wuossah ... zwei Beutel.« antwortete er.
»Du hattest sie versteckt?«
»Ja, Härra, du weißt, daß kein Mensch wissen darf, wo die Thaler liegen, der Bruder nicht, das Weib nicht und die Kinder nicht. Du weißt auch, daß ich auf dem Markt in Enontekis gewesen bin. Dort habe ich viel Felle, viel Käse und auch viele Handschuhe verkauft, welche meine Töchter gestrickt hatten. Ich tauschte mir ein, was ich brauchte, und hatte dann noch zwei Beutel mit blankem Silber übrig. Gestern nun, als die Rene gemolken wurden und also meine Leute verhindert waren, mir zu folgen, nahm ich meine Schuhe und ging hinauf zum Fjäll, um das Silber zu verstecken. Bei der Rückkehr erblickte Ich einen Fremden, der durch die Felsen glitt. Ich verfolgte ihn, aber er entwich. Nun kehrte ich zu dem Versteck zurück, nahm das Geld wieder heraus und verbarg es an einem anderen Ort. Aber dann nach Mitternacht, als wir den Bär verfolgten, sah ich den Fremden wieder. Ich dachte sogleich, daß er nach meinem Silber gesucht hätte, und verfolgte ihn. Er verschwand. Nun suchte ich mein Versteck auf; das Silber war noch da; aber indem ich es betrachtete, erhielt ich einen Schlag. Es wurde mir sehr finster vor den Augen, und ich stürzte nieder, doch schon nach einer Minute raffte ich mich wieder auf. Das Geld war mir entrissen, und den Dieb sah ich bereits fern von mir sehr schnell über den Lopme fliegen. Ich verfolgte ihn. Er versuchte, die andere Seite des Kärr zu erreichen, und darum wandte ich mich nach dem Klufteis, um ihm den Weg abzuschneiden. Ich kenne dieses Eis, aber der Zorn trübte meine Augen; ich übersah eine Spalte und stürzte hinein – – als ich wieder erwachte, lag ich in meiner Hütte und hatte Schnupftabak in der Nase. Der Dieb aber ist entkommen.«
»Du hast ihn nicht erkannt?«
»Nein. Er hatte sich hinter mich geschlichen, ohne daß ich ihn bemerkte. Er trug eine Wintermaske, wie wir alle, damit wir das Gesicht nicht erfrieren.«
Hast du dir nicht wenigstens seine Gestalt gemerkt?«
»Härra, die Nacht Samelands währt drei Monate lang, und sie täuscht das Auge. Das Nordlicht war so unruhig und seine Flammen zuckten über den Schnee. Wer kann da genau sehen! Der Mann war gekleidet wie andere Männer; ein Samelats sieht wie der andere aus, wenn er nicht in seinem Zelte sitzt. Ich würde ihn nicht wiedererkennen. Wenn du mir nicht hilfst, Härra, so kann ich den Dieb niemals entdecken, und mein glänzendes Silber ist verloren.«
»Ich? Wie sollte ich dir helfen können, da dir sogar die Soldaten des Königs nichts nützen. Ich kenne dieses Land ebensowenig wie sie und habe ja nicht einmal die Macht, welche sie dem Diebe gegenüber besitzen.«
»Härra, du irrst! dein Kopf ragt über alle Samelatjit hinweg und nie hat man hier solche Waffen gesehen, wie die deinigen sind. Ein jeder Dieb wird sich vor dir fürchten. Auch bist du in fernen, wilden Ländern gewesen, wo du gelernt hast, die Spur eines Flüchtlings so zu lesen, wie wir es nicht vermögen. Du selbst hast uns ja erzählt von den bösen Indatjit, denen ihr gefolgt seid über Berg und Thal, um ihnen die Felle wieder abzunehmen, die sie euch gestohlen hatten. Ich werde dich auf die Spur des Diebes führen und ich weiß, wenn du sie betrachtest, so kann er uns nicht entgehen.«
Hm! Ein solches Vertrauen hatte ich nicht erwartet. Ich war blamiert, wenn ich auf seinen Wunsch einging, ohne es rechtfertigen zu können; darum antwortete ich:
»Attjats, ich bin noch zu kurze Zeit im Samelanda; ich glaube wirklich nicht, daß ich dir helfen kann.«
Da blinzelte er mich mit seinem schlausten Lächeln an und sagte:
»Härra, du kannst, denn du hast ja gesagt, daß du ein Doktor bist!«
»Meinst du etwa, daß ein Doktor auch gelernt haben muß, Diebe zu fangen?«
»Willst du mit mir scherzen? Ein Doktor hat alles gelernt; ein Doktor kann alles, wenn er nur will!«
»Wer hat dir dies gesagt?«
»Das braucht mir niemand zu sagen, weil wir es ja alle wissen. Einem Doktor muß alles gelingen, denn er hat gelernt, sich ein Saiwa tjalem zu machen, und wer ein gutes Saiwa tjalem bei sich trägt, dem kann nichts mißglücken, so lange er dafür sorgt, daß es unverletzt bleibt.«
»Du irrst,« sagte ich unter mißbilligendem Kopfschütteln. »Es giebt kein Amulett und kein Saiwa tjalem, welches eine solche Kraft besitzt.«
»Härra, du willst es bloß nicht zugeben! Ich selbst habe ja eine solche Schrift gehabt.«
»Von wem?«
»Von einem Doktor, den ich in Luleå am Meere traf. Er war ein sehr kluger Mann; er gab mir Arznei für meine kranken Augen, und als ich ihn dann um ein Amulett bat, schrieb er es mir sogleich, ohne Geld dafür zu nehmen. Ich habe es viele Jahre lang auf der Brust getragen und in dieser Zeit niemals ein Unglück gehabt. Nun aber hat es der Schweiß zerfressen, und darum ist seine Wirkung fast ganz verloren gegangen. Wäre es nicht so zerrissen, so wäre ich sicher nicht in die Spalte geraten. Ich werde dich bitten, mir ein neues zu schreiben.«
»Wo hast du es?«
»Hier,« antwortete er, auf die Brust deutend.
»Darfst du es mir zeigen?«
»Der Doktor hat mir dies nicht verboten. Willst du es sehen?«
»Ja.« – Er langte unter seine Kleider und zog ein zusammengelegtes Stück Leder hervor, welches an einer Schnur hing und ein vielfach zusammengefaltetes Papier enthielt, welches er mir entgegenreichte.
»Hier,« meinte er. »Kennst du die Zeichen, welche darauf stehen?«
Die mit Bleistift geschriebenen Züge waren sehr verwischt; aber dennoch erkannte ich auf den ersten Blick, daß es deutsche Worte waren. Meine nicht geringe Überraschung ging bald in ein lustiges Lachen über, als ich folgende Worte enträtselte:
»Am Ganges duftet's und leuchtet's
Und Riesenbäume blühn,
Und schöne, stille Menschen
Vor Lotosblumen knien.
In Lappland sind schmutzige Leute,
Plattköpfig, breitmäulig und klein;
Sie kauern ums Feuer und backen
Sich Fische und quäken und schrein.
Ein Spaßvogel.«
Also diese bekannten Verse von Heinrich Heine hatte der gute Vater Pent jahrelang auf seinem Herzen getragen und ihnen wunderbare Kräfte zugetraut! Der neckische Kobold des Dichters hatte den letzteren überlebt, um nach dessen Tode sogar bis hinauf in die Lappmarken seinen Spuk zu treiben. Wer aber war der Schreiber dieser Zeilen gewesen? Wirklich ein Arzt? Sollte sich ein gebildeter Mann wirklich so weit vergessen können, einen abergläubischen Lappen in seinen Vorurteilen zu bestärken? Trotz meiner anfänglichen Belustigung ärgerte ich mich doch darüber; darum sagte ich:
»Attje Pent, das ist kein Saiwa tjalem, sondern ein Kaiwes tjalok und der, welcher es geschrieben hat, ist kein Doktor gewesen.«
»Härra, es hat ja geholfen!«
»Ich werde dir diese Schrift vorlesen, und dann magst du sehen, was du von ihr zu denken hast.«
Ich übersetzte ihm, so gut es ging, die Worte in das Lappländische; er aber sprang bei den letzten Worten zornig auf und rief:
»Willst du mich verhöhnen? Diese Worte stehen nicht hier!«
»Sie stehen hier!«
»Das ist nicht wahr, Härra!«
»Willst du mich einen Lügner nennen?«
Er besann sich.
»Härra, du bist stets ernst und gut mit uns gewesen, jetzt aber scherzest du. Dieses Saiwa tjalem hat mich aus mancher Not errettet; die Worte aber, welche du mir jetzt sagtest, sind böse; sie beleidigen mich; sie können keinen Menschen erretten; sie können mir auch mein Silber nicht wiederbringen!«
»Da hast du sehr richtig gesprochen. Ich habe dir ganz genau vorgelesen, was auf dem Papiere steht; ich habe kein Wort weggelassen und auch keins dazugethan! Wirf das Papier fort; es nützt dir nichts!«
»Sagtest du mir wirklich die Wahrheit?« fragte er zweifelnd.
»Ja.«
»Härra, ich werde dieses Papier prüfen.«
»Wie willst du dies anfangen?«
»Ich werde es wieder einstecken. Wenn wir den Dieb fangen, so ist es gut, fangen wir ihn aber nicht, so taugt es nichts.«
»Diese Probe ist nicht zuverlässig, denn du willst den Dieb ja durch mich fangen, nicht aber durch dieses Papier. Wenn du diese Probe wirklich machen willst, so mußt du allein gehen.«
Er besann sich, und dann sagte er:
»Du hast recht, und darum werden wir die Probe anders machen: Der Dieb wird das Geld bereits versteckt haben, wenn wir ihn finden, und er wird auch nichts eingestehen. Dann werde ich ihm diese Schrift geben. Beschützt sie ihn, so ist sie gut, finden wir aber das Geld, so ist das wahr, was du mir vorgelesen hast.«
Das war nun allerdings eine echt lappländische Kalkulation, aber gerade weil die Sache so abenteuerlich klang, ging ich darauf ein.
»Gut, du sollst deinen Willen haben. Zeige mir die Spur des Diebes!«
Wir brachen auf und drangen tiefer in den lichten Wald ein. Nach vielleicht einer Viertelstunde erreichten wir eine von verkrüppeltem Ginster bestandene und jetzt überschneite Felsenhalde. Hier sah ich die Schneespuren zweier Männer.
»Soll ich den Ort sagen, an welchem du das Silber versteckt hattest?« fragte ich Pent.
»Wirst du ihn finden?« sagte er verwundert.
»Sicher!«
Ich untersuchte die beiden Fährten, glitt einer derselben nach und hielt vor einem schmalen Risse im Felsen.
»Hier war es!«
»Härra, du hast es wirklich erraten!« rief er. »In diesen Riß hatte ich die Beutel versteckt und ihn dann mit Schnee angefüllt.«
»Schau her! Hier hast du gekauert, als du das Geld betrachtetest, und hier hielt der Dieb, als er dir den Schlag versetzte.«
»Woher siehst du dies?«
»Das werde ich dir später erklären.«
Während der Fremde einige Augenblicke lang hinter Pent gehalten hatte, waren seine langen Schneeschuhe tiefer in den Schnee eingedrungen und hatten also sehr deutliche Eindrücke hinterlassen. Da sah ich denn, daß der eine Schuh an seiner Sohle eine recht bemerkbare Narbe zeigte, die von einem kräftigen Stoße an einen spitzen Stein herzurühren schien. Doch hielt ich es für besser, Pent von diesem wertvollen Erkennungszeichen jetzt noch nichts zu sagen.
»Wollen wir ihm folgen?« fragte er.
»Ja.«
Wir glitten weiter, aus dem Walde heraus wieder auf die freie Anhöhe und dann jenseits des Höhenzuges hinab in ein breites Querthal, welches wir zu verfolgen hatten, bis wir wieder heraus auf die freie Ebene gelangten. Hier war die Spur dem Schnee so leicht aufgedrückt, daß der Verfolgte im raschesten Laufe dahingeschossen sein mußte. Wir machten es ebenso und glitten mit der Schnelligkeit eines Bahnzuges über die mattschimmernde Fläche fort.
In dieser Weise und in dieser Richtung mußten wir in zwei Stunden den nächsten Nachbar Pents erreichen, den ich bereits zweimal mit besucht hatte. Auch er war wohlhabend, doch bestand seine Haushaltung nur aus ihm, seinem Weibe, einer Tochter und einem Teutnar, der mir nicht sehr vertrauenswürdig vorgekommen war. Sein Herr hatte mir erzählt, daß derselbe aus Norwegen herübergekommen sei und fast ein Jahr bei ihm im Dienste stehe. Wer sich so ganz allein über die wilden Berge wagt, hat gewöhnlich keinen lobenswerten Grund gehabt, sein Vaterland zu verlassen. Daher dachte ich jetzt unwillkürlich, daß er der Dieb gewesen sein könne. War diese Vermutung richtig, so stand zu erwarten, daß er, bevor er die Hütte seines Herrn erreichte, zur Seite gebogen sein würde, um sein Geld zu verbergen. Dies traf aber nicht ein, sondern die Spur führte in unveränderter Richtung weiter. Entweder war der Dieb sehr unvorsichtig oder sehr frech, daß er es gar nicht der Mühe wert erachtete, für seine Sicherheit bedacht zu sein.
So setzten wir unsern Weg schweigend fort, bis wir die Hütte des Nachbars erreichten. Seine Tochter befand sich außerhalb derselben und hatte ihn auf unser Kommen aufmerksam gemacht; daher kam er uns entgegen.
»Tuina litja atna – Friede sei mit dir!« grüßte ihn Pent.
»Tuina aj aj – mit dir ebenso!« antwortete er.
Sodann faßten sie sich beim Leibe, schoben die Wintermasken beiseite und rieben sehr freundschaftlich die Nasen aneinander. Ich als Fremder aber kam mit einem Händedrucke davon. Die beiden Frauen wurden auf gleiche Weise begrüßt, und dann fragte Pent:
»Wo ist Teutnar Pawek? Ich sehe ihn nicht.«
»Dort bei den Tieren kannst du ihn sehen.«
Wirklich sahen wir die Gestalt des Betreffenden bei den Rentieren, welche beschäftigt waren, Flechten unter dem Schnee hervorzuscharren.
»Hat er seine Ski an?« erkundigte ich mich.
»Nein, hier an der Hütte lehnen sie.«
Ich trat näher, um die Schuhe zu betrachten, und bemerkte an einem derselben sofort das angedeutete Zeichen.
»Rufe ihn herbei. Wir haben mit ihm zu sprechen,« sagte ich.
Auf einen grellen Pfiff und einen Wink mit der Hand kam der Knecht langsam herbei.
»Puorest ... guten Tag!« grüßte er mit der unschuldigsten Miene von der Welt.
»Sind diese Ski dein Eigentum?« fragte ich ihn.
»Ja, Härra,« antwortete er.
»Kommt in die Hütte! Ich habe mit diesem Manne zu reden.«
Der Knecht kroch ohne alles Widerstreben sogleich zuerst durch den Eingang, und seine Herrschaft folgte ihm neugierig. Der Besitzer der Hütte hieß Stalo, zu deutsch ›Riese, obgleich er mir nur bis an die Achseln reichte.
»Attje Stalo,« sagte ich zu ihm, »dieser Knecht wird sehr bald von dir gehen.«
»Wohin?« fragte er erstaunt.
An das Kittek.«
Er richtete sich erschrocken in die Höhe:
»Was sagest du, Härra?«
»Daß er in das Gefängnis gehen wird.«
»Warum?«
»Weil er ein Dieb ist.«
»Härra, willst du mich und mein Haus beschimpfen!«
»Nein. Warum sollte ich dich beleidigen wollen? Du bist ja unser Kweime! Ich habe mit dir gegessen und getrunken; ich habe dich und die Deinigen lieb gewonnen; ich bin nur auf dein Glück und deinen Frieden bedacht, und darum sage ich dir, daß dein Knecht ein Dieb ist.«
Der Knecht antwortete nicht und bewegte sich nicht; auch die beiden Frauen waren wortlos; Stalo aber rief:
»Härra, beweise es!«
»Sogleich! Dieser Mann war gestern entfernt von deiner Hütte?«
»Ja. Ich sandte ihn vorgestern über den Fjäll zu Arpen Rauna, welche ein Partnekuts erhalten hat, dem er als Zahngeschenk ein Ren hinüberschaffen mußte.«
»Wann kehrte er zurück?« »Sehr spät; es war heute zur Zeit des Melkens.«
»Attje Pent mag dir erzählen, weshalb der Knecht so viele Zeit verloren hat.«
Pent erzählte sein unglückliches Abenteuer. Der Knecht hörte es sehr ruhig an, ohne mit der Wimper zu zucken; die anderen aber gerieten in die höchste Aufregung. Als der Erzähler geendet hatte, fragte Stalo den Knecht:
»Was sagst du dazu?«
»Ich that es nicht.« antwortete er sehr ruhig.
»Du leugnest!«
»Ich schwöre, daß es ein anderer war. Ich bin gar nicht nach dem Spalteise gekommen.«
»Aber sie haben deine Spur verfolgt!« »Sie irren! Sucht, ob ihr das Silber bei mir findet!«
»Das werden wir thun,« sagte sein Herr.
Seine Kleidung und dann auch die Hütte wurde aufs genaueste untersucht, aber es war nichts zu finden.
»Wo ist er gewesen, seit er zurückkehrte?« erkundigte ich mich.
»Nur bei der Herde.« antwortete Stalo.
»Nicht weiter?«
»Nein. Willst du nicht die Hütte auf eine kurze Zeit verlassen?«
»Warum?« fragte ich.
»Ich will mit der Kunnus reden.«
Er wußte, daß Vater Pent mich zu seinen wirklichen Freunden zählte, und darum sagte er mir so aufrichtig, was er zu thun beabsichtigte. Sehr viele Lappen bangen noch mehr oder weniger an ihren alten heidnischen Gebräuchen, zu denen auch das Fragen der Zaubertrommel gehört. Ich hätte dieser Manipulation sehr gern mit beigewohnt, mußte mich aber natürlich in den Willen des Hausherrn fügen. Auch die Frauen durften nicht zugegen sein; sie verließen die Hütte und begaben sich zur Herde. Sie hätten gerne ein Gespräch mit mir angeknüpft, aber ich zog es vor, meine Schneeschuhe anzulegen, um die Umgebung des Lagers genau abzusuchen, denn es verstand sich von selbst, daß der Knecht hier irgendwo das Geld versteckt hatte.
Spuren gab es genug, sowohl von Stiefeln als auch von Schneeschuhen, und ich mußte sehr aufmerksam sein. Ich beschrieb zunächst einen engeren und dann einen weiteren Kreis um die Hütte und die Herde, wobei die Frauen mich kopfschüttelnd beobachteten – ich bemerkte nichts. Erst bei einem dritten, noch weiteren Kreise stieß ich auf eine Einzelspur, an deren einer Seite ich das bewußte Zeichen erblickte. Sofort folgte ich ihr. Sie führte nach einer schmalen, aus dem Walde tretenden Rinne, in welcher ein eisüberdecktes Wasser floß. Nach noch nicht fünf Minuten blieb ich überrascht halten, denn ich hatte das größte Geheimnis eines Lappen entdeckt, nämlich sein Tiorfwigardi, eine kleine, aus Rentierhörnern errichtete Umzäunung, die einen heidnischen Opferplatz umschloß. Den Mittelpunkt desselben bildete ein sogenannter Sait, ein im Wasser gefundener Stein von sonderbarer Gestalt. Obwohl diese Steine jetzt wohl nicht mehr wirklich verehrt werden, ist doch noch immer ein jeder Tiorfwigardi ein heiliger Ort, den eigentlich nur der Hausherr betreten darf. Aber gerade hierher führten die Spuren des Knechts. Ich ahnte, daß ich sein Versteck vor mir hatte. Wer konnte wohl vermuten, daß ein Lappe gestohlenes Gut an einem so heiligen Ort verbergen werde!
Die Fährte ging bis zur zweiten Ecke des Hörnerzaunes, wo sie aufhörte, um später wieder umzuwenden. Ich brachte meine Schneeschuhe genau in dieselbe Lage und befand mich also nun gerade in der Stellung, die der Knecht eingenommen hatte, als er das Geld versteckte. Nun betrachtete ich zunächst den Schnee, soweit er im Bereiche meiner Hände lag; er war unversehrt – doch nein, da unten lagen einige Schneesternchen, als seien sie nicht herabgeweht, sondern durch eine mechanische Berührung herabgestreift worden. Ich bückte mich und schaute durch die Geweihe – richtig, da hing das Gesuchte, aber so gut versteckt zwischen den dicht ineinander stoßenden Geweihzacken, daß es durch den bloßen Zufall gar nicht entdeckt werden konnte. Es war ein großer Tabaksbeutel, und als ich ihn berührte, fühlte ich deutlich die zwei Geldbeutel, welche er enthielt.
Ich ließ ihn hängen und kehrte schleunigst zurück. Als ich die beiden Frauen erreichte, fragte ich sie nach dem Knechte und erfuhr, daß er sich noch immer in der Hütte befinde. Doch brauchten wir nicht lange mehr zu warten, bis wir wieder eintreten durften.
Der Knecht Pawek blickte mir höhnisch entgegen.
»Härra, ich habe ihm meinen Saiwa tjalem gegeben, und es hat ihn beschützt.« erklärte mir Vater Pent. »Dieses Saiwa tjalem ist gut!«
»So!« sagte ich ernsthaft. – »Wo hat er es denn?«
»Hier am Halse hängt es ihm; aber er wird es mir wiedergeben, nachdem es ihn beschützt hat.«
»Und was hat die Zaubertrommel gesagt?« fragte ich Nachbar Stalo.
»Er ist unschuldig.« antwortete er. »Der Dieb ist aus dem Osten gekommen, sagt die Trommel; er ist ein Kainolatspiätnak, der sogleich mit dem Silber entflohen ist.«
»Ist dies gewiß?«
»Die Trommel irrt sich nie. Sie ist sicherer als das Wort eines Storfar, der aus der Bibel redet!«
»Lästere nicht, Attje Stalo!« warnte ich ihn. »Die Rede eurer Trommel ist nicht so viel wert wie das Wort eines gewöhnlichen Schneeschuhes!«
»Du scherzest, Härra, denn ein Ski kann niemals reden.«
»Er redet sicherer und wahrer als deine Trommel, und er beschützt die beiden Wuossah des Vater Pent viel besser als sein schlechter Saiwa tjalem thun konnte!«
»Mein Saiwa tjalem ist gut.« behauptete Pent. »Laß doch einmal einen Schneeschuh reden, Härra!«
»Gut, du sollst ihn reden hören und dann dein Papier in das Feuer werfen.«
Ich ging hinaus und holte den betreffenden Ski herein.
»Ist dieser Ski dein Eigentum?« fragte ich den Knecht nochmals.
»Ja.« lachte er höhnisch.
»Seht ihr diese Narbe an der Sohle? Sie ist der Mund, durch den er redet. Sie hat sich in den Schnee abgedrückt dort, wo Pawek den Vater Pent bestahl, und sie hat sich abgedrückt auf dem ganzen Wege bis hierher. Sie hat mir gesagt, daß kein anderer der Dieb ist, als er, und sie sagt mir auch, an welchem Orte er das Silber versteckt hat.«
»Laß dir doch einmal den Ort von ihr sagen!« grinste der Knecht.
»Das wird sie sofort thun,« antwortete ich. »Zunächst sagt sie mir, daß du die beiden Wuossah mit dem Silber in deinen Tabaksbeutel gesteckt hast. Zeige mir den Beutel!«
Jetzt wurde er plötzlich außerordentlich verlegen.
»Ich habe ihn verloren.« antwortete er zögernd.
»Das ist eine Lüge, denn dieser Schneeschuh sagt mir, daß du ihn hier in der Nähe versteckt hast. Folgt mir! In der Zeit, in welcher man drei ›Attje mijen, jukko leh almesne‹ betet, sollt ihr an dem Orte sein, wo er seinen Tabaksbeutel mit dem Silber versteckt hat!«
»Härra, ist dies wahr?« rief Pent.
»Ja!«
»Wirklich? Dann gelobe ich dir, das Saiwa tjalem in das Feuer zu werfen und niemals wieder auf die Zaubertrommel zu hören!«
»Ich nehme dich beim Worte! Kommt, aber paßt auf, daß uns der Bursche nicht entflieht!«
Ich schritt voran, und die andern folgten. Als ich die Stelle erreichte, wo sich die Spur des Knechtes deutlich erkennen ließ, deutete ich in den Schnee.
»Bückt euch nieder und seht, wie deutlich dieser Schuh redet. Seine Sprache ist sicherer als diejenige der Zaubertrommel; aber ihr verschließt eure Augen und Ohren, um nicht zu sehen und nicht zu hören!«
Ich ging voran; Pent und Stalo folgten, den Knecht zwischen sich, und die beiden Frauen bildeten den Beschluß. So erreichten wir den Hörnerzaun, wo Stalo in einige Aufregung geriet.
»Hierher führst du uns, Härra?« rief er. »Weißt du nicht, daß dieser Ort verboten ist?«
»Ein ehrlicher Mann soll diesen Ort nicht betreten, aber ein Dieb darf den Raub hier verbergen? O, Nachbar Stalo, du bist wirklich kein guter Christ, du bist ein arger Heide! Siehe, hier hört die Spur des Schuhes auf, und hier – hier hängt ein Beutel. Siehe, ob es derjenige deines Knechtes ist!«
Die Wirkung dieser Worte und der damit verbundenen Bewegungen läßt sich gar nicht beschreiben. Ich hatte mich gebückt, um den Beutel wegzunehmen, und hielt ihn nun empor.
»Er ist es, es ist sein Beutel!« rief Stalo.
Seine Frauen stimmten bei, und Vater Pent bat mit sehnsüchtig ausgestreckten Armen:
»Härra, öffne ihn, ob meine beiden Wuossah darinnen sind!«
»Sie sind darin. Hier öffne selbst!«
Er griff gierig zu, entfernte die Schnur und zog wirklich seine beiden Geldbeutel heraus.
»Ich muß zählen!« rief er, sich niederkauernd.
Sofort kauerte auch Nachbar Stalo mit den beiden Frauenzimmern an seiner Seite. Sie waren natürlich ungeheuer neugierig, zu wissen, wie viel der alte Pent versteckt gehabt hatte. Kein Mensch beobachtete den Knecht, der sich heimlich von dannen schlich. Ich ließ ihn gewähren; er mochte immer entkommen; seine Strafe hätte ja immer nur darin bestanden, daß er fortgejagt wurde. Aber ich folgte ihm langsam nach, um darüber zu wachen, daß er keinen weiteren Schaden anrichte. Er beeilte sich, ein Ren zu erwischen, legte demselben ein Pakke über, hing es an einen alten Schlitten und setzte sich auf, nachdem er noch schnell einigen Proviant zu sich genommen hatte. Es waren seit der Entdeckung des Beutels kaum drei Minuten vergangen, so sauste er davon.
Ich war nur bis an den Rand des Gehölzes gegangen, von wo aus ich ihn beobachten konnte. Jetzt hörte ich hinter mir Vater Pents jubelnden Ruf:
»Tjuote-kwekte-lokke-nala ... hundert und zwölf! Es ist richtig! Es ist mein ganzes Silber! Härra! Wo ist der Härra?«
»Hier!« rief ich.
Sie kamen herbeigelaufen.
»Härra, du hast recht!« rief er. »Ich werde mein Saiwa tjalem in das Feuer werfen!«
»Und auch die Zaubertrommel nicht mehr fragen?«
»Niemals! Hier, Härra, hast du zwei Stück von diesen hundertzwölf! Ich bin sehr dankbar, und du hast sie verdient!«
Ich schob lachend seine Hand mit den zwei Thalern zurück.
»Behalte sie! Ich nehme sie nicht.«
»O, Härra, wie gütig bist du! Laß uns nach Hause eilen! Ich muß Mutter Snjära erzählen, wie glücklich ich bin! Aber wo ist der Knecht?«
»Dort!«
Ich deutete nach dem Schlitten, welcher nur noch einen Punkt auf dem fernen Schnee bildete.
»Entflohen!« riefen sie alle.
»Laßt ihn!« bat ich. »Er mag sich in der Ferne einen anderen Herrn suchen. Aber du hast recht; wir müssen eilen, denn Mutter Snjära weiß gar nicht, wo wir uns befinden.«
Aber der Abschied ging denn doch nicht so schnell von statten, da wir erst noch einen kleinen Imbiß und einen Juckastaka nehmen mußten. Erst als dies geschehen und das Abenteuer noch ausführlich besprochen worden war, traten wir mit unseren Schneeschuhen den Rückweg wieder an.
Wer fest in den Knien ist, dem fällt der Schneeschuhlauf nicht schwer, und Vater Pent flog jetzt bedeutend leichter hin als vorher, wo er kein schweres Silber zu tragen hatte. In zwei Stunden erreichten wir die Hütte, deren Bewohner bereits begonnen hatten, sich um uns zu sorgen.
Als wir beim Bärenfleisch um das Feuer saßen, erzählte er das ganze Ereignis. Die Folge seiner Darstellung war ein stürmisches Lob, welches mir von allen Seiten entgegengebracht wurde. Onkel Sätte und der junge Neete reichten mir dankbar die Hand; Kakka Keira und Anda nickten mir freundlich-demütig zu; die schöne Marja aber lächelte so zauberisch fett, daß ihr Gesicht einem geschälten Schinken glich, der aus der Sauce kommt. Und die alte gute Mutter Snjära – –? O weh! Sie wandte sich an ihren Eheherrn in süßem Tone:
»Attje, to mon etsap ... Vater, ich liebe ihn!« Und dann wandte sie sich zu mir: »Tjalmit tappo; to mon kalkap tjulestet ... mach die Augen zu; ich werde dich küssen!«
Sie warf sich mit einer Vehemenz auf mich, als wolle sie mich ›karket‹ anstatt ›tjulest‹ und dieser einzige ›Tjulastak‹, den ich aus Lappland mit nach Hause gebracht habe, hatte ganz genau denselben Tonfall und dieselbe hydrodynamische Mächtigkeit, als wenn man Wasser aus einer Wärmeflasche laufen läßt. Ich gestehe, daß ich noch anderes zumachte als nur die Augen.
Vater Pent sah schmunzelnd zu und langte dann in eine seiner großen Taschen, aus welcher er den ›Talisman‹ hervorzog, den er in der Hütte des Nachbars dem Knecht abgenommen hatte, ehe wir uns nach dem Hörnerzaun begaben.
Er warf ihn wirklich in das Feuer und meinte dabei:
»Härra, hier thue ich, was ich dir gelobt habe. Du hast mir bewiesen, daß dieses Saiwa tjalem kein heiliges Schreiben ist; das Feuer mag es fressen. Du aber bleibe bei uns, so lange es dir gefällt, denn wir haben dich lieb und du bist so klug und freundlich, als ob du unser Sohn und Bruder seist – – mon kalkap wuortnot ... ich werde es beschwören!«
Das Feuer verzehrte die Zeilen des unbekannten ›Spaßvogels‹. Die Manen Heines aber werden es verzeihen, daß Vater Pent diese Verse nicht länger als ›Saiwa tjalem‹ auf dem Herzen trug. –