Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

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Siebentes Kapitel

Es schien nicht, daß der späte Besuch des Offiziers vom Generalstab des Marschalls in Begleitung eines unbekannten Fremden einen besonders erfreulichen Eindruck auf den alten Diener machte, denn er betrachtete die Ankommenden mit einer Miene nicht eben freudigen Erstaunens. Er führte dieselben jedoch mit der in den guten, altfranzösischen Häusern heimischen ruhigen Höflichkeit die Treppe hinauf und nach kurzer Anmeldung in das Zimmer seines Herrn.

Der Graf von Villebois, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, von hoher, schlanker Gestalt, war eine jener Erscheinungen, welche den Eindruck machen, als gehörten sie einer vergangenen Zeitepoche an und paßten nicht ganz in die Umgebung der Gegenwart. Dieses scharfe Gesicht mit den lebhaften Farben, dem kleinen, aufgedrehten Schnurrbart, den dunklen, blitzenden Augen und dem kurzen, fast ganz ergrauten Haar schien in seiner charakteristischen Eigentümlichkeit zu einem Kostüm aus der Zeit Heinrich IV. oder Ludwig XIII. zu gehören und aus einem jener Bilder herabgestiegen zu sein, welche man in den Ahnensälen der alten Schlösser findet.

Das große Zimmer, in welches der Kommandant Samuel und Herr Regnier geführt wurden, schien darauf hinzudeuten, daß der Geschmack seines Bewohners mit seiner äußern Erscheinung im Einklang stände. Es war ein lang ausgedehnter Raum, mit dunklem Holz getäfelt, alte Bilder und Schnitzereien bedeckten die Wände. An silbernen Ketten hing eine schön gearbeitete Lampe von der Mitte der Decke herab über einen ungeheuren eichenen Schreibtisch, dessen Platte auf marmornen Löwenfüßen ruhte und der mit Büchern und Papieren aller Art bedeckt war.

Der Graf von Villebois, in einen weiten Hausrock von schwarzem Samt gekleidet, der ebenfalls zu seiner Erscheinung und Umgebung paßte, hatte sich bei der Meldung seines Dieners aus einem tiefen Lehnstuhl erhoben und begrüßte den Eintretenden mit der feinsten Artigkeit eines vornehmen Weltmannes.

Er erklärte sich auf die von dem Kommandanten Samuel im Auftrag des Marschalls Bazaine ausgesprochene Bitte sogleich bereit, Herrn Regnier bei sich aufzunehmen, erteilte seine Befehle zur Herrichtung eines Zimmers für ihn und ersuchte dann Herrn Regnier, nachdem der Offizier sich entfernt hatte, mit ihm vor dem Feuer, welches im großen Kamin seines Zimmers brannte, Platz zu nehmen, um das kleine Souper zu erwarten, welches er unter entschuldigender Hinweisung auf die Beschränktheit der Vorräte während des Belagerungszustandes bestellt hatte.

»Man hat mich,« sagte er, als Herr Regnier ihm sein Bedauern aussprach, daß er als ein störender Gast in seine Häuslichkeit dringe, »man hat mich auf meine dringende Bitte mit militärischer Einquartierung so viel als möglich verschont – ich habe im Parterre meines Hauses mehrere Zimmer für Verwundete hergerichtet, welche die Ruhe nicht stören, deren ich dringend bedarf. Mein Sohn steht bei der Armee Mac Mahons, – ich habe seit langer Zeit keine Nachricht von ihm, was mich in schmerzliche Unruhe versetzt, aber er erfüllt die Pflicht des Soldaten, diese erste Pflicht eines jeden Edelmanns gegen sein Land, die Pflicht, die so viele meiner Vorfahren erfüllt haben, und das tröstet mich und läßt mich in Ergebung erwarten, was die Vorsehung über ihn beschlossen. Der Grund aber für die besondere Ruhe, deren ich hier bedarf, ist die Gesundheit meines zweiten Kindes, meiner Tochter, welche, immer von zarter Konstitution, durch die so furchtbar erschütternden Ereignisse der letzten Zeit in ihrem Nervenleben schwer angegriffen ist und tiefer Ruhe und sorgfältiger Pflege bedarf.«

»Aber, mein Herr Graf,« fiel Herr Regnier ein, »wenn Sie ein krankes Kind haben, so begreife ich nicht, daß Sie hier in Metz bleiben, wo Entbehrungen aller Art, das Getümmel und der Lärm des Krieges Sie umgeben und wo alle diese Leiden sich vielleicht immer mehr bis zur Unerträglichkeit steigern können. Man würde Ihnen doch gewiß erlauben, die Festung zu verlassen.«

Der Graf Villebois kräuselte leicht seinen aufwärts gerichteten Schnurrbart zwischen den Fingern.

»Die Besitzungen meiner Familie«, sagte er dann, »liegen in der Nähe von Metz, ich habe deshalb nach dem Beispiel meiner Vorfahren meinen Wohnsitz hier, wenn ich nicht auf meinen Gütern bin. Ich bin hierher gekommen, als der Krieg begann, und man soll nicht sagen, daß ich einen Platz verlasse aus Furcht vor dem Feind meines Landes und vor den Gefahren, welche doch die übrigen Bewohner der Stadt ebenfalls mit den Truppen teilen müssen. Ich habe gewünscht, meine Tochter von hier zu entfernen, aber sie lehnt es ab, die Stadt zu verlassen, obgleich sie die Unruhe um das Schicksal ihres Bruders, an dem sie mit einer fast unnatürlichen krankhaften Liebe hängt, geistig und körperlich aufreibt, und bei ihrem etwas überreizten Zustand fürchte ich, daß ein Drängen auf ihre Entfernung wider ihren Willen ihr gefährlicher werden könnte, als der Aufenthalt hier. So suche ich denn«, fuhr der Graf fort, »das traurige Schicksal so gut als möglich zu ertragen, indem ich die Verwundeten und Kranken, soviel ich kann, unterstütze und indem ich mich in meine Studien vertiefe, die mich zu den großen Geistern der Vergangenheit und zu den Forschungen nach der ewigen Wahrheit führen, welche hoch über den Kämpfen und Leiden des irdischen Menschengeschlechts dasteht.«

»Ich kann mich leider nicht«, erwiderte Herr Regnier, »zu dieser philosophischen Ruhe erheben unter den furchtbaren Schlägen, welche Frankreich betroffen haben. Ich bin hierher gekommen, um eine Mission zu erfüllen, zu welcher eine mächtige Stimme in meinem Innern mich drängt und an welche ich alle meine Kraft zu setzen entschlossen bin, die Mission, Frankreich den Frieden wieder zu geben und ihm zugleich die kaiserliche Regierung zu erhalten, welche, wie ich überzeugt bin, allein imstande ist, unserem Vaterland sichere Ordnung und dauernden, festen Wohlstand zu gewähren. Ich weiß nicht, ob Sie in dieser Beziehung mit mir übereinstimmen, Herr Graf?« fügte er in fragendem Ton hinzu.

»Mein Sohn«, erwiderte der Graf von Villebois, »gehört, wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu bemerken, zur kaiserlichen Armee.«

»Sie sprechen«, sagte Herr Regnier, »hier in Metz von einer kaiserlichen Armee, – im übrigen Frankreich kennt man eine solche nicht mehr. In Paris hat sich eine neue Regierung konstituiert, an deren Spitze Herr Gambetta, Jules Favre und sogar Rochefort stehen.«

Traurig seufzte der Graf auf. »Ich habe etwas davon gehört,« sagte er, »so abgeschlossen, wie wir sind, so dringen doch zuweilen Nachrichten zu uns durch aufgefangene Zeitungen und auch durch jenes eigentümliche Miasma, welches besonders geschaffen zu sein scheint, die Kunde großer Ereignisse durch die Luft fortzutragen. Ich sehe das für eine Krisis an, welche Frankreich in diesem Augenblick durchzumachen hat. –«

»So glauben Sie also«, rief Herr Regnier freudig, »an den Bestand und die Notwendigkeit der kaiserlichen Regierung?«

Der Graf von Villebois blickte einige Sekunden in die züngelnden Flammen und sprach dann, indem er langsam den Blick zu Herrn Regnier erhob:

»Ich bin zu wenig unterrichtet, mein Herr, über das, was draußen vorgeht, um mir ein Urteil darüber bilden zu können, ob die kaiserliche Regierung diese Krisis überdauern werde. Jedenfalls glaube ich nicht an den Bestand einer Autorität der Herren Gambetta und Rochefort – solche Leute verstehen nicht zu regieren, sie stehen nicht auf dem Boden der Geschichte, sie haben keine Fühlung mit dem Volk und seinen Bedürfnissen. Derartige Regierungen gehen stets vorüber wie Aprilschauer in der Zeit des Übergangs von einer Jahreszeit zur andern. Es gibt nur eine Macht, welche dauert und in ihren Grundelementen immer wiederkehrt, das ist der alte landsässige Adel einer Nation.«

»So glauben Sie also,« fragte Herr Regnier ganz erstaunt, »daß die legitime Monarchie der Bourbons aus der gegenwärtigen Krisis heraus wieder zur Herrschaft gelangen werde?«

»Das glaube ich nicht,« erwiderte der Graf Villebois kopfschüttelnd, – »ich habe mich nicht klar ausgedrückt und Veranlassung zu einem Mißverständnis gegeben, indem ich sagte, daß ich den landsässigen Adel für ein unzerstörbares und immer wiederkehrendes Element sicherer Herrschaft und fester Ordnung halte. Ich habe nicht damit diese oder jene Monarchie gemeint: der Adel, der im Volk wurzelt, der den Grund und Boden des Landes, die Quelle seines Reichtums und seiner Stellung seit Jahrhunderten in seinen Händen hält, hat allein das tiefgehende und instinktmäßige Verständnis für die wahren Interessen der Nation und die wahren Bedürfnisse des Volks; – zu ihm wird, unter welcher Regierungsform es auch immer sei, die Herrschaft früher oder später zurückkehren, zu ihm wird das Vertrauen des Volks sich wenden, denn das Volk fühlt ebenfalls instinktmäßig, daß sein Wohl und Wehe, seine Größe, sein Ruhm und sein Wohlstand mit dem seines alten Adels identisch ist.«

»Aber«, sagte Herr Regnier, »der alte Adel Frankreichs ist ja seit langer Zeit fast ganz aus unserer Geschichte verschwunden. Er sitzt zurückgezogen im Faubourg St. Germain – und kümmert sich wenig um alles, was in unserem Land und mit unserem Land geschieht,« fügte er mit einer gewissen Bitterkeit hinzu.

»Ich bitte um Verzeihung,« erwiderte der Graf von Villebois ruhig, »wenn ich Ihnen darin nicht ganz recht geben kann. Es sind viele Familien des alten Adels in den Dienst des Kaiserreichs getreten, wie zum Beispiel der Herzog von Gramont –«

»Der Frankreich in diesen unglückseligen, verderblichen Krieg stürzte –« rief Herr Regnier.

»Und der dabei doch nur«, fiel der Graf von Villebois ein, »dem Willen und dem Gefühl der ganzen Nation Ausdruck gab, wie das der alte Adel stets im Bösen wie im Guten getan hat. Doch«, fuhr er fort, »abgesehen von den einzelnen Namen, welche im unmittelbaren Dienst des Kaiserreichs standen, – glauben Sie, mein Herr, daß der Kaiser Napoleon sich jemals hätte auf den Thron heben oder sich auf demselben erhalten können, wenn überall in Frankreich der landsässige, historische Adel ihm ernstlich widerstanden hatte? Der alte, im Volk wurzelnde Adel hat durch seinen Einfluß die Plebiszite möglich gemacht, trotz aller Deklamationen der Advokaten und Kammerredner, und hätte er es nicht getan, so hätten weder die Bauern für den Kaiser gestimmt, noch hätte sich die Armee für ihn geschlagen.«

Herr Regnier blickte ganz erstaunt auf diesen Mann, welcher so ruhig und bestimmt, mit voller, fester und klarer Sicherheit Sätze aufstellte, die in den politischen Anschauungen unserer Tage nirgends mehr Platz finden.

»Aber«, sagte er, »ich kann nur wiederholen, Herr Graf, daß das ganze Faubourg St. Germain, das doch den alten Adel, den Sie im Sinn haben, repräsentiert, sich in kalter und feindlicher Abgeschlossenheit von der kaiserlichen Regierung zurückgehalten hat.«

»In abgeschlossener Zurückhaltung – ja –,« erwiderte der Graf, »nicht in feindlicher. Denn wäre dies der Fall gewesen, so hätte, wie ich schon zu bemerken mir erlaubte, nach meiner Überzeugung die kaiserliche Regierung nicht bestehen können. Aber auch diese Zurückhaltung, mein Herr, war nach meiner Überzeugung ein Fehler. Der alte Adel darf sich nicht von den öffentlichen Angelegenheiten zurückhalten, denn seine Dienste und seine Tätigkeit gehören dem Land, das ewig bleibt, nicht der einen oder der anderen der Regierungsformen, welche kommen und nach längerem oder kürzerem Bestehen wieder vergehen, – wie sie ja in der Geschichte Frankreichs schon so oft gekommen und vergangen sind. Ich habe es nie begriffen, warum so viele unserer alten Familien sich mit Eigensinn an die Erinnerungen der bourbonischen Monarchie klammern und diese Erinnerungen zu einem geheiligten und unantastbaren Prinzip erheben. Waren nicht vor den Bourbons die Valois, vor den Valois die Capetinger und Karolinger, welche wieder die merowingischen Herrscher vom Thron gestoßen haben? Alle diese einzelnen Familien, denen Glück und Verdienst die Krone gegeben, haben kein älteres, kein heiligeres Anrecht an die Herrschaft, als alle anderen Familien des angesessenen Adels, welche mit dem Schicksal ihres Landes eins sind. Die bourbonische Monarchie, mein Herr, ist nach meiner Überzeugung unwiderruflich vergangen, sie ist eine Erinnerung, eine auch für mich ehrwürdige Erinnerung, aber sie ist kein Prinzip. Mein Prinzip ist allein Frankreich, und dem, der Frankreich würdig und kraftvoll repräsentiert, gehören meine Ergebenheit und meine Dienste. – »Ich glaube nicht«, fuhr er fort, »an die Möglichkeit einer Dauer großer Republiken. Könnte eine solche Möglichkeit aber eintreten, warum sollte Frankreich nicht als Republik groß, mächtig und blühend sein? Nur müßte dann freilich diese Republik nicht von Herrn Gambetta und Rochefort, sondern von dem alten Adel des Landes regiert sein. Jene Herren sind Individuen, die entstehen und vergehen und keine innere Beziehung zur Nation, zum Land haben. Der alte Adel aber ist die Vertretung einer Rasse, und diese Rasse ist wieder die Inkarnation des wahren Volksgeistes. Sie sehen also,« fuhr er lächelnd fort, »daß ich kein Gegner des Kaiserreichs bin, daß ich aber die napoleonische Tradition in der historischen Entwicklung Frankreichs ebensowenig für ein unantastbares Prinzip halten kann, wie diejenige des bourbonischen Königtums. Vielleicht«, sagte er sinnend, »das Kaiserreich für uns heute eine Notwendigkeit und wird es so lange bleiben, als es versteht, Frankreich in sich zu verkörpern, wie dies Ludwig XIV., Franz I. und alle großen Vertreter der vergangenen Dynastien verstanden.«

Herr Regnier schüttelte schweigend den Kopf. Er schien diese Auffassung nicht recht zu begreifen, aber auch einen Grund gegen dieselbe nicht zu finden oder sie nicht diskutieren zu wollen.

Die Tür des Zimmers wurde geöffnet, und unter Vortritt des alten Dieners trugen zwei Lakaien einen bereits servierten Tisch mit drei Kuverts herein, den sie in die Nähe des Kamins stellten.

»Ich biete Ihnen, mein Herr,« sagte der Graf von Villebois, »was wir hier in der belagerten Festung haben können. Ich kann Ihnen keine Probe von dem jetzt hier so viel konsumierten Pferdefleisch geben. Ich habe mich noch nicht dazu entschließen können, zu diesem Nahrungsmittel zu greifen –«

»Ich muß gestehen,« fiel Herr Regnier ein, »daß ich auch einen starken Widerwillen dagegen haben würde.«

»Es ist nicht das,« erwiderte der Graf von Villebois, »das Pferd wird nicht anders ernährt als die übrigen Gras und Kräuter fressenden Tiere und könnte mir deshalb keinen Widerwillen erregen. Aber es ist ein zu edles Geschöpf, es ist der Gefährte des Menschen in der Arbeit, im Vergnügen und im Kampf; dieses Tier zu essen würde mir, ich muß es gestehen, ein wenig kannibalisch vorkommen; – solange meine Vorräte reichen, werde ich mich davon fernhalten. Jetzt bin ich noch auf einige Zeit versehen, da ich vor dem Beginn der Einschließung darauf Bedacht genommen habe, mich zu verproviantieren.«

In der Tat konnte das kleine Souper, welches man in das Zimmer getragen, Herrn Regnier den Zustand der Belagerten noch nicht in gar zu trostlosem Licht erscheinen lassen. Es bestand aus Terrinen von Straßburg und Nérac, aus komprimiertem Gemüse und aus Bouillon von jenen kondensierten Fleischkugeln, zu denen der große deutsche Gelehrte die Idee und die australischen Rinderherden ihr Fleisch hergegeben haben.

Nach einigen Augenblicken trat eine junge Dame in schwarzer Toilette, von schlanker, fast gebrechlich zarter Gestalt, in das Zimmer. Die Farbe ihres reichen Haares glänzte in jenem eigentümlichen, tiefdunklen Kastanienbraun, welches wie ein leichter, goldener Hauch über einem schwarzen Untergrund erscheint. Die großen, mandelförmig geschnittenen Augen hatten die so seltene, eigentümlich anziehende rehbraune Farbe, die Züge des Gesichts waren vom edelsten Schnitt, und die junge Dame wäre von vollendeter Schönheit gewesen, wenn nicht ein Ausdruck von tiefer Kränklichkeit auf ihrem Gesicht gelegen hätte, vermischt mit einem Zug abstoßenden, höhnischen Hochmuts, der ihren feinen Mund entstellte.

»Ich habe die Ehre, dir Herrn Regnier vorzustellen, meine Tochter,« sagte der Graf von Villebois mit ausgezeichneter Höflichkeit, »der uns die Freude macht, bis morgen unsere Gastfreundschaft anzunehmen.«

Fräulein Hortense von Villebois streifte Herrn Regnier mit einem schnellen Blick, der nicht gleichgültiger hätte sein können, wenn, er auf einen Stuhl oder irgendein anderes Möbel des Zimmers gefallen wäre. Die Neigung ihres Kopfes, mit welcher sie die tiefe Verbeugung des Herrn Regnier erwiderte, war kaum zu bemerken, und hätte ebensogut eine unwillkürlich zufällige Bewegung als ein Gruß sein können, und als Herr Regnier einige Worte des Bedauerns darüber an sie richtete, daß eine junge Dame von zarter Gesundheit gezwungen sei, die Entbehrungen und Leiden einer Belagerung durchzumachen, erwiderte sie mit kurzem Ton:

»Es ist in der Tat recht unangenehm und langweilig, aber es muß durchgemacht werden.«

Und ohne Herrn Regnier auch nur anzusehen oder den Kopf nach ihm zu wenden, nahm sie vor dem Kuvert in der Mitte des Tisches Platz, während der Graf und Herr Regnier, der ganz erstaunt war über diese mit der seinen Höflichkeit des Hausherrn so wenig übereinstimmende Behandlung, an ihrer Seite Platz nahmen.

»Es ist der eigene Wille meiner Tochter,« sagte der Graf, indem er forschend und unruhig in das Gesicht des Fräulein Hortense blickte, auf welchem tiefe Blässe und schnell vorüberfliegende Röte miteinander wechselten, – »es ist der eigene Wille meiner Tochter, hier zu bleiben, ich bin überzeugt, daß man ihrer Entfernung durch die Vorposten kein Hindernis in den Weg legen und ihr gewiß gern erlauben würde, sich auf das Schloß einer Kusine von mir hinter der Loire zu begeben, wo sie mehr Ruhe und Pflege finden würde als hier und vielleicht auch Nachforschungen nach meinem Sohn anstellen könnte, dessen Schicksal sie und mich so sehr bekümmert. Herr Regnier ist gewiß derselben Ansicht –«

Das Gesicht der jungen Dame färbte sich bei den letzten Worten ihres Vaters mit einer dunklen Purpurröte, und mit blitzenden Augen erwiderte sie:

»Die Ansicht dieses Herrn über meine Handlung und über das, was möglich und richtig wäre, kann mich nicht bestimmen. Mein Entschluß ist gefaßt, mein Platz ist hier an deiner Seite, mein Vater, und meinen armen Bruder«, fügte sie, schnell wieder erbleichend, hinzu, »würde ich dort hinter der Loire doch nicht finden, er ist gewiß nicht dort, wo man vor dem Feind sicher ist.«

Herr Regnier blickte bei diesen, in fast beleidigendem, hartem und feindlichem Ton gesprochenen Worten ganz verwundert den Grafen an, der ihn mit einem Wink seiner Augen und einem leichten Achselzucken zu bitten schien, das Betragen seiner Tochter zu verzeihen.

Fräulein Hortense ergriff die Kristallkaraffe, in welcher der dunkelrote Wein von Bordeaux funkelte, und füllte das Glas ihres Vaters. Dann färbte sie durch einige Tropfen das klare Wasser in einem großen, vor ihr stehenden Kristallkelch mit einem leichten, rötlichen Schimmer und winkte darauf den im Hintergrund des Zimmers stehenden alten Diener herbei, um Herrn Regnier einzuschenken.

In gedrückter Stimmung, fast schweigend, verlief das Souper. Die junge Dame aß nur wenige Bissen und benetzte kaum ihre Lippen. Nach einer Viertelstunde erhob sie sich, bot ihrem Vater mit kindlicher Ehrerbietung ihre Wange zum Kuß, neigte, ohne die Augen aufzuschlagen, den Kopf ein wenig nach der Seite des Herrn Regnier hin und verließ das Zimmer.

»Ich bitte Sie, mein Herr,« sagte der Graf von Villebois, »das eigentümliche, abstoßende und verschlossene Betragen meiner Tochter nicht übelzunehmen. Sie ist leidend, ihr Nervensystem ist in hohem Grade abgespannt, und seit wir hier eingeschlossen und ohne Nachricht von meinem Sohn geblieben sind, hat sich ihrer eine menschenfeindliche Stimmung bemächtigt, welche ich durch keine Bitten und Vorstellungen überwinden kann. Sie spricht fast nichts, bleibt in sich zurückgezogen und hat«, fügte er seufzend hinzu, »zuweilen Anfälle eines starrkrampfähnlichen, magnetischen Schlafes, während dessen sie in einzelnen mühsam hervorgestoßenen und unzusammenhängenden Worten von ihrem Bruder spricht, dessen Bild ihr in ihren Träumen vorzuschweben scheint, dabei verweigert sie auf das bestimmteste, Metz zu verlassen, und so oft ich in sie dringe, gerät sie in einen Zustand heftiger Gereiztheit.«

Herr Regnier verneigte sich schweigend und führte das Gespräch auf andere Gegenstände.

Der Graf von Villebois vermied es mit zarter Rücksicht, auf den Zweck der Anwesenheit seines Gastes in Metz zurückzukommen, und entwickelte in zwangloser, leichter und freier Unterhaltung einen so reich gebildeten Geist und so viele mannigfaltige Kenntnisse, daß fast eine Stunde unmerklich verflogen war, als Herr Regnier sich erhob und um die Erlaubnis bat sich zurückzuziehen, um seinen Wirt nicht länger zu stören und seine eigenen Kräfte für den folgenden Tag wieder zu sammeln.

Der Graf bewegte die Glocke und befahl dem alten Kammerdiener, Herrn Reanier nach dem für ihn bereiteten Zimmer zu führen. Er begleitete seinen Gast bis zur Tür und verabschiedete sich mit einem herzlichen Wunsch für dessen ruhige Nacht, als schnell die Tür des Zimmers von außen sich öffnete und unmittelbar vor dem Grafen und Herrn Regnier auf der Schwelle Fräulein Hortense von Villebois erschien.

Die junge Dame trug ein schneeweißes Nachtgewand von feinem Battist, in welchem ihre Gestalt noch zarter und ätherischer erschien, als vorher in der dunklen Toilette. Die Flechten ihres schönen, braunen Haares hatten sich gelöst und hingen über die von dichten Spitzen umhüllten Schultern herab. Ihre Augen standen groß offen und leuchteten in einem wundersamen Glanz, der fast fühlbare Strahlen auszuströmen schien, ihre Züge waren belebt durch eine Art geistigen Lichtes, – aber in ihrem ganzen Gesicht war nichts mehr von jenem kalten, verletzenden Hochmut, von jener abwehrenden Gleichgültigkeit, deren Ausdruck vorher so unangenehm berührt hatte, – – stille Ruhe, fast demütige Sanftmut lag in ihrem Blick und in dem Lächeln ihres sonst so strengen und schmerzhaft verzogenen Mundes.

Sie blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen und streckte die Hand gegen den Grafen und Herrn Regnier aus, als wolle sie dieselben zurückhalten. Die beiden Herren blickten ganz bestürzt auf die so unerwartete und so außergewöhnliche Erscheinung dieses jungen Mädchens im Nachtgewand, mit den so vollständig veränderten Zügen, – der alte Diener hob den silbernen Armleuchter, den er in der Hand hielt, um Herrn Regnier nach seinem Zimmer zu geleiten, hoch empor und sah die Tochter seines Herrn so erschrocken an, als wäre ein Gespenst vor ihm erschienen, und im Vorzimmer stand, mit allen Zeichen höchster Angst und Unruhe, eine Kammerfrau, welche ihrer Herrin gefolgt war.

»Bleibe hier, mein Vater,« sagte das junge Mädchen mit einer sanften, weichen, demütig bittenden Stimme, – »und Sie, mein Herr,« fuhr sie fort, sich zu Herrn Regnier wendend, »bleiben Sie – Hortense muß sprechen, – sie dankt Gott, daß sie es kann, daß der finstere Bann, der auf ihrem Heizen und ihrer Zunge lag, gelöst ist, – ihr Blick ist klar und frei geworden, – sie kann schauen weithin in den Raum und die Zeit, und sie kann die Worte finden, um ihren Gedanken Ausdruck zu geben.«

Der Graf von Villebois schien durch den sanften und freundlichen Ton seiner Tochter ein wenig beruhigt, – er winkte mit der Hand, – der alte Diener verließ das Zimmer – auch Herr Regnier wollte sich zurückziehen – da rief Fräulein von Villebois schnell mit beinahe ängstlicher Stimme:

»Bleiben Sie, mein Herr, – Hortense hat mit Ihnen zu sprechen, – Sie sind hierher gesendet zu ihrer Rettung und ihrem Heil, Sie werden sie aus Metz führen, – sie wird ihren Bruder sehen, – sie wird ihn retten, – und dann – dann – wird sie der Zukunft entgegengehen, die Gott ihr bestimmt hat.«

Eine dunkle Röte überzog das Gesicht des jungen Mädchens, in lieblicher Verwirrung schlug sie die Augen nieder, und ein glückliches, verklärtes Lächeln spielte um ihren Mund.

Der Graf von Villebois zog einen Sessel heran, Fräulein Hortense wies denselben mit einer schnellen Bewegung der Hand zurück, trat mitten in das Zimmer, und in dem vollen Licht der Ampel, das von oben auf sie herabfiel, stand sie in feenhafter, fast überirdischer Schönheit da. Sie legte ihre schlanken Hände, die fast ebenso weiß waren wie das Spitzengewand, das sie umgab, über der Brust zusammen, richtete ihre großen, glänzenden Augen auf ihren Vater und sprach mit einer Stimme, die weich und melodisch aus den fast unbeweglichen Lippen hervordrang:

»Hortense ist glücklich, – der Schleier, der ihren inneren Blick verdunkelte, ist von ihr genommen, ihre Angst und Beklemmung ist gewichen, – sie hat ihren Bruder Charles gesehen, – er lebt, – er ist verwundet, aber nicht schwer, – er ist krank, sehr krank, – er liegt mit anderen gefangenen Verwundeten, die man nicht weiter hat transportieren können, in einem kleinen Hause eines Dorfes, zwei Meilen nördlich von Metz, – dies Dorf heißt Barlon und liegt ganz in der Nähe des Schlosses von Villebois –«

»Meines Schlosses, – des alten Stammsitzes meiner Familie!« rief der Graf erstaunt, – »in der Tat,« sagte er zu Herrn Regnier, – »ich erinnere mich, daß es dort ein kleines Dorf Barlon gibt, – es gehört nicht zu meinen Besitzungen, liegt aber hart an der Grenze.«

»Hortense wird ihren Bruder nach dem Schloß von Villebois führen,« sprach das junge Mädchen in demselben Ton und mit demselben verklärten Lächeln weiter, – »dort wird sie für viele Verwundete ein Asyl schaffen, sie wird ihren Bruder retten und mit ihm viele andere Brüder und Söhne trauernder Frauen, – dort,« sagte sie, abermals errötend und die Augen niederschlagend, – »dort wird sie auch ihr Glück und ihre Zukunft finden.«

»Wenn du dich entschlossen hast, Metz zu verlassen, meine Tochter,« sprach der Graf, »so möchte es jetzt vielleicht besser sein, daß ich den Versuch mache, dich zu begleiten –«

»Nein,« rief Fräulein von Villebois lebhaft, – »nein, – du würdest Schwierigkeiten finden, – auch gegen deine Überzeugung handeln, – nein, Hortense wird allein gehen, – sie muß allein gehen, denn so will es die Bestimmung der Vorsehung, – Herr Regnier wird sie geleiten,« fuhr sie immer schneller sprechend fort, – »er wird morgen die Festung mit mehreren Ärzten verlassen, – Hortense wird ihn begleiten in dem Gewand einer Krankenpflegerin der barmherzigen Schwestern, – sie wird dies Gewand nicht mit Unrecht tragen, nicht als eine bloße Verkleidung, denn sie wird sich dem Beruf der Pflege der Verwundeten mit aller Kraft und aller Liebe widmen, – das rote Kreuz wird ihr Heil und Glück bringen!«

»Aber, meine Tochter,« sagte der Graf kopfschüttelnd, – »auf diese Weise – allein – unter feindlichen Armeen, – Herr Regnier wird sich nicht weiter um dich kümmern können, – er muß seine Geschäfte verfolgen –«

»Wenn man sie hier zurückhält,« rief Fräulein Hortense, indem ein Ausdruck unsäglicher Angst auf ihrem Gesicht erschien, – »so wird sie sterben! – Verzeihen Sie,« sprach sie dann, indem sie einen Schritt näher zu Herrn Regnier trat, – »verzeihen Sie der Kranken ihre Unart, – sie hat viel zu leiden gehabt, sie wird auch morgen wieder in ihre Unart verfallen, wenn sie zu ihrem gewöhnlichen Leben wieder erwacht, – aber nehmen Sie sie mit sich – führen Sie sie ihrer Heilung, ihrem Glück entgegen, – sie wird Ihnen gehorchen, wenn Sie mit festem Willen zu ihr sprechen, – Sie werden nicht lange für sie zu sorgen haben, bald wird sie die ihr bestimmte Führung finden, und Sie, mein Herr,« fuhr sie mit tiefem Ernst fort, indem ihre Augen sich noch größer öffneten und in weite Fernen zu schauen schienen, – »Sie werden Ihren Weg verfolgen.«

»Und wohin wird dieser Weg mich führen?« fragte Herr Regnier zusammenschauernd unter dem so starren und doch von so fremdartigem, tief innerlichem Leben erfüllten Blick des jungen Mädchens.

»Sie gehen über das Meer,« sagte Fräulein Hortense, – »ein großes Gebäude wankt und kracht in seinen Fugen, – seine Säulen neigen sich, – seine goldenen Kuppeln erbeben, – woher nehmen Sie den Mut, diesem Zusammensturz sich entgegenstellen zu wollen? – Sie werden den Bau, den der Blitz des Himmels getroffen, nicht halten, – die Säulen brechen, – die Kuppeln stürzen – und aus den versinkenden Mauern schlagen die Flammen auf, – der Himmel verhüllt sich, – die Hölle ist heraufgestiegen, – ihre wildesten Dämonen regen die Flügel über Schutt und Asche, über verkohlten Leichen auf blutgetränkter Erde. – Armes Frankreich,« sagte sie leise, die Hand abwehrend gegen das Bild ausstreckend, das ihre Augen zu sehen schienen, »armes Frankreich, – denn Frankreich ist der herrliche, stolze Bau, der in Blut und Flammen dort zusammenstürzt, – Frankreich, das Hortense ihr Vaterland nannte, – und das sie bald verlassen wird,« fügte sie in kaum verständlichem Flüstern hinzu.

»Mein Gott,« rief Herr Regnier, »sollte es möglich sein, – sollte sich wirklich die Zukunft dem menschlichen Blick entschleiern können? – Sollte dies das Bild der Zukunft sein?«

Der Graf von Villebois sah düster und traurig auf seine Tochter hin, deren Blicke immer heller glänzten und sich immer schärfer auf ein vor ihr stehendes Bild zu konzentrieren schienen.

»Trauern Sie nicht, mein Herr,« sprach sie, – »die Buße muß vollzogen werden, diejenigen, an welche Sie denken, können Frankreich nicht retten, denn Schuld, blutige Schuld liegt auf ihnen, – und sie müssen diese Schuld sühnen, – harte Kämpfe, – schwere, reinigende Arbeit wird folgen, – aber Frankreich sinkt nicht für immer, eine reine Hand nur kann es retten, und diese Hand wird es retten, – die Hand eines Kindes, heute noch eines Kindes, das keinen Teil hat an der Schuld der Vergangenheit, – keinen Teil an dem Blut, dessen unauslöschliche Flecken an dem Lilienschild haften und das von den Fängen des Adlers trieft, – eines Kindes, das lernen wird und vergessen, – und das einst mit der Fahne des Friedens und der Versöhnung zu dem schwergeprüften Volk zurückkehren wird.«

Sie sah noch einige Augenblicke schweigend in das Leere, – dann senkten sich ihre Augen, – ein leichtes Zittern lief durch ihre Gestalt.

»Und dies Kind?« fragte Herr Regnier in athemloser Spannung.

»Das Bild verschwindet,« sagte Fräulein Hortense leise, – »ihr Geist zieht sich zurück in seine irdische Beschränkung, – sie sieht nicht mehr, – der Schlaf zieht seinen Schleier um ihr Haupt, – vergeßt nicht, sie hinauszusenden, – befolgt ihre Worte, – ihr Leben hängt daran –«

Ihre Worte erstarben, – sie schwankte, – der Graf eilte zu ihr hin und fing sie in seinen Armen auf.

Sanft ließ er sie auf einen Sessel nieder, – schwer sank ihr Haupt auf seinen Arm, – sie atmete tief in festem, ruhigem Schlaf.

»Welch ein wunderbarer Anfall!« rief der Graf in angstvollem Ton, – »in solcher Überreizung habe ich sie noch nie gesehen, – doch ihr Herz schlägt ruhig, – ihr Atem ist regelmäßig –«

»Es ist ein Somnambulezustand,« sagte Herr Regnier, noch ganz bewegt von dem Eindruck der sonderbaren Szene, – »man hat manche Beispiele, daß in solchem Zustand der geistige Blick weit hinausschaut über die Grenzen, die uns sonst einschließen.«

Er trat an den Kamin und blickte in tiefem Sinnen in die erlöschenden Flammen, während der Graf den alten Diener rief und mit demselben seine Tochter auf dem Sessel in ihr Schlafzimmer trug, wo die erschrockene Kammerfrau sie zu Bett brachte, ohne daß sie aus dem tiefen und ruhigen Schlaf erwachte, in den sie versunken war.

Der Graf blieb ernst und tiefbewegt am Bett seiner Tochter sitzen, – Herr Regnier wurde in sein Zimmer geführt, und in seine unruhigen Träume hinein tönten die Worte des jungen Mädchens: »Nur eine reine Hand kann Frankreich retten!«


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