Gregor Samarow
Held und Kaiser
Gregor Samarow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Längst hatte König Wilhelm mit seinem Stabe das Hauptquartier in Ferrières verlassen und war in die alte Residenz Ludwigs XIV. eingezogen, wo jener König, der sich so gern mit der Sonne vergleichen ließ, einst die Befehle zur Verwüstung der deutschen Länder erteilte, in denen noch heute Ruinen und Trümmer als Zeugen der unmenschlichen und schmachvollen Grausamkeit des damaligen Frankreichs zum Himmel emporstarren.

Nachdem Metz gefallen, nachdem alle Versuche der französischen Regierung, neue Armeen ins Feld zu stellen, gescheitert, war die letzte große Aufgabe der preußisch-deutschen Kriegführung, den Widerstand von Paris zu brechen. Denn solange Paris, welches man nach Viktor Hugos Vorgang »die heilige Stadt« zu nennen begann, solange dies Paris sich hielt und den so leicht zu täuschenden Franzosen den Glauben an seine Unüberwindlichkeit ließ, so lange war an eine Beendigung des Krieges, an einen Frieden, der die Tatsachen anerkannte, nicht zu denken.

Fest war der Gürtel um die riesige Stadt und ihre Forts gezogen, und ruhig warteten die deutschen Armeen auf den Tag, an welchem diese in der großen gewaltigen Stadt eingeschlossene Welt von Menschen aller Art und aller Stände ihre letzten Vorräte aufgezehrt haben würde. Alles war auf dem Posten. Der militärische Dienst wurde mit der größten Pünktlichkeit und Schärfe gehandhabt, denn alle aus Paris zurückkehrenden Kundschafter brachten die Nachricht, daß der General Trochu viel von einem großen Plan spreche, den er gefaßt, um durch einen Ausfall die Einschließung zu sprengen und einen Weg zu neuer Verproviantierung der Stadt zu öffnen, zugleich aber auch, um die Verbindung mit denjenigen Armeen herzustellen, welche die Pariser mit eigensinniger Zuversicht von der Loire her erwarteten.

Lange hatte man von diesem Plane der » grande trouée« von allen Gefangenen sprechen hören und auch in allen aus Paris herauskommenden Zeitungen gelesen, denn es war eine Eigentümlichkeit des Generals Trochu, daß alle seine militärischen Pläne und Absichten öffentlich diskutiert wurden, und man hatte sich daran gewöhnt, alles das für Redensarten zu halten, weil niemals etwas Ernstes darauf erfolgt war, und weil man in der Tat auch nach allen Mitteilungen, welche darüber anlangten, die französische Armee in Paris kaum noch einer ernsten Erhebung fähig hielt.

Man war daher zwar überrascht, aber in keiner Weise unvorbereitet, als in der Nacht vor dem 30. November die sämtlichen Forts um Paris, der Mont Valerien an der Spitze, unterstützt von den Kanonenbooten der Seine, ein Geschützfeuer eröffneten, bei dessen Donner der Himmel auf die Erde herabzustürzen schien und das in Versailles fast jede Unterhaltung auf der Straße unmöglich machte. Zu gleicher Zeit wurde von allen Höhen vor Paris elektrisches Licht über die Gegend hingeworfen, um die Bewegungen der Deutschen erkennen zu können und zugleich den eigenen Truppen Licht für ihr Vordringen zu gewähren.

Man hatte zunächst in Versailles diesen ganzen Lärm für eine jener nutzlosen und unberechenbaren Pulververschwendungen gehalten, welche die Franzosen in den Forts von Paris von Zeit zu Zeit vornahmen und bei welchen sie ihren Gegnern niemals Schaden zugefügt, bloß aber einmal ganz ungerechtfertigter und unbegründeter Weise das schöne, an historischen Erinnerungen so reiche Schloß von St. Cloud in Brand geschossen hatten.

Die entsetzlich lärmende Kanonade dauerte bis zum nächsten Tag am Nachmittag fort. Dann aber schwieg sie urplötzlich mit einem Schlag, und es zeigte sich, daß sie diesmal doch eine ernste Bedeutung gehabt habe, denn es traf die Meldung ein, daß sächsische Korps und die württembergische Division durch einen kräftigen und nachdrücklich geführten Ausfall von fünfzigtausend Mann wirklicher Linientruppen angegriffen worden wären. Auch von anderen Seiten liefen Meldungen über das Vordringen französischer Abteilungen ein, und es schien diesmal, als ob der General Trochu wirklich mit Ernst daran dächte, seinen lang gehegten und vielfach diskutierten Plan der grande trouée mit Energie zur Ausführung zu bringen.

Der Ausfall war auch insofern von Erfolg gekrönt gewesen, als die Franzosen die Stellung bei Champigny genommen hatten und es nicht gelungen war, sie wieder zurückzuwerfen; die französischen Truppen übernachteten auf einem von ihnen eroberten und gegen die Deutschen behaupteten Schlachtfelde. Die Lage war bedenklich, denn wenn es den Franzosen gelang, die Stellung bei Champigny festzuhalten und einen Vorstoß in das Marnetal nach Lagny hin zu machen, so war die Trouée fertig und die Einschließungsarmee war in ihrer Verbindungslinie mit Deutschland bedroht.

Noch spät am Abend wurde der General von Moltke zum König gerufen, und lange dauerte die Unterredung über die am nächsten Morgen zu treffenden Maßregeln.

Am folgenden Tage gelang es, allerdings mit großen Anstrengungen, die Bewegungen des Ausfalls aufzuhalten, aber viel Blut war geflossen, schwere Verluste waren auf beiden Seiten, die Franzosen hatten sich mit einer außerordentlichen Tapferkeit geschlagen und das Dorf Champigny befand sich noch in ihren Händen.

Als der Morgen des 3. Dezember heraufstieg – es war während der Nacht sehr kalt geworden, dichtes Schneegestöber erfüllte die Luft und hüllte die Erde in eine weiße Decke ein – schwieg der Kampf, dennoch aber war die zweite Pariser Armee im Osten noch nicht wieder hinter die Forts zurückgezogen, und man mußte jeden Augenblick eine Erneuerung der Feindseligkeiten erwarten; drei französische Armeekorps marschierten zwischen den Dörfern Brie und Champigny in Schlachtordnung auf, so daß sie sich noch unter dem Schutz der Kanonen der Forts befanden, aber in jedem Augenblick gegen den deutschen rechten Flügel vorstoßen konnten.

Der König war schon früh aufgestanden, hatte die Meldungen von den verschiedenen Truppenkorps empfangen und die Disposition getroffen, daß die deutsche Artillerie eine solche Aufstellung einnehme, um die französischen Truppen bei einem Vormarsch aus dem Bereich der Forts sogleich in ihr Feuer zu nehmen.

Dann war Seine Majestät zum Großherzog von Baden gefahren, um seine Gratulation zu dem Geburtstag der Großherzogin, der einzigen Tochter des Königs, abzustatten. Nach kurzem, herzlichem Glückwunsch kehrte der König wieder in die Präfektur zurück. Während Seine Majestät sich hier noch mit der schnellen Durchsicht einiger neu eingegangenen Meldungen beschäftigte, fuhr ein kräftiger Mann militärischer Haltung in der Feldzeugmeisteruniform der königlich bayerischen Armee, mit dem Band und dem Stern des preußischen Schwarzen Adlerordens geschmückt, in einem leichten offenen Jagdwagen in den großen Ehrenhof der Präfektur ein. Er stieg aus und schritt an den präsentierenden Wachen vorbei die große Treppe hinauf zu der rechtsliegenden Wohnung des Königs, welche aus einem Vorzimmer, einem Arbeitszimmer und einem Schlafzimmer bestand.

Bei seinem Eintritt in das Vorzimmer erhob sich der Flügeladjutant vom Dienst schnell mit ehrerbietigem Gruß, eilte nach einem kurzen Schlag an die Tür in das Kabinett des Königs und meldete:

»Seine Königliche Hoheit, der Prinz Luitpold von Bayern.«

Der König blickte ernst auf, neigte den Kopf und trat dann langsam, wie in tiefen Gedanken sich erhebend, dem Prinzen entgegen, hinter welchem der Adjutant vom Dienst die Tür schloß.

»Ich heiße Eure Königliche Hoheit herzlich willkommen im Hauptquartier der deutschen Armee. Sie werden sich von neuem überzeugen können, einen wie herrlichen Anteil Ihre bayerischen Truppen an unseren Siegen in Anspruch nehmen können. Wir haben in diesen Tagen neue Kämpfe zu bestehen gehabt, die ernster als je zuvor waren und noch nicht abgeschlossen sind. Vielleicht wird es Ihren bayerischen Korps auch noch vorbehalten sein, sich neuen Ruhm zu erkämpfen.«

»Ich freue mich von Herzen, Majestät,« erwiderte der Prinz in seinem etwas süddeutsch anklingenden Dialekt, »daß unsre Bayern sich ein so ausgezeichnetes Lob erworben haben. Es sind brave, vortreffliche Soldaten, und wenn sie so ausgezeichnet geführt werden, wie von Seiner königlichen Hoheit dem Kronprinzen, so kann ihnen der Sieg nicht fehlen.«

Der König hatte den Prinzen zu einem Sessel neben seinem Schreibtisch geführt und nahm selbst vor demselben Platz.

Eine kleine Pause trat ein.

Dann zog der Prinz aus seiner Uniform einen viereckigen, groß gesiegelten Brief und sagte:

»Der König hat mich beauftragt, Eurer Majestät dies Schreiben, das er an Allerhöchstdieselben gerichtet, zu übergeben.«

Der König Wilhelm empfing den Brief und sprach, gegen den Prinzen sich verneigend:

»Eure Königliche Hoheit erlauben.«

Dann erbrach er das Siegel, zog ein Schreiben hervor und durchlas den Inhalt. Immer ernster wurde sein Gesicht, wählend er die Zeilen auf dem Papier verfolgte, und fast traurig blickte er, als er zu Ende gelesen, noch einige Sekunden zur Erde nieder. Dann faltete er den Brief zusammen, legte ihn auf den Schreibtisch neben sich und fragte:

»Eure Königliche Hoheit kennen den Inhalt dieses Briefes?«

»Ich kenne ihn, Majestät,« erwiderte der Prinz, »und ich bin glücklich, daß der König, mein Neffe, mich gewählt hat, um dies hochbedeutungsvolle Schreiben in Eurer Majestät Hände zu legen. Möge der heutige Tag, an welchem der erste Grundstein zum Wiederaufbau des deutschen Reichs gelegt wird, reichen Segen über Deutschlands Fürsten und Völker und über Eurer Majestät kaiserliches Haupt bringen.«

Der König reichte dem Prinzen die Hand und sprach mit feierlichem Ernst:

»Es ist eine schwere, verhängnisvolle Aufgabe, welche an mich herantritt. Das deutsche Volk hat ja so lange von seiner Einheit geträumt und darnach gerungen, – in einer Zeit unklarer und mißgeleiteter Bewegungen hatte schon das Parlament in Frankfurt meinem in Gott ruhenden Bruder diese Kaiserkrone angeboten. Er hat sie zurückgewiesen und zurückweisen müssen, weil die kaiserliche Hoheit nur übertragen werden kann durch den freien Entschluß und die freie Wahl der deutschen Fürsten, deren Gesamtheit die Souveränität der Nation in sich schließt. Und noch ein wahres und bedeutungsvolles Wort sprach mein Bruder bei jener Gelegenheit, als er sagte: ›Eine Kaiserkrone kann nur auf einem Schlachtfeld erworben werden.‹ Heute«, fuhr er fort, »trifft beides zu; – auf ewig ruhmvollen Schlachtfeldern ist die deutsche Einheit gekittet mit dem Blut der Krieger aus allen Stammen des Vaterlandes, – mir ist es vergönnt gewesen, nach dem gnädigen Ratschluß Gottes, die vereinigten Heere des großen Vaterlandes zum Siege zu führen, und nun wird mir von Ihrem königlichen Neffen, meinem ersten Bundesgenossen, die deutsche Kaiserkrone entgegengetragen, der Zustimmung der übrigen Fürsten und freien Städte gewiß. Heute darf ich diese Krone annehmen und muß sie annehmen, aber ich bin mir bewußt, daß es mir ferngelegen hat, nach ihr zu streben, daß es mir fernliegt,« fügte er mit Betonung hinzu, »mich über meine Verbündeten erheben zu wollen. Ich bin mir bewußt, daß ich für mich und mein Haus eine ernste, schwere und heilige Pflicht übernehme, und ebenso wie ich in dem Rest meines Lebens alle Kraft daransetzen werde, diese Pflicht zu erfüllen, so weiß ich auch, daß meine Nachfolger alle ihr Leben der neuen, großen Aufgabe ebenso treu und eifrig widmen werden, wie meine Vorfahren sich der Sorge für ihr Königreich Preußen gewidmet haben. Ich werde Seiner Majestät unverzüglich antworten, – wir werden heute wohl noch ein wenig zu tun haben,« sagte er dann, »die Franzosen haben einen sehr ernsten Ausfall gemacht, und wenn sie auch zum Stehen gebracht sind, so haben wir sie doch noch nicht zurückgeworfen. Es scheint, daß die Armee in Paris seit einiger Zeit besser organisiert ist, denn die französischen Truppen haben sich bei diesem Ausfall wirklich vortrefflich geschlagen und uns viele Mühe gemacht.«

»Es ist tief zu beklagen,« sagte der Prinz Luitpold, »daß die gegenwärtigen Machthaber in Frankreich den Sieg der deutschen Waffen noch immer nicht anerkennen wollen und durch diesen törichten und zwecklosen Widerstand noch so viel Blut vergießen lassen.«

Der König schüttelte den Kopf.

»Es sind nicht die gegenwärtigen Machthaber,« sagte er, »es ist die französische Nation selbst, welche sich sträubt, an ihre Niederlagen zu glauben, und keine Regierung würde in diesem Augenblick imstande sein, Frieden zu schließen, bei jedem Versuch dazu müßte sie verschwinden. Sie müssen erst noch empfindlicher unsere Macht fühlen, ihre letzte Hoffnung muß zerstört, Paris muß genommen sein, bevor sie an Frieden denken werden, und das kann allerdings noch viele, viele Menschenleben kosten. Aber vielleicht ist es gut so,« fuhr er fort, »vielleicht müssen sie erst die volle Wucht der deutschen geeinigten Nationalkraft in ihrer ganzen Schwere empfinden, um künftig den Frieden zu halten und den Glauben zu verlieren, daß sie Deutschland ungestraft angreifen dürfen.«

»Ich habe mit großer Freude vernommen,« sagte Prinz Luitpold, »daß der Großherzog von Mecklenburg einen wichtigen Sieg über die Loirearmee erfochten hat –«

»Ja,« sagte der König, »das ist ein wichtiger Erfolg, den wir dem Großherzog danken. Er hat den General Chanzy zurückgeworfen, der sich in seinen Operationen bisher als den geschicktesten und für uns gefährlichsten unter den französischen Generalen gezeigt hat. Für die Unterwerfung von Paris ist es von der größten Bedeutung, daß die Loirearmee vollständig zurückgedrängt und von jeder Verbindung mit Paris oder mit der Nordarmee des Generals Bourbaki abgeschnitten werde. Ich fürchte aber, mit dem jetzigen Erfolg des Großherzogs von Mecklenburg wird die Sache noch nicht abgemacht sein, und auch dort werden wir noch viele Kämpfe zu bestehen haben. Wir haben einen schwierigen und gefährlichen Teil des Krieges noch vor uns,« sagte er seufzend.

»Doch an dem glücklichen und ruhmvollen Ende desselben ist nicht mehr zu zweifeln,« erwiderte Prinz Luitpold. »Gott hat die deutschen Waffen bisher so sichtbar gesegnet und wird unsere heilige und gerechte Sache auch bis zum letzten, vollen und ganzen Siege hinausführen.«

»Dessen bin ich gewiß,« rief der König, »und nachdem das Schwert Deutschlands einmal gezogen ist, soll es wahrlich nicht eher in die Scheide zurückkehren, als bis der volle Preis des Kampfes in unseren Händen ist!«

Der Prinz stand auf.

»Ich bitte Eure Königliche Hoheit,« sagte König Wilhelm, »dem König Ludwig zunächst meinen freundlichsten und herzlichsten Dank zu melden, meine Antwort wird in kürzester Frist erfolgen.«

Er begleitete den Prinzen bis zur Tür und verabschiedete sich von ihm mit herzlichem Händedruck. Unmittelbar darauf trat der Flügeladjutant vom Dienst ein und meldete den Prinzen von Grusien, Generaladjutanten des Kaisers von Rußland.

Auf den zustimmenden Wink des Königs trat dieser Prinz vom alten grusischen Fürstenstamm, ein hoher, schlanker Mann mit schönen, edlen Gesichtszügen, in der großen Uniform der russischen Generaladjutanten in das Zimmer und meldete sich militärisch dem König als Überbringer eines Schreibens Seiner Majestät des Kaisers, das er in der Hand trug und dem König ehrerbietig überreichte.

König Wilhelm tat einige herzliche, freundliche Fragen nach dem Befinden des Kaisers Alexander, sowie nach dem Quartier und der Aufnahme des Prinzen, und entließ denselben dann mit einer Einladung zur Tafel und dem Wunsch, ihn einige Zeit im Hauptquartier bei sich zu sehen, damit er von allem Sehenswürdigen und Beachtenswerten Kenntnis nehme und dem Kaiser darüber Bericht erstatten könnte.

Nachdem der Prinz sich wieder entfernt, setzte sich der König vor seinen Schreibtisch und erbrach den Brief des Kaisers von Rußland, den er langsam und sinnend durchlas.

»Welch eine wunderbare, entscheidungsreiche Zeit!« sagte er dann. »Wie gewaltig haben diese wenigen Monate in die Weltgeschichte eingegriffen, welche sonst Jahre und Jahre lang kaum vorwärts schreitet! Wie hätte ich ahnen können, als ich diese Organisation meiner Armee in mir trug und durchdachte, als ich sie unter so großen Schwierigkeiten und gegen so vielen Widerstand zur Ausführung brachte, – daß sie noch unter meiner Regierung so ungeheuer welterschütternde Erfolge erringen sollte! Ganz Europa ist umgestaltet in dieser kurzen Spanne Zeit und umgestaltet durch die unvergleichlichen Taten meiner Truppen. Dieses stolze französische Kaiserreich liegt in Trümmern, Deutschland, das noch vor vier Jahren sich gegen mich erhob und Preußen niederbeugen wollte, ersteht jetzt zu einem einigen Reich und trägt in freiem Entschluß meinem Hause seine Kaiserkrone entgegen. Und an den fernen Küsten des Schwarzen Meeres erhebt sich Rußland wieder von den Niederlagen, deren schmerzliche Folgen es so lange getragen hat, – er verdient es, der Kaiser Alexander, um seiner treuen und festen Freundschaft willen, die er mir bewiesen hat und die ihren schwerwiegenden Anteil in Anspruch nehmen darf an den glänzenden Erfolgen dieser Tage. Aber wahrlich, ein herrliches, stolzes Gefühl ist es, daß Gott mich so hoch begnadigt hat, es zu erleben, wie mein Preußen allen Gegnern zum Trotz so hoch dasteht, daß die Spitze seines Degens die Welt umgestaltet vom atlantischen Ozean bis zu den Grenzen Asiens. Mit Freuden kann ich heimgehen, wenn es Gott gefällt, zu meinen Vorfahren, denn ich habe ihr Werk weitergeführt und habe nicht umsonst gelebt! – Meine Vorfahren,« sagte er dann leise, indem ein Zug tiefer Wehmut auf seinem Gesicht erschien, – »meine Vorfahren, die Könige von Preußen, – die einst Kurfürsten des alten versunkenen Reichs waren, das auf den Schlachtfeldern dieser Tage seine Wiedergeburt feiert.«

Der Kammerdiener trat ein und meldete, daß der Geheime Hofrat Schneider zu Seiner Majestät Befehl stehe.

»Er soll kommen,« sagte der König, auf dessen Gesicht noch immer der Ausdruck ernster Wehmut lag.

Unmittelbar darauf trat der Geheime Hofrat im schwarzen Frack mit weißer Kravatte, die blaue Schnalle der Landwehrdienstauszeichnung im Knopfloch und eine große Mappe unter dem Arm in das Zimmer; sein Gesicht mit dem weißen Haar, dem weißen vollen Bart und den lebhaften geistvollen Augen war frisch und heiter wie immer. Er trug eine große Mappe mit Zeitungen und Papieren gefüllt, unter dem Arm und näherte sich mit tiefer Verbeugung dem König.

»Guten Morgen, Schneider,« sagte der König, – »wissen Sie, daß heut ein bedeutungsvoller Tag für mich und mein Haus ist?«

Der Hofrat blickte ihn fragend an. »Soeben ist der Prinz Luitpold von Bayern hier gewesen,« fuhr der König fort, »und hat mir vom König Ludwig die Aufforderung gebracht, die deutsche Kaiserkrone anzunehmen.«

»Dann muß ich Eurer Majestät meinen alleruntertänigsten Glückwunsch sagen,« erwiderte der Hofrat, »diese Kaiserkrone ist das leuchtende äußere Zeichen der nationalen Anerkennung und des Dankes der Fürsten und des Volks, – die Sache haben Eure Majestät schon in der Hand, – das ist das Schwert, welches Deutschland zum Siege führt.«

Der König blickte ihn sinnend an. Dann aber ließ er den Kopf auf die Brust sinken und saß einige Augenblicke in trübem Schweigen da, während der Hofrat ihn verwundert und erstaunt ansah.

»Eure Majestät sind traurig,« sagte er, verstimmt und niedergeschlagen, – darf ich mir erlauben, meine Verwunderung darüber auszudrücken? An einem solchen Tage, an welchem in ganz Deutschland, wenn es dort bekannt wäre, was hier geschehen, die Freudenschüsse erschallen und die Glocken Jubel und Dank läuten würden, an einem solchen Tage verstehe ich nicht, daß Eure Majestät so düster und niedergeschlagen sein können.«

Der König blickte durch das Fenster in die kräuselnden weißen Schneeflocken hinaus. Ein feuchter Glanz schimmerte in seinem Auge, das er langsam, mit tief durchdringendem Blick auf den Hofrat richtete.

»Sie verstehen das nicht, Schneider?« sagte er mit leiser Stimme, »und doch sollten Sie es vor allen verstehen. Der Kurmärker sollte es verstehen, welch tiefe Wehmut heute das Herz des Königs von Preußen bewegt. Schneider,« sagte er laut mit einer Summe, die vor innerer Bewegung bebte, »wir stehen an der Grenzmarke einer großen, schönen und lieben Vergangenheit, – heute ist es entschieden, heute bin ich deutscher Kaiser geworden. Sie haben mir die Krone des neu geeinten Reichs entgegengetragen, – das ist groß, das ist herrlich und erhaben, das ist ein Ereignis, welches die Welt umgestaltet. Das alles erkenne ich mit Dank gegen Gott. Aber Schneider,« fuhr er fort, indem sein Blick sich tränend verdunkelte und seine Lippen zitterten, »so groß und schön das ist, so sehr die Jugend sich darüber freuen mag, es tut doch auch weh, der letzte König von Preußen zu sein.«

Der Geheime Hofrat öffnete weit seine Augen, er blickte in das tiefbewegte Gesicht des Königs, als verstände er dessen Worte nicht.

»Der letzte König von Preußen,« sagte er, – »verzeihen Eure Majestät, das kann ich nicht fassen und begreifen, heute, wo Eure Majestät an der Spitze Ihrer Armee siegreich die kaiserlichen Adler Frankreichs zu Ihren Füßen niedergeworfen haben, heute, wo Preußen die höchste Höhe seines Ruhms und seiner Ehre erreicht hat, heute, wo der Geist des großen Friedrich stolz auf Eure Majestät herabblickt, heute, wo alle Schmach gesühnt ist, die der Königin Luise das Herz brach, – heute wollen Eure Majestät davon sprechen, der letzte König von Preußen zu sein! Mir scheint, daß Eure Majestät die königliche Krone von Preußen Ihrem Sohne glänzender und schimmernder hinterlassen werden, als je einer Ihrer Vorfahren sie seinem Nachfolger übergeben hat.«

Der König neigte zustimmend den Kopf. Immer aber blieb der wehmütig-schmerzliche Ausdruck auf seinem Gesicht und langsam sprach er:

»Muß ich denn aber nicht Deutscher Kaiser werden? Der langgehegte nationale Wunsch nach der Einigung im Deutschen Reiche hat jetzt auch die Fürsten mit fortgerissen und man bringt mir die Krone des neuen Reiches entgegen, nachdem ich mit dem Schwert, das man in meine Hand gelegt, Deutschland zum Siege geführt habe!«

»Und wenn Eure Majestät Deutscher Kaiser werden,« sagte der Hofrat, »werden Sie deshalb aufhören, König von Preußen zu sein? Blieb Eurer Majestät erhabener Vorfahr, als er sich zu Königsberg die Krone auf sein Haupt setzte, darum nicht Kurfürst von Brandenburg? War es nicht die alte brandenburgische Kraft, welche sich dem neuen Königreich Preußen mitteilte, es durchströmte und es zu der Höhe hinaufführte, auf welcher es heute steht? Stehen nicht heute noch die alten brandenburgischen Regimenter an der Spitze der preußischen Armee, die ihrerseits wieder dem deutschen Heere voranschreitet? Und, Majestät, sind denn nicht die Habsburger, die so lange deutsche Kaiser waren, darum nicht minder Erzherzöge von Osterreich, Könige von Böhmen und von Ungarn geblieben?«

»Das war etwas anderes,« sagte der König rasch, »das war kein rechtes Kaisertum, – sie hatten die Krone, aber sie hatten das Schwert nicht in ihrer Hand, – so kann, so wird das Kaisertum der Hohenzollern nicht sein. Während unter dem früheren Kaisertum das Deutsche Reich zerbröckelte und in Ohnmacht versank, soll unter meinem Haus die Nation einig und mächtig zur obersten Stufe unter den Völkern Europas heraufsteigen. Daraufhin muß fortan unsere Kraft gerichtet sein, das ist die Aufgabe, die ich meinen Nachfolgern einst hinterlassen werde, – wie Friedrich I. uns allen die Pflicht auferlegte, Preußen zu kräftigem Leben zu entwickeln, so wird es nun später die Pflicht meines Sohnes und seiner Nachfolger sein, das Werk zu vollenden, an welches einst die Hohenstaufen und viele andere deutsche Kaiser vergeblich ihre Kraft setzten. Das neue Deutsche Reich wird keine Freunde haben in Europa«, fuhr er fort, den Blick aufwärts richtend. »Man wird uns überall achten, man wird uns fürchten, aber man wird noch lange, lange nicht dies Deutschland lieben, das bisher so still und bescheiden dastand unter den europäischen Nationen und das jetzt mit einem Male waffenklirrend in die Schranken tritt, – und auch im Innern werden der Feinde noch so manche entstehen. Das alte Reich war das römische Reich deutscher Nation. Wir aber werden«, sagte er, die Hand fest auf den Tisch legend, »des deutschen Volkes deutsche Kaiser sein. Wenn jene schon mit der Priesterherrschaft Roms unausgesetzten Kampf zu bestehen hatten, um wie viel erbitterter, um wie viel unversöhnlicher wird jene herrschsüchtige Hierarchie, werden die Nachfolger Gregors VII. dem Deutschen Reiche gegenübertreten, an dessen Spitze kein Nachfolger der römischen Imperatoren, sondern ein vom deutschen Volk auf den Schild erhobener Kaiser steht. Und«, sagte er seufzend, »viele, viele schwere Kämpfe liegen noch in der Zukunft. Wir werden siegreich aus ihnen hervorgehen,« sprach er mit dem Ausdruck fester Zuversicht und stolzer Willenskraft, »aber,« sagte er dann wehmütigen Tons, indem er den immer noch aufwärts gerichteten Blick langsam dem Geheimen Hofrat zuwendete, – »aber, Schneider, unser altes Preußen wird dabei nicht so fortbestehen können, wie wir es kennen und wie wir es geliebt haben von Jugend auf, es wird Deutschland werden, wie Brandenburg Preußen wurde, es wird herauswachsen zu etwas Größerem, Mächtigerem, Herrlicherem, – aber es wird doch nicht mehr das alte Preußen sein, und so sehr ich mit Dank gegen Gott, der mein Haus so hoch begnadigt hat, der Zukunft entgegenschaue, so sehr ich voll mutigen Vertrauens ihre Aufgabe zu erfassen bereit bin – so tut es mir doch weh um das alte Preußen, das heute unter dem lauten Siegesjubel zurücktritt von der Weltbühne, um dem kaiserlichen Deutschland den Platz zu räumen.«

Der feuchte Schimmer seines Blicks hatte sich verdichtet zu einem klaren Tropfen, der im Licht der durch die Schneewolken hervorbrechenden Morgensonne an der Wimper des königlichen Auges glänzte; auch des Geheimen Hofrats Blick verdunkelte sich und mit bebender Stimme sprach er

»Was Eure Majestät mir da sagen, schneidet mir ins Herz. Fast müßte ich ja wünschen, daß ich gestorben wäre, bevor diese gewaltigen Ereignisse die Welt verändern. Die neue deutsche Herrlichkeit mag ja groß und glänzend sein, aber ich werde mich schwer in dieselbe hineinfinden, wenn mein altes liebes Preußen, dem jeder Lichtblick meiner Erinnerungen, jeder Tropfen meines Bluts, jede Faser meines Wesens gehört, dabei untergehen soll.«

»Untergehen?« sagte der König, indem er schnell mit der Hand die Träne in seinem Auge zerdrückte, »untergehen kann Preußen niemals, – die Blüte, welche zur Frucht wird, verändert sich und verschwindet, aber sie geht nicht unter. So wird auch Preußen nicht untergehen, wenn es auch nicht bleiben kann, was es war.«

Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und saß in schweigendem Sinnen einige Augenblicke da. Schweigend stand der alte treue Diener dreier Könige von Preußen vor seinem Herrn in dieser ernsten Stunde, in welcher eine vergangene Welt hinabsank, um einer neuen Zeit den Platz zu räumen.

»So ist denn«, sagte der Hofrat endlich, indem er seine wehmütige Bewegung unterdrückte, »die Prophezeiung des Abtes von Lehnin erfüllt:

›Et pastor habebit gregem
Et Germania regem!‹«

zitierte er aus jener merkwürdigen Prophezeiung, in welcher der Abt des alten Klosters Lehnin einst die Geschichte aller Fürsten des Hauses Hohenzollern verkündigt hatte.

Der König richtete den Kopf auf und sah den Geheimen Hofrat mit einem tiefen Blick an.

»Ganz recht, – ganz recht, Schneider,« sagte er, – »das hat sich wohl erfüllt, – aber unbekannt und dunkel liegt die Zukunft vor mir, die am späten Abend meines Lebens meinem Hause sich öffnet. Doch Gott kennt die Zukunft,« sagte er nach einigen Augenblicken, indem ein ruhiges, mildes Licht in seinen Augen glänzte, »und Gott wird auch auf den neuen Wegen meines Volkes und meines Hauses starker Hort sein.«

Ein Kanonenschuß ertönte von fern herüber.

Der König horchte auf.

Dann erhob er sich und warf einen Blick auf seine Uhr.

»Da haben wir nun«, sagte er, »unsere altpreußischen Herzen ausgeschüttet, unsere alten Herzen, deren Gefühle so ganz und vollständig die heutige Generation kaum mehr versteht, und darüber ist die Zeit hingegangen.«

»Aber nicht unfruchtbar, Majestät,« erwiderte der Geheime Hofrat, »ich habe die schönste und edelste Lektüre gehabt, denn es ist mir vergönnt gewesen, zu lesen in dem königlichen Herzen meines Herrn, der auf der Höhe des Sieges, während Gott die erste Krone der Welt auf sein Haupt setzt, in warmer, treuer Liebe der alten Heimat gedenkt, in welcher sein Volk und seine Vorfahren in fester und unermüdlicher Arbeit diesen Sieg vorbereitet und möglich gemacht. Und ich habe die feste Zuversicht gewonnen,« fügte er mit freudigem Ton hinzu, »daß, solange ich noch unter Eurer Majestät lebe, das alte Preußen bleiben wird, was es war.«

»Und wenn es sich einst verändert,« sagte der König, »eins soll bestehen, so Gott will, für alle Zeit – das ist dies hier –« und er deutete lächelnd, aber zugleich mit dem Ausdruck feierlicher Rührung in seinen Zügen auf das kleine Kreuz in der Kokarde vor der ledernen Landwehrmütze, welche der Hofrat in der Hand hielt.

»Mit Gott für König und Vaterland!« rief der Geheime Hofrat, »denn eins muß ich Eurer Majestät sagen, wenn Allerhöchstdieselben Deutscher Kaiser werden – solange ich lebe, werden Sie für mich doch immer mein König und der König von Preußen bleiben.«

König Wilhelm nickte heiter mit dem Kopfe.

»Wie der Herr Geheime Hofrat,« sagte er mit schalkhaftem Augenblinzeln, »für mich immer der Landwehrunteroffizier L. Schneider bleibt.«

Und er beschrieb mit dem Finger in der Luft den Zug des Buchstabens L, indem er den untern Bogen dieses Buchstabens mit weitausgestrecktem Arm lang durch die Luft zog.

»Darf ich mir untertänigst eine Frage erlauben?« sagte der Hofrat wieder ganz in seinem früheren heitern und ruhigen Ton, »warum geben Eure Majestät dem bescheidenen Anfangsbuchstaben meines Vornamens auf allen an mich allergnädigst gerichteten Briefkuverts und auch in diesem Augenblick, indem Sie meine unbedeutende Initiale hier in die historische Luft von Versailles zu ziehen geruhen, eine so außerordentliche Ausdehnung? Dieses L ist schon oft der Gegenstand meines ernsten Nachdenkens und das Wunder der Postboten gewesen, und wenn Eure Majestät vielleicht die Gnade haben wollten –«

»Das geht Sie nichts an,« fiel der König herzlich lachend ein, »denken Sie nur weiter nach, und wenn Sie das Richtige herausgefunden haben, will ich es Ihnen sagen.«

Rasch bewegte er die Glocke und befahl den Kammerdiener, den Flügeladjutanten zu rufen.

Der Flügeladjutant vom Dienst trat in militärischer Haltung ein.

»Ich will hinausfahren,« befahl der König, »um zu sehen, ob heut etwas zu erwarten ist. – Adieu, Schneider«, sagte er, dem Geheimen Hofrat freundlich zunickend, setzte den Helm auf und verließ das Zimmer.

Auf den Wink des vorauseilenden Flügeladjutanten fuhr der königliche Wagen heran. Die Stabswache rangierte sich und schnell fuhr der König in der Richtung nach Paris hin.


 << zurück weiter >>