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L'enlèvement de la redoute
Übersetzt von Arthur Schurig
Erstdruck in der Revue de Paris, September-Oktober 1829. Quelle: Mündliche Erzählung Stendhals.Stendhal-Beyle, ein genialer Anekdotenerzähler, hatte unter anderem eine Menge amüsante kleine Geschichten aus seinen Feldzugserinnerungen; vgl. Mérimées Nekrolog auf H. B. im Band V unserer Ausgabe. Vgl. auch: Arthur Schurig, Das Leben eines Sonderlings (Henri Beyle), Insel-Verlag 1924, S. 726 ff., sowie Stendhal, Von der Liebe, Leipzig 1922 im Insel-Verlage, S. 275.
Ein Freund von mir, Soldat und vor etlichen Jahren in Griechenland am Fieber gestorben, hat mir eines Tages seine Feuertaufe erzählt. Diese Geschichte hat mich dermaßen gepackt, daß ich sie aus dem Gedächtnis niederschrieb, sobald ich Zeit dazu fand.
Hier ist sie.
Ich stieß zu meinem Regiment am 4. September abends. Der Oberst, den ich im Biwak antraf, empfing mich zunächst ziemlich barsch; aber nachdem er den Empfehlungsbrief des Generals B*** gelesen, änderte er sein Benehmen und richtete ein paar verbindliche Worte an mich.
Durch ihn ward ich meinem Hauptmann vorgestellt, der eben von einer Erkundung zurückgekehrt war. Ihn näher kennenzulernen, habe ich kaum Zeit gehabt. Er war ein großer brauner Mann mit hartem abstoßendem Gesicht. Von der Pike auf dienend, hatte er seine Epauletten und sein Kreuz auf den Schlachtfeldern erworben. Seltsamer Gegensatz zu seiner geradezu hünenhaften Gestalt lag in seiner heiseren schwachen Stimme. Es ging die Mär, an dieser sonderbaren Stimme wäre eine Flintenkugel schuld, die bei Jena ihm mitten durch den Körper gegangen sei.
Wie er vernahm, ich käme aus der Kriegsschule von Fontainebleau, machte er eine Grimasse und meinte: Mein Leutnant ist gestern gefallen . . . Das sollte offenbar besagen: Also Sie sind sein Ersatz, ein tüchtiger Ersatz!
Ein scharfes Wort lag mir auf der Zunge, doch beherrschte ich mich.
Hinter der Schanze von Cheverino, zwei Kanonenschuß weit von unserm Biwak, stieg der Mond empor. Er war breit und rot wie gewöhnlich bei seinem Aufgang. Aber an diesem Abend kam er mir ungewöhnlich groß vor. Eine Weile hob sich die Schanze schwarz ab gegen die leuchtende Scheibe, ähnlich dem Kegel eines Vulkans im Augenblick des Ausbruchs.
Ein alter Soldat, neben dem ich mich befand, bemerkte die Farbe des Mondes. Er ist recht rot, sagte er; das bedeutet, daß die vermaledeite Schanze da ordentlich was kosten wird.
Ich bin immer abergläubisch gewesen, und dies Vorzeichen, zumal in diesem Moment, griff mir an die Knochen. Ich legte mich nieder, doch ich konnte nicht einschlafen. Ich stand wieder auf und wanderte eine Zeitlang auf und ab, unter Betrachtung der schier endlosen Linie der Lagerfeuer, die sich auf den Höhen über dem Dorfe Cheverino hinzog.
Als ich dachte, die frische beißende Nachtluft habe mein Blut genug gekühlt, ging ich ans Feuer zurück. Ich wickelte mich sorglich in meinen Mantel und schloß die Augen, in der Hoffnung, sie vor Tag nicht wieder aufzumachen. Aber der Schlaf wollte nichts von mir wissen. Meine Gedanken bekamen immer düsterere Farbe. Ich sagte mir, daß ich unter den hunderttausend Menschen, die in der weiten Ebene lagen, nicht einen einzigen Freund besaß. Wenn ich verwundet würde, käme ich in ein Feldlazarett, in die achtlose Behandlung von Ärzten, die von Chirurgie keinen Schimmer haben. Was ich je von operativen Eingriffen gehört hatte, trat mir in Erinnerung. Mein Herz pochte stark, und halb unbewußt schob ich das Taschentuch und den Brustbeutel, den ich trug, zurecht, als sei dies mein Panzer. Müdigkeit überwand mich. Im Augenblick schwanden mir die Sinne, aber im nächsten Augenblick tauchte von neuem irgendein unseliger Gedanke auf, der stärker war, und machte mich jäh wieder munter.
Gleichwohl siegte die Müdigkeit, und als die Trommel schlug, lag ich in tiefem Schlafe. Wir traten an. Die Namen wurden verlesen. Dann stellte man die Gewehre zusammen, und alles schien anzudeuten, daß wir einen ruhigen Tag zu gewärtigen hätten.
Gegen drei Uhr morgens traf ein Ordonnanzoffizier ein, der einen Befehl überbrachte. Wir mußten wieder an die Gewehre. Unsre Schützenlinie schwärmte in der Niederung aus. Langsam folgten wir, und nach zwanzig Minuten sahen wir, wie die Russen alle ihre Vorposten zurückzogen und in die Schanze aufnahmen.
Eine Feldbatterie fuhr rechts von uns auf, eine andre links, aber beide stark vorwärts von uns gestaffelt. Sie eröffneten ein lebhaftes Feuer gegen den Feind, der kräftig antwortete, und alsbald verschwand die Schanze von Cheverino unter dichtem Rauch.
Unser Regiment war durch eine Geländefalte ziemlich gedeckt gegen das Feuer der Russen. Ihre Geschosse, uns nur hin und wieder zugedacht (denn sie bevorzugten unsre Artillerie), flogen über unsre Köpfe; höchstens trafen uns Erde und kleine Steine.
Als wir den Sturmbefehl erhielten, betrachtete mich mein Hauptmann mit einer Aufmerksamkeit, die mich bewog, zwei- oder dreimal mit der Hand über meinen jungen Schnurrbart zu streichen, mit möglichst zuversichtlicher Miene. Übrigens, ich hatte keine Angst, und das bißchen Bange, das ich verspürte, galt lediglich dem Gedanken, man könne mir welche zutrauen. Jene harmlosen Kugeln trugen dazu bei, daß ich in meiner heroischen Ruhe verblieb. Meine Eigenliebe sagte mir: Jetzt läufst du Gefahr, jetzt kommst du endlich ins Artilleriefeuer! Ich war entzückt über meine Gelassenheit, und ich träumte von dem Vergnügen, im Salon der Frau B***, Rue de Province, die Erstürmung der Schanze von Cheverino zu erzählen.
Der Oberst schritt die Front unsrer Kompanie ab. Er sprach mich an: Na, Sie werden gleich beim ersten Male in den Hexenkessel spucken!
Ich lächelte wie ein alter Legionär und schüttelte die Ackerkrumen vom Rockärmel, die ein dreißig Schritt vor mir aufschlagendes Geschoß herwarf. Offenbar waren die Russen dahintergekommen, daß ihre Schießerei mit Kugeln keine sonderlichen Erfolge gehabt hatte, denn sie gingen zum Granatfeuer über, mit dem sie auch uns in dem Loch, wo wir standen, besser beikommen konnten. Ein anständiges Sprengstück riß mir den Tschako vom Kopf und tötete neben mir einen Mann.
Alle Achtung! rief der Hauptmann, als ich meinen Tschako aufgelesen hatte. Für heute haben Sie Ihre Portion weg!
Dieser Kommißaberglaube war mir wohlbekannt. Man meint, das non bis in idem habe seine Geltung ebenso auf dem Gefechtsfelde wie im Gerichtssaale. Stolz setzte ich mir den Tschako wieder auf, wobei ich so vergnügt, wie ich nur konnte, bemerkte: Donnerwetter, muß man hier eilig grüßen!
Mein schlechter Witz fand, den Umständen angemessen, glänzende Aufnahme.
Meinen Glückwunsch! sagte der Hauptmann. Sie kriegen nun nichts mehr ab und heute abend sind Sie Kompanieführer! Ich merke, der Teufel ist mir auf den Socken. Es hat mich jedesmal gehascht, wenn mein Kompanieoffizier mit blauem Auge davongekommen war . . . Übrigens, fügte er leise, fast verschämt, hinzu, ihre Namen fingen ausnahmslos mit P an.
Ich markierte den Freigeist. Die meisten hätten das Nämliche getan; gleich mir wären aber auch die meisten von dieser Voraussicht erschüttert worden. Neuling, der ich war, hegte ich das Gefühl, daß es unzulässig sei, meine Empfindungen jemandem anzuvertrauen, daß ich vielmehr die Pflicht habe, mich kalt und unerschrocken zu halten.
Nach einer halben Stunde ließ das Feuer der Russen merklich nach. Nun verließen wir unsre Deckung und rückten gegen die Schanze vor. Unser Regiment bestand aus drei Bataillonen. Das zweite bekam den Befehl, die Schanze in der Flanke aus der Mulde her anzugreifen; den beiden andern lag der Frontangriff ob. Ich stand beim dritten Bataillon. Wie wir aus unsrer natürlichen Schutzwehr hervortraten, empfingen uns mehrere Infanteriesalven, die jedoch in unsern Reihen nur geringen Schaden anrichteten. Das Pfeifen der Kugeln war mir etwas ganz Neues; mehrmals duckte ich den Kopf, zur Heiterkeit meiner Kameraden, die mit diesem Geräusch mehr vertraut waren. Alles in allem, sagte ich mir, eine Schlacht ist gar keine so schreckliche Sache.
Vor uns ausgeschwärmte Schützen, gingen wir im Laufschritt vor. Plötzlich stießen die Russen drei Hurra aus, drei scharf getrennte Hurra. Darauf blieben sie stumm und schossen auch nicht.
Solche Ruhe liebe ich gar nicht, sagte mein Hauptmann. Bedeutet nichts Gutes für uns.
Ich fand, unsre Leute machten viel zuviel Lärm, und ich konnte es mir nicht versagen, insgeheim einen Vergleich anzustellen zwischen ihrer geräuschvollen Schreierei und dem erhabenen Stillschweigen des Feindes.
Rasch erreichten wir das Vorfeld der Schanze. Das Pfahlhindernis war niedergeworfen und der Boden von unserm Artilleriefeuer aufgewühlt. Die Sturmtruppen sprangen über diese Trümmer mit dem Ruf: Es lebe der Kaiser! Es klang stärker, als man es von Leuten erwartet hätte, die schon soviel geschrien hatten.
Ich blickte auf, und nie im Leben werde ich das Schauspiel vor mir vergessen. Der Rauch hatte sich größtenteils gehoben und schwebte regungslos wie ein Baldachin zwanzig Fuß hoch über der Schanze. Durch bläulichen Dunst gewahrte man die russischen Grenadiere hinter ihrer halbzerstörten Brustwehr, mit angelegtem Gewehr, unbeweglich gleich Bildsäulen. Noch vermeine ich jeden einzelnen Mann zu schauen, das linke Auge starr auf uns gerichtet, das rechte verdeckt durch das Visier. Hinter einer Schießscharte, wenige Schritt vor uns, stand ein Kanonier an einem Geschütz, die glimmende Lunte in der Hand.
Es lief mir durch Mark und Bein, und ich dachte, mein letztes Stündlein sei gekommen. Jetzt beginnt der muntere Reigen, rief mein Hauptmann. Schönen guten Abend!
Das waren die letzten Worte, die ich ihn habe reden hören.
Trommelwirbel rollte durch die Schanze. Ich sah, wie sich die Gewehrmündungen senkten. Ich schloß die Augen. Vernahm einen fürchterlichen Krach. Darauf Geschrei und Gestöhn. Ich machte die Augen wieder auf, verwundert, mich noch auf Erden zu finden. Wieder war die Schanze voller Rauch. Rings um mich Verwundete und Tote. Mein Hauptmann lag vor mir da. Sein Schädel war von einer Kugel zerschmettert; sein Gehirn und sein Blut hatten mich über und über bespritzt. Von unsrer ganzen Kompanie waren außer mir nur sechs Mann noch auf den Beinen.
Diesem Blutbade folgte ein Moment Erstarrung. Der Oberst, seinen Tschako auf die Spitze seines Degens gespießt, stieg als erster über die Brustwehr mit dem Rufe: Vive l'empereur! Im Nu waren alle Überlebenden ihm nach. Von dem, was weiter geschah, habe ich keine deutliche Erinnerung.
Wir gelangten in das Innere der Schanze. Wie, das weiß ich nicht. Man kämpfte Leib an Leib, mitten im Qualm, der so dick war, daß keiner den andern sah. Ich glaube, ich stach tüchtig zu, denn hinterher war mein Degen blutbefleckt.
Endlich hörte ich Viktoria schrein, und als sich der Rauch verzog, gewahrte ich vor Blut und Leichen keinen Zoll vom Erdboden der Schanze. Zumal die Geschütze waren von Toten übertürmt. Etwa zweihundert Mann in französischer Uniform standen in zerstreuten Trupps herum; die einen luden ihre Gewehre wieder, die andern wischten ihre Bajonette ab. Elf gefangene Russen waren bei ihnen. Auf einem zertrümmerten russischen Munitionswagen am Ausgang der Schanze lag blutüberströmt der Oberst. Ein paar Soldaten machten sich um ihn zu schaffen. Ich trat an ihn heran.
Wo ist der älteste Hauptmann? fragte er gerade einen Feldwebel. Der Unteroffizier zuckte in nicht mißzuverstehender Weise mit der Achsel.
Und der älteste Leutnant?
Das ist der Herr da, der gestern abend zum Regiment gekommen ist, meldete der Feldwebel im ruhigsten Tone der Welt.
Der Oberst lächelte bitterernst.
Also, Herr Leutnant, sagte er zu mir, Sie sind Kommandeur! Lassen Sie den Ausgang durch Fahrzeuge verrammeln, denn der Feind hat die Übermacht! Aber General C*** wird Ihnen Verstärkung schicken . . .
Herr Oberst, sagte ich, Sie sind schwer verwundet?
In den A . . . bin ich, Verehrtester, doch die Schanze ist unser!