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Quellenfrage, vgl. Augustin Filon, Mérimée et ses Amis, Paris, Hachette, 1894, S. 358 ff. (Lateinischer Auszug aus: Hermanni Corneri Chronicon, III, nach: Eccardus, Corpus historicum medii aevi, Lipsiae 1723, II, 587.) Ferner: Maurice Vernes, La Vénus d'Ille de Mérimée et une légende pieuse d' Abyssinie, in der Revue bleue vom 23. Oktober 1875, S. 399-401. Arthur de la Broderie, La légende originale de la Vénus d'Ille, d'après le Miroir historial de Vincent de Beauvais et la Chronique de St.-Antonin de Florence, in den: Archives historiques, artistiques et littéraires, I (1889-1890), S. 492-494. Über die Entstehungsgeschichte: Roger Alexandre, Le Manuscrit de Vénus d'Ille, im Bulletin du Bibliophile vom 15. Januar 1898, S. 15-24.
La Venus d'Ille
Übersetzt von Arthur Schurig
Erstdruck in der Revue des Deux Mondes vom 15. Mai 1837. Quelle: Der Chronist Wilhelm von Malmesbury (12. Jahrhundert).
Ich stieg den letzten Hang des Canigou hinab. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, erkannte ich in der Niederung die Häuser des Städtchens Ille, mein Reiseziel.
Ihr wißt, sagte ich zu dem Katalonier, der mir seit dem vergangenen Tage als Führer diente, Ihr wißt gewiß, wo Herr von Peyrehorade wohnt?Der Schauplatz der Novelle ist der Ort Ille sur la Têt, 25 Kilometer westlich von Perpignan, der Hauptstadt des Departements Pyrénées Orientales, inmitten der durch ihren Wein berühmten Ebene von Roussillon. Der 25 Kilometer südwestlich davon gelegene Canigou ist 2785 Meter hoch; wahrscheinlich hat ihn Mérimée einmal bestiegen. Der später genannte Ort Collioure (im Altertum: Cauco Illiberis) liegt 90 Kilometer südöstlich von Perpignan am Meere, unweit der spanischen Grenze. Perpignan, die alte Hauptstadt der Grafschaft Roussillon, das antike Ruscione, ist heute starke Festung.
Das will ich meinen! rief er. Ich kenne sein Haus wie das meine; und wenn es nicht so dunkel wäre, zeigte ich es Euch. Es ist das schönste von Ille. Ja, er hat Geld, der Herr von Peyrehorade; und seinen Sohn verheiratet er mit einer, die noch mehr hat.
Wird die Heirat bald stattfinden? fragte ich.
Sehr bald. Es kann sein, daß schon die Geiger zur Hochzeit bestellt sind. Ist sie heut abend, morgen oder übermorgen, ich weiß es nicht. In Puygarrig wird die Sache vor sich gehen; denn die Braut des jungen Herrn ist das gnädige Fräulein von Puygarrig. Das gibt ein schönes Fest, ja, ja.
An Herrn von Peyrehorade war ich durch meinen Freund, Herrn von P***, empfohlen. Er sei, so hatte man mir gesagt, ein wohlunterrichteter Altertumsforscher von erprobter Gefälligkeit. Es werde ihm ein Vergnügen sein, mir alle Ruinen zehn Wegstunden in der Runde zu zeigen. Also rechnete ich auf ihn für meine Streifzüge durch die Iller Gegend, die, wie ich wußte, reich an Denkmälern aus Altertum und Mittelalter ist. Die Feier, von der ich zum ersten Male hörte, warf alle meine Pläne um.
Ich komme als Störenfried, sagte ich mir; doch ich wurde erwartet. Durch Herrn von P*** angemeldet, mußte ich mich wohl oder übel einstellen.
Wetten wir, mein Herr, sagte mein Führer zu mir, als wir bereits in der Ebene waren, wetten wir um eine Zigarre, daß ich errate, was Ihr bei Herrn von Peyrehorade wollt.
Na, meinte ich, indem ich ihm eine Zigarre reichte, das zu erraten, ist nicht weiter schwierig. Um die jetzige Zeit und nach sechs Stunden Marsch über den Canigou ist die Hauptsache das Abendessen.
Aber morgen? Ich wette, Ihr kommt nach Ille, das Götzenbild zu sehen. Das weiß ich, seitdem ich gesehen, daß Ihr die Heiligen von Serrabona abgezeichnet habt.
Das Götzenbild? Was für ein Götzenbild?
Dies Wort hatte meine Neugier erregt.
Was? Man hat Euch in Perpignan nicht erzählt, wie Herr von Peyrehorade ein Götzenbild in der Erde gefunden hat?
Ihr meint eine Figur aus gebrannter Erde, aus Ton?
Ach nein, aus Kupfer! Man könnte riesig viel Kleingeld draus machen. Sie wiegt schwer wie eine Kirchenglocke. Tief im Boden, unter einem Olivenbaum, da haben wir das Ding herausgeholt.
Ihr wart demnach bei der Ausgrabung zugegen?
Jawohl, Herr. So vor vierzehn Tagen war es, da sagte Herr von Peyrehorade zu Jean Coll und zu mir, wir sollten den alten Olivenbaum ausroden, der im letzten Winter erfroren war. Ihr wißt, es gab schrecklich viel Frost. Also wie wir graben, da haut der Coll, der feste drangeht, die Hacke in die Erde . . . Ich höre Bimm, als habe er an eine Glocke geschlagen. Was ist das? frage ich. Wir buddeln tiefer und immer tiefer, und da kommt eine schwarze Hand zum Vorschein, die wie eine Totenhand aussieht, die aus dem Grabe greift. Mich packt die Angst. Ich laufe zum Herrn, und ich vermelde ihm: Gnädiger Herr, unter dem Olivenbaum liegen Tote. Wir müssen den Pfarrer holen. – Tote? Was für Tote? fragt er. Er kommt mit, und kaum hat er die Hand gesehen, da ruft er: Eine Antike! Eine Antike! Als ob er einen Schatz gefunden hätte. Und dann hat er mit der Hacke und den Händen geschuftet mehr wie wir beiden andern zusammen.
Und was habt Ihr schließlich gefunden?
Eine große schwarze, mit Verlaub zu sagen, halbnackige Frau, ganz aus Kupfer, und Herr von Peyrehorade hat uns gesagt, es wäre ein Götzenbild aus der Heidenzeit. Aus der Zeit Karls des Großen oder so . . .
Ich weiß schon . . . Eine brave heilige Jungfrau in Bronce, aus einem zerstörten Kloster.
Eine brave heilige Jungfrau? Jawohl, brav und heilig! Eine Heidengöttin, sage ich Euch. Das sieht man ihr gleich am Gesicht an. Sie behext einen geradezu mit ihren großen weißen Augen. Man muß wegsehen, ja, sowie man sie anschaut.
Weiße Augen? Ohne Zweifel in das Erz eingelegt. Vermutlich eine römische Statue.
Eine römische? Richtig! Herr von Peyrehorade sagt, es sei eine Römerin. O, ich sehe, Sie sind genau so ein gelehrter Herr wie er.
Ist sie ganz? Gut erhalten?
Nichts fehlt ihr. Noch schöner und besser ausgeführt ist sie als die Büste von Seiner Majestät im Ratshause; die ist aus bemaltem Gips. Aber trotzalledem, das Gesicht des Götzenbildes behagt mir nicht. Das Weib sieht boshaft aus und ist es auch.
Boshaft? Was hat sie Euch Böses angetan?
Mir nicht gerade. Aber hört! Wir hatten uns tüchtig angestrengt, um sie herauszuziehen, und Herr von Peyrehorade zog auch am Seil, obgleich er nicht mehr Kraft hat als ein Huhn, der Verehrte. Mit viel Mühe stellten wir sie aufrecht hin. Ich wollte einen Ziegelstein unterlegen, um ihr Halt zu geben. Pardauz! Da fällt sie rückwärts um, schwer wie sie ist. Ich rufe: Achtung dahinten! Doch nicht rasch genug. Jean Coll hatte nicht die Zeit, sein Bein zurückzuziehen . . .
Hat er was abbekommen?
Glatt gebrochen wie eine Reblatte war sein armes Bein! Pech! Wie ich es sah, war ich fuchswild. Ich wollte dem Weibsbild eins mit der Hacke versetzen, aber Herr von Peyrehorade ist mir in den Arm gefallen. Er hat Jean Coll Schmerzensgeld gegeben; der liegt aber immer noch im Bette, vierzehn Tage schon; so lange ist es her. Und der Arzt meint, er wird mit diesem Bein nie wieder so gehn wie mit dem andern. Schade! Er war unser bester Läufer und nach dem jungen Herrn von Peyrehorade unser gerissenster Ballspieler. Herr Alphons ist ganz traurig darüber geworden, denn Coll war sein Spielpartner. Es war schön anzusehen, wenn sie sich die Bälle abschlugen. Paff! Paff! Es kam nie einer zur Erde.
So plaudernd erreichten wir Ille, und alsbald sah ich mich Herrn von Peyrehorade gegenüber. Es war ein kleiner, noch frischer und munterer alter Herr, gepudert, mit roter Nase; biedere Freundlichkeit und ein wenig Spottlust im Gesicht. Noch ehe er den Brief des Herrn von P*** öffnete, hatte er mich an einer wohlgedeckten Tafel zum Sitzen gebracht und mich seiner Frau wie seinem Sohne vorgestellt, als berühmten Altertumsforscher, der die alte Grafschaft Roussillon der Vergessenheit entreißen werde, der sie durch die Indolenz der Gelehrten verfallen sei.
Während ich mit gutem Appetit aß (denn nichts regt mehr an als scharfe Bergluft), betrachtete ich meine Wirte. Herr von Peyrehorade ist bereits geschildert; ich möchte nachholen, daß er die Lebhaftigkeit in persona war. Er sprach, aß, stand auf, lief zu seiner Bibliothek, schleppte mir Bücher herbei, zeigte mir Stiche, schenkte mir Wein ein. Nicht zwei Minuten lang verharrte er in Ruhe. Seine Frau war etwas stark, wie fast alle Katalonierinnen, wenn sie über die Vierzig hinaus sind. Offenbar war sie eine richtige Kleinstädterin, die nichts als ihre Wirtschaft im Kopfe hatte. Obwohl das Abendessen für sechs Personen und mehr gereicht hätte, lief sie in die Küche, ließ Tauben schlachten, Miliasse backen und öffnete wer weiß wie viele Töpfe Eingemachtes. Im Handumdrehen war der Tisch mit Schüsseln und Flaschen übervoll, und ich wäre zweifellos an Verdauungsbeschwerden gestorben, wenn ich von allem Angebotenen auch nur gekostet hätte. Trotzdem gab es bei jeder Platte, die ich ausschlug, neue Entschuldigungen. Man fürchtete, daß ich mich in Ille nicht wohl befände. In der Provinz habe man so wenig Bezugsquellen, und die Pariser seien so verwöhnt.
Bei all der Geschäftigkeit seiner Eltern blieb der junge Herr Alphons von Peyrehorade auf seinem Platze wie ein Pagode. Er war hochgeschossen, etwa sechsundzwanzig Jahre alt, und hatte schöne regelmäßige, aber ausdruckslose Gesichtszüge. Seine Gestalt und seine athletischen Formen stimmten zu seinem Rufe weit und breit als unermüdlicher Ballspieler. An jenem Abend war er elegant gekleidet, genau nach dem Kupfer in der letzten Nummer des Mode-Journals. Es kam mir aber vor, als beengte ihn diese Tracht; er hielt sich in seiner samtnen Halsbinde steif wie ein Stock und bewegte sich nur im Ganzen. Seine starken sonnenverbrannten Hände und seine kurzen Fingernägel standen in sonderbarem Gegensatz zu seinem Anzuge. Es waren Arbeiterfäuste, die aus den Ärmeln eines Dandy herauslangten. Obwohl er mich als Pariser mit großer Neugier von oben bis unten musterte, redete er mich den ganzen Abend nur ein einziges Mal an, und zwar um zu fragen, wo ich meine Uhrkette gekauft hätte.
Eines, verehrter Gast, sagte Herr von Peyrehorade, als das Mahl zu Ende ging, Sie gehören mir, Sie wohnen bei mir, und ich lasse Sie nicht los, als bis Sie alles gesehen haben, was es Merkwürdiges in unsern Bergen gibt. Sie sollen den Gau Roussillon gründlich kennenlernen, und Sie müssen ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie ahnen nicht, was wir Ihnen alles zu zeigen haben. Phönikische, keltische, römische, arabische, byzantinische Denkmäler. Alles wird Ihnen vorgeführt, von A bis Z. Ich bringe Sie überall hin und erlasse Ihnen nicht einen Backstein . . .
Ein Hustenanfall nötigte ihn innezuhalten. Ich benutzte die Pause, ihm zu sagen, ich sei untröstlich, eine so bedeutungsvolle Familienfeier zu stören. Wenn er mir auf meine geplanten Ausflüge gütigst seine trefflichen Ratschläge mitgeben wolle, ohne sich die Mühe zu machen, mich persönlich zu begleiten, so würde ich . . .
Ach so! Sie meinen die Hochzeit meines Jungen da, rief er, mich unterbrechend, aus. Nebensache! Ist übermorgen erledigt. Sie machen die Feier mit, im engen Kreise, denn die Zukünftige hat Trauer um eine Tante, eine Erbtante. Deshalb keine große Festlichkeit, keinen Ball . . . Eigentlich schade! Sie hätten sonst unsere Katalonierinnen tanzen sehen. Die sind nicht übel, und wer weiß, ob Sie nicht Lust bekommen hätten, unserm Alphons nachzueifern. Einer Heirat folgt die andere! sagt das Sprichwort . . . Am Sonnabend, wenn die jungen Leute verheiratet sind, bin ich frei, und wir machen uns auf den Weg. Verzeihen Sie mir, bitte ich, daß ich Sie mit einer ländlichen Hochzeit langweile. Einen Pariser, der Festen gegenüber blasiert ist . . . noch dazu eine Hochzeit, auf der nicht getanzt wird . . . Aber das sage ich Ihnen, Sie werden eine Braut zu sehen bekommen . . . eine Braut . . . über die Sie mir sicher ein Wörtchen sagen . . . Freilich, Sie sind ein gesetzter Mann und kümmern sich nicht mehr um die Weiber. Darum werde ich Ihnen etwas andres zeigen. Sie sollen ein Ding zu sehen kriegen . . . Ich behalte mir eine ganz gehörige Überraschung für morgen vor.
Bei Gott, sagte ich, es ist schwer, einen Schatz im Hause zu haben, ohne daß die Leute davon erfahren. Ich glaube, ich errate die Überraschung, die Sie mir in Aussicht stellen. Aber wenn es sich um Ihr Standbild handelt, so hat die Beschreibung, die mir mein Führer davon gemacht hat, meine Neugier erregt, und ich bin auf ein Wunder gefaßt.
Aha! Er hat Ihnen vom Götzenbild erzählt. So nennen Sie meine schöne Venus Tur . . . Aber ich will nichts weiter sagen. Morgen werden Sie sie sehen, am hellichten Tage, und Sie werden mir sagen, ob ich nicht recht habe, sie für ein Meisterwerk zu halten. Auf Ehre, Sie konnten nicht gelegener kommen! Da gibt's Inschriften, die ich armseliger Laie auf meine Weise erkläre . . . aber ein Gelehrter aus Paris! Vielleicht werden Sie über meine Interpretation spotten . . . Ich habe nämlich eine Denkschrift verfaßt . . . ich, so wie ich vor Ihnen stehe . . . ich alter Altertumsschnüffler aus dem Hinterlande . . . ich habe mich hervorgewagt . . . will die Presse in Bewegung setzen . . . Wenn Sie mich gütigst lesen und verbessern wollten, so dürfte ich hoffen . . . Zum Beispiel bin ich sehr neugierig, wie Sie folgende Inschrift auf dem Sockel übersetzen werden:
CAVE . . .
Doch ich will Sie vorläufig nichts fragen. Erst morgen, erst morgen! Heute sind die Akten über die Venus geschlossen.
Du tust gut daran, Peyrehorade, meinte seine Frau, dein Götzenbild in Ruhe zu lassen. Es sollte dir nicht entgehen, daß du unsern Herrn Gast gar nicht zum Essen kommen läßt. Glaube mir, Herr Mérimée hat in Paris viel schönere Bildsäulen als deine gesehen. In den Tuilerien gibt es ihrer zu Dutzenden und auch broncene.
Da sieht man die Einfalt, die heilige Einfalt der Provinz! unterbrach sie ihr Ehemann. Eine wunderbare Antike mit den faden Figuren eines Coustou zu vergleichen!
Wie respektslos von den Göttern
Spricht mir da die Hausgenossin!
Stellen Sie sich vor, meine Frau wollte, ich sollte meine Statue einschmelzen und eine Glocke für unsre Kirche daraus gießen lassen! Sie sähe sich gar zu gern als Stifterin. Ein Meisterwerk von Myron!
Meisterwerk! Meisterwerk! eiferte Frau von Peyrehorade. Ein schönes Meisterwerk hat sie angerichtet! Einem Menschen das Bein zerschlagen.
Liebe Frau, schau her! sagte Herr von Peyrehorade in energischem Ton und streckte ihr sein rechtes Bein entgegen, so daß man den buntgemusterten seidenen Strumpf sah. Liebe Frau, wenn die Venus mir dies Bein zerschlagen hätte, ich würde nicht klagen.
Um Himmels willen, Peyrehorade, wie kannst du so was sagen! Zum Glück geht es dem Manne besser . . . Aber noch kann ich es nicht über mich bringen, die Bildsäule anzusehen, die solch Unglück anrichtet. Armer Jean Coll!
Von Venus verwundet! scherzte Herr von Peyrehorade zu mir gewandt, derb auflachend. Von Venus verwundet – und der Schafskopf beklagt sich! Veneris nec praemia noris! Wen hätte Venus nie verwundet?
Herr Alphons, der Französisch besser verstand als Latein, zwinkerte mich mit einem verständnisvollen Blick an; offenbar fragte er mich: Na, du Pariser, verstehst du das?
Das Abendbrot war zu Ende. Schon seit einer Stunde aß ich nicht mehr. Ich war müde, und es gelang mir mehrfach nicht mehr das Gähnen zu unterdrücken. Frau von Peyrehorade gewahrte es zuerst, worauf sie bemerkte, es sei Zeit, schlafen zu gehen. Da begannen neue Entschuldigungen wegen des schlechten Nachtlagers, das meiner warte. Ich werde es nicht wie in Paris haben. In der Kleinstadt sei man schlecht daran. Im Roussillon müsse man schon einen Pflock zurückstecken.
Vergeblich beteuerte ich, nach einer Gebirgswanderung wäre mir eine Schütte Stroh eine köstliche Schlummerstätte. Immerfort bat man, es armen Landleuten nicht übelzunehmen, daß sie mir nicht so aufwarten könnten, wie sie wohl möchten.
Endlich durfte ich mich in Begleitung des Herrn Peyrehorade in das mir bestimmte Schlafgemach hinauf begeben. Die Treppe, deren letzte Stufen aus Holz waren, mündete in der Mitte eines Ganges, der zu mehreren Zimmern führte.
Die Räume da rechts, erläuterte mir mein Gastgeber, die habe ich meiner künftigen Schwiegertochter zugeteilt; Ihr Zimmer liegt am entgegengesetzten Ende. Junge Eheleute müssen für sich sein. Verstehen Sie? (Dabei lächelte er in ersichtlicher Verschmitztheit.) Sie hausen hier und jene da!
Wir betraten ein wohleingerichtetes Zimmer. Der erste Gegenstand, der mir in die Augen fiel, war ein Bett, sieben Fuß lang und sechs Fuß breit und so hoch, daß man einen Schemel brauchte, um sich hinaufzuschwingen. Mein Wirt zeigte mir, wo die Klingel war, und überzeugte sich umständlich, daß die Fläschchen mit Kölnischem Wasser am rechten Platz auf dem Toilettentische standen. Nachdem er mich mehrmals gefragt hatte, ob es mir an nichts gebräche, wünschte er mir gute Nacht und ließ mich allein.
Die Fenster waren geschlossen. Ehe ich meine Kleider ablegte, öffnete ich eins, um die frische Nachtluft zu atmen, eine Köstlichkeit nach so langem Mahle. Vor mir ragte der Canigou. Er gewährt zu jeder Tageszeit einen wunderbaren Anblick, doch an jenem Abend, im vollen Mondenlichte, erschien er mir als der schönste Berg der Welt. Ich verweilte einige Minuten in der Betrachtung seines prächtigen Umrisses und wollte schon mein Fenster wieder schließen, als ich zufällig abwärts sah und in einer Entfernung von etwa vierzig Metern hinter dem Hause auf einem Sockel die Statue erblickte. Sie stand in dem Winkel einer grünen Hecke, die den nicht großen Garten von einem geräumigen viereckigen, ganz ebenen Platze trennte, dem städtischen Ballspielplatze, wie ich später erfuhr. Ehemals Eigentum des Herrn von Peyrehorade, war er auf die dringenden Bitten seines Sohnes an die Gemeinde abgetreten worden.
Entfernt, wie ich stand, war es mir schwer, die Gestalt im Einzelnen zu erkennen. Ich vermochte nur die Größe abzuschätzen, auf etwa sechs Fuß. In diesem Augenblick gingen zwei Burschen aus dem Ort über den Spielplatz nahe an der Hecke vorbei. Sie pfiffen ein hübsches Roussilloner Volkslied.
Wie sie die Bildsäule sahen, blieben sie stehen. Einer redete sie laut an. Er sprach Katalonisch, aber ich war lange genug in der Gegend, um halbwegs zu verstehen, was er sagte.
Da bist du Luder! So siehst du aus! rief er. Also du hast dem Jean Coll das Bein zerschlagen! Wärst du mein, ich schlüge dir den Kopf ab.
Womit? fragte der andre. Sie ist aus Kupfer und so hart, daß dem Stephan seine Feile zerbrochen ist, wie er sie bloß ein bißchen anschneiden wollte. Kupfer aus der Heidenzeit ist verflucht hart.
Wenn ich meinen Stahlmeißel bei mir hätte (offenbar war er Schlosserlehrling), wollte ich ihr bald die großen weißen Augen herausgesprengt haben wie eine Nuß aus der Schale. Das sind ein paar Taler Silber!
Sie gingen weiter.
Ich muß dem Götzenbilde gute Nacht wünschen, sagte der größere der Burschen und blieb wieder stehen.
Er bückte sich und hob wahrscheinlich einen Stein auf. Ich sah, wie er ausholte und irgend etwas schleuderte. Alsbald gab das Erz einen sonoren Klang, aber im nämlichen Augenblick fuhr sich der Lehrjunge mit der Hand an den Kopf und stieß einen Sehmerzensschrei aus.
Sie hat wieder geworfen! rief er.
Da nahmen die beiden Schlingel die Beine unter den Arm und rannten weg. Vermutlich war der Stein vom Metall zurückgeprallt, und der Schimpf, den man der Göttin angetan, hatte sich sozusagen selber bestraft.
Ich mußte weidlich lachen und machte das Fenster zu.
Ein von Venus gestrafter Vandale! Mögen alle Zerstörer alter Denkmäler ebenso eins auf den Kopf bekommen!
Mit diesem christlichen Wunsche schlief ich ein.
Es war lichter Tag, als ich erwachte. An meinem Bett auf der einen Seite stand Herr von Peyrehorade im Schlafrocke, auf der andern Seite, als Bote seiner Frau, ein Diener mit einer Tasse Schokolade.
Auf, auf, lieber Herr Pariser! Da sieht man die Faulpelze der Hauptstadt! sagte mein Wirt, während ich mich eiligst ankleidete. Acht Uhr und noch im Bett! Ich bin schon seit sechs auf. Zum dritten Male bin ich oben. Ich habe mich Ihrer Tür auf den Zehen genähert: alles mucksmäuschenstill. In Ihren Jahren so lange zu schlafen, bekommt nicht gut. Und meine Venus haben Sie noch nicht gesehen! Rasch, rasch, nehmen Sie diese Tasse Schokolade! Barcelonaer! Veritable Schmugglerware! Schokolade, wie man sie in Paris nicht hat. Kräftigen Sie sich, denn wenn Sie erst einmal vor meiner Venus stehen, wird niemand Sie losreißen können.
In fünf Minuten war ich fertig, das heißt, ich war flüchtig rasiert, trug die Weste halboffen und hatte mir in der Eile mit der Schokolade die Kehle verbrannt. Ich eilte in den Garten hinab und fand eine herrliche Antike.
Es war tatsächlich eine Aphrodite von wunderbarer Schönheit. Der Oberkörper war nackt; die rechte Hand, in der Höhe des Busens, nach innen gewendet; der Daumen und die zwei ersten Finger ausgestreckt, die andern beiden leicht gekrümmt. Die linke Hand hielt an der Hüfte das Gewand, das den Unterleib bedeckte. Die ganze Haltung erinnerte an den Moraspieler, der aus mir unbekanntem Grunde als Germanikus gilt. Vielleicht war auch diese Göttin beim Spiel gedacht.
Wie dem auch sei, die prächtige Venus hatte nicht ihresgleichen; anmutig und wollüstig im Körperlichen, reizend und edel in der Gewandung. Ich hatte irgendein Werk aus der späten Kaiserzeit erwartet; ich sah ein Meisterwerk aus der Blütezeit der antiken Plastik. Besonders überraschte mich die hohe Naturwahrheit; man war versucht zu glauben, diese erlesenen Formen wären dem Leben nachgebildet, vorausgesetzt, daß die Natur ein so vollendetes Vorbild dargeboten hat.
Das Haar, in Wellen aus der Stirn gestrichen, zeigte die Spuren ehemaliger Vergoldung. Der Kopf, klein wie ihn fast alle griechischen Statuen haben, war leicht vorgebeugt. Was das Gesicht anbelangt, so wird es mir wohl niemals gelingen, seinen seltsamen Charakter in Worten auszudrücken. Den Typ dieses Bildnisses habe ich, auch annähernd nicht, nirgends je bei einer Antike wiedergefunden. Es war nicht die bekannte ruhige herbe Schönheit der hellenischen Bildhauer, die den Zügen ihrer Gestalten eine hoheitsvolle Unbeweglichkeit geradezu planmäßig aufdrücken. Im Gegenteil bemerkte ich hier zu meiner Verwunderung die unverkennbare Absicht des Künstlers, eine böse, beinahe heimtückische Seele zu offenbaren. Das ganze Gesicht war in gewisser Spannung, die Augen schauten nicht ganz geradeaus, die Mundwinkel waren ein wenig verzogen, die Nasenflügel leicht gebläht. Hochmut, Spott, Grausamkeit spielten über der unerhörten Schönheit ihrer Züge. Ehrlich gesagt, je mehr man die herrliche Statue anschaute, desto mehr hatte man die beklemmende Empfindung, daß dies wunderbar schöne Weib alles andre denn sentimental sein müsse.
Wenn das Modell hierzu je gelebt hat, sagte ich zu Herrn von Peyrehorade, und ich bezweifle, daß die Schöpfung solch ein Weib hervorgebracht hat, so beklage ich ihre Liebhaber. Es muß ihr Genuß gewesen sein, verzweifelte Verehrer in den Tod zu treiben. In ihrem Gesichtsausdruck liegt etwas Wildes, und doch habe ich nie etwas so Schönes gesehen.
Es ist Venus, nur bedacht auf ihre Beute . . .
rief Herr von Peyrehorade, sichtlich befriedigt von meiner Begeisterung.
Jener Zug teuflischen Spottes wurde wohl durch den Gegensatz verstärkt, den ihre eingelegten, aus Silber gefertigten, hellfunkelnden Augen zur schwärzlichgrünen Patina bildeten. Diese glanzvollen Augen täuschten wirkliches Leben vor. Dabei fiel mir wieder ein, daß mein Führer gesagt hatte, man könne ihr nicht lange in die Augen schauen. Das war wirklich beinahe wahr, und ich konnte mich eines gewissen Ärgers über mich selber nicht erwehren, weil mir vor diesem Erzgesicht unbehaglich zumute ward.
Nunmehr, sagte mein Gastgeber, da Sie alles im Einzelnen bewundert haben, verehrter Kollege in der Altertumsforschung, wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, eine wissenschaftliche Diskussion eröffnen. Was sagen Sie zu dieser Inschrift, die Sie noch nicht beachtet haben?
Er wies auf den Sockel der Bildsäule, und ich las da die Worte:
CAVE AMANTEM.
Quod dicis, doctissime? fragte er mich, sich die Hände reibend. Sehen wir zu, ob wir über den Sinn dieses Cave amantem der nämlichen Meinung sind!
Der Spruch ist zweideutig, erwiderte ich. Man kann übersetzen: Hüte dich vor dem Geliebten! Aber ich weiß nicht, ob Cave amantem in diesem Sinne gutes Latein wäre. Wenn ich die teuflische Miene der Dame betrachte, möchte ich eher glauben, der Verfasser der Inschrift habe den Beschauer vor der schrecklichen Schönheit warnen wollen. Ich schlage daher die Übersetzung vor: Nimm dich vor dieser Liebenden in acht!
Hm! meinte Herr von Peyrehorade. Freilich, Ihre Deutung ist ausgezeichnet. Doch (nichts für ungut!) ich ziehe die erste Übersetzung vor, allerdings nicht ohne Erläuterung. Kennen Sie den Liebhaber der Aphrodite?
Es gab ihrer mehrere.
Ja, aber der erste war Hephaistos. Hat man nicht sagen wollen: Trotz aller deiner Schönheit, trotz deiner Unnahbarkeit, wird ein Schmied, ein häßlicher Hinkemann, dein Geliebter! Eine tiefsinnige Lehre für kokette Weiber.
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; diese Erläuterung dünkte mich allzusehr bei den Haaren herbeigezogen.
Eine schreckliche Sprache, dies Latein mit seiner Kürze! meinte ich, um meinem Antikenkenner nicht gerade zu widersprechen, und trat ein paar Schritte zurück, um die Statue besser betrachten zu können.
Einen Augenblick, Herr Kollege! sagte Herr von Peyrehorade, indem er mich am Arme festhielt. Sie haben noch nicht alles gesehen. Es ist noch eine andre Inschrift da. Steigen Sie einmal auf den Sockel und schauen Sie am rechten Arme nach!
Dies sagend, half er mir beim Klettern.
Ohne viel Umstände umhalste ich die Venus und begann mit ihr vertraut zu werden. Einen Augenblick stand ich ihr unmittelbar unter der Nase, wobei sie mir noch boshafter und schöner vorkam. Dann gewahrte ich einige Buchstaben ihr im Arm eingeritzt, in antiker Schrägschrift, wie ich feststellte. Mit Hilfe meiner Lupe entzifferte ich mühsam folgende Worte, wobei Herr von Peyrehorade jedes Wort, sowie ich es aussprach, mit billigender Stimme und Gebärde wiederholte. Ich las also:
VENERI TVRBVL . . .
EVTYCHES MYRO
IMPERIO FECIT
Nach dem Worte Turbul in der ersten Zeile waren sichtlich einige Buchstaben verschwunden; Turbul aber war deutlich zu lesen.
Und das heißt? fragte mich mein Wirt, strahlend und voll Arglist lächelnd, denn er mochte denken, daß ich mit diesem Turbul . . . nicht sogleich fertig werden würde.
Eins von den Worten ist mir noch schleierhaft, erwiderte ich ihm. Alles übrige ist leicht:
Eutyches Myron
hat der Venus auf ihr Geheiß
dies dargebracht.
Großartig! Aber Turbul . . .? Was fangen Sie damit an? Was heißt Turbul . . .?
Turbul . . . macht mir Kopfzerbrechen. Vergeblich suche ich nach einem bekannten Beiwort der Venus, das mich auf die Sprünge bringen könnte. Hören Sie! Was würden Sie zu: Turbulenta sagen? Der beunruhigenden, verwirrenden Venus? Sie werden bemerken, ich stehe vor allem unter dem Eindruck ihrer boshaften Miene. Turbulenta, das ist keine üble Bezeichnung für Venus.
Dies fügte ich in bescheidenem Tone hinzu, denn selber war ich von meiner Deutung nicht besonders befriedigt.
Venus turbulenta! Die radaulustige Venus! Aha! Sie glauben also, meine Venus sei eine Venus aus dem Tingeltangel? Mitnichten! Die Dame ist aus der guten Gesellschaft. Ich will Ihnen das Turbul . . . erklären. Nur müssen Sie mir versprechen, meine Entdeckung nicht vor dem Drucke meiner Denkschrift bekanntzumachen. Auf diesen Fund bilde ich mir nämlich etwas ein. Uns armen Teufeln im Hinterlande müßt Ihr schon auch ein paar Nüsse zu knacken übrig lassen. Ihr habt übergenug, ihr Herren Gelehrten in Paris!
Vom Sockel herab, auf dem ich noch immer thronte, versprach ich feierlich, daß ich niemals die Nichtswürdigkeit begehen würde, ihm seine Entdeckung zu stehlen.
Turbul . . ., sagte er, indem er mir näherkam und seine Stimme dämpfte, damit es ja kein andrer außer mir hören könne: Lesen Sie:
TVRBVLNERAE!
Verstehe ich nicht! meinte ich.
Geben Sie acht! Eine Wegstunde von hier, am Fuße des Gebirges, da liegt ein Dorf, das heißt Boulternère, verdorben aus dem lateinischen Turbulnera. Solcher Silbentausch ist nicht ungewöhnlich. Boulternère war einmal ein römischer Ort. Ich habe nie daran gezweifelt, hatte aber keinen Beweis. Der Beweis steht da! Diese Venus war die Ortsgöttin des Städtchens Turbulnera. Und noch etwas viel Merkwürdigeres. Der Name Boulternère, dessen lateinische Herkunft ich eben dargelegt habe, läßt darauf schließen, daß der Ort vormals eine phönikische Niederlassung gewesen ist . . .
Er hielt einen Augenblick inne, um Luft zu schnappen und sich an meiner Verwunderung zu weiden. Es glückte mir, nicht laut herauszuplatzen.
In der Tat, fuhr er fort, Turbulnera ist reines Phönikisch. Tur und Sur ist dasselbe. Nicht wahr? Sur ist das phönikische Wort für Tyr. Die Bedeutung brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Bul ist Bal. Bal, Bel, Bul . . . belanglose Verschiedenheiten der Aussprache. Was nera anbelangt, so bin ich mir darüber nicht recht klar. In Ermangelung eines phönikischen Wortes möchte ich annehmen, daß es vom griechischen neros (feucht, sumpfig) kommt. Das Ganze wäre also Sprachmosaik. Um neros zu rechtfertigen, werde ich Ihnen in Boulternère zeigen, wie die Sturzbäche der Berge dort Maremmen bilden. Indessen könnte die Endung nera auch später zugefügt sein, zu Ehren der Nera Pivesuvia, der Frau des Tetrikus, die der Stadt Turbul irgendwelche Wohltat erwiesen haben mag. Doch in Hinsicht auf die Maremmen ziehe ich die Etymologie von neros vor.
Wohlgefällig nahm er eine Prise Schnupftabak.
Aber lassen wir die Phöniker und kehren wir zur Inschrift zurück! Ich lese also:
Der Venus von Turbulnera
stiftet Myron auf ihr Geheiß
sein Werk.
Ich hütete mich, seine Etymologie zu bekritteln, wollte aber meinerseits eine Probe meines Scharfsinnes vorbringen, und so sagte ich: Mit Verlaub! Myron hat etwas geweiht, aber nichts beweist, daß es diese Statue war!
Aber, aber! rief Herr von Peyrehorade. War Myron nicht ein berühmter griechischer Bildhauer? Seine Begabung hat sich in seiner Familie vererbt. Einer seiner Nachkommen ist der Meister dieses Werks. Das ist doch klipp und klar!
Na, na, erwiderte ich, ich sehe da am Arm ein Löchlein. Ich denke, es wird den Zweck gehabt haben, etwas zu halten, zum Beispiel ein Armband, das besagter Myron der Venus zur Versöhnung dargebracht hat. Myron war unglücklich verliebt. Venus grollte ihm. Er besänftigte sie, indem er ihr ein goldenes Armband weihte. Beachten Sie, daß fecit oft im Sinne von consecravit gebraucht wurde. Das sind Synonyme. Ich könnte Ihnen mehr als ein Beispiel bringen, wenn ich Gruter oder Orellius zur Hand hätte. Es ist verständlich, daß einem Verliebten im Traume die Venus erscheint, daß er sich einbildet, sie befehle ihm, ihrem Bilde ein goldnes Armband zu stiften. Myron brachte es ihr dar. Später haben die Barbaren oder ein gottlästerlicher Dieb . . .
Sieh da! Man merkt, daß Sie Romane geschrieben haben, rief mein Wirt, indem er mir die Hand reichte, damit ich herabkletterte. Nein, Herr Mérimée, das ist ein Werk aus der Schule Myrons. Betrachten Sie bloß die Arbeit, und Sie müssen es zugestehen!
Da es einer meiner Grundsätze ist, einem sturen Altertumsforscher niemals über eine gewisse Grenze zu widersprechen, so neigte ich wie ein Besiegter mein Haupt und sagte: Es ist ein herrliches Stück!
Du mein Gott! rief Herr von Peyrehorade. Schon wieder ein Vandalenstreich! Da hat einer mit einem Stein meine Bildsäule getroffen.
Er hatte soeben ein helles Mal über dem Busen der Venus wahrgenommen. Ich bemerkte an den Fingern der rechten Hand eine ähnliche Spur, die wohl von dem geworfenen Stein im Fluge gestreift worden war, oder aber der Stein war im Anprall zersplittert, und ein Stück davon hatte die Hand getroffen.
Ich erzählte meinem Wirt von dem Bubenstreich, dessen Zeuge ich gewesen, und von der Strafe, die ihm auf dem Fuße gefolgt war. Er lachte laut, und indem er den Lehrling mit Diomedes verglich, wünschte er ihm, daß er wie der griechische Heros alle seine Genossen in weiße Vögel verwandelt sehen solle.
Die Frühstücksglocke unterbrach unser klassisches Gespräch, und gleich wie am Abend zuvor ward ich genötigt, für viere zu schmausen.
Danach kamen Herrn von Peyrehorades Pächter, und während er ihnen Audienz erteilte, zeigte mir sein Sohn eine Kalesche, die er für seine Braut in Toulouse gekauft hatte. Selbstverständlich bewunderte ich sie. Dann ging ich mit ihm in den Pferdestall, wo er mich eine halbe Stunde festhielt, um mir seine Gäule vorzurühmen, ihre Pedigree zu erörtern und die Preise aufzuzählen, die sie auf der Rennbahn des Departements eingeheimst hatten. Schließlich kam er auf seine Zukünftige zu sprechen. Den Übergang vermittelte eine graue Stute, die für sie bestimmt war.
Wir werden sie heute zu sehen bekommen, sagte er. Ich weiß nicht, ob Sie sie hübsch finden werden. Die Pariser sind anspruchsvoll. Aber hier und in Perpignan findet sie jedermann entzückend. Vor allem ist sie schwerreich. Ihre Tante in Prades hat ihr ihr Vermögen vermacht. Nichts wird meinem Glücke fehlen.
Der junge Mann, dem die Mitgift seiner Braut tiefer ging als ihre schönen Augen, war mir unangenehm.
Sie verstehen sich auf Schmucksachen, fuhr Herr Alphons fort. Wie finden Sie das hier? Es ist der Ring, den ich ihr morgen schenke.
Dabei zog er vom ersten Glied seines kleinen Fingers einen dicken, mit einer Reihe Brillanten besetzten Ring, gebildet aus zwei verschlungenen Händen. Ein reizendes Symbol. Die Arbeit war alt, aber die Steine waren wohl später eingesetzt. Innen stand in altmodischen Lettern:
SEMPR AB TI
Das heißt: Immer mit dir!
Ein hübscher Ring! sagte ich. Nur stören die dazugefügten Brillanten seine ursprüngliche Art ein wenig.
Oh! So ist er doch viel schöner, erwiderte er lächelnd. Die Steine daran kosten zwölfhundert Franken. Ein Familienerbstück. Meine Mutter hat ihn mir gegeben. Meine Großmutter hat ihn getragen; sie hatte ihn von ihrer Großmutter. Der Ring ist uralt. Aus der Troubadourzeit. Was weiß ich?
In Paris ist es Sitte, sagte ich, einen ganz einfachen Ring zu schenken, der gewöhnlich aus zwei verschiedenen Metallen besteht, etwa Gold und Platin. Sehen Sie, der andre Ring, den Sie da am Finger haben, der wäre recht passend. Dieser hier mit den Brillanten und den hervortretenden Händen ist so dick, daß man keinen Handschuh wird darüberziehen können.
Oh, Frau Alphons kann das halten, wie sie will. Ich glaube, sie wird ihn ganz gern nehmen. Zwölfhundert Franken am Finger, das ist doch angenehm. Der kleine Ring hier, fügte er mit einem selbstgefälligen Blick auf den glatten Reif an seiner Hand hinzu, den hat mir eine Pariserin geschenkt, zur Fastnacht. Da habe ich mich einmal ausgetollt, in Paris, vor zwei Jahren. Dort versteht man zu leben . . .
Und er seufzte voller Wehmut.
Diesen Tag sollten wir das Mittagessen in Puygarrig bei den Eltern der Braut einnehmen. Wir stiegen in eine Kutsche und fuhren nach dem Schlosse, das etwa anderthalb Stunden von Ille entfernt liegt. Ich wurde vorgestellt und wie ein Freund der Familie bewillkommt.
Vom Mahle will ich nicht reden, auch nicht von der Unterhaltung, die sich anschloß und an der ich mich wenig beteiligte. Herr Alphons, der neben seiner Braut saß, raunte ihr alle Viertelstunden etwas ins Ohr, worauf sie, die kaum die Augen aufschlug, errötete, aber ihm jedesmal herzhaft antwortete.
Fräulein von Puygarrig war achtzehn Jahre alt. Ihr biegsamer feiner Wuchs stach stark ab von dem knochigen Körperbau ihres derben Bräutigams. Sie war nicht nur schön, sondern allerliebst. Ich bewunderte die vollkommene Natürlichkeit aller ihrer Antworten. Ihr gütiges Antlitz hatte einen Anflug von Schelmerei, der mich unwillkürlich an die Aphrodite meines Wirtes erinnerte. Während ich diesen Vergleich bei mir anstellte, fragte ich mich, ob die überlegene Schönheit, die man der Statue unbedingt zubilligen mußte, nicht zum großen Teil in ihrem Raubtierhaften beruhte, denn Willenskraft, selbst in schlimmer Leidenschaft, erregt in uns immer Staunen und unfreiwillige Bewunderung.
Wie schade, dachte ich, als ich Puygarrig verließ, daß ein so liebenswertes Mädchen reich ist, und daß ihre Mitgift der Anlaß ist, daß ein Mann sie begehrt, der ihrer nicht würdig ist.
Wieder in Ille, wußte ich nicht recht, was ich Frau von Peyrehorade sagen sollte, an die hin und wieder das Wort zu richten ich für schicklich hielt.
Gnädige Frau, bemerkte ich, Sie sind hier im Roussillon wirklich Freigeister. Sie feiern eine Hochzeit am Freitag! Wir in Paris sind abergläubischer. Niemand würde es wagen, an einem solchen Tage zu heiraten.
Lieber Gott, sprechen Sie mir nicht davon! erwiderte sie mir. Wenn es von mir abgehangen hätte, so wäre gewiß ein andrer Tag gewählt worden. Aber Peyrehorade hat es so gewollt, und man hat ihm nachgeben müssen. Mir macht das große Sorge. Wenn es ein Unglück gäbe? Es muß doch etwas daran sein; warum haben denn alle Leute Angst vor dem Freitag?
Freitag! rief ihr Mann. Das ist der Tag der Venus. Ein guter Tag für eine Hochzeit. Sie sehen, lieber Herr Kollege, ich denke nur an meine Venus. Auf Ehre, ihretwegen habe ich den Freitag genommen. Wenn es Ihnen recht ist, morgen, vor der Feier, wollen wir ihr ein kleines Opfer darbringen. Wir wollen ihr zwei Tauben spenden; und wenn ich wüßte, wo Weihrauch aufzutreiben wäre . . .
Peyrehorade, ich bitte dich! unterbrach ihn seine Frau äußerst empört. Einem Götzenbilde Weihrauch? Das wäre Gotteslästerung. In was für ein Gerede würden wir weit und breit kommen?
Du wirst mir doch wenigstens gestatten, sagte Peyrehorade, daß ich ihr einen Kranz von Rosen und Lilien auf das Haupt setze: manibus date lilia plenis.
Sie sehen, Verehrtester, die Verfassung ist eitler Wahn. Freiheit im Gottesdienst haben wir nicht.
Die Einteilung des nächsten Tages ward wie folgt festgesetzt. Jedermann hatte Punkt zehn Uhr fix und fertig zu sein. Nach einer Tasse Schokolade Abfahrt nach Puygarrig. Standesamtliche Trauung im Gemeindehause, kirchliche Trauung in der Schloßkapelle. Darauf das Frühstück. Danach sollte jeder bis sieben Uhr abends machen, wozu er Lust hatte. Um sieben Rückfahrt nach Ille. Im Hause des Herrn von Peyrehorade gemeinsames Festmahl der verbundenen Familien. Das übrige freibleibend. Da man nicht tanzen durfte, sollte soviel wie möglich gegessen werden.
Von acht Uhr ab saß ich, den Bleistift in der Hand, vor der Venus. Zum zwanzigsten Male begann ich das Gesicht der Statue zu zeichnen, ohne daß es mir gelang, den eigentümlichen Ausdruck darin zu erfassen. Herr von Peyrehorade umkreiste mich, gab mir Ratschläge, wiederholte mir seine phönikische Etymologie. Sodann legte er Bengalrosen auf den Sockel des Standbildes nieder und erflehte in ernst-heiterer Art der Göttin Gunst und Gnade dem jungen Paare, das unter seinem Dache wohnen sollte.
Gegen neun Uhr ging er ins Haus, um sich festlich zu kleiden; gleichzeitig erschien Herr Alphons, in einen nagelneuen Bratenrock gezwängt, in weißen Handschuhen, Lackschuhen, mit pikfeinen Hemdenknöpfen und einer Rose im Knopfloche.
Er beugte sich über meine Zeichnung und meinte: Möchten Sie nicht meine Frau konterfein? Die ist auch hübsch.
In diesem Augenblick begann auf dem erwähnten Ballspielplatz eine Partie, die sofort Herrn Alphons' Aufmerksamkeit auf sich zog, und da ich mich müde fühlte und daran zweifelte, das Teufelsgesicht wiedergeben zu können, ließ ich das Zeichnen sein und sah den Spielern zu. Es befanden sich unter ihnen einige am Abend zuvor angekommene spanische Maultiertreiber aus Aragonien und Navarra, fast alle wunderbar geschickt. So waren denn die heimischen Sportsleute, obwohl sie durch die Gegenwart und die Ratschläge des Herrn Alphons angestachelt wurden, ziemlich bald durch die neuen Kämpen geschlagen. Die zuschauenden Iller waren bestürzt.
Herr Alphons sah auf seine Uhr. Es war erst halb zehn. Seine Mutter war noch nicht frisiert. Er zauderte nicht, zog seinen Rock aus, ließ sich eine Jacke geben und forderte die Spanier zum Spiel heraus. Belustigt und ein wenig überrascht beobachtete ich sein Unterfangen.
Die Ehre des Landes muß gerettet werden! rief er. Jetzt fand ich ihn wahrhaft schön. Er war von der Leidenschaft gepackt. Seine Kleidung, die ihn eben noch stark beschäftigt hatte, war ihm völlig gleichgültig geworden. Ein paar Minuten zuvor hatte er kaum gewagt, den Kopf zu drehen, um ja nicht seine Krawatte in Unordnung zu bringen. Nunmehr dachte er weder an sein schöngelegtes Haar noch an sein tadellos gebügeltes Oberhemd. Und seine Braut? Wahrlich, ich glaube, im Notfalle hätte er die Hochzeitsfeier aufgeschoben.
Ich sah, wie er eiligst Sandalen anzog, die Ärmel aufkrempelte und sich mit zuversichtlicher Miene an die Spitze der besiegten Partei stellte, gleich Cäsar, als er bei Dyrrachium seine Truppen um sich scharte. Ich stieg über die Hecke und suchte mir einen bequemen Platz im Schatten eines Zirbelbaumes, von wo aus ich beide Lager gut überblickte.
Entgegen der allgemeinen Erwartung verfehlte Herr Alphons den ersten Ball. Allerdings, dieser Ball kam ganz flach über den Boden, erstaunlich kräftig geworfen von einem Aragonier, wohl dem Führer der Spanier. Das war ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, mager und nervig, sechs Fuß hoch; seine olivengelbe Haut war beinahe ebenso dunkel wie das Erz der Venus.
Herr Alphons warf seinen Schläger voller Wut auf die Erde.
Daran ist dieser verfluchte Ring schuld, rief er. Er drückt mir den Finger und hat mich einen sicheren Ball verfehlen lassen.
Nicht ohne Mühe zog er den Brillantring ab. Ich ging auf ihn zu, um ihn in Empfang zu nehmen, aber rascher als ich, war er schon zur Venus gelaufen, steckte ihr den Ring an den Ringfinger und nahm seinen Stand an der Spitze der Iller wieder ein.
Er war blaß, aber mutig und entschlossen. Von nun an beging er keinen einzigen Fehler, und die Spanier wurden gründlich geschlagen. Ein schönes Bild bot die Begeisterung der Zuschauer. Die einen stießen endlose Jauchzer aus und warfen ihre Mützen in die Luft; die andern drückten dem Sieger die Hand und nannten ihn den Stolz des Landes. Hätte er einen feindlichen Einfall zurückgeschlagen, ich bezweifle, ob er lebhafter und ehrlicher beglückwünscht worden wäre. Der Ärger der Besiegten erhöhte seinen glänzenden Triumph.
Das war nicht unsere letzte Partie, Wackerer! rief er dem Aragonier im Ton der Überlegenheit zu. Aber ich werde Euch einige Punkte vorgeben.
Ich hätte mir Herrn Alphons bescheidener gewünscht; diese Demütigung seines Gegners war mir gräßlich.
Der baumlange Spanier empfand die Worte als schwere Kränkung. Ich sah, wie er unter seiner dunklen Haut erbleichte. Mit düstrer Miene und zusammengepreßtem Gebiß betrachtete er seinen Ballschläger; darauf murmelte er mit erstickter Stimme: Me lo pagarás! (Das sollst du mir büßen!)
Herrn von Peyrehorades Stimme störte seines Sohnes Siegerlaune. Mein Wirt, schon sehr verwundert, ihn nicht als Anordner beim Anspannen der neuen Kutsche gefunden zu haben, ward es noch mehr, als er ihn schweißtriefend, den Schläger in der Hand, erblickte.
Herr Alphons eilte ins Haus, wusch sich Gesicht und Hände, zog seinen Festrock und seine Lackstiefel wieder an, und fünf Minuten später fuhren wir in scharfem Trabe auf der Straße nach Puygarrig dahin. Alle Ballspieler des Städtchens und eine Menge Zuschauer liefen unter Freudengeschrei hinter uns her. Unsre kräftigen Pferde mußten tüchtig ausgreifen, sonst wären sie von den flinken Kataloniern eingeholt worden.
Wir waren in Puygarrig, und der Hochzeitszug setzte sich nach dem Gemeindehause in Bewegung, da schlug sich Herr Alphons auf die Stirn und flüsterte mir zu: Wie dumm! Ich habe den Ring vergessen. Er steckt am Finger der Venus. Der Teufel soll sie holen! Sagen Sie es wenigstens meiner Mutter nicht! Vielleicht merkt sie es gar nicht.
Schicken Sie doch jemanden zurück! schlug ich vor.
Ach nein. Mein Diener ist in Ille geblieben. Denen hier traue ich nicht recht. Für zwölfhundert Franken Brillanten! Das führt manchen in Versuchung. Was würde man übrigens von meiner Zerstreutheit denken? Man würde mich arg hänseln. Man würde mich das Ehegespons der Venus nennen . . . Hoffentlich maust man mir ihn nicht. Zum Glücke haben die Kerle Angst vor dem Götzenbilde. Keiner wagt sich in Reichweite heran. Doch genug. Es macht nichts. Ich habe einen andern Ring.
Beide Feierlichkeiten, die standesamtliche wie die kirchliche, spielten sich unter dem herkömmlichen Gepränge ab, und Fräulein von Puygarrig empfing den Ring einer Pariser Putzmacherin, ohne sich träumen zu lassen, daß ihr Bräutigam ihr ein Liebespfand darbrachte. Dann setzte man sich zu Tisch, aß, trank und sang sogar, alles ausgiebig und andauernd. Ich litt für die junge Frau unter der derben Lustigkeit, die sich um sie entwickelte; doch hielt sie sich wackrer als ich erwartet hatte, und ihre leichte Befangenheit verriet weder Ohnmacht noch Ziererei. Es mag wohl sein, daß der Mut in schwieriger Lage wächst.
Das Frühstück kam zu Ende, als es Gott gefiel. Es war vier Uhr. Die Herren setzten sich zu einem Spaziergang durch den prächtigen Park in Bewegung oder schauten den Bäuerinnen von Puygarrig zu, die in ihrem Sonntagsstaat auf der Schloßwiese tanzten. So schlugen wir die paar Stunden tot. Währenddem scharten sich die Damen um die Neuvermählte, die ihre Brautgeschenke bewundern ließ. Dann wechselte sie ihr Kleid. Ich bemerkte, daß sie eine Haube und einen Federhut auf ihrem schönen Haar trug. Eine Verheiratete hat natürlich nichts Eiligeres zu tun als so schnell wie möglich einen Schmuck anzulegen, den die Sitte einem jungen Mädchen zu tragen verbietet.
Es ging auf acht Uhr, als man sich zum Aufbruch nach Ille anschickte. Zuletzt gab es einen rührseligen Auftritt. Die Tante des Fräuleins von Puygarrig, die ihr die Mutter vertrat, eine betagte und sehr fromme Dame, sollte nicht mit uns zur Stadt kommen. So hielt sie ihrer Nichte beim Scheiden über ihre Frauenpflichten eine herzergreifende Predigt, der ein Tränenstrom und endlose Umarmungen folgten. Herr von Peyrehorade seinerseits verglich die Trennung mit dem Raube der Sabinerinnen. Endlich kam es zur Abfahrt, und unterwegs tat ein jeder sein Mögliches, die junge Frau zu zerstreuen und aufzuheitern. Jedoch es war vergebens.
In Ille erwartete uns das Abendessen – und was für eins! War mir schon die Ausgelassenheit vom Vormittag unangenehm gewesen, weit peinlicher waren mir die Zweideutigkeiten und Späße, die den Neuvermählten, zumal der jungen Frau, galten. Der Bräutigam, der, ehe man sich zur Tafel setzte, einen Moment wegging, war bleich und von eisigem Ernst. Aller Augenblicke hatte er das Glas an den Lippen, alten Collioure, stark fast wie Branntwein. Ich saß ihm zur Seite und hielt es für meine Pflicht, ihn zu warnen.
Sehen Sie sich vor! Man sagt, dieser Wein . . .
Ich weiß nicht, was für dummes Zeug ich vorbrachte, um mich der Stimmung der andern Gäste anzupassen.
Er stieß mich mit dem Knie und flüsterte mir zu: Wenn die Tafel aufgehoben wird, möchte ich Ihnen kurz etwas sagen.
Sein feierlicher Ton kam mir merkwürdig vor. Ich beobachtete ihn eifrig und gewahrte eine seltsame Veränderung seines Gesichts.
Fühlen Sie sich unwohl? fragte ich ihn.
Nein.
Wieder und wieder trank er.
Unterdessen kroch unter Rufen und Händeklatschen ein elfjähriges Kind unter dem Tisch hervor und überreichte der Tafelrunde ein hübsches rot und weißes Band, das es der jungen Frau vom Knöchel gelöst hatte, das Strumpfband der Braut, wie es hieß. Es wurde sogleich in Stücke geschnitten und an die jungen Herren verteilt, die sich das Knopfloch damit schmückten, altem Brauche gemäß, der sich in einigen altväterischen Familien erhalten hat. Es gab der jungen Frau Anlaß, über und über zu erröten. Aber ihre Verwirrung erreichte den Gipfel, als Herr von Peyrehorade, nachdem er um Silentium gebeten, ein paar, wie er sagte, Verse aus dem Stegreif in katalonischer Mundart vorsang. Sie hatten, wenn ich recht verstanden habe, folgenden Sinn:
Was ist das, liebe Freunde?
Läßt der Wein, den ich getrunken
Mich alles doppelt schaun?
Es sind zwei Aphroditen da . . .
Jählings und verstört schaute sich der Bräutigam um, was alle zum Lachen brachte.
Herr von Peyrehorade sang weiter:
Ja, Venus weilt zwiefach unter meinem Dache.
Die eine hab ich in der Erde gefunden wie eine Trüffel;
Die andre, eine mir vom Himmel zugefallene,
Hat eben ihren Gürtel an uns verteilt . . .
(Das sollte heißen: ihr Strumpfband.)
Sohn, willst du die römische oder die katalonische?
Sieh, der Spitzbube hat die katalonische gewählt
Und damit den besseren Teil.
Die Römerin ist schwarz, die Katalonierin weiß,
Die römische kalt, doch die katalonische
Setzt alles, was ihr naht, in Flammen.
Der Schlußvers erregte solch ein Hurra, Beifallstoben und lautes Gelächter, daß ich vermeinte, die Decke werde über uns zusammenstürzen. In der ganzen Tafelrunde blieben nur drei Gesichter ernst, die des jungen Paares und meins. Ich hatte heftigen Kopfschmerz; überdies stimmt mich, ich weiß selber nicht warum, eine Hochzeit immer traurig. Insbesondere diese war mir etwas contre coeur.
Des Bürgermeisters Adjunkt gab auch noch ein Lied zum besten (ich muß sagen, es war recht frei); dann begab man sich in den Salon, um sich am Schauspiel des Abganges der Braut zu weiden, die nun in ihr Schlafgemach geleitet werden sollte, denn es war kurz vor Mitternacht.
Herr Alphons zog mich in eine Fensternische und sagte zu mir mit abgewandtem Blick:
Sie werden mich auslachen . . . aber ich weiß nicht, was mit mir ist . . . ich bin verhext . . . Hol mich der Teufel!
Meine erste Vermutung war, er fühle sich von jenem Übel bedroht, das Montaigne und Frau von SévignéMontaigne und Frau von Sévigné. Vgl. dazu das berühmte Kapitel Vom Fiasko in Stendhals De l'Amour (Ausgabe der Bibliotheca Mundi, p. 271 ff. oder deutsche Ausgabe, Von der Liebe, Insel-Verlag, S. 240 ff.), wo man auch die Montaigne-Stelle wiedergegeben findet. mit den Worten meinen: Das Reich der Liebe wimmelt von tragischen Geschichten . . .
Ich dachte (sagte ich zu mir selber), dies Mißgeschick stieße nur Leuten des Geistes zu.
Sie haben zuviel Collioure getrunken, bester Herr Alphons!
Mag sein! Aber es ist etwas viel Schrecklicheres . . .
Er bekam den Schlucken; ich hielt ihn für bezecht.
Nach einem Stillschweigen begann er von neuem: Sie wissen doch, mein Ring . . .
Freilich! Ist er weg?
Nein.
Also haben Sie ihn?
Nein . . . ich . . . krieg ihn nicht vom Finger dieser gottverdammten Venus!
So! Sie haben nicht gehörig stark gezogen.
Doch. Aber die Venus . . . die hat den Finger krumm gemacht.
Er starrte mich mit verstörtem Blick an. Um nicht hinzusinken, hielt er sich am Fensterriegel fest.
Was Sie da fabeln! meinte ich. Sie haben ihr den Ring zu fest angesteckt. Morgen werden Sie ihn mit einer Zange abnehmen. Aber geben Sie acht, daß Sie die Statue nicht beschädigen!
Ich bleibe dabei. Der Finger der Venus ist gekrümmt, zurückgezogen. Sie ballt die Hand. Verstehen Sie mich? Unbedingt, sie ist meine Frau, da ich ihr meinen Ring gegeben habe . . . Sie will ihn mir nicht wiedergeben.
Ich verspürte einen plötzlichen Schauer und bekam Gänsehaut. Einen Augenblick. Alphons schluckte auf. Starker Weindunst wehte mir zu. Jede Erregung war mir vertrieben.
Der Unglücksmensch ist gänzlich beschwippst, dachte ich bei mir.
Sie verstehen sich auf Antiken, Herr Mérimée, fuhr er weinselig fort. Sie kennen diese Art Bildsäulen. Gibt es an ihnen irgendeine Feder, eine Teufelei, die ich nicht weiß? Wenn Sie einmal nachschauen wollten . . .
Gern, sagte ich. Kommen Sie mit mir!
Nein, es ist mir lieber, wenn Sie allein gehen.
Ich verließ den Salon.
Während des Mahles war das Wetter umgeschlagen. Ein starker Regenschauer ging nieder. Ich wollte mir einen Schirm geben lassen, da hielt mich eine Erwägung zurück. Ich wäre schön dumm, sagte ich mir, wollte ich dem Geschwätz eines Betrunkenen auf den Grund gehen. Vielleicht hat er sich gar einen schlechten Scherz mit mir erlaubt, um diesen ehrenwerten Spießbürgern Stoff zum Lachen zu geben. Zum mindesten werde ich dabei bis auf die Knochen naß und hole mir einen tüchtigen Schnupfen.
Unter der Haustür warf ich einen Blick auf das vom Regen triefende Standbild, begab mich hinauf in mein Zimmer und schenkte mir die Rückkehr in den Salon. Ich legte mich zu Bett, aber der Schlaf ließ auf sich warten. Vorgänge des Tages tauchten vor meinem Geiste auf. Ich dachte an das so schöne und so reine junge Mädchen, das einem rohen Trunkenbold ausgeliefert war. Wie häßlich ist doch die herkömmliche Heiraterei! Ein Standesbeamter liest seine Formeln vor, ein Pfaffe hängt sich seinen Kittel um – und die ehrbarste Jungfrau ist dem Minotaurus verfallen. Zwei Menschen, die einander nicht lieben, was haben die sich zu sagen in einem Moment, für den zwei Andre ihr Leben dahingeben würden? Vermag ein Weib einen Mann zu lieben, den sie einmal gemein gesehen hat? Der erste Eindruck vergeht nie, und, ich bin sicher, dieser Herr Alphons verdient es, gehaßt zu werden.
Während meines Selbstgespräches, das ich beträchtlich kürze, hatte ich mehrfach im Hause hin- und herlaufen hören; Türen gingen auf und zu, Wagen fuhren weg. Dann vermeinte ich, auf der Treppe die leichten Tritte mehrerer weiblicher Wesen zu vernehmen, die sich nach dem meinem Zimmer entgegengesetzten Ende des Ganges begaben; vermutlich war dies das Gefolge der Braut, die man ins Bett geleitete. Dann ging man wieder die Treppe hinab. Die Tür hinter der jungen Frau von Peyrehorade schloß sich. Armes Ding, dachte ich bei mir, dir mag es unbehaglich und übel zumute sein! Mißlaunig drehte ich mich in meinem Bette um. Ein Junggeselle in einem Hause, in dem sich eine Hochzeit abwickelt, spielt eine törichte Rolle.
Eine Weile herrschte Ruhe. Da ward sie durch schwere Schritte treppauf gestört. Die hölzernen Stufen dröhnten stark.
Dieses Rauhbein! sagte ich zu mir. Ich wette, er stolpert über die Stiegen.
Wiederum wurde es still. Ich nahm ein Buch, um meine Gedanken in andere Bahn zu bringen. Es war eine Statistik des Departements, deren Zierde eine Abhandlung des Herrn von Peyrehorade über Denkmäler aus heidnischer Zeit im Bezirk Prades war. Bei Seite drei entschlummerte ich.
Ich schlief schlecht und wachte mehrmals auf. Es mochte fünf Uhr morgens sein; ich war schon länger als eine Viertelstunde wach, als der Hahn krähte. Der Tag graute. Da hörte ich deutlich die nämlichen schweren Tritte, das nämliche Dröhnen der Stiegen wie vor dem Einschlafen. Es kam mir sonderbar vor. Gähnend sann ich nach, weshalb Herr Alphons so früh auf den Beinen sei. Die rechte Lösung des Rätsels fand ich nicht. Eben schloß ich die Augen wieder, als meine Aufmerksamkeit von neuem durch seltsames Getrappel erregt ward. Alsbald ertönten Zimmerklingeln, und Türen gingen laut auf. Schließlich vernahm ich verworrene Schreie.
Der Süffel wird irgend etwas in Brand gesetzt haben, war mein Gedanke, als ich aus dem Bette sprang.
Rasch kleidete ich mich an und trat auf den Gang. Vom andern Ende drangen Rufe und Jammerlaute zu mir, und eine Stimme, die mir durch Mark und Bein ging, überschrie die andern: Mein Sohn! Mein Sohn!
Offenbar war Herrn Alphons ein Unfall zugestoßen.
Ich eilte nach der Brautkammer. Sie war voller Leute. Mein Blick fiel sofort auf den jungen Mann; halbbekleidet lag er quer über dem großen Bette, dessen Holzgestell zertrümmert war. Er war fahl und starr. Neben ihm kniete seine Mutter, laut klagend. Herr von Peyrehorade war in Tätigkeit; er rieb ihm die Schläfe mit Kölnischem Wasser oder hielt ihm Riechsalz unter die Nase. Umsonst. Lange schon war sein Sohn tot.
Am andern Ende des Gemaches, auf einem Sofa, saß die Jungvermählte, in entsetzlichen Krämpfen, wie ein Tier schreiend, kaum von zwei derben Mägden gebändigt.
Mein Gott, rief ich, was ist denn geschehen?
Ich trat an das Bett und hob den Körper des unglücklichen jungen Mannes. Er war schon steif und kalt. Seine aufeinander gepreßten Zähne und sein gedunkeltes Gesicht drückten die gräßlichste Angst aus. Man sah es nur zu deutlich, er hatte ein gewaltsames Ende gehabt und sein Todeskampf war fürchterlich gewesen. Übrigens fanden sich keinerlei Blutspuren. Ich schob sein Hemd auseinander und bemerkte auf seiner Brust einen bläulichen Eindruck, der über die Seiten und nach dem Rücken lief. Man war versucht, anzunehmen, er sei von einem eisernen Ring umschlungen worden. Mein Fuß trat auf etwas Hartes. Ich neigte mich und erblickte auf dem Teppich den Brillantring.
Ich zog Herrn von Peyrehorade und seine Frau in das Wohnzimmer und ließ auch die junge Frau dahin bringen.
Es ist Ihnen eine Tochter geblieben, sagte ich zu den Schwiegereltern. Sie müssen um sie sorgen! Dann entfernte ich mich.
Es war mir nicht zweifelhaft, daß Herr Alphons einem Mörder anheimgefallen war, der Mittel und Wege gefunden hatte, nachts in die Brautkammer zu dringen. Die Quetschung auf der Brust und ihre ringförmigen Ausläufer bereiteten mir zwar ziemliche Bedenken, denn von einem Knüttel oder einer Eisenstange konnten sie nicht herrühren. Plötzlich kam mir in Erinnerung, daß in Valencia die Bravi (gedungene Meuchelmörder) sich länglicher, mit feinem Sand gefüllter Ledersäcke bedienen, um ihr Opfer totzuschlagen. Sofort fiel mir auch der aragonische Eseltreiber ein und seine Drohung; ich wagte mir freilich kaum auszudenken, daß ein leichter Scherz Anlaß zu so furchtbarer Rache geworden sein könnte.
Ich ging im Hause umher und suchte überall nach Spuren eines Einbruches, entdeckte aber nicht das geringste. Ich ging hinab in den Garten und sah nach, ob der Mörder von dorther gekommen wäre, doch fand ich kein sichres Anzeichen. Überdies hatte der nächtliche Regen den Boden derart aufgeweicht, daß man Fußspuren schwer feststellen konnte. Immerhin spürte ich einige tiefe Eindrücke auf. Es war jemand auf dem gleichen Wege hin und her gegangen; und zwar begannen die Spuren im Winkel der Hecke, die den Garten vom Ballspielplatz trennte, und endeten vor der Haustüre. Vielleicht rührten sie von Herrn Alphons her, der zur Venus gegangen war, um seinen Ring zu holen. Hinwiederum war die Hecke im Winkel minder dicht denn anderswo, so daß man vermuten durfte, hier sei der Mörder übergestiegen.
Jedesmal wenn ich während dieser Nachforschung an der Bildsäule vorüberging, machte ich einen Augenblick halt, um sie zu betrachten. Ich gestehe, als ich die Fußspur gefunden, vermochte ich mir den boshaften Spott in ihrem Gesicht nicht ohne Grauen anzuschauen. Den Kopf voll der schrecklichen Auftritte, deren Zeuge ich gewesen, war mir zumute, als weidete sich da vor mir ein Dämon am Unheil, das dies Haus betroffen hatte.
Ich begab mich zurück in mein Zimmer und blieb dort bis Mittag. Dann verließ ich es und erkundigte mich nach meinen Wirten. Sie hatten sich ein wenig beruhigt. Fräulein von Puygarrig, vielmehr die Witwe des Herrn Alphons, war wieder bei Bewußtsein. Sie hatte sich sogar vom Staatsanwalt aus Perpignan vernehmen lassen, der auf einer Amtsreise zufällig in Ille weilte. Er bat auch mich um meine Aussage. Ich berichtete ihm, was ich wußte, und verhehlte ihm meinen Verdacht gegen den aragonischen Eseltreiber nicht. Er ordnete sofort dessen Festnahme an.
Haben Sie von Frau Alphons etwas erfahren? fragte ich den Staatsanwalt, als meine Aussage niedergeschrieben und unterzeichnet war.
Die unglückliche junge Dame hat den Verstand verloren, erwiderte er mit traurigem Lächeln. Sie ist verrückt, gänzlich verrückt. Hören Sie ihre Angaben!
Sie war, sagt sie, seit einigen Minuten im Bett. Die Bettvorhänge waren zugezogen. Da öffnete sich die Tür und jemand trat ein. Frau Alphons lag am hinteren Bettrand, das Gesicht gegen die Wand. Sie änderte ihre Lage nicht, überzeugt, es wäre ihr Mann. Im nächsten Augenblick ächzte das Bett wie unter gewaltiger Last. Sie bekam schreckliche Angst, wagte aber nicht, den Kopf zu wenden. Fünf Minuten, vielleicht zehn Minuten (sie kann sich über die Zeit keine Rechenschaft geben) vergingen so. Dann machte sie unwillkürlich eine Bewegung, oder die Person, die im Bette lag, war ihr näher gekommen; kurz, sie fühlte sich von etwas Eiskaltem berührt. Das sind ihre eigenen Worte! Sie schmiegte sich ganz an die Wand, zitternd an allen Gliedern. Gleich darauf ging die Tür zum zweitenmal; es kam jemand herein und sagte: Guten Abend, liebes Frauchen! Alsbald wurden die Vorhänge gezogen. Ein erstickter Schrei ward hörbar. Die Gestalt an ihrer Seite richtete sich auf, und es schien als strecke sie die Arme hoch. Jetzt wandte Frau Alphons den Kopf hin, und sie sah (so sagt sie), wie ihr Mann am Bette kniete, den Kopf in Höhe des Kopfkissens, von den Armen eines grünlichen Ungeheuers gewaltsam umklammert . . .
So sagt sie aus. Ein dutzendmal immer das gleiche. Die arme Frau! Sie behauptet (erraten Sie es?), sie habe die Broncegestalt, die Venus des Herrn von Peyrehorade, erkannt . . . Seit die da ist, träumt hier jedermann davon. Doch ich will Ihnen die Aussage der Unglücklichen weiter berichten. In diesem Moment verlor sie das Bewußtsein; den Verstand hatte sie wohl bereits einige Augenblicke zuvor verloren. Wie lange sie ohne Besinnung gelegen hat, vermag sie ganz und gar nicht anzugeben. Wie sie wieder zu sich gekommen war, sah sie das Gespenst, oder, wie sie stets sagt, das Standbild, regungslos, die Beine und den Leib im Bett, die Brust vorgebeugt und mit den Armen ihren Mann umschlingend, der sich nicht regte. Ein Hahn krähte. Da stieg das Standbild aus dem Bett, ließ den Leichnam fallen und entfernte sich. Frau Alphons riß am Klingelzug – und das übrige wissen Sie.
Man führte den Spanier vor. Gelassen, mit viel Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, verteidigte er sich, ohne jene Drohung zu leugnen, die ich gehört hatte. Er behauptete, damit nichts weiter gemeint zu haben als daß er am nächsten Tage, ausgeruht, dem Sieger eine Partie abgewinnen wollte. Ich erinnerte mich, daß er hinzufügte: Ein Aragonier, der sich beleidigt fühlt, wartet mit der Rache nicht bis zum nächsten Tage. Wäre ich der Meinung gewesen, Herr Alphons hätte mich verhöhnen wollen, so hätte ich ihm auf der Stelle mein Messer in den Leib gestoßen.
Man verglich seine Schuhe mit den Spuren im Garten; die Schuhe waren viel größer. Schließlich versicherte der Wirt des Gasthofes, wo der Mann wohnte, er habe die ganze Nacht einen ihm gehörigen kranken Esel abgerieben und mit Arznei versorgt. Überdies stand der Aragonier in gutem Leumund und war in der Gegend, in die ihn sein Geschäft alle Jahre führte, allerorts bekannt. Man ließ ihn also unter Entschuldigung frei.
Nicht unerwähnt bleibe die Aussage eines Dieners, der den jungen Herrn zuletzt lebend gesehen hatte, und zwar um die Zeit, als er im Begriff war, zu seiner Frau hinaufzugehen. Herr Alphons hatte ihn angerufen und ihn in erregtem Tone gefragt, ob er wisse, wo ich sei. Auf die Verneinung des Dieners habe der junge Herr gestöhnt, und länger als eine Minute habe er stumm dagestanden. Endlich hatte er gesagt: Gehen wir! Am Ende hat der Teufel ihn auch geholt.
Ich fragte den Diener, ob Herr Alphons seinen Brillantring gehabt habe, wie er mit ihm sprach. Er zögerte mit der Antwort. Endlich sagte er, er glaube nicht; indessen er habe nicht darauf geachtet.
Wenn er den Ring am Finger gehabt hätte, fügte er sich berichtigend hinzu, so hätte ich es gewiß bemerkt, denn ich war der Meinung, er habe ihn der gnädigen Frau gegeben.
Während ich den Diener verhörte, verspürte ich in mir etwas vom abergläubischen Schrecken, den die Aussage der Frau Alphons im ganzen Hause verbreitet hatte. Der Staatsanwalt lächelte mich an, und ich hütete mich, näher hierauf einzugehen.
Einige Stunden nach der Beerdigung des Herrn Alphons war ich zur Abfahrt von Ille bereit. Der Wagen des Herrn Peyrehorade sollte mich nach Perpignan bringen. Ungeachtet seines schwachen Zustandes wollte mich der bedauernswerte alte Herr bis an die Pforte seines Gartens geleiten. Schweigsam schritten wir dahin, er auf meinen Arm gestützt, nur mühsam vorwärtskommend. Im Augenblick des Abschieds warf ich einen letzten Blick auf die Venus. Ich war mir sicher, daß mein Gastgeber, wenn auch weit entfernt von der Angst und dem Haß eines Teiles seiner Familie, geneigt sein werde, sich eines Gegenstands zu entledigen, der ihn immerdar an gräßliches Unglück erinnern mußte. Meine Absicht war, ihm nahezulegen, sie einer öffentlichen Sammlung zu überlassen. Noch zögerte ich, auf die Sache zu kommen, da wandte Herr von Peyrehorade unwillkürlich den Kopf nach der Richtung, in die er mich hinlugen sah. Er bemerkte das Standbild, und mit einem Male brach ein Tränenstrom aus seinen Augen. Ich umarmte ihn, und ohne ihm ein einziges Wort gesagt zu haben (ich wagte es nicht), stieg ich in den Wagen.
Seit meiner Abreise habe ich nicht vernommen, ob irgendwie Licht auf jenes geheimnisvolle Ereignis gefallen ist.
Herr von Peyrehorade hat seinen Sohn einige Monate überlebt. Sein handschriftlicher Nachlaß ist mir testamentarisch vermacht; vielleicht veröffentliche ich ihn einmal. Sein Versuch über die Inschriften auf der Venus befindet sich nicht darunter.
Nachschrift
Mein Freund, Herr von P***, schreibt mir soeben aus Perpignan, daß die Statue nicht mehr da ist. Nach dem Tode ihres Mannes war es Frau von Peyrehorades erste Sorge, daß sie die Venus einschmelzen und eine Glocke daraus gießen ließ. In dieser neuen Gestalt dient sie der Kirche von Ille. Mich dünkt, fügt Herr von P*** hinzu, ein Unstern stehe über jedem, der diese Bronce besitzt. Seit die neue Glocke in Ille läutet, sind die Weinstöcke zweimal erfroren.