Prosper Mérimée
Der Novellen erster Teil
Prosper Mérimée

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Die etruskische Vase

Le Vase Étrusque

 

Übersetzt von M. M.

Erstdruck in der Revue de Paris, Januar-Heft 1830. Quelle: In der Gestalt des August Saint-Clair ist Mérimées Freund Henri Beyle (Stendhal) gezeichnet. Erste deutsche Übersetzung: von Adolf Laun, 1872.


August Saint-Clair war in guten Kreisen nicht beliebt; hauptsächlich weil er nur den Leuten zu gefallen trachtete, die ihm selber gefielen. Er suchte die einen auf; die andern mied er; überdies war er zerstreut und träg. Eines Abends, als er aus der Italienischen Oper kam, fragte ihn die Marquise von A***, wie die Sontag gesungen habe. Jawohl, gnädige Frau, gab Saint-Clair verbindlich lächelnd zur Antwort, an ganz andre Dinge denkend. Diesen lächerlichen Bescheid durfte man gewiß nicht als Schüchternheit auffassen, denn er unterhielt sich mit großen Herren, mit bedeutenden Männern und auch mit Damen der Welt genau so selbstbewußt wie mit sonstwem. Die Marquise entschied, Saint-Clair sei ein Ausbund an Unart und Eingebildetheit.

Eines Montags lud ihn Frau B*** zum Diner ein. Sie sprach viel mit ihm, und beim Fortgehen erklärte er, einer liebenswürdigeren Dame sei er nirgends begegnet. Frau B*** pflegte vier Wochen lang bei Andern Geist zu sammeln, um ihn an einer ihrer Abendgesellschaften wieder zu verausgaben. Saint-Clair sah sie am Donnerstag derselben Woche wieder. Diesmal langweilte er sich etwas. Ein nächster Besuch bestimmte ihn, nicht wieder in ihrem Salon zu erscheinen. Frau B*** verbreitete, Saint-Clair sei ein junger Mann ohne Lebensart und von übelstem Wesen.

Saint Clair besaß ein zärtliches, liebebedürftiges Herz; aber in einem Alter, wo Eindrücke sich leicht fürs ganze Leben einprägen, hatte ihm seine schwärmerische Empfindsamkeit den Spott seiner Kameraden zugezogen. Er war stolz und ehrgeizig, dabei eigensinnig wie ein Kind. Fortan machte er sich zur Pflicht, jede Äußerung, die ihm schimpfliche Schwäche dünkte, zu verbergen. Sein Ziel erreichte er, aber sein Sieg kam ihm teuer zu stehen. Vor den Andern gelang es ihm, die Regungen seiner allzu zärtlichen Seele geheimzuhalten; indem er sie aber in sich verschloß, wurden sie nur hundertfach grausamer. In der Gesellschaft bekam er den traurigen Ruf eines gefühllosen, sich um nichts kümmernden Menschen; doch in der Einsamkeit bereitete ihm seine ruhelose Einbildungskraft um so schrecklichere Leiden, als er dies Geheimnis niemandem anvertrauen wollte.

Einen Freund zu finden ist schwer; wahrlich, schwer. Ist es überhaupt möglich? Hat es jemals zwei Menschen gegeben, die kein Geheimnis voreinander gehabt hätten? Saint-Clair glaubte nicht recht an Freundschaft, und man merkte das. Man fand ihn kalt und zurückhaltend gegenüber den jungen Leuten seines Kreises. Nie befragte er sie um ihre Geheimnisse, und alle seine Gedanken und die meisten seiner Handlungen blieben für sie Mysterien. Die Franzosen lieben es, von sich selber zu sprechen; so war auch Saint-Clair ohne seinen Willen der Mitwisser vieler vertraulichen Dinge. Seine Freunde (dies Wort bezeichnet die Personen, die man wöchentlich zweimal sieht) beklagten sich über sein Mißtrauen. In der Tat, wer uns ungefragt sein Geheimnis mitteilt, ist zumeist gekränkt, wenn wir das unsrige verschweigen. Man rechnet in der Indiskretion auf Gegenseitigkeit.

Er ist zugeknöpft bis zum Kinn, sagte eines Tages der schöne Rittmeister Alphons von Thémines. Ich könnte niemals das geringste Vertrauen fassen zu diesem teuflischen Saint-Clair.

Ich glaube, er ist Jesuit, erwiderte Julius Lambert. Irgendwer hat mir auf Ehre versichert, er habe ihn zweimal aus der Saint-Sulpice kommen sehen. Niemand kennt seine Gedanken; ich könnte nie recht warm mit ihm werden.

Sie trennten sich. Auf dem Boulevard Italien traf Alphons auf Saint-Clair, der gesenkten Hauptes und ohne jemanden zu sehen daherkam. Alphons hielt ihn an, nahm seinen Arm, und bevor sie die Rue de la Paix erreichten, hatte er ihm die ganze Geschichte von seiner Liebschaft mit Frau *** erzählt, deren Gatte so eifersüchtig und roh sei.

Am gleichen Abend verlor Julius Lambert sein Geld beim Ecarté. Er stand auf, um zu tanzen, und stieß dabei zufällig mit dem Ellbogen einen Herrn, der gleich ihm sein ganzes Geld verloren hatte und sehr schlechter Laune war.

Nach kurzem Wortwechsel: Duellforderung. Julius bat Saint-Clair, sein Sekundant zu sein, und bei der Gelegenheit lieh er Geld von ihm, das er ihm zurückzugeben vergessen hat.

Trotz allem kam man mit Saint-Clair vorzüglich aus. Seine Fehler schadeten nur ihm. Er war verbindlich, oft freundlich und selten langweilig. Er war viel gereist, hatte viel gelesen und sprach von seinen Reisen und seiner Lektüre nur, wenn man ihn dazu aufforderte. Außerdem war er groß, gut gewachsen; seine Gesichtszüge waren edel und geistvoll, fast immer zu ernst; doch sein Lächeln war lautere Güte.

Etwas Wesentliches habe ich noch nicht erwähnt. Saint-Clair war aufmerksam gegen alle Frauen; ihre Unterhaltung zog er der mit Männern vor. War er liebefähig? Das ist schwer zu entscheiden. Wenn aber dieses so kalte Wesen Liebe empfand, so wußte man, daß sie nur der hübschen Gräfin Mathilde von Coursy gelten konnte. Das war eine junge Witwe, bei der man ihn häufig sah. Auf ihr Vertrautsein schloß man aus folgenden Vermutungen. Zunächst Saint-Clairs beinahe feierliche Höflichkeit für die Gräfin und die der Gräfin für ihn; ferner seine Sucht, ihren Namen in der Gesellschaft niemals auszusprechen. Wenn er gezwungen war, von ihr zu reden, tat er es ohne das geringste Lob; und dann, bevor Saint-Clair ihre Bekanntschaft gemacht hatte, liebte er leidenschaftlich die Musik, während die Gräfin ebensoviel Sinn für die Malerei hatte. Seit sie sich kannten, hatten ihre Neigungen gewechselt. Schließlich, als die Gräfin im vergangnen Sommer die Reise nach einem Badeorte angetreten hatte, war Saint-Clair sechs Tage nach ihr verschwunden.

Meine Pflicht als Erzähler erheischt es zu berichten, daß in einer Julinacht, kurz vor Sonnenaufgang, die Tür zum Park eines Landhauses aufging und ein junger Mann mit all der Vorsicht eines Diebes, der überrascht zu werden fürchtet, heraustrat. Dies Landhaus gehörte der Gräfin von Coursy, und der Mann war Saint-Clair. Eine Dame, in einen Pelz gehüllt, begleitete ihn bis zur Pforte; sie steckte den Kopf heraus, um ihn länger sehen zu können, während er sich auf dem Fußwege längs der Parkmauer abwärts entfernte. Saint-Clair blieb stehen, schaute sich vorsichtig um und machte mit der Hand der Dame ein Zeichen, hineinzugehen. Die Klarheit der Sommernacht ließ ihn ihr bleiches Gesicht, das unbeweglich auf derselben Stelle blieb, deutlich erkennen. Er kehrte um, trat zu ihr und schloß sie zärtlich in seine Arme. Er wollte sie veranlassen hineinzugehen, hatte ihr aber noch hundert Dinge zu sagen. Ihre Unterredung dauerte schon zehn Minuten, als man die Stimme eines Bauern vernahm, der zur Feldarbeit ging. Rasch wird ein Kuß gewechselt; die Tür schlägt zu, und Saint-Clair ist mit einem Sprunge am Ende des Fußsteiges.

Er folgte einem Wege, der ihm offenbar bekannt war. Bald sprang er wie vor Freude und lief, die Büsche mit seinem Stocke schlagend; bald blieb er stehen oder schritt langsam hin, den Himmel betrachtend, der sich im Osten purpurn färbte. Kurz, wer ihn gesehen hätte, mußte ihn für einen Narren halten, der überglücklich war, aus seiner Zelle ausgebrochen zu sein. Nach halbstündigem Gang war er am Tor eines kleinen alleinstehenden Hauses, das er für den Sommer gemietet hatte. Er schloß auf, trat ein; dann warf er sich auf ein großes Sofa, und mit unbeweglichen Augen, den Mund von einem süßen Lächeln bewegt, sann er, träumte er im Wachen. Lauter holdselige Gedanken erfüllten ihn. Wie bin ich glücklich! sagte er sich immer wieder. Endlich habe ich es gefunden, dies Herz, das das meine versteht! Ja, ich habe mein Ideal gefunden! Ich habe gleichzeitig einen Freund und eine Geliebte. Welch ein Charakter! Was für eine leidenschaftliche Seele! Nein, niemals hat sie vor mir geliebt . . .

Und da sich die Eitelkeit immer wieder in alles und jedes einschleicht, dachte er bei sich: Sie ist die schönste Frau von Paris. Und seine Phantasie führte ihm all ihren Liebreiz flugs vor Augen. Er sagte sich: Unter allen hat sie mich gewählt. Sie hatte die Lieblinge der Gesellschaft zu Bewunderern, den Husarenoberst, diesen schönen, tapferen, ein wenig dandyhaften Mann . . . dann den jungen Schriftsteller, der so hübsche Aquarelle malt und so schön lebende Bilder stellt . . . dann den russischen Lovelace, der auf dem Balkan war und unter Diebitsch gedient hat . . . vor allem aber Kamill T***, der zweifellos Geist und gute Manieren hat, dazu die prächtige Säbelnarbe auf der Stirn . . . Alle hat sie abgewiesen. Und ich . . . Und aufs neue kam das alte Lied: Wie bin ich glücklich! Wie bin ich glücklich!

Er erhob sich, öffnete das Fenster, da er nicht atmen konnte, ging umher und warf sich wieder aufs Sofa. Ein glücklicher Liebhaber ist beinahe so langweilig wie ein unglücklicher. Einer meiner Freunde, der sich häufig in dem einen oder andern dieser beiden Zustände befand, war schließlich auf das letzte Mittel sich auszusprechen verfallen: er gab mir jedesmal ein ausgezeichnetes Gabelfrühstück, während dessen Dauer er über seine Liebesangelegenheiten sprechen durfte; nach dem Kaffee aber mußte er den Gegenstand der Unterhaltung wechseln.

Da ich allen meinen Lesern kein Gabelfrühstück geben kann, erlasse ich ihnen die weiteren Liebesgedanken Saint-Clairs. Man kann übrigens nicht andauernd im Bereiche der Wolken weilen. Saint-Clair war müde; er gähnte, reckte sich und sah, daß es bereits heller Tag war. Er mußte also ans Schlafen denken. Wie er erwachte, sah er auf der Uhr, daß er kaum Zeit hatte sich anzukleiden, um nach Paris zu eilen, wo er zu einem Déjeuner-Diner mit etlichen jungen Herren seiner Bekanntschaft geladen war.

Man hatte soeben eine weitere Champagnerflasche entkorkt; ich überlasse dem Leser zu entscheiden, die wievielte. Es genügt zu wissen, daß man bei dem Zeitpunkt angelangt war, der sich bei einem Junggesellen-Frühstück ziemlich schnell einstellt, wo alle zugleich sprechen wollen und die Nüchternen für die Angeheiterten zu fürchten beginnen.

Ich wünschte, sagte Alphons von Thémines, der niemals die Gelegenheit über England zu sprechen versäumte, ich wünschte, es wäre in Paris wie in London Mode, daß jeder einen Trinkspruch auf seine Geliebte ausbrächte. Auf diese Weise würden wir klipp und klar erfahren, für wen das Herz unsers Freundes Saint-Clair schlägt. Und indem er sprach, füllte er sein Glas und die seiner Nachbarn.

Ein wenig in Verlegenheit gebracht, machte Saint-Clair Anstalt zu antworten; aber Julius Lambert kam ihm zuvor.

Ich bin sehr für diesen Brauch, sagte er. Ich nehme ihn an. Und sein Glas erhebend, rief er:

Alle Putzmachermädels von Paris – ausgenommen die dreißigjährigen, die einäugigen und hinkenden!

Hurra! Hurra! schrien die jungen Anglomanen.

Saint-Clair erhob sich mit dem Glas in der Hand. Meine Herren, sagte er, mein Herz ist nicht so weit wie das unsers Freundes Julius, dafür beständiger. Meine Treue ist um so verdienstvoller, als ich seit langem von der Dame meines Herzens getrennt bin. Wie dem auch sei, ich bin überzeugt, daß Sie meine Wahl gutheißen, wenn Sie nicht gerade meine Rivalen sind. Auf Judith Pasta, meine Herren! Möchten wir Europas erste Tragödin recht bald wiedersehn!

Thémines wollte gegen diesen Toast Einspruch erheben; die Beifallsbezeugungen unterbrachen ihn jedoch. Nach diesem parierten Stoß vermeinte Saint-Clair für heute unbehelligt zu bleiben.

Die Unterhaltung drehte sich zunächst ums Theater. Von der Zensur wandte man sich zur Politik. Vom Lord Wellington ging man zu englischen Pferden über, von englischen Pferden zu den Frauen, durch eine leicht begreifliche Ideenverbindung; denn für junge Leute sind zunächst ein schönes Pferd, dann eine hübsche Geliebte die beiden begehrenswertesten Dinge.

Darauf plauderte man von den Mitteln und Wegen, diese so begehrenswerten Dinge zu erlangen. Pferde lassen sich kaufen; man kauft auch Frauen, aber über solche wollen wir lieber nicht reden. Nachdem Saint-Clair seine geringe Erfahrung in so delikaten Angelegenheiten in bescheidener Weise angedeutet hatte, stellte er die These auf, die erste Bedingung, einer Frau zu gefallen, sei, sich durch etwas Besonderes auszuzeichnen und anders als die Andern zu sein. Gibt es aber eine Definition des Besonderen? Er glaube es nicht.

Nach Ihrer Anschauung, meinte Julius, hat also ein Lahmer oder ein Buckliger größere Aussichten zu gefallen als ein gerader und regelrecht gewachsener Mensch?

Sie gehen zu weit, erwiderte Saint-Clair. Wenn es aber sein muß, nehme ich alle Folgen meiner Behauptung auf mich. Zum Beispiel, wenn ich bucklig wäre, würde ich mir keine Kugel durch den Kopf schießen; im Gegenteil, ich würde auf Eroberungen ausgehen. Zunächst würde ich mich nur an zwei Arten von Frauen wenden, an solche, die wahres Gefühl besitzen, oder an solche, und ihre Zahl ist groß, die originell sein wollen, eccentric, wie man in England sagt. Den ersteren würde ich schildern, wie schrecklich ich daran bin, wie grausam die Natur gegen mich ist. Ich würde versuchen, ihr Mitleid rege zu machen, und in ihnen die Ahnung zu erwecken wissen, daß ich leidenschaftlicher Liebe fähig sei. Einen meiner Rivalen tötete ich im Duell, und mit einer schwachen Dosis Opium machte ich einen Vergiftungsversuch. Nach einigen Monaten würde man meinen Höcker nicht mehr sehen, und dann wäre es meine Sache, die erste Gefühlsregung zu erspähen. Was die Frauen betrifft, die auf Originalität Anspruch erheben, bei denen ist die Eroberung leicht. Man überzeuge sie nur, daß es eine unumstößliche Tatsache sei, daß ein Buckliger kein Glück haben kann; sofort werden sie die allgemeine Regel Lügen strafen wollen.

Seht den Don Juan! rief Julius.

Brechen wir uns die Beine, meine Herren! sagte der Oberst Beaujeu, da wir nicht das Pech haben, bucklig geboren zu sein.

Ich stimme Saint-Clair ganz und gar bei, erklärte Hektor Roquantain, der nur 1,13 groß war; man erlebt es tagtäglich, daß sich die schönsten und schicksten Weiber an Kerle wegwerfen, von denen unsereiner meinen möchte, daß sie überhaupt nicht in Wettbewerb treten.

Ich bitte dich, Hektor, erhebe dich und klingle, daß man uns Wein bringt, sagte Thémines im natürlichsten Tone der Welt.

Der Liliputaner stand auf, und jedermann erinnerte sich vergnügt der Fabel vom Fuchs mit dem abgeschnittenen Schwanze.

Was mich betrifft, sagte Thémines, das Gespräch weiterführend, je älter ich werde, desto klarer sehe ich, daß ein leidliches Gesicht . . . (dabei warf er einen zufriedenen Blick in den gegenüberliegenden Spiegel) – daß ein leidliches Gesicht und Geschmack im Anzuge die beste Sonderlichkeit ist, die die Sprödeste berückt . . .

Und er schnippte mit der Fingerspitze eine Brotkrume vom Aufschlag seines Rockes weg.

Ach was! rief der Zwerg. Mit einem hübschen Gesicht und einem Anzug von Staub bekommt man Frauen, die man acht Tage behält, und die einen bei der zweiten Zusammenkunft schon langweilen. Andre Dinge sind nötig, um geliebt zu werden, was man so geliebt werden nennt . . . Man muß . . .

Halt! unterbrach ihn Thémines. Wollt Ihr ein schlagendes Beispiel? Ihr habt alle den Massigny gekannt und wißt, was für ein Mensch er war. Manieren wie ein englischer Reitknecht, unterhaltsam wie sein Gaul . . . Aber schön war er wie Adonis, und seine Krawatte trug er wie Georges Brummell. Alles in allem ist mir ein langweiligeres Individuum nicht begegnet.

Mich hat er mit seiner Langweiligkeit einmal beinahe umgebracht, sagte der Oberst Beaujeu. Stellt Euch vor, daß ich zweihundert Wegstunden in seiner Gesellschaft zurücklegen mußte.

Wißt Ihr, fragte Saint-Clair, daß er am Tode des armen Richard Thornton, den Ihr alle gekannt habt, schuld ist?

Ist er nicht bei Fondi von Räubern ermordet worden? warf Julius ein.

Gewiß, aber Ihr werdet gleich sehen, daß Massigny zum mindesten mitschuldig an dem Verbrechen war. Mehrere Reisende, unter ihnen Thornton, hatten sich verabredet, aus Furcht vor den Räubern, zusammen nach Neapel zu gehen. Massigny wollte sich der Reisegesellschaft anschließen. Als Thornton das hörte, nahm er Reißaus, vor Entsetzen, denke ich, einige Tage mit ihm verbringen zu müssen. Er reiste allein, und das übrige wissen Sie.

Thornton tat recht, sagte Thémines, indem er von zwei Todesarten die mildere wählte. An seiner Stelle hätte es jeder ebenso gemacht. Und nach einer Pause begann er von neuem: Ihr stimmt mir doch bei, daß Massigny der langweiligste Mensch auf Gottes Erdboden war?

Zugestanden! rief alles unter Beifall.

Nehmen wir niemandem die Hoffnung! sagte Julius. Machen wir eine Ausnahme zugunsten von ***, besonders wenn er seine politischen Pläne entwickelt!

Ihr werdet mir nun zugeben, fuhr Thémines fort, daß Frau von Coursy ein grundgescheites Weib ist, soweit es das überhaupt gibt.

Es trat ein Moment des Schweigens ein. Saint-Clair senkte den Kopf und bildete sich ein, aller Augen seien auf ihn gerichtet.

Wer zweifelt daran? sagte er endlich, immer noch über seinen Teller gebeugt, als interessierten ihn die gemalten Blumen auf dem Porzellan ganz außerordentlich.

Ich behaupte, sagte Julius mit erhobener Stimme, ich behaupte, daß sie eine der drei liebenswürdigsten Damen von Paris ist.

Ich habe ihren Mann gekannt, sagte der Oberst. Er hat mir, öfters entzückende Briefe von seiner Frau gezeigt.

August, rief Hektor Roquantin dazwischen, stellen Sie mich der Gräfin vor! Man sagt, Sie machen bei ihr Regen und Sonnenschein.

Im Spätherbst, murmelte Saint-Clair, wenn sie nach Paris zurückkommt. Ich . . . ich glaube, auf dem Lande empfängt sie keine Besuche.

Wollt Ihr mich anhören? rief Thémines.

Wiederum trat Schweigen ein. Saint-Clair rückte auf seinem Stuhle hin und her wie ein Angeklagter vor dem Schwurgericht.

Sie hätten die Gräfin vor drei Jahren sehen sollen, Saint-Clair, als Sie in Deutschland waren, fuhr Alphons von Thémines mit hartnäckiger Kaltblütigkeit fort. Sie machen sich keinen Begriff davon, wie sie damals aussah: schön, frisch wie eine Rose, über die Maßen lebhaft, und fröhlich wie ein Schmetterling. Und denken Sie, unter ihren zahlreichen Anbetern, wen beehrte sie damals mit ihrer Huld? Den Massigny. Der blödeste dümmste Mann verdrehte der gescheitesten Frau den Kopf. Glauben Sie, daß ein Buckliger das auch vermocht hätte? Da haben wirs! Habe eine hübsche Larve, einen guten Schneider und sei kühn!

Saint-Clair befand sich in gräßlicher Lage. Am liebsten hätte er den Schwätzer in aller Form widerlegt; nur die Furcht, die Gräfin bloßzustellen, hielt ihn zurück. Er hätte zu ihrer Verteidigung mancherlei sagen mögen, doch seine Zunge war gelähmt. Seine Lippen zuckten vor Wut. Vergeblich suchte er nach irgendeinem Anlaß, Streit vom Zaune zu brechen.

Was! schrie Julius im Tone der Verwunderung, Frau von Coursy hat sich dem Massigny hingegeben? Schwachheit, dein Name ist Weib!

Was liegt am guten Rufe einer Frau? meinte Saint-Clair trocken. Man darf sie darum bringen, wenn man dabei nur witzig ist.

Während er das sagte, erinnerte er sich mit Schrecken einer gewissen etruskischen Vase, die er hundertmal auf dem Kamin der Gräfin in Paris gesehen hatte. Er wußte, daß sie ein Geschenk Massignys nach seiner Rückkehr aus Italien war, und (ein verdächtiger Umstand!) diese Vase war von Paris mit aufs Land gewandert. Jeden Abend nahm Mathilde die Blumen, die er ihr brachte, und stellte sie in die etruskische Vase. Das Wort erstarb auf seinen Lippen; er sah nichts anderes, er dachte nichts anderes als – die etruskische Vase.

Ein tüchtiger Beweis! wird der Logiker sagen: seine Geliebte einer so geringfügigen Sache wegen verdächtigen! – Sind Sie schon einmal verliebt gewesen, Herr Logiker?

Thémines war in zu guter Laune, um den Ton, den Saint-Clair gegen ihn gebraucht hatte, übelzunehmen. Er antwortete auf leichte und gutmütige Art: Ich wiederhole nur, was die Gesellschaft munkelt. Es galt damals, als Sie in Deutschland waren, für Tatsache. Schließlich kenne ich Frau von Coursy kaum. Seit anderthalb Jahren bin ich nicht bei ihr gewesen. Möglich, daß man sich täuschte, und daß Massigny mir ein Märchen erzählt hat. Um aber auf das, was wir besprachen, zurückzukommen: wenn das Beispiel, das ich angeführt habe, auch falsch wäre, so hätte ich darum nicht weniger recht. Ihr wißt alle, daß die geistvollste Französin, die, deren Werke . . .

Die Tür öffnete sich, und Theodor Néville trat ein. Er kam aus Ägypten.

Theodor, so bald zurück?

Er wurde mit Fragen überschüttet.

Hast du ein echt türkisches Kostüm mitgebracht? fragte Thémines. Einen arabischen Vollblüter und einen nubischen Groom?

Was für ein Kerl ist der Pascha? fragte Julius. Wann macht er sich unabhängig? Hast du gesehen, wie man einen Kopf mit einem einzigen Säbelhieb abschlägt?

Und die morgenländischen Tänzerinnen? fragte Roquantin. Sind die Frauen von Kairo schön?

Haben Sie den General L*** kennengelernt? fragte der Oberst Beaujeu. Wie hat er die Armee des Pascha organisiert? Hat Ihnen Oberst C*** einen Säbel für mich mitgegeben?

Und die Pyramiden? Und die Katarakte des Nil? Und die Memnonsäule? Ibrahim Pascha?

Alle redeten auf einmal; Saint-Clair dachte nur an die etruskische Vase.

Theodor, der sich mit gekreuzten Beinen niederließ, denn er hatte diese Gewohnheit in Ägypten angenommen und mochte sie in Frankreich nicht aufgeben, wartete, bis die Fragenden müde wurden, und sprach das Folgende ziemlich schnell, um nicht so leicht unterbrochen zu werden.

Die Pyramiden? Auf Ehre, das ist regulärer Humbug. Sie sind nicht so hoch, wie man glaubt. Das Straßburger Münster ist nur vier Meter niedriger. Ich kann keine Altertümer mehr sehen. Sprecht mir nicht davon! Der Anblick einer Hieroglyphe macht mich blödsinnig. Es gibt genug Reisende, die sich mit diesem Kram beschäftigen. Mein Ziel war, das Wesen und die Sitten jener buntscheckigen Bevölkerung zu studieren, die sich durch die Straßen von Alexandria und Kairo drängt; als da sind: Türken, Beduinen, Kopten, Fellahs, Moghrebinen. Ich habe in der Eile einige Aufzeichnungen gemacht, während ich in der Quarantäne war. Eine Gemeinheit, diese Quarantäne! Ich hoffe, daß Ihr nicht an Ansteckung glaubt. Ich habe in voller Gemütsruhe meine Pfeife inmitten von dreihundert Pestkranken geraucht . . . Sie, Herr Oberst, Sie hätten eine schöne, gut berittene Reiterei sehen können. Ich werde Ihnen prächtige Waffen zeigen, die ich mitgebracht habe. Ich besitze einen Djerid, der dem berühmten Murat-Bey gehört hat. Für Sie, Herr Oberst, habe ich einen Yataghan und für August einen Khandjar. Ihr sollt meine Metschla sehen, meinen Burnus, mein Hhaïk. Wißt Ihr, daß ich hätte Weiber mitbringen können? Ibrahim Pascha hat so viele aus Griechenland geschickt, daß man sie geradezu umsonst haben kann . . . Aber mit Rücksicht auf meine Mutter . . . Ich habe mich oft mit dem Pascha unterhalten. Donnerwetter, das ist ein kluger Mann! Ohne Vorurteil. Ihr würdet nicht glauben, wieviel Verständnis er für unsre Angelegenheiten hat. Und tatsächlich, er ist von den Geheimnissen unseres Kabinetts bis ins Kleinste unterrichtet. Seiner Unterhaltung verdanke ich wertvolle Aufschlüsse über den Stand der Parteien in Frankreich. Im Augenblick beschäftigt er sich viel mit Statistik. Er hält alle unsre Zeitungen. Wißt Ihr, daß er begeisterter Bonapartist ist? Er spricht nur von Napoleon. Ach, was für ein großer Mann, dieser Bounabardo, sagte er mir. Bounabardo, so heißt Napoleon dort.

GiourdinaGiourdina, also Jourdain. Anspielung auf Molières Le Bourgois gentilhomme IV, 11, wo Jourdain nach dem vermeintlichen Türken Giourdina genannt wird., das heißt Jourdain! flüsterte Thémines vor sich hin, dem die bekannte Stelle bei Molière einfiel.

Anfangs, fuhr Theodor fort, war Mohamed-Ali sehr zurückhaltend gegen mich. Daß alle Türken äußerst mißtrauisch sind, dürfte Euch bekannt sein. Weiß der Teufel, er hielt mich für einen Spion oder für einen Jesuiten. Die Jesuiten hat er gefressen. Nach einigen Besuchen merkte er aber, daß ich ein harmloser Reisender war, begierig, die Gewohnheiten, Sitten und die Politik des Ostens von Grund aus kennenzulernen. Darauf wurde er zugänglicher, ja gesprächig. Bei meiner letzten Audienz (es war die dritte, die mir gewährt ward) nahm ich mir die Freiheit, ihm folgendes zu sagen: Ich begreife nicht, warum Deine Hoheit sich nicht unabhängig von der Pforte macht. – Mein Gott, antwortete er mir, ich möchte wohl, aber ich fürchte, daß die liberalen Blätter, die in Deiner Heimat den Ton angeben, mich nicht unterstützen, wenn ich die Unabhängigkeit Ägyptens ausrufe . . . Er ist ein schöner weißbärtiger alter Herr, der niemals lacht. Wundervolles Konfekt hat er mir vorgesetzt, und von all den Sachen, die ich ihm gab, freute ihn am meisten das Kostüm-Album der Kaiserlichen Garde von Charlet.

Ist der Pascha Romantiker? fragte Thémines.

Mit Literatur beschäftigt er sich wenig. Aber es wird Euch nicht unbekannt sein, daß die arabische Literatur hochromantisch ist. Sie haben einen Dichter namens Ayatalnefous-Ebn-Esraf, der unlängst Betrachtungen veröffentlicht hat. Im Vergleich damit ist Lamartine klassische Prosa. Bei meiner Ankunft in Kairo nahm ich einen arabischen Lehrer, mit dem ich den Koran zu lesen begann. Wenn ich auch nur wenige Stunden hatte, habe ich doch genug gelernt, um die erhabenen Schönheiten der Sprache des Propheten zu verstehen. Wie schlecht sind alle unsre Übersetzungen! Wollt Ihr arabische Schrift sehen? Dieses Wort in goldnen Buchstaben bedeutet: Allah, das heißt Gott.

Indem er so sprach, zeigte er einen sehr schmutzigen Brief, den er aus einem wohlriechenden Seidenbeutel zog.

Wie lange bist Du in Ägypten gewesen? fragte Thémines.

Sechs Wochen.

Und der Reisende fuhr in seiner Beschreibung fort, bis ins Kleinste.

Saint-Clair war bald nach seiner Ankunft gegangen und schlug den Weg nach seinem Landhause ein. Der ungestüme Galopp seines Pferdes verhinderte ihn, seinen Gedanken nachzuhängen. Doch hatte er das unbestimmte Empfinden, daß sein Glück auf dieser Welt auf ewig zertrümmert sei, und daß er sich nur an einem Toten und an einer etruskischen Vase rächen könne.

Zu Haus angelangt, warf er sich auf das Sofa, wo er abends zuvor so lange und mit so viel Genuß über sein Glück nachgedacht hatte. Am meisten hatte ihm der Gedanke geschmeichelt, daß seine Geliebte ihresgleichen suchte, daß sie außer ihm niemanden geliebt hatte noch lieben werde. Nun verflog der schöne Traum vor der traurigen und grausamen Wirklichkeit.

Eine schöne Frau ist mein eigen, aber das ist alles. Sie hat Geist; um so strafbarer ist sie. Sie hat einen Massigny lieben können . . . Wahr ist es, daß sie mich jetzt liebt . . . mit ganzer Seele . . . wie nur sie lieben kann. Geliebt zu werden wie einst Massigny! Sie hat meiner Werbung, meinen Zärtlichkeiten und meiner Leidenschaft nachgegeben? Aber ich habe mich getäuscht. Unsre Herzen stimmten nicht überein. Massigny oder ich, das ist dasselbe für sie. Er war schön und sie liebte ihn ob seiner Schönheit. Ich bin ihr zuweilen amüsant. Lieben wir Saint-Clair, hat sie sich gesagt, da der Andre tot ist! Und wenn Saint-Clair stirbt oder mich langweilt, werden wir weiter sehen.

Ich glaube, der Teufel sitzt lauschend und unsichtbar neben einem Unglücklichen, der sich selber so quält. Es ist ein lustiges Schauspiel für den Feind der Menschen; und wenn das Opfer fühlt, daß seine Wunden sich schließen, der Teufel ist da, um sie wieder aufzureißen.

Es war Saint-Clair, als flüstre ihm eine Stimme zu:

Sonderbare Ehre, Nachfolger zu sein . . .

Er erhob sich und warf einen wilden Blick um sich. Wie glücklich wäre er gewesen, jemanden in seinem Zimmer zu finden! Er hätte ihn niedergeschlagen . . .

Die Uhr schlug acht. Um halb neun erwartete ihn die Gräfin. Wenn er nicht käme? Warum überhaupt die Geliebte Massignys wiedersehen?

Er streckte sich wieder aufs Sofa und schloß die Augen. Schlafen will ich, sagte er sich. Eine halbe Minute blieb er unbeweglich; dann sprang er auf und eilte zur Uhr, um zu sehen, wie der Zeiger weiterrückte. Wäre es nur schon halb neun! dachte er. Dann wäre es zu spät, um mich auf den Weg zu machen. Er spürte nicht den Mut, zu Hause zu bleiben; er suchte nach einem Vorwand. Wie gern wäre er krank gewesen! Er wanderte im Zimmer umher, setzte sich hin, nahm ein Buch zur Hand, ohne eine Silbe lesen zu können. Er setzte sich ans Klavier, hatte aber nicht die Kraft, es zu öffnen. Er pfiff, betrachtete die Wolken und wollte die Pappeln vor seinem Fenster zählen. Endlich kehrte er zur Uhr zurück und sah, daß erst drei Minuten vergangen waren. Ich kann nicht anders, rief er, ich muß sie lieben. Er knirschte mit den Zähnen und stampfte mit den Füßen. Sie beherrscht mich; ich bin ihr Sklave, wie Massigny es vor mir war. Sei's wie es sei, Elender! Gehorche, da du nicht Mut genug hast, die verhaßte Kette zu zerreißen!

Er nahm seinen Hut und stürzte aus dem Zimmer. Wenn eine Leidenschaft überhand nimmt, so empfindet unsre Eigenliebe einigen Trost, unsre Schwäche von der Warte des Stolzes zu betrachten. Wahrlich, ich bin zu schwach, aber wenn ich nur wollte!

Er stieg gemächlich den Pfad hinan, der zur Pforte des Parkes führte, und von weitem erblickte er eine weiße Gestalt, die sich vom Dunkel der Bäume abhob. Sie winkte mit einem Taschentuche, wie um ihm ein Zeichen zu geben. Sein Herz schlug heftig; seine Knie zitterten. Er hatte nicht die Kraft zu sprechen und war so schüchtern geworden, daß er fürchtete, die Gräfin könne ihm seine Verzweiflung vom Gesicht ablesen.

Er nahm ihre dargebotene Hand, küßte ihr die Stirn, da sie sich an seine Brust geworfen hatte. Stumm folgte er ihr in ihre Gemächer, mit Mühe die Seufzer zurückhaltend, die seine Brust zersprengen wollten.

Im Boudoir der Gräfin brannte eine einzige Kerze. Sie setzten sich. Saint-Clair bemerkte, daß seine Freundin eine einzelne Rose im Haar trug. Abends zuvor hatte er ihr einen schönen englischen Stich gebracht: Die Herzogin von Portland nach Lesly (mit der nämlichen Frisur), und Saint-Clair hatte nichts als die Worte dazu gesagt: Ich liebe diese schlichte Rose mehr als die raffinierteste Haartracht . . . Er liebte Geschmeide nicht; er dachte wie jener Lord, der in grober Weise gesagt hat: Zurechtgemachte Weiber sind wie Pferde mit Schabracken. Der Teufel weiß, was an ihnen ist. Letzte Nacht, als er mit ihrem Perlenhalsband spielte (es war seine Gewohnheit, während des Sprechens immer etwas in der Hand zu halten), hatte er gesagt: Schmuck ist nur gut, um Fehler zu verbergen. Du bist zu hübsch, Mathilde, um welchen zu brauchen. Die Gräfin, die sich die geringsten seiner Worte merkte, trug an diesem Abend weder Ringe noch Halskette, weder Ohrringe noch Armbänder. Bei der Kleidung einer Frau sah er vor allem auf die Schuhe, und wie manch andrer hatte auch er in diesem Punkte seine besondere Vorliebe. Vor Sonnenuntergang hatte es in Strömen geregnet. Das Gras war noch naß, aber die Gräfin war mit seidenen Strümpfen und schwarzen Atlasschuhen über den feuchten Rasen gegangen . . . Wenn sie sich erkältete?

Sie liebt mich, sagte sich Saint-Clair, seufzte über sich und seine Torheit, und ohne es zu wollen, sah er Mathilde lächelnd an, schwankend zwischen seiner schlechten Laune und dem Vergnügen, eine hübsche Frau vor sich zu haben, die ihm durch diese Kleinigkeiten, die bei Verliebten eine so große Rolle spielen, zu gefallen trachtete. Das sonnige Gesicht der Gräfin, in dem Liebe und Schelmerei miteinander spielten, stand ihr entzückend.

Sie nahm etwas aus einem japanischen Lackkasten und streckte ihre kleine geschlossene Hand aus, die den Gegenstand verbarg: Neulich abends hast Du deine Uhr zerbrochen, sagte sie. Ich habe sie wieder in Ordnung bringen lassen.

Sie reichte ihm die Uhr und blickte ihn neckisch-zärtlich an, sich auf die Unterlippe beißend, wie um ein Lachen zu unterdrücken. Bei Gott, ihre Zähne waren schön! Wie weiß leuchteten sie zwischen dem glühenden Rot ihrer Lippen! Und wie albern nimmt sich ein Mann aus, der kalt bleibt bei zärtlichen Schmeicheleien einer hübschen Frau.

Saint-Clair bedankte sich, nahm die Uhr und wollte sie in seine Tasche stecken.

Aber sieh sie dir doch an! fuhr sie fort. Mache sie einmal auf und schaue nach, ob man sie gut gemacht hat. Du bist doch Fachmann als ehemaliger Zögling der Artillerieschule. Du mußt sie prüfen!

Ach, ich verstehe sehr wenig davon, meinte Saint-Clair und er öffnete den Uhrdeckel mit zerstreuter Miene.

Wie groß war seine Überraschung! Auf dem inneren Deckel fand er ein Miniaturbild der Gräfin von Coursy. Konnte er da noch schmollen? Seine Stirn hellte sich auf. Er dachte nicht mehr an Massigny; er war sich nur noch bewußt, bei einer entzückenden Frau zu sein, die ihn anbetete.

 

Die Lerche, die Botin der Morgenröte, begann zu singen. Lange Streifen blassen Lichts schimmerten in den Wolken im Osten. Es war die Stunde, in der Romeo sich von Julia trennt, die klassische Stunde, wo alle Liebenden Abschied voneinander nehmen müssen.

Saint-Clair stand am Kamin, den Parkschlüssel in der Hand, die Augen auf die fragliche etruskische Vase gerichtet. Noch immer verspürte er einen Groll gegen Mathilde im Grunde seiner Seele. Indessen war er guter Laune, da der einfache Gedanke, daß Thémines wohl gelogen habe, ihn bereits ziemlich beherrschte. Während die Gräfin, die ihn bis zur Gartenpforte begleiten wollte, ihr Haupt in einen Schal hüllte, schlug er mit dem Schlüssel, zunächst leise, dann mit immer stärkeren Schlägen auf die ihm widerwärtige Vase, so daß es aussah, als wolle er sie in Stücke zerschlagen.

Um Gottes willen, Vorsicht!, rief Mathilde, Du wirst meine schöne etruskische Vase zerschlagen. Und sie entwand den Schlüssel seinen Händen.

Saint-Clair war ärgerlich, doch blieb er gefaßt. Er wandte dem Kamin den Rücken, um der Versuchung zu entgehen, und seine Uhr öffnend, begann er das Bildnis zu betrachten.

Wer ist der Maler? fragte er.

R***. Massigny hat ihn mir empfohlen.

Seit Massigny aus Rom zurück war, hatte er sich als Kunstkenner gefühlt und sich zum Mäzen aller jungen Künstler aufgeworfen.

Ich finde, das Bild ist mir wirklich ähnlich, wenn auch ein wenig geschmeichelt.

Saint-Clair verspürte Lust, die Uhr gegen die Wand zu schleudern, was ihr schwerlich gut bekommen wäre. Aber er beherrschte sich und steckte sie wieder in seine Tasche. Als er sodann wahrnahm, daß es bereits heller Tag war, trat er aus dem Hause und bat Mathilde inständig, ihn nicht zu begleiten. Er durchmaß den Park mit großen Schritten, und rasch befand er sich im Freien.

Massigny! Massigny! schrie er wutentbrannt. Soll ich dich überall wiederfinden? Ohne Zweifel hat der Maler des Bildchens ein zweites für Massigny gemalt. Ich Tor! Konnte ich auch nur einen Augenblick glauben, so geliebt zu werden, wie ich liebte . . . nur darum, weil sie eine Rose im Haar trägt und keine Edelsteine! Ihr Schmuckkasten ist ja voll davon . . . Massigny, der nur auf die Kleider der Frauen sah, liebte Juwelen über die Maßen . . . Zugegeben, daß es sich gut mit ihr leben läßt. Sie weiß sich dem Geschmack ihrer Liebhaber anzupassen. Der Teufel hole mich! Hundertmal lieber hätte ich es, sie wäre eine Kurtisane, die sich für Geld hingibt. Dann könnte ich wenigstens glauben, daß sie mich liebt, da sie meine Geliebte ist und ich sie nicht bezahle.

Bald kam ihm ein noch qualvollerer Gedanke in den Sinn. In einigen Wochen ging die Trauer der Gräfin zu Ende. Saint-Clair sollte sie heiraten, sobald das Jahr der Witwenschaft abgelaufen war. Er hatte es versprochen. Versprochen? Nein, niemals hatte er davon geredet. Es war aber seine Absicht, und die Gräfin hatte ihn verstanden. Für ihn war es wie ein Schwur. Abends zuvor hätte er ein Königreich darum gegeben, den Augenblick zu beschleunigen, wo er vor aller Welt seine Liebe eingestehen durfte; nun schauderte er bei dem bloßen Gedanken, sein Schicksal mit Massignys ehemaliger Geliebten zu verbinden. Und doch, ich muß es tun! sagte er sich. Es wird geschehen. Gewiß glaubt sie, ich wisse von dieser verflossenen Liebesgeschichte. Sie soll allbekannt sein. Übrigens kennt mich Mathilde gar nicht. Sie kann mich nicht verstehen. Sie denkt, daß ich sie nur mit der Liebe eines Massigny liebe.

Darauf sagte er sich, nicht ohne Stolz: Ein Vierteljahr lang hat sie mich zum glücklichsten aller Männer gemacht. Dies Glück wiegt das Opfer meines ganzen Lebens auf.

Er legte sich nicht nieder, sondern begann einen Spazierritt durch den Wald. Auf dem Wege von Verrières sah er einen Herrn auf einem schönen englischen Vollblüter, der ihn von weitem mit Namen anrief und sogleich auf ihn zukam. Es war Alphons von Thémines. In der Stimmung, in der sich Saint-Clair befand, ist die Einsamkeit besonders angenehm. Die Begegnung mit Thémines verwandelte seine Verzweiflung in verhaltene Wut. Thémines bemerkte es nicht, oder es bereitete ihm boshaftes Vergnügen, ihn zu ärgern. Er erzählte, lachte, scherzte, ohne zu gewahren, daß er keine Antwort erhielt.

Wie Saint-Clair einer schmalen Allee ansichtig ward, bog er ab, in der Hoffnung, daß der Zudringliche ihm nicht folgen werde. Doch er irrte sich; ein Zudringlicher läßt nicht so leicht von seiner Beute. Thémines bog ebenfalls ab und legte im Tempo zu, um wieder neben Saint-Clair zu kommen und die Unterhaltung bequem fortsetzen zu können. Es ist bereits erwähnt, daß die Allee eng war. Nur mit Mühe konnten die beiden Pferde nebeneinander gehen. Deshalb war es nicht zu verwundern, daß Thémines, obschon ein ausgezeichneter Reiter, Saint-Clairs Fuß berührte, als er an seine Seite kam. Der, dessen Zorn seinen Höhepunkt erreicht hatte, konnte nicht länger an sich halten. Er stellte sich in die Bügel und schlug mit seiner Reitgerte heftig über die Nase von Thémines Pferd.

Zum Teufel, August, was haben Sie? rief Thémines. Was schlagen Sie mein Pferd?

Warum reiten Sie mir nach? erwiderte Saint-Clair mit unheimlicher Stimme.

Sind Sie verrückt geworden, Saint-Clair? Vergessen Sie, mit wem Sie sprechen?

Ich weiß wohl, daß ich zu einem dummen Jungen rede.

Saint-Clair, Sie haben den Verstand verloren. Hören Sie! Morgen werden Sie sich entschuldigen oder mir für Ihre Frechheit Rechenschaft geben! Also auf morgen, Herr von Saint-Clair!

Thémines parierte sein Pferd. Saint-Clair gab dem seinen die Sporen und war bald im Walde verschwunden. In diesem Augenblick fühlte er sich erleichtert. Er hatte die Schwäche, an Vorahnungen zu glauben. Er dachte bei sich: Morgen bin ich tot. Und es gibt kein Grübeln und Fragen mehr. Noch ein einziger Tag, und alle Unruhe, alle Qual ist vorüber.

Er kam nach Hause, sandte den Diener mit einem Schreiben zum Obersten Beaujeu, schrieb einige Briefe. Dann nahm er sein Mittagsmahl mit gutem Appetit, und Punkt halb neun Uhr war er an der kleinen Pforte des Parkes.

 

Was hast du nur heute, August? fragte die Gräfin. Du bist von merkwürdiger Heiterkeit, und doch kannst du mich mit allen deinen Scherzen nicht zum Lachen bringen. Gestern hingegen warst du etwas verdrießlich, und ich war so fröhlich. Heute haben wir die Rollen getauscht. Ich habe heftige Kopfschmerzen.

Schöne Freundin, ich gebe zu, daß ich gestern recht langweilig war. Aber mein heutiger tüchtiger Morgenritt ist mir ausgezeichnet bekommen.

Was mich betrifft, so bin ich spät aufgestanden, habe in den Morgen hineingeschlafen und angreifende Träume gehabt.

Träume? Glaubst du an Träume?

Unsinn!

Ich glaube daran. Ich wette, daß du einen Traum hattest, der Unheil verkündete.

Mein Gott, ich erinnere mich niemals meiner Träume. Doch, ich erinnere mich. Ich habe im Traume Massigny gesehen. Es war keineswegs etwas Amüsantes.

Massigny! Ich hätte im Gegenteil geglaubt, daß du ihn gern wiedersehen würdest . . .

Armer Massigny!

Armer Massigny?

August, ich bitte dich, sage mir, was hast du heute abend? In deiner Heiterkeit liegt etwas Teuflisches. Ich möchte beinahe meinen, du machst dich über dich selber lustig.

Sieh, jetzt behandelst du mich ebenso schlecht wie deine Freundinnen, die alten Majoratsdamen.

August, du machst heute dasselbe Gesicht wie bei den Leuten, die du nicht magst.

Böse Frau, gib mir die Hand!

Er küßte ihr die Hand mit spöttischer Höflichkeit, und sie sahen sich beide eine Minute lang scharf in die Augen. Saint-Clair senkte zuerst den Blick und rief: Wie schwer ist es, in dieser Welt zu leben, ohne für schlecht zu gelten! Man sollte niemals über andre Dinge als über das Wetter und die Jagd reden, oder mit deinen alten Freundinnen das Budget ihres Wohltätigkeitsvereines besprechen. Er nahm ein Blatt vom Tisch: Ah, die Rechnung deiner Wäscherin! Plaudern wir darüber, mein Engel; dann wirst du nicht mehr sagen, daß ich schlecht sei.

August, du bringst mich wirklich in Verwunderung.

Diese Handschrift erinnert mich an einen Brief, den ich heute morgen gefunden habe. Ich muß erwähnen, daß ich meine Papiere ordnete, da ich von Zeit zu Zeit Anwandlungen von Ordnungssinn habe. Also, ich fand den Liebesbrief einer Schneiderin, in die ich mit achtzehn Jahren verliebt war. Sie hatte eine ganz besondre, umständliche Schreibweise. Der Stil war ihrer Rechtschreibung würdig. Da ich damals nicht zu knapp Dandy war, fand ich es unter meiner Würde, eine Geliebte zu besitzen, die nicht wie die Sévigné schrieb. Ich verließ sie plötzlich. Heute, als ich diesen Brief wieder las, erkannte ich, daß die Schneiderin mich wahrhaft geliebt hat.

Großartig! Eine Frau, die du ausgehalten hast!

Jawohl, großartig: mit fünfzig Frank den Monat. Aber mein Vormund hielt mich kurz, denn er war der Meinung, daß ein junger Mann, der Geld in der Hand habe, sich und andre zugrunde richte.

Und was ist aus ihr geworden?

Was weiß ich? Wahrscheinlich ist sie im Krankenhause gestorben.

August, wenn das wahr wäre, würdest du nicht so sorglos aussehen.

Um die Wahrheit zu sagen, sie hat einen anständigen Mann geheiratet; und als ich großjährig ward, habe ich ihr eine kleine Aussteuer geschenkt.

Wie gut du bist! Doch warum wolltest du dich so schlecht machen?

Ja, ja, ich bin wohl gut. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr überzeuge ich mich, daß diese Frau mich wirklich geliebt hat. Damals aber war ich nicht imstande, echtes Gefühl in lächerlicher Form klar zu erkennen.

Du hättest mir den Brief bringen sollen. Ich wäre nicht eifersüchtig gewesen. Wir Frauen haben mehr Feingefühl als Ihr Männer und sehen sofort am Stil eines Briefes, ob der Schreiber es aufrichtig gemeint hat, oder ob er eine Leidenschaft vortäuscht, die er nicht empfindet.

Und doch, wie oft laßt Ihr Frauen Euch von Dummköpfen und Gecken überlisten!

Indem er so sprach, betrachtete er die etruskische Vase, und ein düsterer Ausdruck lag in seinen Augen und in seiner Stimme; Mathilde bemerkte ihn nicht.

Ach, Ihr Männer wollt immer für Don Juans gelten. Ihr bildet Euch stets ein, daß Ihr Andre täuscht, während Ihr häufig nur eine Donna Anna findet, die noch gerissener ist als Ihr.

Ich gebe zu, daß Ihr Frauen mit Eurem überlegenen Geiste einen Dummkopf auf Meilen wittert. Auch zweifle ich nicht, daß unser Freund Massigny, der ein Dummkopf und Geck war, jungfräulich als Märtyrer gestorben ist . . .

Massigny? Aber so borniert war er doch nicht; und dann, es gibt ja auch dumme Frauen. Ich muß dir eine Geschichte von Massigny erzählen . . . Oder habe ich sie dir nicht schon erzählt?

Ich wüßte nicht, erwiderte Saint-Clair mit zitternder Stimme.

Nach seiner Rückkehr aus Italien verliebte sich Massigny in mich. Mein Gatte kannte ihn; er stellte ihn mir als einen Mann von Geist und Geschmack vor. Sie paßten zueinander. Massigny kam anfangs sehr häufig. Er brachte mir Aquarelle, die er bei Schroth kaufte und für die seinigen ausgab; er redete über Musik und Malerei mit einem Ton von Überlegenheit, der mich belustigte. Eines Tages sandte er mir einen unglaublichen Brief. Er sagte mir da unter anderm, ich wäre die anständigste Frau von Paris; deswegen wolle er mein Liebhaber werden. Ich zeigte den Brief meiner Base Julie. Wir waren damals zwei rechte Närrinnen und beschlossen, Massigny einen Streich zu spielen. Eines Abends hatten wir einige Leute bei uns, darunter Massigny. Meine Base sagte zu mir: Ich will dir eine Liebeserklärung vorlesen, die ich heute morgen erhalten habe. Sie nahm den Brief und las ihn unter schallendem Gelächter vor . . . Der arme Massigny!

Saint-Clair warf sich Mathilden zu Füßen und stieß einen Freudenschrei aus. Er nahm ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen und Tränen. Die Gräfin war höchst überrascht und glaubte zunächst, er wäre krank. Saint-Clair konnte nichts als die Worte hervorbringen: Verzeihe mir! Verzeihe mir!

Endlich erhob er sich. Er strahlte. In diesem Augenblick war er glücklicher als an dem Tage, wo Mathilde zum ersten Male zu ihm sagte: Ich liebe dich.

Ich bin der törichtste und schuldigste aller Männer! rief er. Seit zwei Tagen hatte ich dich in Verdacht, und ich habe keine Aussprache mit dir herbeigeführt . . .

Du mich in Verdacht? Weshalb?

Ach, ich Armseliger! Man hatte mir hinterbracht, du hättest Massigny geliebt . . .

Massigny? Sie fing an zu lachen, um gleich darauf wieder ernst zu werden.

August, sagte sie, bist du so torhaft, solchen Argwohn zu hegen und solch ein Heuchler, ihn vor mir zu verbergen?

Tränen standen in ihren Augen.

Ich beschwöre dich, verzeihe mir!

Wie sollte ich dir nicht verzeihen, Geliebter? Aber zuvor laß mich dir schwören . . .

Oh, ich glaube dir, ich glaube dir. Sage nur nichts.

Aber um Gottes willen, was konnte dich bewegen, so Unwahrscheinliches zu argwöhnen?

Nichts, nichts! Mein verflixter Kopf . . . und . . . siehst du, die etruskische Vase! Ich wußte, daß Massigny sie dir geschenkt hatte . . .

Die Gräfin rang voll Verwunderung die Hände und rief dann auflachend aus:

Meine etruskische Vase! Meine etruskische Vase!

Saint-Clair mußte selber lachen, während gleichzeitig große Tränen über seine Wangen liefen. Er nahm Mathilde in seine Arme und sprach:

Ich lasse dich nicht, solange du mir nicht vergeben hast.

Ja, ich verzeihe dir, du Tor, sagte sie, ihn zärtlich küssend. Du machst mich heute sehr glücklich. Es ist das erstemal, daß ich dich weinen sehe, und ich dachte, du könntest nicht weinen.

Sie entwand sich seinen Armen, nahm die etruskische Vase und warf sie zu Boden, so daß sie in tausend Stücke zersprang. (Es war ein seltenes und einzigartiges, der Öffentlichkeit unbekanntes Stück. Die dreifarbige Malerei stellte den Kampf eines Lapithen mit einem Kentauren dar.)

Saint-Clair war während der nächsten Stunden der beschämteste und der glücklichste aller Männer.

 

Ist die Nachricht wahr? fragte Roquantin den Obersten Beaujeu, den er am Abend bei Tortoni traf.

Leider allzu wahr, antwortete der Oberst traurig.

Erzählen Sie, wie es sich zugetragen hat!

Gern. Saint-Clair hat mir zunächst gesagt, er habe unrecht, doch wolle er Thémines einen Schuß lassen und sich erst dann bei ihm entschuldigen. Ich konnte dies nur billigen. Thémines schlug vor, das Los möge entscheiden, wer den ersten Schuß habe. Saint-Clair bestand darauf, Thémines solle ihn haben. Thémines schoß. Ich sah, wie Saint-Clair sich um sich selber drehte und tot zu Boden fiel. Öfter schon habe ich bei Soldaten, die von einer Kugel getroffen waren, dies seltsame Sichdrehen im Tode beobachtet.

Etwas ganz Merkwürdiges! meinte Roquantin. Und was hat Thémines gemacht?

Was in solchem Fall zu machen ist. Er warf seine Waffe mit bedauernder Geste zu Boden, und zwar so heftig, daß der Hahn dabei abgebrochen ist. Es war eine englische Martonpistole. Ich weiß nicht, ob man in Paris einen Büchsenmacher findet, der imstande ist, das Ding wiederherzustellen.

 

Die Gräfin verbrachte ganze drei Jahre, ohne irgendwen zu empfangen. Winter wie Sommer blieb sie in ihrem Landhause, wo sie kaum das Zimmer verließ, bedient von einer Mulattin, die ihre Beziehungen zu Saint-Clair kannte und mit der sie keine zwei Worte am Tage wechselte. Im vierten Jahre kehrte ihre Base Julie von einer langen Reise zurück. Sie erzwang sich Zutritt und fand die arme Mathilde dermaßen abgemagert und bleich, daß sie vermeinte, die Mumie einer Frau zu erblicken, die sie in Schönheit und Lebensfreude verlassen hatte. Es war nicht leicht, sie ihrem Zufluchtsorte zu entreißen und nach Hyères zu bringen. Dort siechte die Gräfin in weiteren drei oder vier Monaten gänzlich hin. Sie starb dann an einer Lungenkrankheit, verursacht durch häusliche Sorgen, wie der Doktor M*** sagt, der sie behandelt hat.


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