Prosper Mérimée
Der Novellen erster Teil
Prosper Mérimée

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Kolomba

Aus einem Vocero

  Zur Entstehungsgeschichte vgl. Max Kuttner, Die korsischen Quellen von Chamisso und Mérimée (II), in Herrigs Archiv für neuere Sprachen, 1904, S. 101-109. Vgl. auch den Brief der Madame Colomba Bartoli in Olmeta (Korsika) an Mérimée vom 12. Juni 1858. (Félix Chambon, Notes sur Prosper Mérimée, Paris 1903, S. 129 f.) Mérimée weilte im August-September 1839 auf Korsika; vgl. sein Buch: Notes d'un voyage en Corse, Paris, Fournier, 1840 (8°, 236 S.). – Adolf Laun (1807-1881), geboren in Bremen, war von 1835 bis 1847 in Bordeaux Sprachlehrer und Professor der deutschen Sprache am Gymnasium. Er hat mancherlei übersetzt, Molière, Burns u. a. m. Über ihn: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 19, S. 49 f. Als erster Mérimée-Übersetzer soll hier seiner gedacht werden. Wenn man drei Arten Übersetzer unterscheidet (Dilettanten, Handwerker mit philologischer Genauigkeit ohne künstlerischen Sinn und schließlich Stilisten mit mehr oder weniger philologischem Einschlag), so gehört Laun zu den trocknen philologischen Übersetzern. – Der Herausgeber hat einige Stellen nach dem Original aufgehellt.

Übersetzt von Adolf Laun

Erstdruck in der Revue des Deux Mondes vom 1. Juli 1840. In Buchform bei Magen & Comon, Paris 1841. Erste deutsche Übersetzung in: Mérimées Ausgewählte Novellen. Aus dem Französischen von Adolf Laun. Leipzig [1872]. Seitdem oft noch übersetzt, unter andern von Ludwig Schneegans, München [1872]. Seiner Übersetzung sind einige metrische Übertragungen (S. 348 f. und 371) entnommen.


Pè far la to vendetta,
Sta sigur', vasta anche ella.

I

In den ersten Tagen des Monats Oktober 18** stieg der Oberst Sir Thomas Nevil, Irländer, ein vornehmer Offizier der englischen Armee, mit seiner Tochter im Hotel Beauveau zu Marseille auf seiner Rückkehr aus Italien ab. Die ewige Begeisterung der Festlandswanderer hatte einen argen Rückschlag erlitten, und manche von ihnen, um Sonderlinge zu bleiben, nahmen sich das nil admirari des Horaz zum Wahlspruch. Zu dieser Klasse von unzufriedenen Reisenden gehörte Miß Lydia, des Obersten einziges Kind. Rafaels Transfiguration war ihr nur mittelmäßig vorgekommen, und der speiende Vesuv machte auf sie keinen größeren Eindruck als die Schornsteine der Fabriken von Birmingham. Ihr Hauptvorwurf gegen Italien war, daß dies Land keinen Charakter, keine Lokalfarbe habe. Miß Lydia hatte sich mit dem Gedanken geschmeichelt, jenseits der Alpen Dinge zu sehen, die niemand vor ihr gesehen hätte, und von denen sie mit ehrenwerten Leuten, wie Monsieur JourdainHerr Jourdain, Gestalt in Molières Bürgerlichem Edelmann. sagt, sprechen könnte. Aber da ihr überall ihre Landsleute zuvorgekommen waren, und sie daran verzweifelte, etwas Unbekanntes zu entdecken, schlug sie sich zur Gegenpartei. Es ist in der Tat sehr unangenehm, nicht von den Wundern Italiens sprechen zu können, ohne daß jemand mit der Frage dazwischenfährt: Sie kennen doch den Rafael des Palastes *** zu ***? Das ist das Schönste, was es in Italien gibt. Und das hat man gerade nicht gesehen. Da man nicht alles sehen kann, so ist es das Einfachste, alles von vornherein zu verwerfen.

Im Hotel Beauveau hatte Miß Lydia eine bittere Enttäuschung. Sie besaß eine hübsche Skizze des pelasgischen oder zyklopischen Tores von Segni, von dem sie glaubte, andere Zeichner hätten es übersehen. Aber Lady Frances Fenwich zeigte ihr, als sie sie in Marseille traf, ihr Album, in dem sich zwischen einem Sonett und einer getrockneten Blume das fragliche Tor abgezeichnet fand. Miß Lydia schenkte ihr Tor ihrem Kammermädchen und verlor alle Achtung für die pelasgische Architektur.

Der Oberst, ihr Vater, der nach dem Tode seiner Frau alles nur mit den Augen der Miß Lydia sah, teilte diese schlimme Neigung. Für ihn hatte Italien den ungeheuren Fehler, seine Tochter zu langweilen; folglich war es ihm das langweiligste Land der Welt. Er hatte zwar nichts gegen die Gemälde und Standbilder einzuwenden, aber er behauptete, die Jagd sei in diesem Lande miserabel, und man müsse zehn Meilen in der Sonne durch die römische Kampagna pinschern, um ein paar elende Rebhühner zu schießen.

Am Tage nach seiner Ankunft in Marseille lud er den Kapitän ElIis, seinen früheren Adjutanten, der sechs Monate in Korsika verlebt hatte, zum Mittagessen ein. Der Kapitän erzählte der Miß Lydia sehr nett eine Banditengeschichte, die den Vorzug hatte, ganz anders zu sein als die, mit denen man sie so oft auf dem Wege zwischen Rom und Neapel unterhalten hatte. Beim Nachtisch sprachen die beiden Herren, allein bleibend, bei einer Flasche Bordeaux von der Jagd, und der Oberst erfuhr, daß es kein Land gäbe, wo sie schöner, mannigfaltiger und reicher sei als in Korsika. Man findet da eine Menge Wildschweine, sagte der Kapitän, aber man muß erst lernen, sie von den zahmen Schweinen zu unterscheiden, die ihnen in erstaunlicher Weise gleichen; denn wenn man diese Schweine schießt, bekommt man es mit ihren Hirten zu tun. Sie kommen aus einem Buschwald hervor, den man Macchia nennt. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet, lassen sich ihre Schweine teuer bezahlen und lachen Sie dann aus. Da ist noch das Muffelschaf, ein sonderbares Tier, das man anderswo nicht findet, ein famoses Wildbret, aber schwer zu jagen. Ferner gibt es Hirsche, Damwild, Fasanen, Rebhühner. Man kommt gar nicht zu Ende mit den verschiedenen Arten von Wild, das es in Korsika im Überfluß gibt. Oberst, wenn Sie gern jagen, gehen Sie nach Korsika, da kann man, wie einer meiner Wirte sagte, alles mögliche schießen, vom Kramtsvogel bis zum Menschen.

Beim Tee ergötzte der Kapitän Miß Lydia aufs neue mit einer Geschichte der Vendetta, das heißt der Rache, die man an einem mehr oder weniger entfernten Verwandten des Beleidigten übt. Diese Geschichte war noch abenteuerlicher als die erste, und es gelang ihm, Miß Lydia für Korsika zu begeistern, indem er ihr den sonderbaren wilden Anblick des Landes schilderte, den eigensinnigen Charakter seiner Bewohner, ihre Gastfreiheit und ihre urwüchsigen Sitten. Dann überreichte er ihr einen hübschen kleinen Dolch, der weniger durch seine Gestalt und seinen kupfernen Griff, als durch die Geschichte seines Ursprungs bemerkenswert war. Ein berüchtigter Bandit hatte ihm die Waffe abgetreten und ihm beteuert, daß sie schon in vier menschlichen Körpern gesteckt habe. Miß Lydia steckte ihn sich in den Gürtel, legte ihn auf ihren Nachttisch und zog ihn zweimal, ehe sie einschlief, aus der Scheide. Der Oberst seinerseits träumte, wie er ein Muffelschaf tötete, und wie der Eigentümer ihn dreimal den Preis bezahlen ließ, was er gern tat, denn es war eine ganz merkwürdige Bestie, die einem Eber glich, mit Hörnern wie ein Hirsch und einem Schweif wie ein Fasan.

Am andern Morgen sagte der Oberst, als er mit seiner Tochter beim Frühstück saß: Ellis hat mir erzählt, daß es auf Korsika eine wunderbare Jagd gibt. Wäre es nicht so weit, so möchte ich vierzehn Tage dort zubringen.

So so, meinte Miß Lydia. Warum gehen wir nicht nach Korsika? Während du jagst, werde ich zeichnen; es wird mir große Freude machen, in mein Album eine Zeichnung der Grotte zu bekommen, von der Kapitän Ellis berichtet hat, Bonaparte habe darin als Kind gelesen und studiert.

Es war dies vielleicht das erstemal, daß ein vom Obersten ausgesprochener Wunsch die Billigung seiner Tochter erhielt. Entzückt über diesen unerwarteten Einklang, war er klug genug, einige Einwendungen zu machen, um Miß Lydias glückliche Kaprice noch mehr aufzureizen. Vergeblich redete er von der Wildheit des Landes und der Schwierigkeit für eine Dame, dort zu reisen. Sie fürchtete nichts, sie reiste vor allem gern zu Pferde, sie machte sich ein Vergnügen daraus zu biwakieren, und drohte, nach Kleinasien zu gehen. Kurz, sie hatte auf alles eine Antwort. Noch nie war eine Engländerin auf Korsika gewesen; folglich mußte sie hin. Und welches Vergnügen, wenn sie wieder auf dem St. James' Place war, ihr Album vorzuzeigen.

Warum, meine Teuerste, überschlagen Sie diese hübsche Zeichnung?

O, das ist nichts, bloß eine Skizze, die ich mir von einem bekannten korsischen Banditen gemacht habe, der uns als Führer diente.

Wie, Sie sind auf Korsika gewesen?

Da es noch keine Dampfboote zwischen Korsika und Frankreich gab, suchte man ein Segelschiff zur Fahrt nach der Insel, die Miß Lydia sich vorgenommen hatte zu entdecken. Der Oberst schrieb sogleich nach Paris, um die ihm bereitgehaltenen Zimmer abzubestellen, und ward mit dem Kapitän einer korsischen Goëlette, die im Begriff stand, nach Ajaccio zu segeln, über den Fahrpreis einig. Es waren darin zwei freilich mäßige Kajüten. Man versorgte sich mit Mundvorrat; der Kapitän schwor, einer seiner alten Matrosen sei ein achtbarer Koch und habe in der Bereitung der BouillabaisseBouillabaisse, das bekannte Fischgericht der Marseilleser. nicht seinesgleichen; er versicherte, Mademoiselle werde sich auf dem Schiffe wohlbefinden, und guter Wind und ruhige See seien zu erwarten. Auf Wunsch seiner Tochter stellte der Oberst noch die Bedingung, daß der Kapitän keinen Fahrgast weiter aufnehmen dürfe und an den Küsten der Insel hin segeln müsse, damit man den Anblick der Berge genieße.

II

Am Tage, der für die Abreise bestimmt war, war alles schon am Morgen gepackt und eingeschifft; die Goëlette sollte mit der Abendbrise fahren. Der Oberst ging wartend auf dem Hafendamm auf und ab, als der Kapitän ihn anredete und um die Erlaubnis bat, einen seiner Verwandten, nämlich den Vetter vom Paten seines Sohnes, mitzunehmen; er wünsche in dringenden Geschäften nach Korsika zurückzukehren und könne kein Schiff zur Überfahrt finden.

Er ist ein scharmanter Bursch, fügte er hinzu, alter Soldat, Offizier bei den Gardejägern. Er wäre längst Oberst, wenn der Andere noch Kaiser wäre.

Da er alter Soldat ist . . ., erwiderte der Oberst, im Begriffe hinzuzufügen: so willige ich gern darein, daß er mit uns reist. Aber Miß Lydia rief auf englisch aus: Ein Offizier der Infanterie (da ihr Vater in der Kavallerie gedient hatte, hegte sie eine souveräne Verachtung gegen jede andere Waffe), vielleicht ein ungebildeter Mensch, der seekrank wird und uns allen Spaß an der Überfahrt verderben wird!

Der Kapitän verstand kein Wort Englisch, aber offenbar erriet er aus dem Schmollen des hübschen Mundes, was Miß Lydia sagte, denn er begann sofort eine große Lobeserhebung seines Verwandten, wobei er versicherte, es sei ein Mann sehr comme il faut aus einer Caporali-Familie; er werde den Obersten ganz gewiß nicht belästigen, denn er, der Kapitän, würde ihn in einem Winkel des Schiffes unterbringen, wo man seine Gegenwart gar nicht merke.

Der Oberst und Miß Lydia wunderten sich, daß es in Korsika Familien gäbe, wo man von Vater zu Sohn Korporal wäre, aber da sie meinten, es handle sich um einen Korporal der Infanterie, schlossen sie, es müsse irgendein armer Teufel sein, den der Kapitän aus Mitleid mitnähme. Wäre es ein Offizier, so würde man gezwungen sein, mit ihm zu reden und zu leben, aber vor einem Korporal braucht man sich nicht zu genieren; das ist eine unbedeutende Person, vorausgesetzt, daß seine Korporalschaft nicht mit aufgepflanztem Bajonett dasteht, um einen hinzuführen, wohin man nicht gern geht.

Wird Ihr Verwandter seekrank? fragte Miß Lydia in trocknem Tone.

Niemals, Mademoiselle; sein Herz ist fest wie Felsen, zu Wasser wie zu Lande.

Dann können Sie ihn mitnehmen, erklärte sie.

Sie können ihn mitnehmen, wiederholte der Oberst, und sie setzten ihre Promenade fort.

Gegen fünf Uhr abends holte der Kapitän sie ab, um sie an Bord der Goëlette zu bringen. Am Hafen, nahe beim Boot des Kapitäns, fanden sie einen großen jungen Mann, in blauem, bis oben zugeknöpftem Rocke; sein Teint war bräunlich, die Augen schwarz, lebhaft, schön geschlitzt, seine Miene offen und klug. An der Art, wie er seine Schultern zurückzog, und an seinem kleinen gepflegten Schnurrbart erkannte man leicht den Soldaten, denn damals war der Schnurrbart nichts Gewöhnliches, und die Dienstpflicht hatte militärische Haltung und Manieren noch nicht in alle Familien gebracht.

Der junge Mann nahm seine Mütze ab, als er den Obersten sah, und dankte ihm ohne Verlegenheit in passenden Ausdrücken für den Dienst, den er ihm erweise.

Es freut mich, Ihnen nützlich sein zu können, junger Mann, sagte der Oberst, indem er freundlich mit dem Kopfe nickte, und stieg ins Boot.

Euer Engländer macht keine großen Umstände, sagte der junge Mann leise auf italienisch zum Kapitän.

Der legte seinen Zeigefinger unter sein linkes Auge und zog die Winkel seines Mundes herab. Wer die Zeichensprache versteht, begreift, daß dies sagen sollte: Nimm dich in acht! Der Engländer versteht Italienisch und ist ein wunderlicher Kauz. Der junge Mann lächelte und legte den einen Finger an die Stirn, als wollte er sagen: Die Engländer haben alle einen Sparren! Dann setzte er sich neben den Kapitän und betrachtete mit vieler Aufmerksamkeit, aber durchaus nicht dreist, seine hübsche Reisegefährtin.

Die französischen Soldaten sind stattliche Kerle. Man kann leicht Offiziere aus ihnen machen, sagte der Oberst auf englisch zu seiner Tochter; dann wandte er sich auf französisch zu dem jungen Manne und fragte:

In welchem Regiment haben Sie gedient?

Der Befragte stieß den Vater des Paten seines Vetters leise mit dem Ellbogen an und antwortete, indem er ein ironisches Lächeln unterdrückte, er habe bei den Gardejägern gedient und käme eben vom siebenten leichten Regiment.

Sind Sie bei Waterloo gewesen?

Jawohl, Herr Oberst! Das war meine einzige Kampagne.

Zählt doppelt, sagte der Oberst.

Der junge Korse biß sich auf die Lippen.

Papa, sagte Miß Lydia auf englisch, frage ihn doch, ob die Korsen ihren Bonaparte sehr lieben?

Ehe der Oberst diese Frage ins Französische übersetzt hatte, antwortete der junge Mann in gutem, wenn auch nicht ganz klangreinem Englisch.

Sie wissen, Lady, daß niemand in seinem Vaterlande Prophet ist. Wir Landsleute Napoleons lieben ihn vielleicht weniger als die Franzosen. Was mich anbetrifft, so liebe und bewundere ich ihn, obgleich seine Familie früher mit der meinen verfeindet war.

Sie sprechen Englisch? rief der Oberst aus.

Recht schlecht, wie Sie sehen!

Obgleich sie von seinem natürlichen Wesen ein wenig betroffen war, konnte Miß Lydia nicht umhin, bei dem Gedanken zu lachen, daß ein persönliches Verhältnis zwischen einem Kaiser und einem Korporal bestanden habe. Es war dies für sie ein Vorgeschmack der korsischen Sonderbarkeiten, und sie nahm sich vor, diesen Zug in ihr Tagebuch zu schreiben.

Sie sind wohl Gefangener in England gewesen? fragte der Oberst.

Nein, Herr Oberst. Ich habe das Englische, als ich noch ganz jung war, in Frankreich von einem Gefangenen Ihrer Nation gelernt. Darauf wandte er sich zu Miß Nevil und sagte: Matei, der Kapitän, hat mir gesagt, Sie kämen aus Italien. Sie sprechen wahrscheinlich die reine toskanische Mundart, Lady, und es wird Ihnen, fürchte ich, etwas schwer werden, unser korsisches Kauderwelsch zu verstehen.

Meine Tochter versteht alle italienischen Dialekte, antwortete der Oberst. Sie hat Sprachtalent. Mit mir ist es etwas anders.

Versteht Mylady diese Verse eines unsrer korsischen Gesänge? Ein Schäfer sagt zu einer Schäferin:

S'entrassi 'ndru paradisu santu, santu,
E nun truvassi a tia, mi n'esciria.

(Es waren Verse aus einer Serenata von Zicavo; übersetzt etwa:

Käm ich ins heilige, heilige Paradies
Und fände Dich nicht: ach, ich kehrte um!)

Miß Lydia verstand und fand das Zitat kühn und den Blick, der es begleitete, noch kühner. Errötend erwiderte sie:

Capisco.

Haben Sie einen sechsmonatigen Heimatsurlaub? fragte der Oberst.

Nein, Herr Oberst; man hat mich auf Halbsold gesetzt, wahrscheinlich, weil ich bei Waterloo gewesen und ein Landsmann Napoleons bin. Ich kehre nach Hause zurück, leicht im Herzen, leicht im Beutel, wie das Lied sagt. Dabei blickte er zum Himmel empor.

Der Oberst steckte die Hand in die Tasche und, indem er ein Goldstück umdrehte, suchte er nach einer Wendung, um es auf höfliche Weise in die Hand seines unglücklichen Feindes gleiten zu lassen.

Mich hat man auch auf Halbsold gesetzt, sagte er, nur mit dem Unterschiede, daß Sie sich mit Ihrem Solde nicht einmal Tabak kaufen können. Nehmen Sie, Korporal!

Er suchte das Goldstück in die geschlossene Hand des Leutnants zu drücken, mit der er sich auf den Bord des Bootes stützte.

Der junge Korse errötete, erhob sich, biß sich in die Lippen und wollte offenbar eine zornige Erwiderung sagen, als er plötzlich, seine Miene ändernd, in Lachen ausbrach. Der Oberst, sein Geld in der Hand, war ganz verdutzt.

Herr Oberst, sagte er, wieder ernst werdend, erlauben Sie mir, Ihnen zwei Ratschläge zu geben. Der erste ist, nie einem Korsen Geld anzubieten, denn ich habe Landsleute, die unartig genug wären, es Ihnen an den Kopf zu werfen; und dann, den Leuten keine Titel zu geben, auf die sie keine Ansprüche machen. Sie nennen mich Korporal, und ich bin Leutnant. Freilich der Unterschied ist nicht groß.

Leutnant! rief Sir Thomas aus; aber der Kapitän hat mir gesagt, daß Sie ein Caporale wären wie Ihr Vater und alle Glieder Ihrer Familie.

Bei diesen Worten fiel der junge Mann beinahe um und brach in ein helles Gelächter aus, aber in so kräftiger Weise, daß der Kapitän und seine beiden Matrosen mit einstimmten.

Verzeihung, Herr Oberst, sagte endlich der junge Mann, das Quiproquo ist herrlich. Erst jetzt habe ich es begriffen. In der Tat, meine Familie rühmt sich, Caporali unter ihren Vorfahren zu haben, aber unsre korsischen Korporale haben nie Tressen auf ihren Röcken gehabt. Als im Jahre des Heils Elfhundert einige Familien revoltierten gegen die Signori, die in den Bergen wohnten, da wählten sie sich Führer, die sie Caporali nannten. Auf unsrer Insel machen wir uns eine Ehre daraus, von dieser Art Tribunen abzustammen.

Verzeihung, Herr Leutnant, rief der Oberst aus. Tausendmal Verzeihung! Da Sie den Grund meines Irrtums kennen, so hoffe ich, daß Sie ihn entschuldigen. Dabei reichte er ihm die Hand.

Das ist die gerechte Strafe für meine kleine Schwäche, sagte der junge Mann, indem er fortwährend lachte und die Hand des Engländers herzlich drückte. Ich bin Ihnen durchaus nicht böse deshalb. Da mein Freund Matei mich so schlecht vorgestellt hat, erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen selber vorstelle, ich heiße Orso della Rebbia, Oberleutnant auf Halbsold, und da Sie, wie ich beim Anblick Ihrer beiden schönen Hunde vermute, zur Jagd nach Korsika gehen, wäre ich sehr erfreut, Ihnen die Honneurs unserer Macchien und Berge machen zu können, wenn ich, fügte er seufzend hinzu, die Wege nicht vergessen habe.

In diesem Augenblick stieß das Boot an die Goëlette. Der Leutnant bot Miß Lydia die Hand und half dann dem Obersten auf Deck. Sir Thomas, der noch immer verlegen darüber war und nicht recht wußte, wie er seine Ungeschicklichkeit gegenüber einem Manne, der einen Stammbaum bis zum Jahre Elfhundert besaß, wieder gutmachen könnte, lud ihn, ohne die Zustimmung seiner Tochter abzuwarten, zum Abendessen ein, indem er seinen Händedruck und seine Entschuldigungen wiederholte. Miß Lydia zog allerdings die Augenbrauen etwas zusammen, aber bei alledem war es ihr doch lieb, erfahren zu haben, was ein Caporale sei. Ihr Gast hatte ihr nicht mißfallen. Sie fing sogar an, etwas Aristokratisches an ihm zu finden; nur sah er für einen Romanhelden zu lustig und offenherzig aus.

Herr Oberleutnant della Rebbia, sagte der Oberst, ihn in englischer Weise begrüßend, ein Glas Madeira in der Hand haltend, ich habe in Spanien viele Ihrer Landsleute gesehen; das waren famose Scharfschützen.

Jawohl, in Spanien sind viele geblieben, sagte der Leutnant in ernstem Tone.

Nie werde ich das Verhalten eines korsischen Bataillons in der Schlacht von Vittoria vergessen, fuhr der Oberst fort. Ich habe Grund, mich dessen zu erinnern . . . Bei diesen Worten rieb er sich die Brust. Den ganzen Tag über hatten sie aus den Gärten und hinter den Hecken herausgeschossen und uns eine Menge Leute und Gäule weggeputzt. Sowie der Rückzug befohlen war, sammelten sie sich und machten sich schleunigst auf und davon. Wir hofften, in der Ebene Revanche zu nehmen, aber die verdammten Kerle (Verzeihen Sie den Ausdruck, verehrter Oberleutnant!), die tapferen Burschen hatten Karree formiert, und es war nicht möglich durchzubrechen. Im Innern des Karrees – es ist mir, als sähe ich es heute noch vor mir – hielt ein Offizier auf einem schwarzen Pferdchen neben dem Adler und rauchte seine Zigarre, als säße er im Kaffeehause. Gewiß um uns zu höhnen, ertönte hin und wieder Fanfarenklang.

Ich schicke meine beiden ersten Eskadrons gegen sie. Hat sich was! Statt das Karree zu überreiten, brechen meine Dragoner nach der Seite aus, machen kehrt und kommen aufgelöst zurück. Manches Pferd ohne Reiter . . . und dabei immer die verteufelte Musik. Als sich der Rauch, der das Bataillon einhüllte, gehoben hatte, sah ich den Offizier neben dem Adler wieder; er rauchte noch immer seine Zigarre. Wütend setzte ich mich persönlich an die Spitze einer Attacke. Ihre durch vieles Schießen verrußten Gewehre gingen nicht mehr los, aber die Soldaten standen in sechs Reihen da und hielten ihre Bajonette den Nasen der Pferde entgegen. Eine richtige lebendige Mauer! Ich schrie meinen Dragonern anfeuernde Worte zu und trieb meinen Gaul mit den Sporen vorwärts, als der erwähnte Offizier, indem er endlich seine Zigarre wegwarf, einen der Leute mit der Hand auf mich aufmerksam machte. Ich hörte so etwas wie: Al capello bianco! Ich trug einen weißen Federbusch. Weiter hörte ich nichts; denn eine Kugel drang mir in die Brust. Es war ein schönes Bataillon, Herr della Rebbia, das erste des achtzehnten leichten Infanterieregiments, alles Korsen, wie man mir berichtet hat.

So war es, Herr Oberst, sagte Orso, dessen Augen bei dieser Erzählung glänzten. Sie stützten den Rückzug und brachten ihren Adler zurück, aber zwei Drittel der tapfern Leute schlummern in der Ebene von Vittoria.

Wissen Sie vielleicht den Namen des Offiziers, der sie führte?

Es war mein Vater. Er war damals Major im achtzehnten Regiment und wurde wegen seiner Haltung an diesem Unglückstage zum Obersten befördert.

Ihr Vater, bei Gott, das war ein Held! Es würde mir Freude machen, ihn wiederzusehen. Ich würde ihn sofort erkennen; des bin ich gewiß. Lebt er noch?

Nein, Herr Oberst, erwiderte der junge Mann, ein wenig blaß werdend.

War er bei Waterloo?

Jawohl, Herr Oberst; aber er hat nicht das Glück gehabt, im Felde zu fallen. Er ist auf Korsika gestorben . . . vor zwei Jahren . . . Mein Gott, wie schön ist das Meer! Zehn Jahre lang habe ich es nicht gesehen . . . Finden Sie nicht, Lady, daß das Mittelmeer viel schöner ist als der Ozean?

Mir ist es zu blau; und den Wellen fehlt die Großartigkeit.

Wenn Sie wilde Schönheit lieben, dann wird Ihnen Korsika gefallen, denke ich.

Meine Tochter hat eine Vorliebe für das Ungewöhnliche, sagte der Oberst. Deshalb gefällt ihr Italien nicht besonders.

Ich kenne von Italien nur Pisa, sagte Orso. Dort war ich eine Zeitlang auf der Schule. An den Campo Santo, an den Dom, an den schiefen Turm kann ich nicht ohne Bewunderung zurückdenken. Besonders an den Campo Santo nicht. Sie erinnern sich jener Statue von Orcagna: Der Tod? Ich könnte die Gestalt zeichnen, so stark hat sie sich mir in das Gedächtnis eingeprägt.

Miß Lydia befürchtete, der Leutnant werde in seiner Begeisterung kein Ende finden. Gähnend meinte sie:

Das ist sehr hübsch! Verzeih mir, Papa, ich habe Kopfweh. Ich möchte in meine Kabine gehen.

Sie küßte ihren Vater auf die Stirn, grüßte wie eine Fürstin Orso durch eine leichte Kopfbewegung und verschwand. Die beiden Männer plauderten nun von der Jagd und vom Kriege.

Gar bald stellten sie fest, daß sie bei Waterloo im wechselseitigen starken Feuer einander gegenübergestanden hatten. Das verdoppelte ihr gutes Einvernehmen. Lebhaft tauschten sie ihre Meinungen über Napoleon, Wellington und Blücher aus. Dann erzählten sie sich Jagderlebnisse von Damhirschen, Wildschweinen, Muffelschafen. Die Nacht war weit vorgerückt und die letzte Flasche Bordeaux leer, als der Oberst dem jungen Kameraden abermals die Hand drückte und ihm gute Nacht wünschte, wobei er die Hoffnung aussprach, die Bekanntschaft, die sich in so spaßiger Weise gemacht hatte, weiter pflegen zu dürfen. Sie trennten sich, und jeder suchte sein Lager auf.

III

Die Nacht war herrlich; der Mond spielte auf den Fluten; das Schiff, von leichter Brise getrieben, fuhr langsam dahin. Miß Lydia hatte keine Neigung zum Schlaf, und nur die Gegenwart eines Profanen hatte sie gehindert, sich jenen Gefühlen hinzugeben, die bei mondbestrahlter See jedes menschliche Wesen ergreifen, das ein Gränchen Poesie im Herzen hat.

Als sie annahm, daß der junge Leutnant, prosaisch wie er wohl war, wie ein Dachs schlafe, stand sie auf, nahm einen Pelz, weckte ihre Jungfer und stieg aufs Verdeck. Es war niemand oben, nur ein Matrose am Steuerruder, der eine Art Klagelied in korsischem Dialekt nach einer wilden, eintönigen Weise sang. Zu ihrem Leidwesen verstand Miß Lydia nicht alles. Mitten unter vielen Gemeinplätzen erregte ein kraftvoller Vers ihre Aufmerksamkeit; aber dann kamen im schönsten Moment ein paar Worte der Volkssprache, deren Sinn ihr entging. Gleichwohl begriff sie, daß es sich um einen Totschlag handelte. Verwünschungen gegen den Mörder, Rachedrohungen, das Lob des Toten, alles ging durcheinander. Einige Verse merkte sie sich; sie mögen hier folgenDas Lied ist eine korsische Totenklage, ein Vocero (oder Ballato); hierüber Gregorovius Bd. II, S. 41-74.:

Blitzt nur immer, Bajonette,
Donnert immerzu, Kanonen!
Nimmer ist vor euch erblichen
Je die Stirne dieses Helden,
Der noch auf dem Schlachtfeld lächelt,
Heiter wie die Sommernacht.

War er doch Gesell des Adlers,
War er doch der kühne Falke;
Seinen Freunden süßer Honig,
Seinem Feinde wildes Wettern.
Himmelsnäher als die Sonne,
Milder als der blasse Mond.

Ihn, den seines Landes Feinde
Nie vergeblich je erwartet,
Ihn erschlugen in der Heimat
Hinterrücks die Meuchelmörder,
So wie Vittolo, der feige,
Den Sampiero CorsoSampiero der Korse, geboren 1498, berühmter Landsknecht, 1547 französischer Oberst, grimmiger Feind der Genueser, deren gedungenem Meuchelmörder Vittolo er 1567 zum Opfer fiel. Er ist der Wilhelm Tell der Korsen, die ihm 1890 in seinem Heimatsdorfe Bastelika ein Denkmal errichtet haben. Mérimée weist bei der Erwähnung der Namen Sampiero und Vittolo in einer Fußnote hin auf: Filippini, [Istoria di Corsica, Turnone 1594; Neudruck Pisa, 1828 ff., 5 Bände], Kapitel 11. schlug.

Vor mein Bett, da auf die Mauer
Legt das Ehrenkreuz mir nieder!
Ehrlich hab ich's mir erworben,
Dieses Kreuz am roten Bande.
Röter, ach, um vieles röter
Ist das Hemd auf meiner Brust.

Hebt für meinen Sohn, den fernen,
Sorglich auf dies Ehrenzeichen
Und mein blutigrotes Hemde;
Löcher zeigt es ihrer zweie.
Sagt ihm: zweimal zweie soll er
Bohren in des Feindes Hemd.

Soll die Rache danach rasten?
Nein! Noch dreierlei begehr ich:
Erst die Hand, die abgedrückt hat,
Dann das Auge, das gezielet,
Und das Herz, das ausgesonnen . . .

Plötzlich hielt der Matrose inne.

Warum fahrt Ihr nicht fort, Freund?

Der Matrose wies mit einer Kopfbewegung auf eine Gestalt hin, die aus der großen Luke der Goëlette emportauchte; es war Orso, der sich am Mondenschein erfreuen wollte.

Setzt Euren Klagegesang doch fort! sagte Miß Lydia. Er macht mir große Freude.

Der Matrose beugte sich zu ihr und flüsterte:

Den Rimbecco gebe ich niemandem.

Was? Den . . .?

Der Matrose gab keine Antwort und begann zu pfeifen.

Ich überrasche Sie, wie Sie unser Mittelmeer bewundern, Miß Nevil, sagte Orso, indem er zu ihr trat. Gestehen Sie, daß man den Mond nirgends so sieht!

Ich habe ihn nicht betrachtet. Ich war dabei, das Korsische zu studieren. Der Matrose da hat einen höchst tragischen Klagegesang gerade im schönsten Moment nicht weiter gesungen.

Der Matrose beugte sich nieder, als wolle er den Kompaß genauer betrachten, und zupfte lebhaft am Pelz der Miß Nevil. Es war klar, daß sein Klagelied nicht in Gegenwart des Leutnants Orso gesungen werden durfte.

Was hast du gesungen, Paolo? Einen Vocero? Das Fräulein versteht dich und möchte das Ende hören.

Ich weiß nicht mehr, Orsanton, sagte der Matrose. Und sogleich fing er an, mit heller Stimme ein Lied an die heilige Jungfrau zu singen. Miß Lydia hörte zerstreut zu und drang nicht weiter in den Sänger; sie versprach sich aber, später hinter das Rätsel kommen zu wollen. Doch ihre Zofe, die aus Florenz war und den korsischen Dialekt nicht besser verstand als ihre Herrin, war ebenso neugierig wie sie, und ehe diese ihr mit dem Ellbogen einen Wink hatte geben können, fragte sie: Herr Leutnant, was heißt das? Jemandem das Rimbecco geben?

Rimbecco, erwiderte Orso, heißt einem Korsen die tödlichste Beleidigung antun, ihm vorwerfen, daß er sich nicht gerächt habe. Wer hat Ihnen vom Rimbecco gesprochen?

Gestern in Marseille, fiel Miß Lydia rasch dazwischen, hat der Kapitän der Goëlette sich dieses Ausdrucks bedient.

Und von wem sprach er? fragte Orso lebhaft.

O, er erzählte uns eine alte Geschichte zur Zeit von . . . Ich glaube, sie bezog sich auf Vannina d'Ornano.

Der Tod Vanninas, vermute ich, Mademoiselle, hat Ihnen unsern Helden, den braven Sampiero, nicht gerade zum Freunde gemacht?

Finden Sie sein Verhalten wirklich heldenhaft?

Seinem Verbrechen dienen die wilden Sitten der Zeit zur Entschuldigung; dann war aber auch Sampiero im Kampf auf Leben und Tod mit Genua begriffen. Wie hätten seine Landsleute Vertrauen auf ihn setzen können, wenn er die nicht bestraft hätte, die mit den Genuesern geheime Unterhandlungen anknüpfte?

Vannina, sagte der Matrose, war ohne Erlaubnis ihres Mannes fortgegangen. Sampiero hat wohlgetan, ihr den Hals umzudrehen.

Aber, meinte Miß Lydia, es geschah, um ihren Mann zu retten. Aus Liebe zu ihm flehte sie bei den Genuesern um seine Begnadigung.

Um seine Begnadigung flehen, hieß ihn erniedrigen! rief Orso aus.

Sie dann mit eigner Hand zu töten! fuhr Miß Nevil fort. Welch ein Ungeheuer mußte das sein!

Sie wissen, daß sie es sich als Gnade erbat, von seiner Hand umzukommen.

Mademoiselle, sehen Sie den Othello auch als ein Ungeheuer an?

Welch ein Unterschied! Der war eifersüchtig; Sampiero nur eitel.

Ist Eifersucht aber nicht auch Eitelkeit? Es ist die Eitelkeit der Liebe, und wollen Sie sie vielleicht aus diesem Grund entschuldigen?

Miß Lydia warf einen Blick voll Würde auf ihn und fragte, sich an den Matrosen wendend, wann die Goëlette im Hafen ankommen werde.

Übermorgen, erwiderte er, wenn der Wind anhält.

Ich wollte, wir wären schon in Ajaccio, denn dies Schiff fängt an mich zu langweilen, sagte Miß Lydia.

Sie stand auf, ergriff den Arm ihrer Zofe und ging auf Deck hin und her. Orso blieb unbeweglich am Steuer und wußte nicht, ob er mit ihr auf und ab gehen solle, oder ob es besser sei, eine Unterhaltung aufzugeben, die ihr sichtlich lästig war.

Beim Blut der Madonna, ein schönes Weib, sagte der Matrose; wenn die Flöhe meines Betts aussähen wie sie, wahrlich, ich ließe mich gern von ihnen beißen!

Miß Lydia hörte wohl dies naive Lob ihrer Schönheit und empörte sich darüber, denn sie stieg sogleich in ihre Kajüte hinab. Bald darauf zog sich auch Orso zurück. Als er das Deck verlassen hatte, kam die Zofe wieder hinauf und, nachdem sie den Matrosen scharf ins Verhör genommen hatte, brachte sie ihrer Herrin folgende Aufklärung zurück: Der durch Orsos Gegenwart unterbrochene Vocero war beim Tode seines vor zwei Jahren ermordeten Vaters verfaßt. Der Matrose zweifle nicht, daß Orso nach Korsika käme, um die Rache zu bewerkstelligen (das war sein Ausdruck), überzeugt, binnen kurzem werde es frisches Fleisch im Dorfe Pietranera geben. Dieser volkstümliche Ausdruck bedeute, daß Orso die Absicht habe, zwei oder drei Personen, die man für die Mörder seines Vaters hielt, umzubringen. Diese waren zwar vor Gericht geladen gewesen, waren aber weiß wie Schnee befunden worden, weil sie Richter, Advokaten, Präfekten und Gendarmen am Schnürchen hatten. Auf Korsika hat man keine Gerechtigkeit, fügte der Matrose hinzu, und eine gute Flinte ist mir mehr wert als ein königlicher Richter. Wenn man einen Feind hat, hat man nur die Wahl unter den drei S (schiopetto, stiletto, strada), das heißt: zwischen Flinte, Dolch, Flucht.

Diese interessanten Aufschlüsse veränderten das Benehmen und die Stimmung der Miß Lydia gegen den Leutnant della Rebbia wesentlich. Fortan war er in den Augen der romantischen Engländerin eine romantische Person. Jetzt waren ihr seine sorglose Miene, sein freimütiger Ton und seine gute Laune beachtenswert, denn es war die tiefe Verstellung einer energischen Seele, die äußerlich nichts von den Empfindungen, die sie beherrschen, merken läßt. Orso erschien ihr wie eine Art Fiesco, der seine weitumfassenden Pläne unter dem Schein der Leichtfertigkeit verbirgt; und wenn es auch weniger schön ist, einige Schurken zu töten als sein Vaterland zu befreien, so ist eine gute Rache doch etwas Schönes. Übrigens verlangen die Weiber, daß ein Held kein politischer Mann sei. Nun merkte Miß Nevil erst, daß der junge Leutnant große blaue Augen, weiße Zähne, einen eleganten Wuchs, Erziehung und Manieren hatte. Sie sprach oft mit ihm am folgenden Tage, und seine Unterhaltung fesselte sie. Sie fragte ihn ausführlich über sein Vaterland aus, und er sprach gut darüber. Korsika, das er jung verlassen hatte, um ins Gymnasium und dann in die Militärschule zu gehen, war in einiger Verklärung in seinem Gedächtnis geblieben. Er wurde lebhaft, wenn er von den Bergen, den Wäldern und den eigentümlichen Sitten seiner Landsleute sprach. Wie man sich vorstellen kann, kam das Wort Vendetta (Blutrache) mehr als einmal in seiner Erzählung vor, denn es ist unmöglich, von den Korsen zu sprechen, ohne ihre zum Sprichwort gewordene Leidenschaft anzugreifen oder zu entschuldigen. Orso setzte Miß Nevil arg in Erstaunen, als er im allgemeinen den unauslöschlichen Haß der Korsen verdammte. Nur bei den Bauern suchte er ihn zu entschuldigen, indem er behauptete, daß die Vendetta das Duell der Armen sei. Das ist so wahr, sagte er, daß man sich nur nach einer förmlichen Herausforderung untereinander ermordet. Hüte dich! Ich hüte mich! das sind hergebrachte Worte unter Feinden, ehe sie einander nachstellen. Es gibt bei uns mehr Morde als anderswo, aber nie liegt diesen Verbrechen etwas Gemeines zum Grunde. Wir haben viele Mörder, aber keinen Dieb.

Wenn er die Worte Rache und Mord aussprach, sah ihn Miß Lydia aufmerksam an, aber sie bemerkte nicht die geringste Bewegung in seinen Zügen. Da sie die Überzeugung bereits hatte, daß er die nötige Seelenkraft besäße, sich allen Augen, natürlich die ihrigen ausgenommen, undurchdringlich zu machen, war sie nicht in Zweifel, daß die Manen des Obersten della Rebbia der geforderten Genugtuung nicht mehr lange entbehrten.

Schon hatte die Goëlette Korsika in Sicht. Der Kapitän nannte die wichtigsten Punkte der Küste, und obgleich sie der Miß Lydia allesamt unbekannt waren, hörte sie doch mit Vergnügen ihre Namen. Es gibt nichts Langweiligeres als eine namenlose Landschaft. Mitunter konnte man durch das Fernrohr des Kapitäns einen Insulaner entdecken, in braunem Rock, der, mit einer Flinte auf dem Rücken, auf einem kleinen Pferde die steilen Abhänge herabritt. Miß Lydia meinte, in jedem einen Banditen zu sehen oder wenigstens einen Sohn, der seinen Vater rächte, aber Orso meinte, es wäre irgend ein friedlicher Bewohner des benachbarten Fleckens, der seinen Geschäften nachginge, und sagte, daß er seine Flinte mehr aus Eitelkeit, aus Mode, denn aus Not bei sich hätte, gerade so wie ein Dandy mit einem eleganten Spazierstock ausgehe. Obgleich eine Flinte eine weniger edle und poetische Waffe ist als ein Dolch, so fand Miß Lydia doch, daß sie einem Mann besser anstehe als ein Spazierstock, und sie erinnerte sich, daß die Helden Lord Byrons an der Kugel und nicht durch den klassischen Dolch sterben.

Nach dreitägiger Reise befand man sich vor den Sanguinaires, und das prächtige Rundbild von Ajaccio rollte sich vor unsern Reisenden auf. Man vergleicht es mit Recht mit der Bucht von Neapel, und im Augenblick, wo die Goëlette im Hafen einlief, erinnerte der Brand einer Macchia, der die Punta di Girato mit Rauch bedeckte, an den Vesuv und vermehrte die Ähnlichkeit. Es fehlt nur, daß das Heer eines Attila Neapels Umgebung heimsucht, denn alles ist tot und öde um Ajaccio. Statt jener hübschen Fabriken, die man überall von Castellamare bis zum Kap Miseno sieht, blickt man rings am Golf von Ajaccio nur auf düstere Buschwälder und kahle Berge. Keine Villa, kein Haus. Nur hier und da erheben sich auf den Höhen um die Stadt einige weiße Gebäude auf grünem Hintergrunde; es sind Gedächtniskapellen und Familiengräber. Alles in dieser Landschaft ist von ernster und trübseliger Schönheit.

Der Anblick der Stadt, besonders zu dieser Zeit, vermehrt den durch die Einsamkeit der Umgebung hervorgerufenen Eindruck. Keine Bewegung in den Straßen, wo man nur eine Anzahl von müßigen Gestalten findet, die immer dieselben sind. Keine Frauen, nur einige Bäuerinnen, die ihre Ware verkaufen. Man hört nirgends laut sprechen, lachen und singen wie in den italienischen Städten. Mitunter spielen im Schatten der Bäume auf der Promenade ein Dutzend bewaffnete Bauern Karten oder sehen dem Spiele zu. Sie schreien nicht und streiten nicht; wird das Spiel leidenschaftlich, so hört man Pistolenschüsse, die der Bedrohung stets vorausgehen. Der Korse ist von Haus aus ernst und schweigsam. Abends erscheinen einige Gestalten, um sich an der Frische zu erlaben; aber die Spaziergänger auf den Promenaden sind fast alle Fremde. Die Insulaner bleiben vor ihrer Tür; jeder offenbar auf der Lauer, wie der Falke auf seinem Nest.

IV

Nachdem sie Napoleons Geburtshaus besucht und sich auf mehr oder weniger erlaubte Art und Weise ein Stückchen von der Tapete in seinem Zimmer angeeignet hatte, ward Miß Lydia schwermütig, wie es jedem Fremden ergeht, der in ein Land gerät, dessen Sitten ungesellig sind und ihn zu vollständiger Vereinsamung verdammen. Sie bedauerte, den Einfall der Reise nach Korsika gehabt zu haben; wäre sie aber gleich wieder abgereist, so hätte sie ihren Ruf als kühne Reisende geschädigt.

Miß Lydia faßte sich also in Geduld und suchte die Zeit so gut wie möglich totzuschlagen. In dieser edlen Absicht legte sie sich Bleistift und Farben zurecht und skizzierte Ansichten des Golfes, malte das Porträt eines sonnenverbrannten Bauern, der Melonen verkauft wie jedweder Obsthändler des Festlandes, aber einen weißen Bart und ein echtes Spitzbubengesicht hatte. Alles das machte ihr aber keinen Spaß, und so beschloß sie, dem Nachkömmling der Caporali den Kopf zu verdrehen, was nicht schwer war; denn weit entfernt davon, in Eile sein Dorf aufzusuchen, gefiel es Orso offenbar in Ajaccio sehr gut, obgleich er mit niemandem verkehrte. Übrigens hatte sich Miß Lydia eine großartige Aufgabe gestellt, nämlich die, diesen Bären des Gebirges zu zivilisieren und ihn von den düsteren Plänen, die ihn in seine Insel zurückgeführt hatten, abzubringen. Seitdem sie angefangen, ihn zu studieren, sagte sie sich, daß es schade wäre, den jungen Mann in sein Verderben rennen zu lassen, und daß es für sie äußerst glorreich wäre, einen Korsen zu bekehren.

Unsre Reisenden verbrachten den Tag in folgender Weise. Morgens gingen der Oberst und Orso auf die Jagd, Miß Lydia zeichnete oder schrieb an ihre Freundinnen, um auf ihre Briefe den Namen Ajaccio setzen zu können. Gegen sechs Uhr kamen die Herren mit Wild beladen zurück. Man nahm die Hauptmahlzeit ein; nachher sang Miß Lydia, der Oberst nickte ein, und die jungen Leute plauderten bis spät in den Abend.

Irgendeine Förmlichkeit wegen des Passes hatte den Obersten veranlaßt, dem Präfekten einen Besuch zu machen. Dieser, der sich wie fast alle seine Kollegen langweilte, hatte mit Vergnügen die Ankunft eines Engländers, eines reichen Weltmannes und Vaters einer hübschen jungen Dame vernommen; daher hatte er ihn auch sehr höflich empfangen und mit Dienstanerbietungen überhäuft. Einige Tage darauf machte er ihm einen Besuch.

Der Oberst, der eben von Tisch aufgestanden war, lag bequem auf seinem Sofa und war im Begriff, einzuschlafen; seine Tochter sang an einem alten verstimmten Klavier.

Orso schlug ihr die Noten um, in Betrachtung der Schultern und des blonden Haars der Virtuosin. Man meldete den Präfekten. Der Gesang hörte auf. Der Oberst erhob sich und stellte den Besucher seiner Tochter vor.

Herrn della Rebbia, sagte er, stelle ich Ihnen nicht vor, denn Sie werden ihn ohne Zweifel kennen.

Ist der Herr der Sohn des Obersten della Rebbia? fragte der Präfekt etwas verlegen.

Jawohl, Herr Präfekt, antwortete Orso.

Ich habe die Ehre gehabt, Ihren Herrn Vater zu kennen.

Die Gemeinplätze der Unterhaltung erschöpften sich sehr bald. Der Oberst mußte unwillkürlich gähnen. In seiner Eigenschaft als Liberaler hatte Orso keine Lust, viel mit einem Büttel der Macht zu reden, und Miß Lydia trug allein die Kosten der weiteren Unterhaltung. Der Präfekt ließ sie nicht stocken und fand lebhaftes Vergnügen daran, mit einer Dame von Welt, die alle Notabilitäten der europäischen Gesellschaft kannte, über Paris zu reden.

Während er sprach, widmete er Orso unverkennbare Aufmerksamkeit.

Haben Sie Herrn della Rebbia auf dem Festlande kennenlernen? fragte er Miß Lydia.

Sie berichtete ihm mit einiger Verlegenheit, daß sie seine Bekanntschaft auf der Überfahrt nach Korsika gemacht hatte.

Es ist ein junger Mann sehr comme il faut, meinte der Präfekt halblaut. Hat er Ihnen gesagt, fügte er leiser hinzu, in welcher Absicht er nach Korsika zurückkommt?

Miß Lydia nahm ihre majestätische Miene an.

Ich habe ihn nicht darum gefragt, sagte sie. Sie müssen sich an ihn selbst wenden.

Der Präfekt schwieg; aber als er einen Augenblick darauf Orso mit dem Obersten Englisch sprechen hörte, sagte er:

Sie waren lange auf Reisen, wie ich sehe, Herr della Rebbia. Gewiß haben Sie Korsika und seine Gebräuche vergessen.

Freilich; ich habe es sehr jung verlassen.

Gehören Sie noch zur Armee?

Ich bin auf Halb-Sold gesetzt, Herr Präfekt.

Sie waren zu lange in der Französischen Armee, und so sind Sie zweifellos ganz Franzose geworden, nicht?

Er sprach die letzten Worte mit besonderm Nachdruck.

Es heißt den Korsen nicht eben schmeicheln, wenn man sie daran erinnert, daß sie der Großen Nation angehören. Sie wollen ein besonderes Volk sein, und diesen Anspruch rechtfertigen sie hinreichend, so daß man ihnen dies wohl gönnen darf. Orso erwiderte etwas betreten:

Meinen Sie, Herr Präfekt, daß ein Korse, um ein Mann von Ehre zu sein, notwendigerweise in der Französischen Armee gedient haben muß?

Keineswegs, sagte der Präfekt. Ich spreche nur von gewissen Gebräuchen dieses Landes, deren einige nicht der Art sind, daß der Verwaltungsbeamte Freude daran hat. Er betonte das Wort Gebräuche und nahm die ernsteste Miene an, deren er fähig war. Bald nachher stand er auf und nahm das Versprechen mit, daß Miß Lydia seine Frau in der Präfektur besuchen werde.

Als er fort war, sagte Miß Lydia: So habe ich denn nach Korsika reisen müssen, um zu erfahren, was ein Präfekt ist. Dieser ist offenbar ziemlich liebenswürdig.

Was mich anbetrifft, erwiderte Orso, so kann ich das nicht sagen. Ich finde ihn wunderlich mit seiner wichtigtuerischen geheimnisvollen Miene.

Der Oberst war eingeschlummert; Miß Lydia warf einen Blick auf Orso, und indem sie sich ihm näherte, sagte sie leise: Ich finde ihn nicht so geheimnisvoll wie Sie; ich glaube ihn durchaus verstanden zu haben.

Sie sind sehr scharfsichtig, Miß Nevil; aber wenn Sie in dem, was er gesagt, Geist gefunden haben, so müssen Sie ihn hineingelegt haben.

Wenn ich nicht irre, zitieren Sie da den Marquis von Mascarille, Herr della Rebbia. Darf ich Ihnen einen Beweis meines Scharfsinns geben? Ich bin eine kleine Zauberin und weiß, was die Leute denken, die ich zweimal gesehen habe.

Mein Gott, Sie erschrecken mich. Wenn Sie meine Gedanken lesen, so weiß ich nicht, ob ich darüber bestürzt oder erfreut sein soll.

Herr della Rebbia, fuhr Miß Lydia fort, indem sie errötete, wir kennen uns erst seit einigen Tagen, doch auf See und in einem barbarischen Lande – ich hoffe, Sie verzeihen mir dies Wort! – wird man schneller befreundet als sonst. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich als Freundin von etwas heiklen Dingen mit Ihnen rede, an die sich eine Fremde vielleicht nicht wagen sollte.

Ach, sagen Sie nicht Fremde; das andre Wort gefällt mir besser!

Gut, Herr della Rebbia, ich muß Ihnen also sagen, daß ich, ohne Ihren Geheimnissen nachgespürt zu haben, doch einen Teil davon kenne, und daß mich einiges davon betrübt. Ich kenne das Unglück, das Ihre Familie betroffen hat. Man hat mir viel vom rachsüchtigen Charakter Ihrer Landsleute erzählt und von der Art und Weise, wie sie sich rächen. Hat nicht darauf der Präfekt angespielt?

Glauben Sie, Miß Lydia?

Und Orso ward bleich wie der Tod.

Nein, Herr della Rebbia, sagte sie, ihn unterbrechend, ich weiß, Sie sind ein Gentleman, der auf seine Ehre hält. Sie haben mir selber gesagt, daß in Ihrem Lande nur die Leute aus dem Volke noch die Vendetta kennten, die Sie eine Art Duell nennen.

Glauben Sie, ich könnte je Mörder werden?

Da ich davon zu Ihnen spreche, Herr Orso, so sehen Sie wohl, daß ich nicht an Ihnen zweifle, und wenn ich die Vendetta erwähnt habe, sagte sie, die Augen niederschlagend, so nahm ich an, daß es Ihnen bei der Rückkehr in Ihr Vaterland und vielleicht im Banne von barbarischen Vorurteilen lieb sein könnte, zu wissen, daß es jemanden gibt, der Ihren Mut schätzen würde, wenn Sie sich davon frei machten . . . Doch lassen Sie uns nicht weiter von diesen abscheulichen Dingen sprechen! Sie machen mir Kopfschmerzen, und übrigens ist es sehr spät. Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse? Guten Abend, auf englisch! Und sie streckte ihm die Hand entgegen.

Mademoiselle, sagte er, wissen Sie wohl, daß es Augenblicke gibt, wo die Urtriebe dieses Landes in mir wieder wach werden? Mitunter, wenn ich an meinen armen Vater denke, dann überkommen mich unselige Gedanken. Ihnen verdanke ich es, auf immer davon befreit zu sein. Dank! Dank!

Er wollte fortfahren, aber Miß Lydia ließ einen Teelöffel fallen, und das Geräusch weckte den Obersten auf.

Herr della Rebbia, morgen fünf Uhr Jagd. Seien Sie pünktlich!

Jawohl, Herr Oberst.

V

Am folgenden Morgen, etwas vor Tagesanbruch, kam Miß Nevil, von einem Spaziergang heimkehrend, mit ihrer Zofe wieder ins Wirtshaus, als eine schwarzgekleidete junge Dame auf einem kleinen, aber kräftigen Pferde in die Stadt einzog. Es folgte ihr eine Art Bauer, gleichfalls zu Pferd, der ein braunes, an den Ellbogen durchlöchertes Wams anhatte, mit einer Flinte in der Hand, deren Kolben in einer am Sattelknopf hängenden Ledertasche steckte; kurz, er war komplett gekleidet wie ein Räuberhauptmann auf der Bühne oder wie ein Korse auf Reisen.

Die Schönheit des jungen voranreitenden Weibes zog zuvörderst die Aufmerksamkeit der Miß Nevil auf sich. Sie war wohl zwanzig Jahre alt. Sie war groß, weiß, die Augen dunkelblau, der Mund rosig, die Zähne glänzend wie Perlen. In ihrem Ausdruck las man zugleich Stolz, Unruhe und Trauer. Auf dem Kopfe trug sie jenen schwarzseidenen Schleier, den man Mezzaro nennt, den die Genuesen in Korsika eingeführt haben, und der den Frauen so gut steht. Lange kastanienbraune Haarflechten bildeten eine Art Turban um ihren Kopf. Ihr ganzer Anzug war sauber, aber sehr einfach.

Miß Nevil hatte alle Zeit, sie zu betrachten, denn die Dame mit dem Mezzaro war auf der Straße halten geblieben, um, wie man an ihren Augen sah, sehr wißbegierig, jemanden zu fragen. Nach erhaltener Antwort gab sie mit ihrer Gerte dem Pferd einen Schlag; dies setzte sich in Trab und hielt erst vor dem Wirtshaus an. Nachdem sie einige Worte mit dem Wirte gewechselt hatte, sprang sie behend ab und setzte sich auf eine Bank, während ihr Diener die Pferde in den Stall führte. Miß Nevil in ihrem Pariser Kostüm ging vor der Fremden vorbei, ohne daß diese die Augen aufschlug.

Eine Viertelstunde nachher, als sie ihr Fenster öffnete, sah sie die Dame mit dem Mezzaro noch in derselben Haltung an derselben Stelle. Bald erschienen der Oberst und Orso, die von der Jagd zurückkehrten. Da sprach der Wirt einige Worte mit der Dame in Trauer und wies auf den jungen della Rebbia hin. Sie errötete, stand lebhaft auf, ging einige Schritte vor und blieb dann unbeweglich und wie bestürzt stehen. Orso, der nahe bei ihr stand, betrachtete sie mit Neugier.

Sind Sie, sagte sie mit bewegter Stimme, Orso Antonio della Rebbia? Ich bin Kolomba.

Kolomba! rief Orso aus.

Indem er sie umschlang, küßte er sie zärtlich, was dem Obersten und seiner Tochter etwas wunderlich vorkam, denn in England küßt man sich nicht auf der Straße.

Lieber Bruder, sagte Kolomba, du wirst mir verzeihen, wenn ich ohne deinen Befehl gekommen bin, aber ich habe durch unsre Freunde erfahren, daß du angekommen bist, und es ist für mich ein großer Trost, dich zu sehen.

Orso küßte sie noch einmal; dann, indem er sich wieder zum Obersten wandte, sagte er:

Das ist meine Schwester! Ich hätte sie nicht wiedererkannt, wenn sie sich nicht genannt hätte . . .

Kolomba – Oberst Sir Thomas Nevil . . . Herr Oberst, Sie müssen schon entschuldigen; nun kann ich heute nicht die Ehre haben, bei Ihnen zu Tisch zu sein . . . Meine Schwester . . .

Donnerwetter, wo wollen Sie denn essen! Sie wissen doch, daß es in dieser verfluchten Schenke nur einen Mittagstisch gibt, und der ist für uns. Mademoiselle wird meiner Tochter große Freude machen, wenn sie sich uns gesellen möchte.

Kolomba sah ihren Bruder an, der sich nicht lange bitten ließ, und beide traten ins größte Zimmer des Wirtshauses, das dem Obersten als Empfangs- und Speisezimmer diente. Fräulein Kolomba, der Miß Nevil vorgestellt, machte ihr eine tiefe Verbeugung, sagte aber kein Wort. Man sah, daß sie sehr schüchtern war und sich vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben Fremden aus der vornehmen Welt gegenüber befand. Indes lag in ihrem Wesen nichts, was die Dörflerin verriet. Bei ihr deckte die Fremdartigkeit das linkische Wesen. Dadurch gerade gefiel sie der Miß Nevil, und da im Gasthof kein andres Zimmer zur Verfügung war, denn der Oberst und seine Tochter hatten alles in Beschlag genommen, trieb Miß Lydia die Höflichkeit oder die Neugier so weit, daß sie der Mademoiselle della Rebbia anbot, sich ein Bett bei ihr im Zimmer aufschlagen zu lassen.

Kolomba stotterte einige Worte des Dankes und folgte der Zofe, um an ihrer Toilette die Auffrischung vorzunehmen, die eine Reise im Staub und in der Sonne nötig gemacht hatte.

Indem sie wieder ins Zimmer trat, blieb sie vor den Flinten des Obersten stehen, die die Jäger in einem Winkel aufgestellt hatten.

Was für schöne Waffen! sagte sie. Gehören sie dir, lieber Bruder?

Nein, es sind englische Waffen; sie gehören dem Herrn Oberst; sie sind ebenso gut wie schön.

Ich wollte, du hättest eine ähnliche Waffe, sagte Kolomba.

Eine unter diesen dreien gehört Herrn della Rebbia! rief der Oberst aus. Er weiß sie vorzüglich zu gebrauchen. Heute bei vierzehn Schuß vierzehn Stück!

Sogleich entstand ein Wettkampf des Edelmutes, in dem Orso besiegt wurde, und zwar zur großen Befriedigung seiner Schwester, wie man an der kindlichen Freude sehen konnte, die plötzlich sich auf ihrem Gesichte malte, das eben noch so ernst gewesen war.

Wählen Sie, mein Lieber! sagte der Oberst.

Orso schlug es ab.

Dann soll Ihre Mademoiselle Schwester für Sie wählen!

Das ließ sich Kolomba nicht zweimal sagen; sie nahm die am wenigsten mit Zierat versehene Doppelflinte, aber es war ein vortrefflicher Manton von großem Kaliber.

Die muß doch gut treffen! sagte sie.

Ihr Bruder verlor sich in Danksagungen, als das Mittagsmahl eben zur rechten Zeit aufgetragen ward, um ihn aus der Verlegenheit zu ziehen.

Miß Lydia war entzückt, zu sehen, daß Kolomba, die einige Schwierigkeiten gemacht, sich mit zu Tisch zu setzen, und nur dem bittenden Blick ihres Bruders nachgegeben hatte, als gute Katholikin sich bekreuzte, ehe sie aß.

Gut, sagte sie zu sich, das ist primitiv; und sie nahm sich vor, weitere Beobachtungen an dieser jungen Vertreterin der alten korsischen Sitten zu machen. Was Orso anbetrifft, so war ihm dabei nicht ganz geheuer, denn er fürchtete, seine Schwester würde etwas tun oder sagen, was zu sehr nach ihrem Dorfe schmeckte. Aber Kolomba hatte ihn unaufhörlich im Auge und regelte alle ihre Bewegungen nach den seinigen. Mitunter sah sie ihn mit einem sonderbar traurigen Blicke an, und dann, wenn ihre Augen seine trafen, wandte er sie zuerst weg, als wolle er einer Frage entgehen, die sie innerlich an ihn richtete, und die er nur zu wohl verstand. Man sprach Französisch, denn dem Obersten war das Italienische zu unbequem. Kolomba verstand Französisch und sprach die wenigen Worte, die sie mit ihren Gastgebern wechselte, nicht übel aus.

Nach Tisch fragte der Oberst, der den Zwang, der offenbar zwischen Schwester und Bruder herrschte, bemerkt hatte, Orso, ob er nicht allein mit seiner Schwester zu reden habe, und erbot sich, in diesem Falle ins Nebenzimmer zu gehen. Aber Orso beeilte sich, zu danken, und meinte, sie würden in Pietranera Zeit genug haben, miteinander zu plaudern. Es war dies das Dorf, wo er sich aufzuhalten gedachte.

Der Oberst nahm dann seinen gewohnten Platz auf dem Sofa ein, und Miß Nevil, nachdem sie mehrere vergebliche Versuche gemacht hatte, Kolomba zum Reden zu bringen, bat Orso, ihr einen Gesang aus Dante vorzulesen, ihrem Lieblingsdichter. Orso wählte jenen Gesang aus der Hölle, in dem die Episode von der Francesca da Rimini steht, und gab sich alle Mühe, die erhabenen Verse vorzutragen, die so schön die Gefahr schildern, zu Zweien ein Buch der Liebe zu lesen. Während er las, rückte Kolomba dem Tische näher, erhob das bis dahin gesenkte Haupt, und ihre Augäpfel glänzten von ungewöhnlichem Feuer. Sie errötete und erblaßte wechselweise und vermochte kaum auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben.

Als der Gesang zu Ende gelesen war, rief sie aus: Wie ist das schön! Wer hat das gemacht, lieber Bruder?

Orso war etwas verlegen, und Miß Lydia antwortete lächelnd, es wäre ein florentinischer Dichter, der vor mehreren Jahrhunderten gestorben sei.

Du sollst den Dante lesen, sagte Orso, wenn wir in Pietranera sein werden.

Mein Gott, wie schön das ist! wiederholte Kolomba. Sie sagte zwei oder drei Terzinen her, die sie behalten hatte, erst leise und dann lebhaft werdend, mit mehr Ausdruck als ihr Bruder beim Lesen gehabt hatte. Miß Lydia war erstaunt.

Sie lieben die Poesie gewiß sehr, sagte sie. Wie beneide ich Sie um das Glück, den Dante wie ein neues Buch zu lesen!

Sie sehen, Miß Nevil, welche Macht Dantes Verse haben, um eine kleine Wilde, die nur ihr Pater weiß, so in Aufregung zu bringen . . . Und doch ist es nicht so. Ich weiß, Kolomba ist Dichterin. Als sie noch Kind war, machte sie eifrig Verse, und mein Vater schrieb mir, daß sie die größte Voceratrice Pietraneras und der Umgegend wäre.

Kolomba warf einen bittenden Blick auf ihren Bruder. Miß Nevil hatte von den korsischen Stegreifdichterinnen reden hören und hatte den lebhaften Wunsch, eine solche kennen zu lernen. Daher bat sie Kolomba, ihr eine Probe ihrer Kunst zu geben.

Orso suchte dies zu hintertreiben, denn es war ihm unangenehm, sich der dichterischen Fähigkeiten seiner Schwester so gut erinnert zu haben. Obgleich er beteuerte, es gäbe nichts Faderes als einen korsischen Vocero, und behauptete, korsische Verse nach denen Dantes vorzutragen, hieße sein Vaterland verraten, reizte er dadurch die Neugier der Miß Nevil nur noch mehr, und so sah er sich gezwungen, endlich seiner Schwester zu sagen:

Also gut, Kolomba, trage ein Stegreifgedicht vor; aber mach es kurz!

Kolomba seufzte leise, sah eine Minute lang aufmerksam auf die Decke des Tisches und dann auf das Gebälk der Decke; darauf legte sie die Hand vor die Augen, ähnlich jenen Vögeln, die sich beruhigen wollen und glauben, nicht gesehen zu werden, wenn sie selber nichts sehen, und sang, vielmehr sprach mit unsicherer Stimme folgenden Vocero:

 

DAS JUNGE MÄDCHEN UND DER TAUBER

Hinter dem Gebirg im Tale,
Fast entrückt dem Sonnenstrahle,
Steht ein dunkles düstres Haus.
Unkraut wuchert auf der Schwelle,
Nachts wird drin kein Fenster helle,
Mittags kreist kein Rauch heraus.

Einmal nur vom Fenster droben
Wird der Vorhang weggeschoben,
Mittags wenn die Sonne scheint.
Dort am Rocken sitzt die Waise,
Singt ein Klaglied leise, leise;
Keiner naht, der mit ihr weint.

Einst an einem Frühlingstage
Flog ein Tauber aufs Gehage,
Wo er lauschend sitzen blieb.
Armes Kind, klagst nicht alleine!
Ach, ein Sperber dort im Haine
Mordete mein süßes Lieb.

Sag, wo ich den Mörder finde!
Flög er höher als die Winde,
Nieder holt ihn mein Gewehr.
Tauber, hör, ich hätte gerne,
Daß mein Bruder in der Ferne
Sendet einen Gruß mir her.

Wohin soll ich Kunde bringen,
Sag! Auf meinen raschen Schwingen
Eil ich über Land und Meer.
Werde deinen Bruder finden,
Werd ihm deine Sehnsucht künden,
Weilt er weit weg noch so sehr.

Das ist ein wohlerzogener Tauber, rief Orso aus indem er seine Schwester mit einer Rührung umarmte, die mit seinem scherzenden Ton im Widerspruch stand.

Ihr Lied ist allerliebst! sagte Miß Lydia. Sie müssen es mir in mein Album schreiben. Ich will es ins Englische übersetzen und komponieren lassen.

Der brave Oberst, der kein Wort verstanden hatte, gesellte seine Komplimente zu denen seiner Tochter und fügte hinzu:

War die Taube, von der Sie reden, unter denen, die wir heute, auf dem Rost gebraten, verzehrt haben?

Miß Nevil brachte ihr Album herbei und war nicht wenig erstaunt, zu sehen, wie die Stegreifdichterin ihr Lied niederschrieb, indem sie dabei das Papier auf merkwürdige Weise schonte. Statt die Verse untereinander zu setzen, schrieb sie sie in einer einzigen langen Zeile quer über den ganzen Bogen. Auch hinsichtlich der etwas kapriziösen Rechtschreibung wäre manches zu sagen. Miß Nevil lächelte, und Orsos brüderliche Eitelkeit lag auf der Folter.

Die Stunde zum Zubettgehen war gekommen. Die beiden jungen Mädchen zogen sich in ihre Kammer zurück. Während Miß Lydia Halsband, Ohrringe und Armbänder beiseite legte, beobachtete sie ihre Gefährtin, die unter ihrem Kleid etwas Längliches hervorzog; es sah wie ein Fischbein aus und doch anders. Kolomba steckte es sorgfältig und fast heimlich unter ihren Mezzaro, der auf dem Tische lag, kniete dann nieder und betete zwei Minuten. Darauf war sie in ihrem Bett. Von Natur neugierig und langsam wie alle Engländerinnen beim Auskleiden, näherte sich Miß Lydia dem Tisch, und indem sie so tat, als suche sie eine Nadel, hob sie den Mezzaro empor und bemerkte einen ziemlich langen Dolch, der in eigentümlicher Weise mit Perlmutter und Silber ausgelegt war. Die Arbeit war bemerkenswert; es war eine alte, für einen Liebhaber wertvolle Waffe.

Ist es hier Brauch, sagte Miß Nevil lächelnd, daß die jungen Damen solch zierliche Instrumente im Korsett tragen?

Das ist nötig, antwortete Kolomba lächelnd. Es gibt hier so viele böse Menschen.

Und Sie hätten wirklich den Mut, damit einen Stoß zu verabreichen? Dabei machte Miß Nevil, den Dolch in der Hand, eine Bewegung, wie man auf der Bühne stößt, von oben nach unten.

Im Notfalle gewiß! erwiderte Kolomba mit ihrer sanften klangvollen Stimme. Wenn es gälte, mich oder meine Freunde zu verteidigen . . . Aber so dürfen Sie ihn nicht halten! Sie würden sich selber verletzen, wenn die Person, die Sie treffen wollen, zurückwiche.

Sehen Sie, so, von unten auf! So ist es tödlich, wie man sagt . . . Glücklich, wer solche Waffen nicht nötig hat!

Sie seufzte, warf ihr Haupt aufs Kopfkissen und schloß die Augen. Man konnte keinen schöneren, edleren, jungfräulicheren Kopf sehen. Pheidias, als er seine Athene meißelte, hätte sich kein besseres Modell wünschen können.

VI

Nach der Vorschrift Homers habe ich mich gleich in medias res geworfen. Jetzt, wo alles schläft, die schöne Kolomba, der Oberst und seine Tochter, nehme ich den Moment wahr, um den Leser über einige Dinge zu unterrichten, die er wissen muß, ehe er weiter in dieser wahrheitsgetreuen Geschichte vordringt. Er weiß schon, daß der Oberst della Rebbia, Orsos Vater, ermordet worden ist; man wird aber in Korsika nicht wie in Frankreich vom erstbesten entlaufenen Zuchthäusler ermordet, der kein besseres Mittel weiß, einem das Silberzeug zu stehlen. Man wird von seinen Feinden ermordet. Aber der Grund, weshalb man Feinde hat, ist oft schwer zu sagen. Viele Familien hassen sich aus alter Gewohnheit, und die Tradition über die ursprüngliche Veranlassung zu ihrem Hasse verliert sich oft ganz und gar.

Die Familie, in die der Oberst della Rebbia gehörte, haßte mehrere andre Familien, insbesondre die der Barricini. Einige sagten, daß im sechzehnten Jahrhundert ein della Rebbia eine Barricini verführt habe und dafür von einem Verwandten des Mädchens ermordet worden sei. Andre erzählten die Geschichte anders, indem sie behaupteten, eine della Rebbia sei verführt und ein Barricini ermordet worden. Soviel steht fest: zwischen den beiden Häusern gab es Blut, um mich eines in Korsika hergebrachten Ausdrucks zu bedienen. Bei alledem, gegen den Brauch, hatte dieser eine Totschlag keinen andern hervorgerufen; die della Rebbias und die Barricinis waren nämlich von der genuesischen Regierung gleichmäßig verfolgt worden, und da die Söhne außer Landes waren, waren beide Familien mehrere Generationen hindurch ihrer energischen Vertreter beraubt gewesen. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte ein della Rebbia, Offizier in neapolitanischen Diensten, in einem Spielhause einen Streit mit einigen Militärpersonen, die ihn unter anderm einen korsischen Ziegenhirten nannten. Er zog seinen Degen; aber einer gegen drei hätte er schlimmen Stand gehabt, wenn nicht ein Fremder, der am selben Orte spielte, ausgerufen hätte: Ich bin auch Korse! und ihm zu Hilfe gekommen wäre. Dieser Fremde war ein Barricini, der aber seinen Landsmann nicht kannte. Als man sich auseinandersetzte, gab es viele Höflichkeitsbezeigungen und Freundschaftsbeteuerungen; denn auf dem Festlande schließen sich die Korsen leicht einander an. Auf der Insel ist es gerade das Gegenteil; das sah man bald bei dieser Gelegenheit. Barricini und della Rebbia waren, solange sie in Italien weilten, vertraute Freunde; aber nach Korsika zurückgekehrt, sahen sie sich nur noch selten, obgleich sie beide dasselbe Dorf bewohnten, und als sie starben, sagte man, sie hätten seit fünf oder sechs Jahren nicht miteinander gesprochen. Ihre Söhne lebten eben beide en étiquette, wie man auf der Insel sagt. Der eine, Ghilfuccio, der Vater Orsos, war Offizier; der andere, Giudice Barricini, Advokat. Da sie beide Häupter ihrer Familie und durch ihren Beruf getrennt waren, hatten sie kaum Gelegenheit, sich zu sehen und zu sprechen. Indes eines Tages, um 1809, sagte Giudice, als er in einer Zeitung las, daß der Hauptmann Ghilfuccio einen Orden erhalten hatte, vor Zeugen, das wundere ihn nicht, da der General *** jene Familie begünstige. Diese Äußerung ward dem Ghilfuccio in Wien, wo er damals weilte, hinterbracht. Der sagte seinerseits zu einem Landsmanne, der im Begriff stand, nach Korsika zurückzukehren, er werde den Giudice sehr reich geworden finden, denn er hätte mehr Geld mit seinen verlorenen als mit seinen gewonnenen Prozessen verdient. Man hat nie recht gewußt, ob er damit zu verstehen geben wollte, daß der Advokat seine Klienten schädige, oder ob er sich damit begnügt hatte, die triviale Wahrheit auszusprechen, daß ein schlechter Prozeß einem Juristen mehr einzubringen pflegt als ein guter. Wie dem auch sei, der Advokat Barricini erfuhr das Epigramm, und er hat es nie vergessen.

Im Jahre 1812 gelüstete es ihn, Amtmann seines Bezirks zu werden; er hatte alle Aussicht dazu. Da kam ein Brief des Generals *** an den Präfekten, der einen Verwandten von Frau Ghilfuccio in Vorschlag brachte. Der Präfekt beeilte sich dem Wunsch des Generals zu willfahren; und Barricini war sich klar, daß er seine Niederlage den Ränken Ghilfuccios zu verdanken hatte. Nach dem Sturze des Kaisers im Jahre 1814 wurde der Schützling des Generals als Bonapartist denunziert, und an seine Stelle kam ein Barricini. Der wieder ward in den Hundert Tagen abgesetzt, nahm aber, nachdem der Sturm vorüber, das Siegel der Mairie und die Zivilstandsregister feierlich von neuem in Besitz.

Von diesem Augenblick an glänzte sein Stern heller denn je. Der Oberst della Rebbia, der pensioniert war und sich nach Pietranera zurückgezogen hatte, mußte einen stillen Kampf unablässiger Schikanen gegen sich bestehen. Bald wurde er vorgeladen, um für den Schaden aufzukommen, den sein Pferd an den Hecken des Herrn Amtmannes verursacht hatte; bald ließ dieser, unter dem Vorwand, der Estrich der Kirche sei auszubessern, eine zerbrochene Steinplatte wegnehmen, die das Wappen der Rebbias trug und das Grab eines Mitgliedes der Familie bedeckte. Wenn die Ziegen die jungen Pflanzungen des Obersten abfraßen, fanden die Besitzer der Tiere Schutz bei der Behörde, und nacheinander wurden der Krämer, der die Posthalterei von Pietranera hatte, und der Feldhüter, ein alter invalider Soldat, beide Schützlinge della Rebbias, abgesetzt und durch Kreaturen des Amtmannes ersetzt.

Die Frau des Obersten starb mit dem Wunsche, in einem kleinen Gehölz, in dem sie gern spazieren gegangen war, begraben zu werden. Sogleich erklärte der Amtmann, sie müsse auf dem Friedhof der Gemeinde begraben werden, da er keine Anweisung habe, eine abgesonderte Grabstätte zu gestatten. Der Oberst war wütend und erklärte, bis diese Anweisung käme, sollte seine Frau an dem von ihr gewählten Ort in einer Grube bestattet werden, und ließ daselbst eine solche graben. Seinerseits ließ der Amtmann eine auf dem Friedhofe graben und beorderte die Gendarmerie, damit, wie er sagte, die Vorschrift eingehalten werde. Am Tage des Begräbnisses standen die Parteien einander gegenüber, und man hätte einen Augenblick fürchten können, daß ein Kampf um den Besitz der sterblichen Reste der Madame della Rebbia entstehe. Etwa vierzig wohlbewaffnete Bauern, die von den Verwandten der Verstorbenen herbeigerufen waren, zwangen den Pfarrer, der aus der Kirche trat, den Weg nach dem Holze einzuschlagen; andrerseits trat der Amtmann mit seinen beiden Söhnen, seinem ganzen Anhang und den Gendarmen hervor, um sich dem zu widersetzen. Als er erschien und den Zug aufforderte, umzukehren, wurde er mit Geschrei und Drohungen empfangen. Der Vorteil der Übermacht war auf seiten seiner Gegner, und diese waren offenbar zum Kampf entschlossen. Bei seinem Anblick wurden mehrere Flinten geladen; man sagte sogar, daß ein Schäfer auf ihn angeschlagen habe, aber der Oberst schlug ihm die Flinte aus der Hand und befahl, es solle niemand ohne seinen Befehl schießen.

Der Amtmann fürchtete von Natur die Schießerei und zog sich, die Schlacht vermeidend, mit seiner Eskorte zurück. Darauf setzte sich der Leichenzug in Bewegung und nahm den längsten Weg, um vor der Mairie vorüberzukommen. Im Vorbeimarsch ließ sich ein Idiot einfallen, auszurufen: Es lebe der Kaiser! Zwei oder drei Stimmen wiederholten den Ruf, und die Rebbianer, die immer aufgeregter wurden, schlugen vor, einen Ochsen, der dem Amtmanne gehörte und ihnen zufällig den Weg versperrte, zu töten. Zum Glück verhinderte der Oberst diese Gewalttat.

Man kann sich denken, daß ein Protokoll aufgenommen wurde, und daß der Amtmann in schwungvollem Stil einen Rapport aufsetzte, in dem er berichtete, wie die göttlichen und menschlichen Gesetze mit Füßen getreten worden seien, die Hoheit seiner Person, des Amtmannes, sowie die des Pfarrers mißachtet und beschimpft worden wäre. Der Oberst della Rebbia habe sich an die Spitze einer bonapartistischen Verschwörung gesetzt, um die Thronfolge zu verändern, und die Bürger dazu aufgereizt, daß sie sich gegeneinander bewaffneten. Das sei nach Artikel 86 und 91 des Strafgesetzbuches als Verbrechen anzusehen.

Die Übertreibung dieser Anklage schadete ihrer Wirkung. Der Oberst schrieb dem Präfekten und dem Staatsanwalt; ein Verwandter seiner Frau war mit dem Deputierten der Insel befreundet; ein andrer war Vetter des Präsidenten des Königlichen Gerichtshofes. Dank ihren Bemühungen hatte die ganze Sache keine Folgen. Madame della Rebbia blieb im Gehölz, und lediglich der Idiot wurde zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt.

Der Advokat Barricini war mit diesem Ausgang wenig zufrieden und richtete seinen Angriff nun nach einer andern Seite. Er kramte ein altes Dokument aus, worauf er es unternahm, dem Obersten einen Bach streitig zu machen, der eine Mühle in Bewegung setzte. Daraus folgte ein Prozeß, der lange dauerte. Nach Verlauf eines Jahres war der Gerichtshof im Begriff, sein Urteil zu fällen, und wahrscheinlich zugunsten des Obersten, als Herr Barricini dem Staatsanwalt einen Brief vorlegte, der von einem gewissen Agostini, einem berüchtigten Banditen, unterschrieben war und ihn, den Amtmann, mit Mord und Brand bedrohte, wenn er nicht von seinen Ansprüchen abstände. Man weiß, daß in Korsika eine solche Protektion von seiten der Banditen etwas sehr Beliebtes ist, und daß sie sich oft in Privatstreitigkeiten einmischen, um sich ihren Freunden verbindlich zu machen. Der Amtmann benutzte den Brief, als ein neuer Zwischenfall die Sache noch verwickelter machte. Der Bandit Agostini schrieb an den Staatsanwalt und beklagte sich, daß man seine Handschrift nachgemacht und falsches Licht auf seinen Charakter geworfen hätte, indem man ihn darstelle als einen Mann, der mit seinem Einfluß Schacher treibe. Entdecke ich den Fälscher, so schloß er seinen Brief, dann werde ich ihn exemplarisch bestrafen. Es war klar, daß Agostini den Drohbrief an den Amtmann nicht geschrieben hatte. Die della Rebbias klagten die Barricinis dessen an und umgekehrt. Von beiden Seiten gab es Drohungen, und die Gerechtigkeit wußte nicht, wo sie die Schuldigen finden sollte.

Um diese Zeit wurde der Oberst Ghilfuccio ermordet. Folgendes sind die Tatsachen, wie sie vor Gericht festgestellt worden sind.

Am 2. August 18**, als der Tag sich schon neigte, hörte Frau Madalena Pietri, die Korn nach Pietranera brachte, zwei Flintenschüsse kurz nacheinander, die, wie es ihr schien, in einem Hohlwege fielen, der zum Dorfe führte, ungefähr hundertundfünfzig Schritte von dem Orte, wo sie sich befand. Fast im selben Moment sah sie einen Mann auf dem Pfade zwischen den Weinbergen in gebückter Haltung, der davonlief und sich dem Dorfe zuwandte. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um; aber die Entfernung verhinderte die Frau, sich seine Züge zu merken; außerdem hatte er ein Weinblatt im Munde, das fast das ganze Gesicht verdeckte. Er machte einem Genossen mit der Hand ein Zeichen, das die Zeugin nicht verstand, und verschwand dann in den Weinbergen.

Frau Pietri warf ihre Last auf die Erde, stieg den Fußpfad hinauf und fand den Oberst della Rebbia in seinem Blute, von zwei Schüssen durchbohrt, aber noch atmend. Neben ihm lag seine geladene und gespannte Flinte, als hätte er sich in Verteidigungszustand gegen eine Person gesetzt, die ihn von vorn angriff, während eine andre von hinten auf ihn schoß. Er röchelte und kämpfte mit dem Tode, konnte aber kein Wort vorbringen, was die Ärzte durch die Art seiner Wunden erklärten, die durch die Lunge gingen. Er erstickte im Blute, das langsam wie roter Gischt dahinfloß. Vergebens hob die Frau ihn auf und richtete einige Fragen an ihn. Sie sah, daß er sprechen wollte, aber sich nicht verständlich machen konnte. Da sie bemerkt hatte, daß er mit der Hand in seine Tasche zu greifen suchte, zog sie ein kleines Merkbuch daraus hervor, das sie ihm offen hinhielt.

Der Verwundete nahm den Bleistift der Brieftasche und versuchte zu schreiben. In der Tat, die Zeugin sah ihn mit Mühe mehrere Buchstaben niederschreiben, aber da sie nicht lesen konnte, vermochte sie die Niederschrift nicht zu deuten.

Erschöpft durch die Anstrengung überließ der Oberst das Merkbuch Frau Pietri, indem er ihr die Hand drückte und sie eigentümlich ansah, als wollte er sagen (es sind dies die eigenen Worte der Zeugin): Das ist wichtig; es ist der Name meines Mörders.

Frau Pietri stieg ins Dorf hinauf, als sie dem Amtmann Barricini mit seinem Sohne Vincentello begegnete. Es war fast schon Nacht. Sie erzählte, was sie gesehen hatte. Der Amtmann eilte in die Mairie, um seine Schärpe umzulegen, seinen Schreiber und die Gendarmerie zu rufen. Allein mit dem jungen Vincentello zurückgeblieben, schlug Madalena Pietri ihm vor, er möge dem Obersten Hilfe bringen, da er vielleicht noch am Leben wäre; aber Vincentello antwortete, daß, wenn er sich einem Manne näherte, der der Todfeind seiner Familie sei, man nicht ermangeln werde, ihn anzuklagen, er habe ihn getötet. Bald darauf kam der Amtmann, fand den Obersten tot, ließ den Leichnam aufnehmen und setzte das Protokoll auf.

Trotz seiner Verwirrung, die in jenem Augenblick natürlich war, hatte Barricini sich beeilt, das Merkbuch des Obersten zu versiegeln und alle Nachforschungen, die in seiner Macht standen, anzustellen, aber keine führte zu einer wichtigen Entdeckung. Als der Untersuchungsrichter kam, öffnete man das Merkbuch und las auf einem mit Blut befleckten Blatte einige Buchstaben, die mit zitternder Hand geschrieben, aber leserlich waren.

Er hatte darauf geschrieben: Agosti . . . und der Richter zweifelte nicht, daß der Oberst Agostini als seinen Mörder damit hatte bezeichnen wollen. Indes Kolomba della Rebbia, die durch den Richter vorgeladen war, verlangte, das Merkbuch zu durchforschen. Nachdem sie eine Weile darin geblättert hatte, streckte sie die Hand gegen den Amtmann aus und sagte:

Das ist der Mörder!

Dann erzählte sie mit einer Schärfe und Klarheit, die bei der Schmerzerregung, in der sie sich befand, erstaunen mußte, daß ihr Vater einige Tage vorher einen Brief von seinem Sohne empfangen und ihn verbrannt habe, daß er aber, bevor er es getan, Orsos Anschrift mit Bleistift in sein Merkbuch geschrieben habe, da er seine Garnison verändert hatte. Diese Adresse fand sich nun nicht mehr im Merkbuch, und Kolomba folgerte daraus, daß der Amtmann das Blatt, worauf sie geschrieben stand, herausgerissen habe; dies Blatt aber sei dasselbe gewesen, auf welchem der Name des Mörders gestanden; diesem Namen hatte der Amtmann, nach Angabe Kolombas, den Agostinis untergeschoben.

Der Richter bemerkte in der Tat, daß ein Blatt des Bogens fehlte, auf welchem der Name geschrieben stand; aber zu gleicher Zeit bemerkte er, daß auch aus den andern Lagen Blätter herausgerissen waren, und Zeugen erklärten, daß der Oberst die Gewohnheit gehabt habe, Blätter herauszureißen, wenn er eine Zigarre anzünden wollte; es war also wahrscheinlich, daß er irrtümlich das Blatt mit der Adresse, die er sich aufgezeichnet hatte, verbrannt habe.

Dann stellte man noch fest, daß der Amtmann, nachdem er das Merkbuch von der Frau Pietri erhalten, wegen eingetretener Dunkelheit nicht habe lesen können. Es wurde bewiesen, daß er, ehe er in die Mairie getreten, nicht einen Augenblick sich aufgehalten habe, daß der Wachtmeister der Gendarmerie ihn begleitet und gesehen habe, wie er seine Lampe angezündet, das Büchlein eingewickelt und versiegelt habe. Als der Wachtmeister seine Aussage gemacht, warf sich Kolomba außer sich ihm zu Füßen und beschwor ihn bei allem, was ihm heilig, zu erklären, ob er nicht den Amtmann einen Augenblick allein gelassen. Der Wachtmeister, augenscheinlich bewegt durch die große Erregung des jungen Mädchens, gestand, daß er im Nebenzimmer ein großes Stück Papier geholt habe, daß er aber keine Minute fortgeblieben sei und daß der Amtmann immer mit ihm gesprochen habe, während er in einem Tischkasten nach dem Papier gesucht habe. Außerdem bekräftigte er, daß bei seiner Rückkehr das blutige Merkbuch noch am nämlichen Platz gelegen habe.

Herr Barricini machte mit der größten Ruhe seine Aussagen. Er entschuldige, wie er erklärte, die Ausfälle der Mademoiselle della Rebbia, und er sei bereit, sich zu einer Rechtfertigung zu verstehen. Er bewies, daß er den ganzen Abend im Dorfe geblieben, daß im Augenblicke des Verbrechens sein Sohn Vincentello bei ihm in der Mairie gewesen, endlich, daß sein Sohn Orlanduccio das Fieber gehabt und am selbigen Tage nicht aus seinem Bette gekommen wäre. Er legte alle Flinten des Hauses vor, und bewies, daß keine kürzlich Feuer gegeben hatte. Er fügte hinzu, daß er auf der Stelle die Wichtigkeit des Merkbuches begriffen, es versiegelt und in die Hände seines Adjunkten gelegt habe, weil er vorausgesehen, daß er wegen seiner Feindschaft mit dem Obersten in Verdacht geraten werde. Dann erinnerte er daran, daß Agostini denjenigen, der in seinem Namen einen Brief geschrieben, mit dem Tode bedroht habe, und gab zu verstehen, daß der Elende, der den Obersten wahrscheinlich deswegen in Verdacht habe, ihn ermordet haben könne. In den Sitten der Banditen sei eine solche Rache aus einem derartigen Motiv nicht ohne Beispiel.

Fünf Tage nach dem Tode des Obersten della Rebbia wurde Agostini, der von einer Streifschar Jäger überfallen war, nach verzweifeltem Kampfe getötet. Man fand an seiner Leiche einen Brief Kolumbas, die ihn beschwor, zu erklären, ob er schuldig oder nicht an dem Morde, den man ihm zuschrieb, sei. Da der Bandit keine Antwort gegeben hatte, so schloß man allgemein daraus, daß er nicht den Mut gehabt habe, einem Mädchen zu sagen, er habe ihren Vater ermordet.

Die Personen jedoch, die Agostinis Charakter kannten, meinten insgeheim, wenn er den Obersten getötet habe, würde er sich dessen gerühmt haben. Ein andrer Bandit namens Brandolaccio übersandte Kolomba eine Erklärung, in der er bei seiner Ehre die Unschuld seines Kameraden bezeugte; aber der einzige Beweis, den er vorbrachte, war, daß Agostini ihm nie gesagt hatte, er habe den Obersten wegen des Briefes in Verdacht.

Aus dem allen folgte, daß die Barricinis nicht beunruhigt wurden. Der Untersuchungsrichter überhäufte den Amtmann mit Lob, und dieser setzte seinem Verhalten dadurch die Krone auf, daß er von seinen Ansprüchen auf den Bach, um dessentwillen er mit dem Obersten della Rebbia in Prozeß war, absah.

Kolomba trug nach dem Gebrauch des Landes vor der Leiche ihres Vaters in Gegenwart der versammelten Freunde aus dem Stegreif einen Vocero vor. Sie goß ihren ganzen Ingrimm gegen die Barricinis darein und klagte sie förmlich des Mordes an, indem sie zugleich mit der Rache ihres Bruders drohte. Dies war das volkstümlich gewordene Lied, das der Matrose Miß Lydia vorgesungen hatte. Orso vernahm den Tod seines Vaters im nördlichen Frankreich; er bat um Urlaub, konnte ihn aber nicht erlangen. Anfangs hatte er nach einem Briefe seiner Schwester die Barricinis für schuldig gehalten, aber nachdem man ihm eine Abschrift der Prozeßakten gesandt, war er überzeugt, daß der Bandit Agostini der einzige Schuldige sei, zumal ein Brief des Untersuchungsrichters die nämliche Meinung aussprach. Alle drei Monate schrieb ihm Kolomba, um ihm ihre Verdachtsgründe, die sie für Beweise hielt, zu wiederholen. Diese Anklagen setzten sein korsisches Blut unwillkürlich in Wallung, und er war oft nicht weit davon entfernt, die Vorurteile seiner Schwester zu teilen. Indes in jedem Briefe wiederholte er ihr, daß ihre Besorgnisse keinen Grund hätten und keinen Glauben verdienten. Er verbot ihr sogar, aber vergebens, ihm weiter davon zu reden. So gingen zwei Jahre hin, nach deren Verlauf er auf Halbsold gesetzt ward. Da dachte er daran, sein Vaterland wiederzusehen, nicht, um sich an Leuten zu rächen, die er für unschuldig hielt, sondern um seine Schwester zu verheiraten und sein kleines Anwesen zu verkaufen, wenn sein Ertrag groß genug wäre, um ihm zu gestatten, auf dem Festlande zu leben.

VII

Sei es, daß Kolombas Ankunft Orso mächtig an sein väterliches Dach erinnert hatte, sei es, daß er sich in Gegenwart gebildeter Freunde der wilden Manieren und der Tracht seiner Schwester schämte, er verkündete am nächsten Morgen seinen Plan, Ajaccio zu verlassen und nach Pietranera heimzukehren. Indes nahm er dem Obersten das Versprechen ab, wenn er sich nach Bastia begäbe, in seinem bescheidenen Landsitz Aufenthalt zu nehmen, und stellte ihm dafür die Jagd auf Hirsche, Fasanen, Eber und andres Wild in Aussicht.

Am Tage vor seiner Abreise schlug Orso vor, statt auf die Jagd zu gehen, einen Spaziergang am Gestade zu machen.

Er bot Miß Lydia den Arm, und so konnte er in aller Freiheit mit ihr plaudern, denn Kolomba war in der Stadt geblieben, um ihre Einkäufe zu machen, und der Oberst verließ sie aller Augenblicke, um auf Möwen und Raben zu schießen, zum großen Erstaunen der Vorübergehenden, die nicht begriffen, wie man sein Pulver an solches Wild verschwenden konnte.

Sie schlugen den Weg ein, der nach der Griechischen Kapelle führt, von wo man die schönste Aussicht auf die Bucht hat; aber sie achteten nicht darauf.

Miß Lydia, sagte Orso nach einem langen Stillschweigen, das ungemütlich zu werden anfing, seien Sie offen, was denken Sie von meiner Schwester?

Sie gefällt mir gut, erwiderte Miß Nevil; besser als Sie, fügte sie lächelnd hinzu, denn sie ist eine wirkliche Korsin. Sie aber sind ein viel zu zivilisierter Wilder.

Zu zivilisiert? Wer weiß? Seitdem ich den Fuß auf diese Insel gesetzt habe, dünkt es mich mitunter, daß ich, ich mag wollen oder nicht, wieder Wilder werde. Tausend furchtbare Gedanken steigen in mir auf und quälen mich. Ich fühle das Bedürfnis, mich ein wenig mit Ihnen auszusprechen, ehe ich mich in meine Einöde begebe.

Sie müssen Mut haben, Herr della Rebbia! Sehen Sie die Resignation Ihrer Schwester; sie gibt Ihnen ein Beispiel.

Ach, täuschen Sie sich nicht! Glauben Sie nicht an ihre Resignation. Sie hat mir noch kein Wort darüber gesagt, aber in jedem ihrer Blicke habe ich gelesen, was sie von mir verlangt.

Was verlangt sie am Ende von Ihnen?

O, nichts. Ich soll nur versuchen, ob die Flinte Ihres Herrn Vaters sich ebensogut gegen Menschen als gegen Rebhühner gebrauchen läßt.

Welch eine Idee! Das können Sie voraussetzen, während Sie eben gestehen, daß sie Ihnen noch nichts gesagt hat? Das ist entsetzlich von Ihnen!

Dächte sie nicht an die Rache, so hätte sie mir gleich von unserm Vater gesprochen. Das hat sie aber nicht getan. Sie hätte die Namen derer ausgesprochen, die sie meiner Überzeugung nach zu Unrecht für seine Mörder ansieht. Aber kein Wort hat sie davon gesagt. Wir Korsen sind nämlich ein verschlagenes Volk. Meine Schwester fühlt, daß sie mich noch nicht ganz in der Gewalt hat, und sie will mich nicht erschrecken, solange ich ihr noch entschlüpfen kann. Wenn sie mich erst an den Rand des Abgrundes geführt hat, wenn mir der Kopf schwindelt, dann wird sie mich hinabstoßen.

Darauf teilte Orso der Miß Lydia einige Einzelheiten über den Tod seines Vaters mit und legte ihr die einzelnen Beweise vor, die zusammenstimmten, um Agostini als den Mörder seines Vaters ansehen zu lassen.

Nichts, sagte er, hat Kolomba überzeugen können. Ich habe es aus ihrem letzten Brief ersehen. Sie hat den Barricinis den Tod geschworen, und . . ., Miß Nevil, sehen Sie, welches Vertrauen ich in Sie setze: vielleicht wären diese Leute nicht mehr am Leben, wenn sie nicht durch ein Vorurteil, das ihre Wildenerziehung entschuldigt, überzeugt wäre, daß die Ausführung der Rache mir, dem Familienhaupt, zukommt, und daß meine Ehre dabei verpfändet ist.

Herr della Rebbia, warf Miß Nevil ein, es kann nicht anders sein: Sie verleumden Ihre Schwester!

Nein, Miß Nevil, Sie haben es selber gesagt, sie ist Korsin; sie denkt wie alle andern. Wissen Sie, warum ich gestern so traurig war?

Ich weiß es nicht. Aber seit einiger Zeit haben Sie Anwandlungen düstrer Laune. In den ersten Tagen unsrer Bekanntschaft waren Sie viel liebenswürdiger.

Im Gegenteil, gestern war ich heiterer, glücklicher denn je. Sie waren ja so gut, so nachsichtig gegen meine Schwester . . . Wir, der Oberst und ich, kamen zu Schiff zurück. Wissen Sie, was einer der Matrosen in seinem verteufelten Kauderwelsch gesagt hat?

Ihr habt viel Wild geschossen, Orsantonio, aber Ihr werdet es erleben, daß Orlanduccio Barricini ein größerer Jäger ist als Ihr.

So? Aber was ist an diesen Worten so schrecklich? Machen Sie so große Ansprüche darauf, ein gewandter Jäger zu sein?

Merken Sie nicht, daß der Bösewicht damit sagen wollte, ich hätte nicht den Mut, Orlanduccio zu töten?

Wissen Sie, Herr della Rebbia, daß Sie mir bange machen? Offenbar erzeugt die Luft Ihrer Insel nicht allein das Fieber, sondern auch Verrücktheit. Zum Glück werden wir sie bald verlassen.

Nicht eher, als bis Sie nach Pietranera gekommen sind! Sie haben es meiner Schwester versprochen.

Sagen Sie, wenn wir dies Versprechen nicht hielten, dann müßten wir wohl auf irgendeine Rache gefaßt sein?

Wissen Sie, was uns neulich Ihr Vater von jenen Indianern erzählte, die den Gouverneuren der Insel drohen, sich tot zu hungern, wenn man ihre Gesuche nicht genehmige?

Sie wollen sich tothungern? Das glaube ich nicht. Sie würden einen Tag nichts essen, und dann würde Ihnen Fräulein Kolomba einen so leckeren Bruccio bringen, daß Sie Ihrem Plan entsagen.

(Ein Bruccio, aus Käse und Rahm gebacken, ist das Lieblingsessen der Korsikaner.)

Sie sind grausam in Ihren Scherzen, Miß Nevil. Sie sollten mich schonen. Sehen Sie, ich bin hier allein. Ich hatte nur Sie, um mich am Verrücktwerden zu hindern, wie Sie sagen. Sie waren mein Schutzengel, und jetzt . . .

Und jetzt, sagte Miß Lydia in ernstem Ton, haben Sie, um Ihre so leicht zu erschütternde Vernunft zu stützen, Ihre Mannes- und Soldatenehre und . . . (sie wandte sich ab, um eine Blume zu pflücken) . . . wenn das etwas über Sie vermag, das Andenken an Ihren Schutzengel.

Ach, Lady, wenn ich glauben könnte, daß Sie wirklich Anteil . . .

Hören Sie, Herr della Rebbia, unterbrach ihn Miß Nevil etwas bewegt, da Sie ein Kind sind, werde ich Sie wie ein Kind behandeln. Als ich ein kleines Mädchen war, gab mir meine Mutter ein schönes Halsband, nach dem ich eifrig verlangte, aber sie sagte dabei: So oft du dies Halsband anlegst, erinnere dich daran, daß du noch nicht Französisch kannst! Das Halsband verlor dadurch für mich ein wenig an Wert; es war wie ein Gewissensbiß geworden, aber ich trug es und lernte das Französische. Sehen Sie diesen Ring! Es ist ein Skarabee, in einer ägyptischen Pyramide gefunden. Es sind Hieroglyphen darauf. Dies wunderliche Zeichen da, das Sie vielleicht für eine Weinflasche deuten, will besagen: Das menschliche Leben. In meinem Vaterlande gibt es Leute, die solche Symbole tiefsinnig finden. Das andre Zeichen da, das ist ein Schild mit einem Arm, der eine Lanze hält; es bedeutet: Kampf, Schlacht. Die Vereinigung der beiden Symbole bildet somit einen Wahlspruch, der mir gefällt: Das Leben ist ein Kampf. Bilden Sie sich aber nicht ein, daß ich Hieroglyphendeuterin sei. Ein Ägyptologe hat mir diese erklärt. Ich schenke Ihnen meinen Skarabee. Nehmen Sie ihn! Wenn Sie schlimme korsische Gedanken haben, sehen Sie sich den Talisman an und sagen Sie zu sich selber: Aus dem Kampfe mit den bösen Leidenschaften muß man als Sieger hervorgehen! – Nun aber genug der Predigt!

Ich werde an Sie denken, Miß Nevil, und werde mir sagen . . .

Sagen Sie sich, daß Sie eine Freundin haben, die trostlos wäre, Sie am Galgen zu sehen. Es würde übrigens auch Ihren Vorfahren, den Herren Korporalen, nicht zur Ehre gereichen.

Mit diesen Worten ließ sie lachend Orsos Arm fahren und sagte, ihrem Vater entgegenlaufend:

Papa, laß doch die häßlichen alten Vögel und komm mit uns, in der Grotte Napoleons zu schwärmen!

VIII

Es ist immer etwas Feierliches bei einer Abreise, selbst wenn man sich auf kurze Zeit verläßt. Orso wollte am frühen Morgen reisen und hatte am Abend vorher von Miß Lydia Abschied genommen, denn er glaubte nicht, daß sie ihm zuliebe eine Ausnahme von ihrer Gewohnheit, spät aufzustehen, machen werde. Der Abschied war ernst und schwer gewesen. Seit ihrer Unterhaltung am Seegestade fürchtete Miß Lydia, Orso eine zu lebhafte Anteilnahme gezeigt zu haben; Orso hingegen hatte ihre Spöttereien, besonders ihren leichten Ton, auf dem Herzen. Einige Augenblicke lang glaubte er, in dem Betragen der jungen Engländerin Zeichen einer entstehenden Neigung entdeckt zu haben; aber jetzt, durch ihre Scherze verstimmt, sagte er sich, daß er in ihren Augen bloß ein flüchtiger Bekannter wäre, der bald vergessen sein würde. Groß war also sein Erstaunen, als er mit dem Obersten beim Kaffee saß und er Miß Lydia, von seiner Schwester begleitet, eintreten sah. Sie war um fünf Uhr aufgestanden, und für eine Engländerin, besonders für Miß Nevil, war diese Anstrengung groß genug, um ihn etwas eitel zu machen.

Es tut mir leid, sagte Orso, daß Sie so früh gestört worden sind. Wahrscheinlich hat meine Schwester Sie trotz meiner Warnung geweckt. Sie sind gewiß sehr böse auf uns und wünschen mich vielleicht schon jetzt an den Galgen.

Nein, sagte Miß Lydia leise und auf italienisch, augenscheinlich, damit ihr Vater es nicht höre. Aber Sie haben mir gestern wegen meiner unschuldigen Scherze gegrollt, und ich wollte nicht, daß Sie ein übles Andenken an Ihre ergebene Dienerin mitnehmen. Was seid Ihr Korsen für entsetzliche Leute. Leben Sie wohl! Also auf baldiges Wiedersehen, hoffe ich!

Und sie streckte ihm die Hand entgegen.

Orso wußte nur mit einem Seufzer zu antworten. Kolomba näherte sich ihm, führte ihn in die Brüstung eines Fensters, und indem sie ihm etwas zeigte, was sie unter ihrem Mezzaro verborgen hielt, sprach sie einige Augenblicke leise mit ihm.

Meine Schwester, sagte Orso hierauf zu Miß Nevil, will Ihnen ein wunderliches Geschenk machen, Mademoiselle. Wir Korsen haben eben nicht viel andres zu verschenken als unsere Zuneigung; die aber löscht die Zeit nicht aus. Meine Schwester sagt mir, daß Sie diesen Dolch mit Interesse angesehen haben. Es ist ein altes Familienerbstück. Wahrscheinlich hing er einst am Gürtel eines jener Caporali, denen ich die Ehre Ihrer Bekanntschaft verdanke. Kolomba hält ihn für so wertvoll, daß sie mich um die Erlaubnis gebeten hat, Ihnen den Dolch zu überreichen. Ich aber weiß nicht, ob ich dies darf, denn ich fürchte, Sie machen sich über mich lustig.

Dieser Dolch ist wunderschön, sagte Miß Lydia, aber es ist eine Familienwaffe, und ich darf ihn nicht annehmen.

Es ist nicht der Dolch meines Vaters, rief Kolomba lebhaft aus. Der König Theodor hat ihn einem Großvater meiner Mutter geschenkt. Wenn Mademoiselle ihn annehmen möchte, wird sie uns große Freude machen.

Miß Lydia, fügte Orso hinzu, verschmähen Sie nicht den Dolch eines Königs!

Für einen Liebhaber sind die Reliquien des Königs Theodor wertvoller als die eines mächtigen Monarchen. Die Versuchung war groß, und Miß Lydia sah bereits im Geiste das Aufsehen, das die Waffe erregen werde, wenn sie auf einem ihrer lackierten Tische in ihrem Boudoir am St. James-Platz läge.

Aber, sagte sie, indem sie den Dolch mit dem Zaudern jemandes, der annehmen will, in die Hand nahm, zu Kolomba gewendet: Ich wage nicht, Sie so unbewaffnet davonziehen zu lassen.

Mein Bruder ist bei mir, sagte Kolomba mit stolzem Ton, und wir haben das vorzügliche Gewehr, das Ihr Herr Vater uns geschenkt hat. Orso, du hast es doch mit einer Kugel geladen?

Miß Nevil behielt den Dolch, und Kolomba, um die Gefahr zu beschwören, die es mit sich bringt, wenn man schneidende oder stechende Waffen seinen Freunden schenkt, verlangte einen Sou als Kaufpreis.

Endlich mußte geschieden sein. Orso drückte noch einmal die Hand der Miß Nevil. Kolomba umarmte sie und bot dann ihre Rosenlippen dem Obersten dar, der über diese korsische Höflichkeit höchst verwundert war. Vom Saalfenster aus sah Lydia die Geschwister aufsitzen. Kolombas Augen glänzten von einer boshaften Freude, die sie darin noch nicht bemerkt hatte. Dies junge starke Weib, fanatisch in seiner barbarischen Auffassung der Ehre, Stolz auf der Stirn und die Lippen von sardonischem Lächeln umspielt, im Begriff, den bewaffneten jungen Mann zu einer unheimlichen Unternehmung wegzuführen, riefen Orsos Befürchtungen in ihr wieder wach. Es war ihr, als zöge ihn sein Dämon ins Verderben. Orso, schon im Sattel, bemerkte sie, als er den Blick in die Höhe richtete. Sei es, daß er ihren Gedanken erraten hatte, sei es, daß er ihr ein letztes Lebewohl sagen wollte, er nahm den ägyptischen Ring, der an einer Schnur über seiner Brust hing, und hielt ihn an seine Lippen. Miß Lydia verließ errötend das Fenster, kehrte aber gleich wieder dahin zurück und sah die Fremden auf ihren Ponys dem Gebirge im Galopp zueilen. Eine halbe Stunde nachher zeigte ihr der Oberst mit seinem Fernrohr, wie sie längs der Küste des Golfs hinritten; sie bemerkte, wie Orso häufig den Kopf nach der Stadt zurückwendete. Er verschwand darauf hinter den Sümpfen, in denen heutigentags eine Baumpflanzung angelegt ist. Als sich Miß Lydia in ihrem Spiegel betrachtete, fand sie, sie sähe blaß aus. Was mag der junge Mann von mir denken, fragte sie sich, und ich, was denke ich von ihm und warum denke ich an ihn? Eine Reisebekanntschaft . . . Was will ich eigentlich hier auf Korsika? Oh, ich liebe ihn nicht. Nein, nein; übrigens ist das unmöglich . . . Ich die Schwägerin einer Voceratrice, die einen Dolch trägt?

Auf einmal bemerkte sie, daß sie den Dolch des Königs Theodor in der Hand hielt, und warf ihn auf ihre Toilette.

Kolomba in London auf einem Balle! Mein Gott, ein Wundertier! Vielleicht würde sie Furore machen. Er liebt mich; das weiß ich gewiß. Er ist ein Romanheld, dessen abenteuerlichen Lebensweg ich kreuze. Aber hatte er wirklich die Absicht, seinen Vater nach korsischer Sitte zu rächen? Er ist ein Mittelding zwischen einem Byronschen Helden und einem Dandy. Ich habe einen bloßen Dandy aus ihm gemacht, noch dazu einen Dandy . . . in korsischem Kostüm.

Sie warf sich auf ihr Bett, indem sie sich sagte: Dieser Herr della Rebbia war nichts für mich; er ist mir nichts, und nie wird er mir etwas sein . . .

IX

Währenddessen ritt Orso mit seiner Schwester weiter. Der flotte Gang ihrer Pferde hinderte sie anfangs, miteinander zu reden; aber als die steile Steigung sie zwang, im Schritt zu reiten, tauschten sie einige Worte über die Freunde aus, die sie eben verlassen hatten.

Kolomba sprach mit Begeisterung von der Schönheit der Miß Nevil, von ihrem blonden Haar und von ihrer Grazie. Dann fragte sie, ob der Oberst so reich wäre, wie es schiene, ob Miß Lydia die einzige Tochter wäre?

Das muß eine gute Partie sein, sagte sie. Ihr Vater hat, wie es scheint, viel Freundschaft für dich. Da Orso nicht antwortete, fuhr sie fort: Unsre Familie ist früher reich gewesen; sie ist noch eine der angesehensten des Landes. Alle diese Signori sind Bastarde. Adel lebt nur noch in den Familien der Caporali, und du weißt, Orso, daß du der Nachkomme eines der ersten Caporale der Insel bist. Du weißt, daß wir von jenseits der Berge sind und daß die Bürgerkriege uns gezwungen haben, diesseits zu wohnen. An deiner Stelle würde ich nicht zögern, den Vater um Miß Nevils Hand zu bitten. (Orso zuckte die Achseln.) Mit ihrer Mitgift würde ich den Wald von Falsetta kaufen und die unter unsrem Gute liegenden Weinberge; ich würde ein schönes Haus aus Hausteinen erbauen und ein neues Stockwerk dem alten Turm aufsetzen, wo Sambucuccio dereinst so viele Mauren getötet hat, zur Zeit des Grafen Heinrich, des bei Missere.

Kolomba, du bist eine Närrin, sagte Orso.

Du bist ein Mann, Orsanton, und du weißt ohne Zweifel besser als ein Weib, was du zu tun hast. Ich möchte wissen, was dieser Engländer gegen eine Verbindung mit uns könnte einzuwenden haben. Gibt es Caporali in England?

Nach ziemlich langem Ritte, bei dem die Geschwister in dieser Weise miteinander plauderten, kamen sie in ein kleines Dorf, nicht weit von Bocognano, wo sie haltmachten, um zu essen und die Nacht bei einem Freunde ihrer Familie zu bleiben. Sie wurden mit jener korsischen Gastfreiheit empfangen, die nur der zu schätzen weiß, der sie erfahren hat. Am folgenden Morgen begleitete sie ihr Wirt, der ein Pate der Madame della Rebbia gewesen war, eine Wegstunde weit von seiner Wohnung.

Seht Ihr dieses Gehölz und die Macchia dort? fragte er beim Abschied. Ein Mann, der ein Unglück angestiftet hätte, könnte daselbst zehn Jahre im Frieden leben, ohne daß Gendarmen oder Jäger ihn da fänden. Dies Gehölz stößt an den Wald von Vizzavona, und wenn man Freunde in Bocognano oder der Umgegend hat, fehlt es einem an nichts. Ihr habt da eine gute Flinte; die muß weit tragen. Beim Blute der Madonna, ein anständiges Kaliber! Damit kann man etwas Besseres ins Jenseits befördern als bloß Wildschweine.

Orso erwiderte kaltblütig, sein Gewehr sei ein englisches und trüge weit. Man umarmte sich, und jeder ging seines Weges.

Unsre Reisenden waren nur noch in geringer Entfernung von Pietranera, als sie beim Eingang in eine Schlucht, die man passieren mußte, sieben bis acht mit Flinten bewaffnete Männer entdeckten. Die einen saßen auf Steinen, die andern lagen auf dem Rasen; einige aber standen und hielten offenbar Wache. Sie ritten ziemlich nahe an diesen Leuten vorbei. Kolomba musterte sie einen Augenblick durch ihr Fernrohr, das sie aus einer der großen Ledersatteltaschen zog, die alle Korsen auf die Reise mitzunehmen pflegen.

Das sind unsre Leute, rief sie in freudigem Tone aus. Pieruccio hat seinen Auftrag gut ausgeführt.

Was für Leute? fragte Orso.

Unsre Schäfer, erwiderte sie. Vorgestern abend habe ich Pieruccio abgeschickt, damit er diese braven Leute zu deiner Begleitung auf der Heimkehr versammle. Es paßt sich nicht, daß du ohne Gefolge in Pietranera einreitest. Übrigens mußt du wissen, daß die Barricini zu allem fähig sind.

Kolomba, sagte Orso mit ernstem Tone, ich habe dich schon oft gebeten, du solltest mir nicht mehr von den Barricini reden, auch nicht von deinem unbegründeten Verdacht. Ich werde mich nicht so lächerlich machen, mit dieser Schar von Tagedieben in meine Heimat einzuziehen, und ich bin sehr unzufrieden damit, daß du sie versammelt hast, ohne mich vorher darum zu fragen.

Mein Bruder, du hast dein Land vergessen. Ich muß dich behüten, wenn deine Unbesonnenheit dich in Gefahr bringt. Ich habe getan, was ich habe tun müssen.

In diesem Augenblick eilten die Schäfer, da sie sie bemerkt hatten, zu ihren Pferden und galoppierten den Geschwistern entgegen.

Evviva, Orsanton! rief ein kräftiger Greis mit weißem Barte, der trotz der Hitze in einen Kapuzenmantel aus korsischem Tuch gehüllt war. Der ist das wahre Ebenbild seines Vaters, nur größer und stärker. Und was für ein schönes Gewehr! Von dieser Waffe wird man reden, Orsanton.

Evviva, Orsanton! wiederholten die Schäfer im Chor. Wir wußten wohl, daß er endlich wiederkommen werde.

Ach, Orsanton, sagte ein großer Bursch mit ziegelrotem Gesicht, welche Freude würde Euer Vater haben, wenn er Euch hier empfangen könnte. Der Verehrte hätte es erlebt, wenn er mir hätte glauben wollen. Der Tapfere! Er hat mir nicht geglaubt. Jetzt weiß er, daß ich recht hatte.

Gut, rief der Greis. Giudice wird beim Warten nichts verlieren.

Evviva, Orsanton!

Ein Dutzend Flintenschüsse begleiteten diesen Ausruf.

Orso, sehr übler Laune unter diesen Leuten, die alle auf einmal sprachen und sich um ihn drängten, um ihm die Hand zu geben, konnte eine Zeitlang nicht zu Worte kommen. Dann nahm er aber die Miene an, die er vor der Front seiner Kompanie aufsetzte, wenn er einen Verweis erteilte oder in eine Wachtstube trat.

Meine Freunde, sagte er, ich danke euch für die Liebe, die ihr mir erweist und die ihr meinem Vater bewahrt habt, aber ich meine, daß mir niemand Ratschläge zu geben hat; ich weiß schon selber, was ich zu tun habe.

Er hat recht! Er hat recht! riefen die Schäfer. Ihr wißt, daß Ihr auf uns rechnen könnt.

Ja, ich rechne darauf, aber augenblicklich habe ich niemanden nötig, und keine Gefahr bedroht mein Haus. Macht nur kehrt und geht zu Euren Ziegen. Ich kenne den Weg nach Pietranera; ich bedarf keiner Führer.

Fürchtet nichts, Orsanton! sagte der Greis. Die werden es heute nicht wagen, sich zu zeigen. Die Maus kriecht in ihr Loch, wenn der Kater kommt.

Selber Kater, alter Graubart! sagte Orso. Wie ist dein Name?

Wie, Ihr kennt mich nicht, Orsanton, mich, der ich Euch so oft auf meinem bissigen Maulesel habe reiten lassen? Ihr kennt nicht Polo Griffo, den braven Mann, der mit Leib und Seele den della Rebbias angehört? Sagt nur ein Wort, und diese alte Muskete, alt wie ihr Herr, wird nicht schweigen! Darauf könnt Ihr rechnen, Orsanton.

Gut, gut! Aber bei allen Teufeln, geht doch und laßt uns endlich unsern Weg fortsetzen!

Endlich entfernten sich die Schäfer und ritten in scharfem Trabe dem Dorfe zu; aber von Zeit zu Zeit blieben sie auf den Hochpunkten des Weges stehen, um zu erkunden, ob nicht irgendwo ein verborgener Hinterhalt wäre. So hielten sie sich immer in der Nähe Orsos und seiner Schwester, um im Notfall Hilfe zu bringen; und der alte Griffo sagte zu seinen Gefährten:

Ich begreife, ich begreife, er sagt nicht, was er tun will, aber er tuts. Er ist das wahre Ebenbild seines Vaters. Gut, sage nur, daß du gegen niemanden etwas im Schilde führst. Du hast der heiligen Nega ein Gelübde getan. Bravo! Ich gebe keinen Pfifferling für die Haut des Amtmanns.

Indem diese Gruppe von Vorreitern ihn so begleitete, zog der Abkömmling der della Rebbia in sein Dorf ein und betrat den Sitz der Caporali, seiner Vorfahren. Die Rebbianer, seit langem eines Führers beraubt, waren ihm in Masse entgegengegangen, und die Dorfbewohner, die zur neutralen Partei gehörten, standen alle an der Türschwelle, um ihn vorbeikommen zu sehen. Die Barricinianer lauerten hinter ihren Fensterläden und spähten durch die Spalten.

Der Marktflecken von Pietranera ist ganz unregelmäßig gebaut, wie alle Dörfer Korsikas. Die Häuser, ohne jeden Plan angelegt, bedecken eine kleine Hochebene. In der Mitte des Ortes erhebt sich eine große grüne Eiche, und daneben sieht man einen Trog aus Granit, in den eine hölzerne Röhre das Wasser einer benachbarten Quelle gießt. Dies gemeinnützliche Werk war von den della Rebbias und Barricinis auf gemeinsame Kosten hergestellt; aber man würde sich sehr täuschen, wenn man darin einen Beweis für die frühere Einigkeit der beiden Familien finden wollte. Es ist dies im Gegenteil ein Erzeugnis ihrer Eifersucht. Als früher einmal der Oberst della Rebbia dem Gemeinderat eine kleine Summe geschickt hatte, um zur Errichtung eines Brunnens beizutragen, beeilte sich der Advokat Barricini, eine ähnliche Gabe zu bieten, und diesem Wetteifer der Großmut verdankte Pietranera seine Wasserleitung. Um die Eiche und den Brunnen herum breitet sich ein freier Raum aus, den man den Platz nennt; auf ihm versammeln sich abends die Müßiggänger. Mitunter spielt man dort Karten, und einmal im Jahre, im Karneval, tanzt man da. An den beiden äußersten Enden des Platzes erheben sich Gebäude, die, höher als breit, in Granit und Schiefer gebaut sind. Es sind dies die feindlichen Türme der della Rebbia und Barricini. Ihre Bauart ist die gleiche; die Höhe die nämliche; man sieht daraus, daß die Eifersucht der beiden Familien sich auf derselben Höhe hielt wie ihre Vermögensumstände.

Vielleicht ist es angebracht, hier auseinanderzusetzen, was man unter einem Turm versteht. Es ist dies ein viereckiges Gebäude von etwa vierzig Fuß Höhe, das man in andern Ländern einfach einen Taubenschlag nennen würde. Die enge Tür erhebt sich acht Fuß über dem Boden, und man steigt auf einer Treppe zu ihr. Über der Tür findet sich ein Fenster mit einer Art Balkon und darunter eine sogenannte Pechnase, durch die man Steine schleudern und unberufenen Eindringlingen den Schädel einschlagen kann. Zwischen dem Fenster und der Tür sieht man zwei grob gemeißelte Wappen. Das eine zeigte früher das Genueser Kreuz, aber es ist jetzt zerborsten und nur noch für Altertumsforscher erkennbar. Auf dem andern Schilde ist das Wappen der Familie, die den Turm besitzt. Fügt man hinzu, daß sich Spuren von eingeschlagenen Kugeln an den Wappenschildern und an der Einrahmung der Fenster zeigen, so hat man eine Vorstellung von der Gestalt eines mittelalterlichen Herrensitzes in Korsika. Erwähnt sei, daß die Wohnungsgebäude an den Turm stoßen und zumeist eine innere Verbindung mit ihm haben.

Der Turm und das Haus der della Rebbia nehmen die Nordseite des Platzes von Pietranera ein, der Turm und das Haus der Barricini die Südseite. Vom nördlichen Turm bis zum Brunnen geht die Promenade der della Rebbia; die der Barricini liegt gegenüber.

Seit dem Begräbnis der Frau des Obersten hatte man nie einen Angehörigen der einen Familie auf der Promenade der andern gesehen; es beruhte dies auf einem schweigenden Einverständnis. Um einen Umweg zu vermeiden, wollte Orso vor dem Hause des Amtmanns vorbeireiten, als seine Schwester ihn aufforderte, eine Seitenstraße einzuschlagen, damit er nicht quer über den Platz zu reiten brauche.

Warum soll ich mirs unbequem machen? Ist der Platz nicht für alle? Und somit spornte er sein Pferd.

Tapferes Herz! sagte Kolomba leise zu sich selber. Vater, du wirst gerächt werden!

Als sie auf dem Platze ankamen, stellte sich Kolomba zwischen das Haus der Barricini und ihren Bruder und heftete das Auge auf die Fenster ihrer Feinde. Sie bemerkte, daß sie seit kurzem verrammelt und mit Archere versehen waren. Archere nennt man schmale Schießscharten zwischen dicken Holzklötzen, mit denen man den unteren Teil der Fenster zustopft. Fürchtet man einen Angriff, so pflegt man sich auf diese Weise zu verbarrikadieren und kann hinter den Klötzen auf die Angreifer schießen.

Die Feiglinge! sagte Kolomba. Sieh, Bruder, schon fangen sie an, auf der Hut zu sein! Sie haben sich verrammelt; aber sie müssen eines Tages heraus.

Orsos Erscheinen auf der Südseite des Platzes rief in Pietranera große Bewegung hervor und wurde als Kühnheit, ja als herausfordernde Vermessenheit angesehen. Für die Neutralen, die sich abends unter der Eiche versammelten, war es Veranlassung zu endlosen Erörterungen.

Es ist ein wahres Glück, meinte man, daß die jungen Barricini noch nicht zurück sind, denn die sind nicht so geduldig wie der Advokat und hätten ihren Feind nicht über ihr Gebiet kommen lassen, ohne seinen Trotz zu bestrafen.

Gedenke dessen, was ich dir sagen will, Nachbar! fügte ein Greis hinzu, der das Orakel des Ortes war. Ich habe heute Kolombas Gesicht beobachtet. Sie hat etwas im Kopf. Ich wittre Pulver in der Luft. In kurzem wird es wohlfeiles Fleisch in Pietranera geben.

X

Orso, früh von seinem Vater getrennt, hatte ihn kaum recht kennenlernen können. Er hatte Pietranera mit fünfzehn Jahren verlassen, um in Pisa zu studieren, und war in die Kriegsschule eingetreten, während Ghilfuccio dem Kaiserlichen Adler durch Europa folgte. Auf dem Festlande hatte Orso ihn nur selten gesehen und nur einmal, im Jahre 1815, gehörte er dem Regimente an, das sein Vater kommandierte, aber dieser, unbeugsam in der Disziplin, behandelte seinen Sohn wie alle andern jungen Leutnants, das heißt, mit großer Strenge. Die Erinnerung, die Orso an ihn hatte, war somit zwiefältig. Einmal stand des Vaters Bild vor ihm, wie er ihm in Pietranera seinen Degen anvertraute, ihn seine Flinte abschießen ließ, wenn er von der Jagd zurückkam, oder ihn als kleinen Burschen am Familientisch niedersitzen ließ. Und dann stand der Oberst della Rebbia vor Orsos Seele, wie er ihn wegen irgendeines leichtsinnigen Streiches bestrafte und ihn immer nur Leutnant della Rebbia nannte. – Leutnant della Rebbia, Sie stehen nicht an Ihrem reglementmäßigen Platze. Drei Tage Stubenarrest! – Ihre Schützen sind zu weit vorgeprellt. Fünf Tage Stubenarrest. – Sie haben jetzt um zwölf Uhr fünf Minuten noch Ihre Interimsmütze auf. Acht Tage Stubenarrest! – Nur einmal, bei Quatrebas, hatte er zu ihm gesagt: Ausgezeichnet, Orso, aber vorsichtig! – Übrigens rief Pietranera ihm nicht gerade diese Erinnerungen zurück. Der Anblick der traulichen Plätze seiner Kindheit, der Hausrat, dessen sich seine Mutter bediente, die er so zärtlich geliebt hatte, erweckten in seiner Seele eine Menge süßer und trauriger Gefühle; die dunkle Zukunft, die seiner wartete, die vage Unruhe, die seine Schwester ihm einflößte, und vor allem der Gedanke, daß Miß Nevil in sein Haus kommen werde, das ihm jetzt so klein, so armselig erschien, so wenig passend für eine an Luxus gewöhnte Frau, die Geringschätzung, die sie vielleicht dafür haben werde, alle diese Gedanken wirbelten ihm wild durch den Kopf und versetzten ihn in mutlose Stimmung.

Er setzte sich zum Abendessen nieder in jenem Sessel von geschwärztem Eichenholz, auf dem sein Vater beim Familienmahle den Vorsitz geführt hatte, und lächelte, als Kolomba zögerte, sich zu ihm zu setzen. Er wußte ihr übrigens wegen ihres Schweigens Dank, auch dafür, daß sie sich bald zurückzog, denn er war zu bewegt, um ihren voraussichtlichen Angriffen Widerstand zu leisten, und wünschte vor allem Zeit und Ruhe zu haben, um sich zurecht zu finden. Das Haupt auf die Hand gestützt, saß er lange unbeweglich da und ließ die Erlebnisse der letzten vierzehn Tage an sich vorübergehen. Er sah mit Schrecken, was man von ihm in seinem Verhalten gegen die Barricini erwartete. Schon bemerkte er, daß die Meinung Pietraneras für ihn die Meinung der Welt zu werden begann. Er mußte sich rächen, wenn er nicht für einen Feigling gelten wollte. Aber an wem sollte er sich rächen? Er konnte die Barricini nicht für schuldig am Morde halten. Sie waren freilich Feinde seiner Familie; aber es gehörten doch die unsinnigen Vorurteile seiner Landsleute dazu, um ihnen einen Mord zuzuschreiben. Mitunter betrachtete er den Talisman der Miß Nevil und wiederholte sich leise den Wahlspruch: Das Leben ein Kampf. Dann sprach er mit festem Tone: Ich werde als Sieger daraus hervorgehen.

Mit diesem guten Gedanken erhob er sich und stieg, die Lampe nehmend, in seine Kammer, als man an die Haustür klopfte. Es war nicht die Stunde, Besuch zu empfangen. Gleich darauf erschien Kolomba, von einer Magd begleitet.

Es ist nichts, sagte sie, an die Tür eilend. Ehe sie aber öffnete, fragte sie: Wer da? und eine sanfte Stimme antwortete: Ich bins.

Sogleich ward der Riegel weggeschoben, und Kolomba kam ins Eßzimmer zurück, von einem zehnjährigen Mädchen begleitet; es war barfüßig, mit Lumpen bedeckt, hatte auf dem Kopf ein schlichtes Tuch, unter dem die Haare schwarz wie Rabenflügel hervorquollen. Die Kleine war mager, blaß und sonnenverbrannt, aber in ihrem Auge strahlte das Feuer der Intelligenz. Als sie Orso sah, blieb sie schüchtern stehen und machte ihm einen bäurischen Knix; dann flüsterte sie mit Kolomba und übergab ihr einen kurz vorher geschossenen Fasanen.

Dank, Chili! sagte Kolomba. Dank deinem Oheim; es geht ihm doch gut?

Sehr gut, Mademoiselle, zu dienen. Ich habe nicht eher kommen können, denn er hatte sich verspätet. Ich habe drei Stunden in der Macchia auf ihn gewartet.

Hast du zu Abend gegessen?

Nein; dazu hatte ich keine Zeit.

Man wird dir zu essen geben. Hat dein Oheim noch Brot?

Wenig; aber ihm fehlt es vor allem an Pulver. Jetzt ist die Kastanienzeit gekommen, und nun braucht er nur noch Pulver.

Ich will dir für ihn ein Brot und Pulver geben. Sage ihm, er müsse es schonen, denn es wäre teuer.

Kolomba, fragte Orso auf französisch, wem gibst du da ein Almosen?

Einem armen Banditen aus dem Dorfe, antwortete sie in derselben Sprache. Dies ist seine kleine Nichte.

Könntest du deine Gaben nicht besser verwenden? Warum schickst du Pulver einem Spitzbuben, der es zu Verbrechen verwendet? Hätte man hier nicht eine so beklagenswerte Schwäche gegen die Banditen, dann wären sie schon längst aus Korsika verschwunden.

Es sind nicht die Schlechtesten, die im freien Felde leben.

Gib ihnen Brot, wenn du willst; das darf man niemandem abschlagen, aber ich will nicht, daß man ihnen Munition gebe.

Lieber Bruder, sprach Kolomba in ernstem Ton, du bist hier Herr, und alles in diesem Hause gehört dir, aber ich sage dir, ich gebe ihr lieber meinen Mezzaro, damit sie ihn verkaufe, als daß ich einem Banditen Pulver abschlage. Statt ihm Pulver abzuschlagen, sollte man ihn lieber gleich den Gendarmen ausliefern. Was hat er für andern Schutz gegen sie als seine Patronen?

Währenddem verzehrte das kleine Mädchen gierig ein Stück Brot und blickte wechselweise Kolomba und ihren Bruder an, wobei es in ihren Augen das, was sie sprachen, zu lesen suchte.

Was hat denn dein Bandit ausgefressen? Welches Verbrechen trieb ihn in die Macchia?

Brandolaccio hat kein Verbrechen begangen, rief Kolomba aus. Er hat Giovanni Opizzo getötet, weil er, während er im Heere diente, seinen Vater getötet hat.

Orso nahm die Lampe und stieg ohne zu antworten in seine Kammer. Dann gab Kolomba dem Kinde Pulver und Mundvorrat und begleitete es bis an die Tür, indem sie ihm wiederholte:

Sage deinem Oheim, er solle gut über Orso wachen!

XI

Es dauerte lange, bis Orso einschlief, und deshalb wachte er spät auf, wenigstens für einen Korsen. Kaum war er aufgestanden, als ihm das Haus seiner Feinde und die Archere, die sie darin angebracht hatten, in die Augen fiel. Er fragte nach seiner Schwester.

Sie ist in der Küche und gießt Kugeln, erwiderte ihm die Magd Saveria.

So konnte er keinen Schritt tun, ohne auf Kriegsvorbereitungen zu stoßen.

Er fand Kolomba auf einem Schemel sitzend beim Bleischmelzen; um sie herum lagen die soeben gegossenen Kugeln.

Beim Teufel, was machst du da? fragte ihr Bruder.

Du hast keine Kugeln für die Flinte des Obersten, erwiderte sie. Ich habe eine Gußform gefunden, und du wirst heute vierundzwanzig Stück bekommen, lieber Bruder.

Die brauche ich nicht, Gott sei Dank.

Man muß auf der Hut sein, Orsanton! Du hast dein Land vergessen und die Leute hier um dich.

Wenn ich es vergessen hätte, würdest du mich bald daran erinnern. Sage mir, ist vor einigen Tagen nicht ein großer Koffer angekommen?

Ja, lieber Bruder. Soll ich ihn in deine Kammer bringen?

Du? Du hast nicht die Kraft, ihn zu heben. Ist denn kein Mann dafür da?

Ich bin nicht so schwach, wie du glaubst, erwiderte Kolomba, indem sie ihre Ärmel emporschob und einen weißen runden Arm entblößte, der schön gebaut war, aber ungewöhnliche Kraft verriet. Komm, Saveria, sagte sie zur Magd, hilf mir!

Schon hob sie allein den schweren Koffer, als Orso sich beeilte, ihr zu helfen.

In diesem Koffer, liebe Kolomba, sagte er, ist etwas für dich. Du mußt mich entschuldigen, wenn ich dir ein ärmliches Geschenk mache, aber die Börse eines Leutnants auf Halbsold ist nicht sehr gespickt.

So redend, öffnete er den Koffer und zog einige Kleider, einen Schal und andre schöne Dinge für weibliche Wesen heraus.

Was für schöne Sachen! rief Kolomba. Ich will sie gleich einschließen, damit sie nicht verderben. Ich werde sie für meine Hochzeit aufbewahren, sagte sie mit traurigem Lächeln, denn jetzt bin ich in Trauer. Damit küßte sie die Hand ihres Bruders.

Es ist Übertreibung, liebe Schwester, so lange Trauer zu tragen.

Ich habe es geschworen, sagte Kolomba mit festem Tone, ich werde die Trauer nicht eher ablegen . . . Dazu warf sie einen Blick durchs Fenster nach dem Hause der Barricini.

Nicht eher als am Tage deiner Hochzeit! sagte Orso, indem er sie hinderte, den Satz zu Ende zu bringen.

Ich werde mich nur mit einem Manne verheiraten, der drei Dinge getan hat . . .

Dabei betrachtete sie noch immer mit düsterer Miene das feindliche Haus.

Hübsch wie du bist, Kolomba, bin ich erstaunt, daß du noch nicht verheiratet bist. Komm, erzähle mir, wer dir den Hof gemacht hat. Die Serenaden, die man dir bringen wird, möchte ich hören. Sie müssen schön sein, um einer großen Voceratrice wie dir zu gefallen.

Wer wird eine arme Waise heiraten? Übrigens wird der Mann, der mich die Trauerkleider ablegen läßt, die Weiber drüben die Trauer anlegen lassen.

Das grenzt an Tollheit, sagte Orso zu sich, antwortete aber nichts, um eine weitere Erörterung zu vermeiden.

Lieber Bruder, sagte Kolomba in schmeichelndem Tone, ich habe auch etwas für dich. Die Kleider, die du da anhast, sind für dies Land zu schön. Dein hübscher Rock wäre in zwei Tagen in Stücke zerrissen, wenn du ihn in der Macchia trügst. Du mußt ihn so lange schonen, bis Miß Nevil kommt.

Dann öffnete sie einen Schrank und zog einen vollständigen Jagdanzug heraus.

Ich habe für dich diese Samtjacke gemacht, und dies ist eine Mütze, wie sie unsre Dandys tragen. Ich habe sie für dich schon vor langer Zeit gestickt. Willst du es anprobieren?

Sie ließ ihn ein weites Wams von grünem Samt anziehen, das hinten eine große Tasche hatte, und setzte ihm eine spitze schwarze Samtmütze auf, die mit Schmelzperlen und Seide von gleicher Farbe gestickt war und eine Art Troddel hatte.

Hier ist die Carchera unsers Vaters, sagte sie. Sein Dolch steckt in der Tasche deines Wamses. Ich will dir seine Pistole holen.

Ich sehe ja aus wie ein Räuber aus einem Pariser Vorstadttheater, sagte Orso, indem er sich im Spiegel besah, den ihm Saveria vorhielt.

Sie sehen sehr schmuck aus, sagte die alte Magd, und der schönste Pinsuto (Zipfelmützenträger) von Bocognano oder Bastelica kann sich neben Euch verstecken.

Orso frühstückte in seinem neuen Kostüm und berichtete während des Mahles seiner Schwester, daß sein Koffer eine Anzahl von Büchern enthielt und daß es seine Absicht wäre, noch andere aus Frankreich und Italien kommen zu lassen, damit sie sich damit beschäftigen könne. Sodann sagte er:

Kolomba, es ist eine wahre Schande, daß eine Erwachsene wie du noch nichts von Dingen weiß, die auf dem Festlande die kleinen Kinder kennen.

Du hast recht, lieber Bruder, erwiderte Kolomba. Ich weiß wohl, was mir fehlt, und ich möchte recht viel lernen, am liebsten unter deiner Anweisung.

Einige Tage verflossen, ohne daß Kolomba den Namen der Barricini aussprach; sie sorgte aufmerksam für ihren Bruder und sprach oft mit ihm von Miß Nevil. Orso gab ihr französische und italienische Werke zu lesen und war erstaunt über die Richtigkeit ihrer Bemerkungen, zugleich aber auch über ihre Unwissenheit in den gewöhnlichsten Dingen.

Eines Morgens nach dem Frühstück ging Kolomba auf einen Augenblick hinaus, und statt mit einem Buche und Papier, erschien sie mit ihrem Mezzaro auf dem Kopf. Ihre Miene war noch ernster als sonst.

Lieber Bruder, sagte sie, ich möchte dich bitten, mit mir auszugehen.

Wohin soll ich dich begleiten? antwortete er, ihr den Arm bietend.

Ich brauche deinen Arm nicht, lieber Bruder, aber nimm dein Gewehr und deine Patronentasche. Ein Mann darf nie ohne Waffen ausgehen.

Meinetwegen. Man muß sich nach der Mode richten. Wohin gehen wir?

Ohne zu antworten, schlang Kolomba ihren Mezzaro ums Haupt, rief den Hund und ging mit ihrem Bruder hinaus. Indem sie sich mit eiligen Schritten vom Dorf entfernte, schlug sie einen Hohlweg ein, der sich die Weinberge hinaufschlängelte. Sie hatte den Hund vorausgeschickt, dem sie ein Zeichen gab, das er offenbar kannte, denn sogleich fing er an, im Zickzack zu laufen, bald hier-, bald dorthin, immer etwa fünfzig Schritte von seiner Herrin; mitunter blieb er mitten auf dem Wege stehn, um sie anzusehen, indem er mit dem Schweife wedelte. Kurz, er erfüllte seine Pflicht als Aufspürer vortrefflich.

Wenn Muschetto bellt, sagte Kolomba, dann spanne den Hahn deines Gewehrs, lieber Bruder, und bleibe unbeweglich stehn!

Eine halbe Wegstunde vom Dorfe machte Kolomba nach manchem Umweg an einem Punkte, wo der Weg einen Winkel bildete, plötzlich halt. Dort erhob sich, etwa drei Fuß hoch, eine kleine Pyramide aus Laub, das teils noch grün, teils schon verdorrt war, um ein hölzernes Kreuz, dessen schwarzbemalte Spitze hervorstach. In mehreren Kantonen Korsikas, besonders in den Bergen, zwingt ein uralter Gebrauch, der wahrscheinlich mit heidnischem Aberglauben in Beziehung steht, die Vorübergehenden, einen Stein oder einen Zweig auf den Ort zu werfen, wo jemand eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Während langer Jahre, so lange wie die Erinnerung an sein tragisches Ende im Gedächtnis der Menschen bleibt, häuft sich diese sonderbare Opfergabe täglich höher. Man nennt einen solchen Haufen den Mucchio dieses oder jenes.

Kolomba blieb vor dem Blätterhaufen stehen und warf einen Zweig dazu.

Orso, sagte sie, hier ist unser Vater gestorben. Laß uns für seine Seele beten, Bruder! Sie kniete nieder; Orso tat desgleichen.

In diesem Augenblick tönte feierliches Geläute vom Dorfe herüber, denn während der Nacht war ein Mensch gestorben. Orso brach in Tränen aus.

Nach einigen Minuten erhob sich Kolomba mit trocknem Auge, aber aufgeregter Miene. Sie machte schnell mit ihrem Daumen ein Kreuzeszeichen, das ihren Landsleuten geläufig ist und das gewöhnlich ihren feierlichen Eid begleitet. Indem sie dann ihren Bruder mit sich fortzog, schlug sie den Weg nach dem Dorfe wieder ein.

Schweigsam traten sie ins Haus. Orso stieg in seine Kammer. Einen Augenblick darauf folgte ihm Kolomba dahin, ein kleines Kästchen in der Hand, aus dem sie ein mit Blutstropfen beflecktes Hemd nahm.

Das ist das Hemd deines Vaters, Orso . . .

Sie warf es ihm auf die Knie.

Das ist das Blei, das ihn getroffen hat! Und sie legte auf das Hemd zwei mit Rost bedeckte Kugeln.

Orso, liebster Bruder! rief sie aus, stürzte sich in seine Arme und umschlang ihn leidenschaftlich.

Orso, du wirst ihn rächen!

Sie umarmte ihn mit einer Art Wut, küßte die Kugeln und das Hemd und trat aus dem Zimmer, indem sie Orso wie erstarrt auf seinem Sessel ließ.

Er vermochte es lange nicht über sich, die entsetzlichen Reliquien beiseitezulegen, zwang sich aber zuletzt dazu, legte sie in den Kasten, ging auf die andre Seite der Kammer, warf sich aufs Bett und drängte den der Wand zugewendeten Kopf ins Kissen, als wolle er sich dem Anblick eines Gespenstes entziehen. Die letzten Worte seiner Schwester hallten unablässig in seinem Ohr wieder, und es war ihm, als höre er einen unheilvollen, unvermeidlichen Orakelspruch, der von ihm Blut, unschuldiges Blut verlangte.

Lange blieb er in derselben Lage, ohne sein Gesicht abzuwenden. Endlich schloß er den Kasten zu und eilte aus dem Haus ins Feld, wo er ziellos umherirrte.

Nach und nach wurde er ruhiger. Die frische Luft erquickte ihn, und er dachte mit kälterem Blut über seine Lage nach und über die Mittel, sich ihr zu entziehen. Weit entfernt, die Barricini für die Urheber des Mordes zu halten, beschuldigte er sie gleichwohl, den Brief des Banditen Agostini untergeschoben zu haben, und dieser Brief, so glaubte er wenigstens, hatte den Tod seines Vaters verursacht. Sie als Handschriftfälscher verfolgen, wäre sinnlos gewesen. Mitunter, wenn das Vorurteil oder der Erbtrieb seines Volkes über ihn kam und ihm an der Biegung eines Fußpfades die Möglichkeit leichter Rache verhieß, wies er sie mit Abscheu zurück, indem er an seine Kameraden im Regiment, an die Pariser Salons und besonders an Miß Nevil dachte. Dann erinnerte er sich der Vorwürfe seiner Schwester; und was noch korsisch in seinem Blute war, rechtfertigte diese Vorwürfe und verschärfte sie. Eine einzige Hoffnung blieb ihm in diesem Kampf zwischen seinem Gewissen und seinen Vorurteilen; es war die, unter irgendeinem Vorwande mit einem der Söhne des Advokaten einen Streit anzufangen und sich mit ihm in ein Duell einzulassen. Wenn er ihn mit einer Kugel oder einem Degenstoß tötete, so waren seine französischen und korsischen Ideen in Übereinstimmung gebracht. Als er sich mit diesem Gedanken vertraut gemacht hatte, fühlte er sich frei von großer Last, und andre Betrachtungen kamen hinzu, um seine fieberhafte Aufregung zu beruhigen. Cicero, in Verzweiflung über den Tod seiner Tochter Tullia, vergaß seinen Schmerz, indem er an alle schönen Dinge dachte, die er ihr nachrufen könne. Orso della Rebbia erfrischte sich sein Blut, indem er überlegte, wie er Miß Nevil ein Bild von seinem Seelenzustande machen könne, ein Bild, das nicht verfehle, dies schöne Wesen lebhaft für ihn einzunehmen.

Er näherte sich dem Dorfe wieder, von dem er sich unbemerkt ziemlich weit entfernt hatte, als er ein kleines Mädchen singen hörte, das sich auf einem Fußpfad am Saum der Macchia wahrscheinlich unbelauscht glaubte. Es war eine eintönige Weise, eine Totenklage.

Die Kleine sang:

Hebt für meinen Sohn, den fernen,
Sorglich auf dies Ehrenzeichen
Und mein blutigrotes Hemde . . .

Was singst du da? sagte Orso zornig, indem er herantrat.

Seid Ihr es, Orso? rief das Kind erschrocken aus. Es ist ein Lied von Fräulein Kolomba . . .

Ich verbiete dir, es zu singen! sagte Orso in furchtbarem Tone.

Die Kleine, sich rechts und links hinwendend, suchte zu fliehen, und es wäre ihr gelungen, hätte sie nicht der Wunsch zurückgehalten, ein großes Paket mitzunehmen, das man auf dem Rasen zu ihren Füßen liegen sah.

Orso schämte sich seiner Heftigkeit.

Was trägst du da, Kleine? fragte er sie so sanft wie möglich.

Da Chilina mit der Antwort zögerte, hob er die Leinwand, die das Paket bedeckte, in die Höhe, und sah, daß es Brot und andre Mundvorräte enthielt. Wohin bringst du das Brot? fragte er.

Ihr wißt es doch, Herr Orsanton. Zu meinem Oheim.

Ist dein Oheim nicht Bandit?

Zu dienen, Herr Orsanton.

Wenn die Gendarmen dich finden, werden sie dich fragen, wohin du gehst.

Ich werde ihnen sagen, daß ich den Leuten, die in der Macchia Holz hauen, das Essen bringe.

Und wenn du einen ausgehungerten Jäger fändest, der auf deine Kosten essen und dir deinen Vorrat nehmen wollte?

Das wagt keiner. Ich würde sagen, es wäre für meinen Oheim.

Gewiß, das ist kein Mann, sich sein Essen nehmen zu lassen. Liebt er dich, dein Oheim?

Sehr, Orsanton. Seitdem mein Vater tot ist, sorgt er für unsre Familie, für meine Mutter, für mich und meine kleine Schwester. Ehe meine Mutter krank war, empfahl er sie den Reichen, damit man ihr Arbeit gebe. Der Amtmann gibt mir alle Jahre ein Kleid, und der Herr Pfarrer lehrt mich den Katechismus, seitdem mein Oheim mit ihnen gesprochen hat. Aber vor allem Ihre Schwester meint es gut mit uns.

In diesem Augenblick sprang ein Hund über den Fußpfad. Das kleine Mädchen, den Finger an den Mund legend, pfiff, und sogleich kam der Hund herbei, umwedelte sie und drang dann rasch ins Gebüsch. Sogleich erhoben sich zwei wohlbewaffnete Männer hinter einem Strauch in der Entfernung einiger Schritte von Orso. Man hätte glauben mögen, sie wären wie Schlangen durch die Myrtenbüsche herangeschlichen.

O, Orsanton, seid willkommen, sagte der ältere der beiden Männer. Wie, Ihr kennt mich nicht?

Nein, sagte Orso, ihn scharf ansehend.

Es ist doch wunderlich, wie ein Bart und eine spitze Mütze einen Menschen verändern. Nun, Herr Leutnant, schaut mich einmal ordentlich an! Habt Ihr Euern alten Kameraden von Waterloo vergessen? Erinnert Ihr Euch des Brando Savelli nicht mehr, der am Unglückstage Euch zur Seite manche Patrone abgebissen hat?

Du? rief Orso. Und 1816 bist du desertiert!

So ists, Herr Leutnant! Beim Teufel, der Dienst war langweilig geworden, und dann hatte ich hier eine Rechnung zu begleichen. Haha! Chili, du bist ein braves Mädchen. Bediene uns schnell! Wir sind hungrig. Ihr habt keinen Begriff, Herr Leutnant, welchen Appetit man in einer Macchia hat. Wer schickt uns das? Fräulein Kolomba oder der Amtmann?

Die Müllerin hat mir dies für dich und die Decke für Mama gegeben.

Was will sie von mir?

Sie sagt, daß die Leute aus Lukka, die sie zur Feldarbeit in Dienst genommen hat, jetzt fünfunddreißig Sous verlangen wegen des Fiebers, das unterhalb Pietranera herrscht.

Die Faulenzer! Ich werde sehen. Ohne viel Worte: Herr Leutnant, wollt Ihr mein Mittagessen mit mir teilen? Wir haben schlechtere Mahlzeiten gehabt, dazumal, als unser großer Landsmann noch nicht abgedankt war.

Danke! Man hat mich auch abgedankt.

Ja, ich habe es gehört, aber ich wette, Ihr seid nicht betrübt darüber. Ihr habt hier auch noch eine Rechnung zu begleichen.

Auf, Pfarrer, zu Tisch! sagte der Bandit zu seinem Kameraden. Herr Orso, ich stelle Euch den Herrn Pfarrer vor, das heißt, ich weiß nicht recht, ob er Pfarrer ist, aber er ist gelehrt wie einer.

Ein armer Student der Theologie, mein Herr, sagte der Bandit, den man verhindert hat, seinem Beruf zu folgen. Wer weiß, ich hätte vielleicht Papst werden können.

Was hat die Kirche des Lichtes Eurer Weisheit beraubt? fragte Orso.

Eine kleine Rechnung, die ich zu begleichen hatte, wie Freund Brandolaccio. Eine Schwester von mir hatte eine Torheit begangen, während ich in Pisa alte Schmöker fraß. Ich mußte nach Hause zurück, um sie zu verheiraten. Aber der voreilige Bräutigam stirbt drei Tage vor meiner Ankunft. Ich wende mich also, was Ihr auch getan hättet, an den Bruder des Gestorbenen. Man sagt mir, er sei verheiratet. Was war da zu machen?

In der Tat, das war eine schwierige Sache; und was habt Ihr gemacht?

Es gibt Fälle, in denen man zum Feuerstein greifen muß.

Das heißt?

Ich jagte ihm eine Kugel in den Kopf, erklärte der Bandit kaltblütig.

Orso machte eine Bewegung des Abscheus. Aber die Neugier und vielleicht auch der Wunsch, den Augenblick, wo er heim mußte, zu verzögern, hielten ihn auf seinem Platze fest und ließen ihn die Unterhaltung mit den beiden Leuten fortsetzen, von denen jeder wenigstens einen Mord auf der Seele hatte.

Während sein Kamerad sprach, legte ihm Brandolaccio Brot und Fleisch vor. Er bediente sich selber und gab dann seinem Hunde etwas ab, den er Orso unter dem Namen Brusco vorstellte. Er habe eine wunderbare Nase, Jäger zu wittern, in jeder Verkleidung. Sodann schnitt er ein Stück rohen Schinken und Brot ab, das er seiner Nichte gab.

Welch herrliches Leben, das Banditenleben! sagte der Student der Theologie, nachdem er einige Mundvoll gegessen hatte. Ihr werdet es vielleicht dereinst selber erfahren, Herr della Rebbia, und Ihr werdet sehen, wie angenehm es ist, keinen andern Herrn als seine Laune anzuerkennen.

Bis dahin hatte sich der Bandit auf italienisch ausgedrückt; jetzt fuhr er französisch fort:

Korsika ist kein vergnügliches Land für einen jungen Mann, aber für einen Banditen, welch ein Unterschied! Die Weiber sind in uns vernarrt. So wie Ihr mich da seht, habe ich drei Liebsten in drei verschiedenen Bezirken. Ich bin überall zu Hause, und eine darunter ist die Frau eines Gendarmen.

Ihr kennt viele Sprachen? fragte Orso in ernstem Tone.

Wenn ich Französisch spreche, so hat dies seinen Grund: maxima debetur pueris reverentia. Brandolaccio und ich, wir wollen, daß die Kleine auf rechten Wegen wandle.

Wenn sie fünfzehn wird, sagte der Oheim Chilinas, will ich sie verheiraten; ich habe schon eine Partie im Auge.

Wirst du für sie werben? sagte Orso.

Gewiß. Glaubt mir, wenn ich zu einem reichen Manne des Landes sage: Ich, Brando Savelli, hätte es gern, daß Euer Sohn Michelina Savelli heirate, so wird er sich nicht lange besinnen.

Das wollte ich ihm auch geraten haben, meinte der andre Bandit. Der Kamerad hat eine etwas wuchtige Hand.

Wäre ich ein Gauner, fuhr Brandolaccio fort, ein gemeiner Kerl, dann brauchte ich nur meinen Sack zu öffnen, und es würde Fünffrankstücke hineinregnen!

In deinem Sack, sagte Orso, steckt wohl etwas, was sie herbeizieht?

Nichts; wenn ich aber einem Reichen schriebe, wie schon einige getan haben: Ich brauche hundert Franken, dann würde er sich beeilen, sie mir zu schicken. Aber, Herr Leutnant, ich bin ein Mann von Ehre.

Wißt Ihr, Herr della Rebbia, sagte der Bandit, den sein Kamerad Pfarrer nannte, wißt Ihr, daß in diesem Lande einfacher Sitten es Elende gibt, die die Achtung, die wir durch unsre Pässe (hierbei zeigte er seine Flinte) einflößen, benutzen, um Wechsel auszuschreiben, wobei sie unsre Handschrift nachmachen? Vor einem halben Jahre wandle ich in der Gegend von Orezza umher, als ein Bauer auf mich zukommt und, indem er die Mütze abnimmt, zu mir sagt: Gewährt mir Zeit, ich habe nur fünfundfünfzig Franken zusammenbringen können. Es ist alles, was ich habe. – Erstaunt frage ich: Was heißt das, du Lümmel? – Fünfundsechzig, ja, aber hundert, das ist mir unmöglich. – Was, du Narr, ich soll hundert Franken von dir verlangt haben? Ich kenne dich gar nicht. – Da übergab er mir einen Brief oder vielmehr einen schmutzigen Wisch, auf dem man ihn aufforderte, an einem bestimmten Ort hundert Franken niederzulegen, wenn er nicht sein Haus verbrannt und seine Kühe gestohlen sehen wolle, durch Giocanto Castriconi; so heiße ich. Denken Sie sich, man hatte die Unverschämtheit gehabt, meine Handschrift nachzumachen. Was mich am meisten ärgerte, war, daß der Brief in gemeinem Dialekt geschrieben war. Ich orthographische Fehler machen? Ich, der ich auf der Universität alle Preise bekommen habe? – Ich fange also damit an, dem Schafkopf eine Ohrfeige zu verabreichen, daß er sich rund umdreht. Warte, sage ich, hältst du mich für einen Dieb, du Spitzbube? und dabei gebe ich ihm einen Stoß mit dem Fuße, Ihr wißt, wohin, und füge, dadurch erleichtert, hinzu: Wann wirst du dies Geld an den bezeichneten Ort bringen? – Heute noch. – Gut, bringe es hin! – Der Platz am Fuß einer Pinie war genau angegeben. Er bringt das Geld hin, gräbt es ein und kommt wieder zu mir. Ich hatte mich in der Nähe in den Hinterhalt gelegt und wartete sechs volle Stunden. Herr della Rebbia, ich wäre da drei Tage lang geblieben, wenn es nötig gewesen wäre. Endlich erscheint einer aus Bastia, ein verruchter Wucherer. Er beugt sich, um das Geld im Empfang zu nehmen; ich gebe Feuer und hatte so gut gezielt, daß sein Kopf auf die Taler fiel, die er ausgrub. – Jetzt, du Esel, sage ich zum Bauern, nimm dein Geld zurück, und laß es dir nicht wieder einfallen, Giocanto Castriconi wegen einer Gemeinheit zu verdächtigen! Der arme Teufel sammelt verblüfft seine fünfzig, sechzig Franken und wischt sie nicht einmal ab; er bedankt sich, und ich reiche ihm zum Abschied noch einen festen Tritt. Er läuft heute noch.

Pfarrer, sagte Brandolaccio, ich beneide dich um diesen Schuß. Du hast wohl tüchtig gelacht?

Ich hatte den Bastianer an der Schläfe getroffen, und das erinnerte mich an die Verse Virgils:

Liquefacto tempora plumbo
Diffidit, ac multa porrectum extendit arena.

(. . . spaltet ihm die Schläfe mit schmelzendem Blei auseinander. Und lang in den Sand hin streckt er sich . . .)

Liquefacto! Glaubt Ihr, Herr Orso, daß eine Bleikugel durch die Geschwindigkeit, mit der sie durch die Luft fliegt, schmilzt? Ihr habt Ballistik studiert; könnt Ihr mir sagen, ob es richtig oder falsch ist?

Orso zog es vor, die physikalische Frage zu erörtern, anstatt mit dem Lizenziaten über die Moral seiner Tat zu diskutieren. Brandolaccio, dem diese wissenschaftliche Unterhaltung wenig behagte, unterbrach sie, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Sonne dem Untergang nahe war.

Da Ihr nicht mit uns speisen wollt, Orsanton, sagte er, so rate ich Euch, Fräulein Kolomba nicht länger warten zu lassen. Es taugt auch nicht, nach Sonnenuntergang noch unterwegs zu sein. Warum seid Ihr ohne Flinte ausgegangen? Es gibt schlimme Leute hier in der Gegend. Hütet Euch! Heute habt Ihr nichts zu fürchten; die Barricini holen den Präfekten ein. Er weilt einen Tag in Pietranera, ehe er in Corte einen Grundstein legt, wie man das nennt; es ist eine Dummheit. Er schläft heute bei den Barricini; aber morgen sind sie frei. Der Vincentello ist ein schlimmer Bursche, und Orlanduccio ist nicht viel besser. Sorgt dafür, daß Ihr einzeln mit ihnen zusammentrefft; heute mit dem einen, morgen mit dem andern. Ich sage Euch, seid auf der Hut!

Danke! sagte Orso. Wir haben nichts miteinander zu schaffen. Wenn sie nicht zu mir kommen, ich habe ihnen nichts zu sagen.

Der Bandit schnalzte ungläubig mit der Zunge, aber er antwortete nichts. Orso stand auf, um zu gehen.

Da fällt mir ein, sagte Brandolaccio, ich habe Euch nicht für Euer Pulver gedankt. Es ist mir sehr zustatten gekommen. Jetzt fehlt mir nichts. Doch! Es fehlen mir noch Schuhe; aber ich werde mir ein Paar aus Schafsfell machen.

Orso ließ zwei Fünffrankstücke in die Hand des Banditen gleiten.

Kolomba hat dir das Pulver geschickt. Hier hast du etwas, um dir Schuhe zu kaufen.

Keine Dummheiten, Herr Leutnant! rief Brandolaccio, indem er ihm die zwei Geldstücke zurückgab. Haltet Ihr mich für einen Bettler? Ich nehme das Brot und das Pulver, aber ich will nichts andres.

Alte Soldaten, denke ich, dürften einander schon helfen. Lebt wohl!

Ehe er fortging, steckte er unbemerkt das Geld in den Sack des Banditen.

Lebt wohl, Orsantonio! sagte der Theologe. Wir treffen uns vielleicht einen dieser Tage in der Macchia wieder, und da können wir unsre Virgilstudien fortsetzen.

Orso hatte seine ehrenwerten Landsleute seit einer Viertelstunde verlassen, als er einen Mann eilig hinter sich herlaufen hörte. Es war Brandolaccio.

Das ist unerhört, Herr Leutnant, unerhört! rief er außer Atem. Da sind Eure zehn Franken! Von einem andern hätte ich den Spaß nicht so hingenommen. Meine Komplimente an Fräulein Kolomba. Ihr habt mich ganz außer Atem gebracht. Lebt wohl!

XII

Orso traf Kolomba etwas unruhig wegen seiner langen Abwesenheit; aber als sie ihn wiedersah, hatte sie aufs neue ihre gewöhnliche Miene trauernder Heiterkeit angenommen. Während des Abendessens sprachen sie nur von gleichgültigen Dingen, und Orso, ermutigt durch die ruhige Art seiner Schwester, erzählte ihr sein Zusammentreffen mit den Banditen und wagte sogar einige Scherze über die fromme und moralische Erziehung, die die kleine Chilina durch die Sorge ihres Oheims und seines ehrenwerten Genossen, des Herrn Castriconi, erhielt.

Brandolaccio ist ein Ehrenmann, sagte Kolomba; aber was Castriconi anbetrifft, so habe ich gehört, daß er ein Mensch ohne Grundsätze ist.

Ich glaube, daß sie beide einander nichts nachgeben. Beide liegen mit der Gesellschaft im offnen Krieg. Ein erstes Verbrechen führt sie zu immer neuen Verbrechen, und doch sind sie vielleicht nicht so schuldig wie viele Leute, die nicht in der Macchia wohnen.

Ein Freudenstrahl glänzte auf der Stirn seiner Schwester.

Ja, fuhr Orso fort, diese Elenden haben ihre eigene Ehre. Ein grausames Vorurteil, keine niedrige Habgier hat sie in das Leben geworfen, das sie führen.

Es folgte ein Augenblick Stillschweigens.

Lieber Bruder, sagte sie dann, indem sie ihm Kaffee einschenkte, du weißt vielleicht, daß Carlo Battista Pietri in der vergangnen Nacht gestorben ist. Am Sumpffieber.

Wer ist dieser Pietri?

Ein Mann aus unserm Ort. Er war mit der Madalena verheiratet, die das Merkbuch unsers sterbenden Vaters in Empfang genommen hat. Seine Witwe hat mich gebeten, bei der Totenwache zugegen zu sein und etwas zu singen. Du mußt auch mitkommen. Es sind unsre Nachbarn, und wir dürfen ihnen den kleinen Dienst nicht abschlagen.

Zum Teufel mit der Totenwache, Kolomba! Ich liebe es nicht, daß meine Schwester sich aller Welt zum Schauspiel darbietet.

Orso, sagte Kolomba, jeder ehrt seine Toten auf seine Weise. Der Vocero ist uns von unsern Vorfahren überkommen, und wir müssen den uralten Brauch ehren. Madalena hat nicht die Gabe, und die alte Fiordispina, die beste Voceratrice des Landes, ist krank. Es muß also sein!

Glaubst du, daß Carlo Battista nicht seinen Weg in die andre Welt findet, wenn man an seiner Bahre keine schlechten Verse singt? Gehe zur Totenwache, wenn du willst! Ich werde mit dir gehen, wenn es nötig ist; aber singe nicht aus dem Stegreif! In deinem Alter ist das unpassend. Ich bitte dich, Schwester, tue es nicht!

Lieber Bruder, ich habe es versprochen. Das ist hier so Sitte, und ich bin die einzige, die es kann.

Alberne Sitte!

Ich leide beim Singen. Es ruft mir all unser Unglück zurück. Morgen werde ich krank davon sein; aber es ist nötig. Erlaube mir es, lieber Bruder! Erinnere dich nur, daß du mich in Ajaccio aufgefordert hast, es zu tun, um jenes englische Fräulein zu unterhalten, das sich über unsre alten Gebräuche lustig machte. Soll ich es jetzt nicht für arme Leute tun, die mir Dank wissen werden, und denen es helfen wird, ihren Kummer zu ertragen?

Nun, tu was du willst! Ich wette, du hast den Vocero schon gedichtet, und es soll nicht umsonst geschehen sein.

Nein, Bruder, so etwas kann ich zum voraus nicht dichten. Ich stelle mich vor den Toten hin und denke an die, die zurückbleiben. Tränen stürzen mir ins Auge, und dann singe ich, was mir in den Sinn kommt.

Alles das war mit einer solchen Einfachheit gesagt, daß man nicht die geringste Dichtereitelkeit bei ihr voraussetzen konnte. Orso ließ sich erweichen und ging mit der Schwester zum Hause Pietris.

Der Tote lag mit enthülltem Gesicht im größten Zimmer des Hauses auf einem Tische. Türen und Fenster standen offen, und mehrere Kerzen brannten auf dem Tisch. Zu Häupten des Toten stand seine Witwe, und hinter ihr nahmen eine Menge Frauen eine ganze Seite des Zimmers ein; an der andern standen die Männer barhaupt, das Auge auf die Leiche gerichtet, in tiefem Schweigen. Jeder neue Besucher küßte den Toten, machte seiner Witwe und seinem Sohne eine Verbeugung und stellte sich dann in den Kreis.

Von Zeit zu Zeit unterbrach einer der Anwesenden das feierliche Schweigen, um an den Gestorbenen einige Worte zu richten.

Warum hast du dein gutes Weib verlassen? sagte eine Gevatterin. Sorgte sie nicht für dich? Was fehlte dir? Warum hast du nicht gewartet? Deine Schwiegertochter hätte dir einen Enkel geschenkt.

Ein großer junger Mann, Pietris Sohn, drückte die Hand seines Vaters und sagte: Warum bist du nicht eines gewaltsamen Todes gestorben? Dann würden wir dich zu rächen haben.

Das waren die ersten Worte, die Orso hörte, als er eintrat. Bei seinem Anblick öffnete sich der Kreis, und leises Gemurmel verkündete die Neugier der Versammlung, die durch die Gegenwart der Voceratrice geweckt ward. Kolomba umarmte die Witwe, faßte ihre Hand und stand einige Minuten sich sammelnd mit niedergeschlagenen Augen da. Dann warf sie ihren Mezzaro zurück, sah den Toten fest an und begann, ihr Antlitz, bleich wie das des Toten, über ihn geneigt, in folgender Weise:

Ruhe denn, Karlo Battista,
Ruh in unsers Heilands Gnade!
Fort aus diesem Jammertale
Schweb empor zu lichter Höhe,
Wo dich weder Sommerschwüle
Noch der Frost des Winters quält!

Lege deine scharfe Sichel,
Deiner Hacke Bürde nieder!
Nach dem langen Tagewerke
Ist dir ewge Rast beschieden,
Und ein jeder deiner Tage
Wird fortan zum Feiertag.

Ausgedorrt vom Wüstenwinde,
Sank die Eiche krachend nieder;
Und schon wähnt ich sie erstorben.
Aber als ich wiederkehrte,
Sieh, da sproß aus ihrer Wurzel
Schon ein junges Reis hervor.

Sei getrost, o Madalena,
Denn es herrscht dein Sohn im Hause!
Jener Sproß gedieh zum Baume.
Unterm Schutz der starken Äste
Magst du wohlgeborgen schlummern:
Träume vom gefallnen Stamm!

Hier fing Madalena laut zu schluchzen an, und zwei oder drei Männer, die bei Gelegenheit ebenso kaltblütig auf Christen wie auf Rebhühner geschossen hätten, wischten sich dicke Tränen von ihrer braunen Wange.

Kolomba fuhr in obiger Weise eine Zeitlang fort, indem sie sich bald an den Toten, bald an seine Familie wandte, bald mit einer im Vocero gewöhnlichen Wendung den Toten selber sprechen und seinen Freunden Trost oder Rat spenden ließ.

Während sie so improvisierte, gewann ihr Gesicht einen erhabenen Ausdruck; ihre Gesichtsfarbe wurde ein durchsichtiges Rosenrot, bei dem der Glanz ihrer Zähne und das Feuer ihrer sich erweiternden Augäpfel nur noch heller leuchtete. Es war die Pythia auf ihrem Dreifuß. Außer einigen erstickten Seufzern hörte man keinen Laut in der Menge, die sich um sie drängte. Obgleich weniger empfänglich für diese wilde Poesie, fühlte sich Orso bald von der allgemeinen Erregung mit fortgerissen. Verborgen in einem dunklen Winkel des Saals weinte er, wie der Sohn Pietris weinte.

Plötzlich ließ sich eine leichte Bewegung im Zuhörerkreise vernehmen. Er öffnete sich, und mehrere Fremde traten ein. An der Rücksicht, die man ihnen bewies, an dem Eifer, mit dem man ihnen Platz machte, war erkennbar, daß es vornehme Leute waren, deren Besuch das Haus in hohem Grade ehrte. Indes aus Rücksicht auf den Vocero richtete niemand das Wort an sie. Der, der zuerst eintrat, war etwa vierzig Jahre alt. Sein schwarzer Rock, sein rotes Band im Knopfloch, die Amtsmiene voll Selbstbewußtsein, alles das ließ sogleich den Präfekten erraten. Hinter ihm kam ein gebeugter Greis mit schwarzgalligem Teint, der seinen schüchternen, unruhigen Blick nur schlecht hinter seiner Brille verbarg. Er hatte einen Rock an, der für ihn zu weit war, und der, obgleich nagelneu, augenscheinlich mehrere Jahre vorher gemacht war. Immer dem Präfekten zur Seite, machte es den Eindruck, als wolle er sich unter seinem Schatten verbergen.

Hinter ihm traten zwei hochgewachsene junge Männer ein mit sonnenverbranntem Gesicht und Backen, die von einem dicken Bart umschattet waren. Das Auge stolz und anmaßend, verrieten sie unverschämte Neugier. Orso hatte alle Zeit gehabt, die Physiognomien der Leute seines Dorfes zu vergessen, aber der Anblick des Greises mit grüner Brille erweckte in seinem Geiste alte Erinnerungen. Sein Erscheinen im Gefolge des Präfekten ließ ihn sogleich erkennen. Es war der Advokat Barricini, der Amtmann von Pietranera, der mit seinen beiden Söhnen gekommen war, um dem Präfekten das Schauspiel eines Vocero zu bieten. Es wäre schwer zu bestimmen, was in diesem Augenblick in Orsos Seele vorging; aber die Gegenwart des Feindes seines Vaters erweckte ihm eine Art Schrecken und Abscheu, und mehr als je fühlte er sich dem Verdachte zugänglich, den er lange bekämpft hatte.

Kolombas unbewegliches Antlitz bekam beim Anblicke des Mannes, dem sie tödlichen Haß geschworen hatte, einen unheimlichen Ausdruck. Sie erblaßte, ihre Stimme ward rauh, der Vers erlosch auf ihren Lippen; aber bald begann sie von neuem ihren Vocero und fuhr mit steigender Heftigkeit fort:

Wenn vor seinem leeren Neste
Stumm der edle Sperber trauert,
Flattern Stare her in Scharen
Und verhöhnen seinen Schmerz . . .
Doch er rafft sich auf, der Sperber,
Schwebt empor auf weiten Flügeln.
Ebenso, Karlo Battista,
Mögen dich die Freunde lassen.
Tränen sind genug geflossen;
Sagt das letzte Lebewohl!
Auch die Waise darf nicht weinen.
Warum sollte sie denn jammern?
Hochbetagt bist du entschlafen,
Sanft im Kreise deiner Lieben,
Wohlbereit, vor Gott zu treten.
Eins nur, eins beklagt die Waise:
Daß den Vater feige Mörder
Aus dem Hinterhalt erschossen.
Doch sein Blut vom roten Rasen
Hat die Waise aufgefangen,
Und dies Blut, das edle reine,
Goß sie über Pietranera:
Tödlich Gift mag es verbreiten!
Eher soll der Fluch nicht weichen
Von den Hütten dieses Ortes,
Bis mit schuldgem Blut des reinen
Blutes letzte Spur gelöscht.

Bei den Schlußworten sank Kolomba auf einen Stuhl. Sie zog ihren Mezzaro übers Gesicht, und man hörte sie schluchzen.

Weinend drängten sich die Frauen um die Voceratrice.

Hier hörte man ein ersticktes Gelächter. Es waren die vor kurzem angekommenen jungen Herren, die ohne Zweifel die Metapher zu kühn fanden.

Mehrere Männer warfen wütende Blicke auf den Amtmann und seine Söhne; einige Greise murrten gegen den Skandal, den sie durch ihre Gegenwart hervorgerufen hatten. Der Sohn des Gestorbenen drängte sich durch die Menge und schickte sich an, den Amtmann zu bitten, er möge den Platz so schnell wie möglich räumen; aber dieser hatte auf die Aufforderung nicht gewartet. Er schritt zur Tür, und seine beiden Söhne waren schon auf der Straße. Der Präfekt richtete einige Worte der Beileidsbezeigung an den jungen Pietri und folgte ihnen sogleich. Orso näherte sich seiner Schwester, faßte sie beim Arm und zog sie aus dem Saal.

Begleitet sie! rief der junge Pietri einigen seiner Freunde zu. Sorgt dafür, daß ihnen nichts zustößt!

Zwei oder drei junge Leute steckten rasch ihren Dolch in den linken Ärmel ihres Wamses und begleiteten Orso und seine Schwester bis an die Tür ihres Hauses.

XIII

Schluchzend und erschöpft, war Kolomba nicht imstande, ein einziges Wort hervorzubringen. Ihr Haupt an die Schulter ihres Bruders lehnend, drückte sie seine Hand in die ihrige. Obgleich er ihr wegen ihres Vortrags schlechten Dank wußte, war Orso doch zu beunruhigt, um ihr Vorwürfe zu machen. Er erwartete schweigend das Ende des Nervenschocks, dem sie verfallen war, als man an die Tür klopfte und Saveria ganz außer sich hereintrat und sagte: Der Herr Präfekt!

Bei diesem Namen erhob sich Kolomba, sich ihrer Schwäche schämend, stand aufrecht und sich auf einen Stuhl stützend, der unter ihrem Drucke zitterte.

Der Präfekt begann mit einigen banalen Entschuldigungen über die unpassende Stunde seines Besuches, beklagte Fräulein Kolomba, sprach von der Gefahr starker Gemütsbewegung, beklagte die Sitte der Totenklage, die durch eine begabte Voceratrice nur noch peinlicher für die Zuhörer gemacht werde, und ließ gewandt einen leichten Tadel über die Tendenz der letzten Improvisation entschlüpfen. Dann veränderte er seinen Ton und sagte:

Herr della Rebbia, ich bin mit vielen Komplimenten für Sie von Ihren englischen Freunden beauftragt. Miß Nevil läßt Ihrer Schwester die freundschaftlichsten Grüße sagen. Ich habe Ihnen einen Brief von ihr zu übergeben. Leider habe ich ihn nicht bei mir.

Ein Brief von Miß Nevil? rief Orso aus.

Sie sollen ihn in fünf Minuten haben. Ihr Vater ist leidend gewesen. Wir haben einen Augenblick gefürchtet, er bekäme eines unsrer schrecklichen Fieber. Zum Glück ist er jetzt außer Gefahr, und Sie werden es selber sehen, denn in kurzem wird er hier sein, glaube ich.

Miß Nevil muß sehr beunruhigt gewesen sein?

Glücklicherweise hat sie die Gefahr erst erkannt, als sie schon vorüber war. Herr della Rebbia, Miß Nevil hat mir viel von Ihnen und Ihrer Fräulein Schwester erzählt.

Orso verbeugte sich.

Sie hat viel Freundschaft für Sie beide. Unter einem anmutigen Äußeren, unter einer gewissen Leichtlebigkeit verbirgt sie viel Verstand.

Sie ist eine entzückende junge Dame, sagte Orso.

Fast auf ihre Anregung komme ich hierher. Niemand kennt besser als ich eine fatale Geschichte, an die ich lieber nicht gezwungen sein möchte Sie zu erinnern. Da Herr Barricini noch Amtmann von Pietranera ist und ich Präfekt dieses Departements bin, brauche ich Ihnen die Wichtigkeit nicht auseinanderzusetzen, die für mich ein gewisser Verdacht hat, den, wenn ich recht unterrichtet bin, gewisse Personen bei Ihnen angeregt haben, und den Sie, ich weiß es, mit dem Unwillen, den man von Ihrer Stellung und Ihrem Charakter erwarten konnte, zurückgewiesen haben.

Kolomba, sagte Orso, auf seinem Stuhle hin- und herrückend, du bist sehr müde, du solltest zu Bett gehen.

Kolomba machte ein verneinendes Zeichen mit dem Kopfe; sie hatte ihre gewohnte Ruhe wiedergewonnen und heftete ihre brennenden Augen auf den Präfekten.

Herr Barricini, fuhr der Präfekt fort, wünscht sehr, daß diese Art Feindschaft, das heißt dies unsichere Verhältnis, in dem Sie zueinander stehen, aufhören möge . . . Was mich anbetrifft, so würde es mich sehr freuen, wenn Sie mit ihm Beziehungen anknüpften, wie sie zwischen Leuten, die einander achten müssen, bestehen.

Herr Präfekt, antwortete Orso mit bewegter Stimme, ich habe niemals den Advokaten Barricini angeklagt, meinen Vater ermordet zu haben, aber er hat eine Handlung begangen, die mich immer abhalten wird, irgendeine Beziehung zu ihm zu haben. Er hat einen Drohbrief im Namen eines Banditen als von meinem Vater kommend angesehen oder ihm wenigstens in verhüllten Worten zugeschrieben. Dieser Brief ist wahrscheinlich die mittelbare Veranlassung zu seinem Tode gewesen.

Der Präfekt schwieg einen Augenblick; sodann sagte er:

Daß Ihr Herr Vater es geglaubt hat, als er, hingerissen von der Lebhaftigkeit seines Charakters, gegen Herrn Barricini Prozeß führte, ist verzeihlich, aber auf Ihrer Seite ist eine irrige Meinung nicht erlaubt. Bedenken Sie doch, daß er gar kein Interesse hatte, anzunehmen, daß dieser Brief . . . Ich spreche Ihnen nicht von seinem Charakter. Sie kennen ihn nicht; Sie sind gegen ihn eingenommen . . . aber Sie werden doch nicht annehmen, daß ein rechtskundiger Mann . . .

Herr Präfekt, sagte Orso aufstehend, bedenken Sie doch: wenn Sie mir sagen, daß dieser Brief nicht von Barricini ist, so schreiben Sie ihn meinem Vater zu. Seine Ehre, mein Herr, ist die meinige.

Niemand, fuhr der Präfekt fort, ist mehr von der Ehre des Obersten della Rebbia überzeugt als ich . . . zumal . . . der Verfasser des Briefes jetzt bekannt ist . . .

Wer war es? rief Kolomba, auf den Präfekten zutretend.

Ein Elender, der mehrerer Verbrechen schuldig ist, und zwar solcher Verbrechen, wie Ihr Korsen sie nicht verzeiht, – ein Dieb, ein gewisser Tomaso Bianchi, der jetzt im Gefängnisse von Bastia sitzt, hat ausgesagt, daß er der Urheber jenes unheilvollen Briefes sei.

Ich kenne den Mann nicht, sagte Orso. Was wäre der Zweck dabei gewesen?

Es ist ein Mann aus unsrer Gegend, Bruder eines früheren Müllers von uns. Es ist ein Bösewicht und ein Lügner, nicht würdig, daß man ihm glaube, sagte Kolomba.

Der Präfekt fuhr fort:

Sie werden bald das Interesse begreifen, das er an der Sache hatte. Der Müller, von dem Ihre Fräulein Schwester spricht, ich glaube, er hieß Theodor, hatte eine Mühle vom Obersten gemietet, die an dem Bache lag, dessen Besitz Herr Barricini Ihrem Vater streitig machte. Der Oberst, großmütig wie er war, zog fast keinen Nutzen aus der Mühle. Tomaso hat nun geglaubt, daß, wenn Herr Barricini den Bach bekäme, er ihm eine beträchtliche Miete bezahlen müßte, denn man weiß, daß Barricini das Geld sehr liebt. Kurz, um seinem Bruder verbindlich zu sein, hat Tomaso den falschen Brief des Banditen geschrieben. Das ist die ganze Geschichte. Sie wissen, daß die Familienbande in Korsika sehr mächtig sind und mitunter zum Verbrechen führen. Nehmen Sie gefälligst Einsicht von diesem Briefe, den der Staatsanwalt mir schreibt; er wird das, was ich Ihnen eben gesagt habe, bestätigen.

Orso durchlief den Brief, der im einzelnen die Geständnisse Tomasos bestätigte, und Kolomba las über der Schulter ihres Bruders mit.

Als sie geendigt hatte, rief sie aus:

Orlanduccio Barricini ist vor einem Monat nach Bastia gereist, als man erfahren hat, daß mein Bruder wiederkäme. Er wird den Tomaso gesehen und ihm diese Lüge abgekauft haben.

Mademoiselle, sagte der Präfekt ungeduldig werdend, Sie erklären alles durch gehässige Voraussetzungen. Ist das ein Mittel, die Wahrheit zu entdecken? Sie, Herr della Rebbia, Sie sind bei kaltem Blute. Sagen Sie mir, was denken Sie jetzt? Glauben Sie, daß einer, der nur eine ziemlich leichte Strafe zu erwarten hat, sich leichten Herzens mit einer Fälschung belasten wird, um sich jemandem zu verpflichten, den er nicht kennt?

Orso las den Brief des Staatsanwalts noch einmal, indem er jedes Wort mit äußerster Aufmerksamkeit erwog, denn seit er den Advokaten Barricini gesehen hatte, fühlte er, daß er schwerer zu überzeugen sein werde als einige Tage vorher. Endlich sah er sich doch gezwungen zu gestehen, daß die Erklärung ihm genügend erschiene. Aber Kolomba rief mit Nachdruck aus:

Tomaso ist ein Schurke. Er wird nicht verurteilt werden, oder er wird aus dem Gefängnis entkommen. Dessen bin ich gewiß.

Der Präfekt zuckte mit den Achseln.

Ich habe Ihnen, Herr della Rebbia, sagte er, die Aufschlüsse, die ich erhalten habe, mitgeteilt. Ich ziehe mich zurück und überlasse Sie Ihren Betrachtungen. Ich werde warten, bis Ihre Einsicht Sie aufgeklärt hat, und ich hoffe, sie wird stärker sein – als die Vermutungen Ihrer Fräulein Schwester.

Nachdem er einige Worte zur Entschuldigung Kolombas vorgebracht, wiederholte Orso, daß er jetzt den Tomaso für allein schuldig halte.

Der Präfekt war aufgestanden, um hinauszugehen. Wenn es nicht so spät wäre, sagte er, so würde ich Sie bitten, mit mir zu kommen und den Brief von Miß Nevil in Empfang zu nehmen . . . Bei selbiger Gelegenheit könnten Sie dem Herrn Barricini sagen, was Sie mir sagen, und alles wäre zu Ende.

Nie wird Orso della Rebbia ins Haus eines Barricini treten, rief Kolomba ungestüm aus.

Mademoiselle ist der Tintinajo (Leithammel) der Familie, wie es scheint, sagte der Präfekt mit spöttischer Miene.

Herr Präfekt, sagte Kolomba in festem Tone, man täuscht Sie. Sie kennen den Advokaten nicht. Es ist der durchtriebenste Mensch, den es gibt. Ich beschwöre Sie, lassen Sie meinen Bruder keine Handlung begehen, die ihn mit Schmach bedecken würde.

Kolomba, sagte Orso, die Leidenschaft macht dich irre.

Orso, Orso, bei dem Kästchen, das ich dir übergeben habe, beschwöre ich dich, höre mich an! Zwischen uns und den Barricini ist Blut! Gehe nicht zu ihnen!

Schwester!

Nein, lieber Bruder, gehe nicht! Oder ich verlasse dies Haus und werde dich nie wiedersehen. Orso, habe Mitleid mit mir!

Und sie fiel ihm zu Füßen.

Es tut mir leid, sagte der Präfekt, Fräulein della Rebbia so wenig vernünftig zu sehen. Sie werden sie, hoffe ich, überzeugen.

Er öffnete die Tür und blieb stehen, in der Hoffnung, Orso werde ihm folgen.

Ich kann sie jetzt nicht verlassen, sagte er. Morgen, wenn . . .

Ich reise früh ab, sagte der Präfekt.

Warte wenigstens bis morgen! flehte Kolomba, die Hände faltend. Laß mich die Papiere meines Vaters noch einmal durchsehen. Das kannst du mir nicht abschlagen.

Gut! Du sollst sie heute abend sehen, dann aber sollst du mich nicht mehr mit diesem zügellosen Hasse quälen . . . Verzeihung, Herr Präfekt! Ich fühle mich selbst unwohl. Es ist besser morgen.

Die Nacht bringt Rat, sagte der Präfekt, indem er sich zurückzog. Ich hoffe, morgen hat Ihre Unentschlossenheit aufgehört.

Saveria, rief Kolomba, nimm die Laterne und begleite den Herrn Präfekten! Er wird dir einen Brief für meinen Bruder mitgeben.

Sie fügte einige Worte hinzu, die diese allein hörte.

Kolomba, sagte Orso, als der Präfekt fort war, du hast mir viel Kummer gemacht. Willst du dich dem Augenschein verschließen?

Du hast mir nur bis morgen Frist gegeben. Die Zeit ist kurz, aber ich hoffe noch . . .

Dann nahm sie einen Schlüsselbund und eilte in ein Zimmer des Oberstocks. Da hörte man, wie sie Schubkästen aufriß und in einem Schreibpult herumsuchte, in das der Oberst della Rebbia seine wichtigsten Papiere einzuschließen pflegte.

Saveria ließ lange auf sich warten, und Orsos Ungeduld war aufs höchste gestiegen, als Kolomba endlich erschien, begleitet von der kleinen Chilina, die sich die Augen rieb, denn sie war aus dem ersten Schlaf geweckt worden.

Kind, was willst du hier zu dieser Stunde?

Mademoiselle verlangt nach mir.

Was, Teufel, will sie mit der? dachte Orso. Aber er beeilte sich, den Brief der Miß Lydia zu öffnen, und während er las, stieg Chilina zu seiner Schwester hinauf.

Mein Vater, so schrieb Miß Lydia, ist etwas leidend gewesen; übrigens ist er auch so faul im Schreiben, daß ich gezwungen bin, ihm als Sekretär zu dienen. Neulich, wie Sie wissen, hat er sich an der Seeküste nasse Füße geholt, statt mit uns die Landschaft zu bewundern, und das genügt, um sich auf Ihrer scharmanten Insel das Fieber zu holen. Ich sehe im Geiste, was Sie für ein Gesicht machen. Sie suchen gewiß Ihren Dolch, aber ich hoffe, Sie haben keinen mehr. Also, mein Vater hat etwas Fieber und ich habe etwas Schrecken gehabt. Der Präfekt, den ich nach wie vor sehr liebenswürdig finde, hat uns einen gleichfalls sehr liebenswürdigen Arzt verschafft, der uns in zwei Tagen aus der Not geholfen hat. Das Fieber ist nicht wieder gekommen, und mein Vater will wieder auf die Jagd, aber ich verbiete es ihm noch.

Wie haben Sie Ihr Bergschloß gefunden? Steht Ihr Nordturm noch an derselben Stelle? Sind Gespenster darin? Ich frage danach, weil mein Vater sich erinnert, daß Sie ihm Damhirsche, Wildschweine und wilde Schafe versprochen haben. Auf unsrer Reise nach Bastia haben wir die Absicht, Ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen, und ich hoffe, daß das Schloß della Rebbia, das Sie als so alt und verfallen schildern, nicht über unsern Köpfen zusammenstürzen wird. Obgleich der Präfekt so liebenswürdig ist, daß es einem bei ihm nie an Unterhaltungsstoff fehlt, – by the by, ich schmeichle mir doch, ihm den Kopf verdreht zu haben, – haben wir auch von Eurer Hoheit gesprochen. Die Leute des Gerichtes von Bastia haben ihm gewisse Enthüllungen über einen Spitzbuben, den sie unter Schloß und Riegel haben, mitgeteilt, die der Art sind, daß Sie Ihren Verdacht beseitigen müssen. Ihre Feindschaft, die mich mitunter beunruhigte, muß von nun an aufhören. Sie haben gar keinen Begriff davon, wie mich das freut. Als Sie mit der schönen Voceratrice, das Gewehr in der Hand, düsteren Blickes davonzogen, sind Sie mir korsischer denn je vorgekommen, sogar zu korsisch. Basta! Ich schreibe Ihnen so weitläufig, weil ich mich langweile. Der Präfekt reist ab, leider. Wir werden Ihnen eine Botschaft senden, wenn wir uns nach Ihren Bergen hin in Bewegung setzen; und ich werde an Fräulein Kolomba schreiben, sie um einen Bruccio zu bitten, mein Leibgericht. Sagen Sie ihr tausend Grüße! Ich benutze ihren Dolch viel; ich schneide damit die Blätter eines Romans auf, den ich mitgebracht habe; aber der furchtbare Stahl ärgert sich über den unwürdigen Gebrauch, den ich davon mache, und zerreißt mein Buch aufs kläglichste. Leben Sie wohl, Herr della Rebbia! Mein Vater sendet Ihnen his best love. Hören Sie auf den Präfekten! Er ist ein Mann, der einen guten Rat zu geben vermag, und er macht, ich glaube Ihretwegen, einen Umweg. Er will in Bastia einen Grundstein legen; das muß, denke ich mir, eine erhebende Feier sein, und es tut mir leid, daß ich nicht dabei sein kann. Ein Herr in Gala, der eine Maurerkelle hält – und eine Rede vollführt! Die Zeremonie wird mit einem tausendfachen: Es lebe der König! schließen.

Sie werden sehr eitel werden, daß ich für Sie vier Seiten vollgeschrieben habe, aber, Herr della Rebbia, ich wiederhole es Ihnen, ich langweile mich, und aus diesem Grunde erlaube ich Ihnen, mir einen langen Brief zu schreiben. Da fällt mir ein, ich finde es sonderbar, daß Sie mir Ihre glückliche Ankunft in Pietranera-Castle noch nicht gemeldet haben.

Lydia

Nachschrift. Ich bitte Sie, auf den Präfekten zu hören und das zu tun, was er Ihnen raten wird. Wir sind übereingekommen, daß dies das richtige ist, und mir wird es Freude machen.

Orso las drei- oder viermal diesen Brief, indem er innerlich die Lektüre mit einem Kommentar begleitete. Dann schrieb er eine lange Antwort, die er einem Manne aus dem Dorfe, der noch in der Nacht nach Ajaccio abging, übergeben ließ. Er dachte schon nicht mehr daran, mit seiner Schwester über die Feindseligkeiten der Barricini zu reden; der Brief Lydias ließ ihn alles in rosigem Lichte erscheinen. Er hatte weder Verdacht noch Haß.

Nachdem er einige Zeit vergebens auf die Wiederkehr seiner Schwester gewartet hatte, legte er sich schlafen, leichteren Herzens als seit lange.

Während sie Chilina mit geheimem Auftrage weggeschickt hatte, brachte Kolomba den größeren Teil der Nacht damit hin, in alten Papieren herumzustöbern.

Etwas vor Tagesanbruch wurden kleine Kieselsteine an ihr Fenster geworfen. Auf dies Zeichen stieg sie zum Garten hinab, öffnete eine verborgene Tür und ließ zwei Männer von schlimmem Aussehen ins Haus treten. Ihre erste Sorge war, sie in die Küche zu führen und ihnen zu essen zu geben.

Kapitelnumerierung ab hier fehlerhaft im Buch.

XV

Gegen sechs Uhr morgens klopfte ein Diener des Präfekten an Orsos Haus. Von Kolomba empfangen, sagte er ihr, der Präfekt wolle abreisen und erwarte ihren Bruder. Ohne zu zaudern, antwortete Kolomba, ihr Bruder sei auf der Treppe gefallen und habe sich den Fuß verstaucht. Da er somit nicht imstande sei, einen Schritt zu tun, bäte er den Herrn Präfekten, ihn zu entschuldigen; er werde sich freuen, wenn er bei ihm vorkommen wolle. Bald darauf erschien Orso und fragte seine Schwester, ob der Präfekt ihn nicht habe rufen lassen.

Er bittet dich, ihn hier zu erwarten, sagte sie mit der größten Sicherheit.

Eine halbe Stunde verfloß, ohne daß man die geringste Bewegung im Hause Barricini bemerkte. Orso fragte indes Kolomba, ob sie eine Entdeckung gemacht habe; sie erwiderte, sie würde sich vor dem Präfekten erklären. Sie stellte sich sehr ruhig, aber Farbe und Augen verkündeten ihre fieberhafte Aufregung.

Endlich sah man die Tür des Hauses Barricini sich öffnen; der Präfekt im Reiseanzug trat zuerst heraus, begleitet vom Amtmanne und seinen beiden Söhnen.

Wie groß war das Erstaunen der Bewohner von Pietranera, als sie, seit Sonnenaufgang lauernd, um der Abreise des ersten Beamten des Departements beizuwohnen, ihn mit den drei Barricinis über den Platz in grader Richtung auf das Haus della Rebbia zugehen und dort eintreten sahen.

Sie machen Frieden! meinten die Politiker des Dorfes.

Ich habe es dir wohl gesagt, fügte ein Greis hinzu. Orsanton hat zu lange auf dem Festlande gelebt, als daß er wie ein Held handelte.

Also seht doch! antwortete ein Rebbianer. Bemerkt Ihr, daß die Barricinis zu ihm gehen? Sie bitten um Gnade.

Der Präfekt hat sie alle herumgekriegt, erwiderte der Greis. Heutzutage hat man keinen Mut mehr, und die jungen Leute kümmern sich so wenig um das Blut ihrer Väter als wenn sie alle Bastarde wären.

Der Präfekt war nicht wenig erstaunt, Orso aufrecht stehend zu finden. Mit zwei Worten beschuldigte sich Kolomba der Lüge und bat dafür um Verzeihung.

Wenn Sie anderswo gewohnt hätten, Herr Präfekt, sagte sie, hätte mein Bruder Ihnen schon gestern seine Aufwartung gemacht.

Orso erschöpfte sich in Entschuldigungen und beteuerte, daß er von dieser törichten List, die ihm sehr unangenehm sei, nichts gewußt habe.

Der Präfekt und der alte Barricini schienen der Aufrichtigkeit seines Bedauerns Glauben zu schenken; sie sahen ja, wie er seiner Schwester Vorwürfe machte. Aber die Söhne des Amtmannes waren nicht zufriedengestellt.

Man macht sich über uns lustig, sagte Orlanduccio laut genug, um gehört zu werden.

Wenn meine Schwester mir solche Streiche spielte, sagte Vincentello, würde ich ihr ein für allemal meine Meinung sagen.

Diese Worte und der Ton, in dem sie gesprochen wurden, mißfielen Orso und störten seine gutwillige Stimmung. Er wechselte mit den jungen Barricinis Blicke, in denen sich kein Wohlwollen zeigte. Indes alle setzten sich mit Ausnahme Kolombas, die nahe bei der Küchentür aufrecht stehenblieb.

Der Präfekt nahm das Wort, und nach einigen Gemeinplätzen über die Vorurteile des Landes wies er darauf hin, daß die allerschlimmsten Feindschaften oft nur auf einem Mißverständnis beruhten. Sodann wendete er sich zum Amtmanne und sagte ihm, Herr della Rebbia habe nie geglaubt, daß die Familie Barricini mittelbar und unmittelbar mit dem beklagenswerten Ereignis verknüpft sei, das ihn seines Vaters beraubt habe, daß er in der Tat einige Zweifel hege hinsichtlich eines Punktes im Prozesse, der zwischen den beiden Familien bestanden habe, daß er aber, aufgeklärt durch die neulichen Enthüllungen, nunmehr vollständig befriedigt sei und von dem Wunsche beseelt, mit Herrn Barricini und seinen Söhnen in gute freundschaftliche und nachbarliche Beziehungen zu treten. Orso verbeugte sich etwas steif. Herr Barricini brachte einige Worte vor, die niemand verstand; seine Söhne betrachteten die Balken der Zimmerdecke.

Der Präfekt fuhr zu reden fort, und war im Begriff, das Gegenstück zu dem, was er dem Herrn Barricini gesagt hatte, dem Orso zu sagen, als Kolomba unter ihrem Halstuch einige Papiere hervorzog und sich zwischen die beiden Parteien stellte.

Mit lebhaftem Vergnügen, sagte sie, würde ich den Krieg zwischen unseren beiden Familien enden sehen; aber damit die Versöhnung aufrichtig sei, muß man sich erklären und nichts im Zweifel lassen . . . Herr Amtmann, die Aussage des Tomaso Bianchi war mir aus guten Gründen verdächtig, da sie von einem so verrufenen Menschen kam. Ich habe gesagt, Ihr Sohn könnte diesen Menschen vielleicht im Gefängnis von Bastia gesehen haben.

Das ist falsch, erwiderte Orlanduccio. Ich habe ihn nicht gesehen.

Kolomba warf ihm einen verächtlichen Blick zu und fuhr mit scheinbarer Ruhe fort:

Sie haben das Interesse, das Tomaso haben konnte, Herrn Barricini im Namen eines gefährlichen Banditen zu bedrohen, aus dem Wunsche erklärt, er wolle seinem Bruder Theodor die Mühle, die mein Vater ihm zu niedrigem Preis überließ, bewahren?

Das ist klar, sagte der Präfekt.

Einem Lumpen von der Sorte dieses Bianchi ist alles zuzutrauen, sagte Orso, der sich durch die Haltung seiner Schwester täuschen ließ.

Der gefälschte Brief, fuhr Kolomba fort, und ihre Augen leuchteten in hellerem Glanze, ist vom 11. Juli datiert. Tomaso war damals bei seinem Bruder in der Mühle.

Das ist richtig, sagte der Amtmann, etwas beunruhigt.

Welches Interesse hatte also Tomaso Bianchi? rief Kolomba triumphierend aus. Der Vertrag seines Bruders war abgelaufen; mein Vater hatte ihn am 1. Juli gekündigt. Hier ist das Geschäftstagebuch meines Vaters, der Entwurf der Kündigung, der Brief eines Agenten in Ajaccio, der uns einen neuen Müller vorschlägt.

Mit diesen Worten überreichte sie dem Präfekten die Papiere, die sie in Händen hielt.

Einen Augenblick herrschte allgemeines Staunen. Der Amtmann erblaßte zusehends. Orso zog die Augenbrauen zusammen und trat vor, um die Papiere einzusehen, die der Präfekt mit vieler Aufmerksamkeit las.

Man macht sich über uns lustig, rief Orlanduccio von neuem, indem er zornig aufstand. Laß uns gehen, Vater! wir hätten nie hierher kommen sollen.

Ein Augenblick genügte dem Barricini, um seine Kaltblütigkeit wieder zu gewinnen. Er bat, die Papiere untersuchen zu dürfen. Der Präfekt überreichte sie ihm, ohne ein Wort zu sagen. Indem er dann seine grüne Brille auf die Stirn schob, durchlief er sie mit ziemlich gleichgültiger Miene, während Kolomba ihn mit den Augen einer Tigerin betrachtete, die einen Damhirsch sich der Höhle ihrer Jungen nahen sieht.

Hm, sagte Herr Barricini, indem er seine Brille wieder herabzog und dem Präfekten die Papiere zurückgab, im Vertrauen auf die Güte des verstorbenen Obersten hat Tomaso gedacht und denken müssen, daß der Oberst von seinem Entschluß, ihn zu verabschieden, wieder abgehen werde . . . In der Tat, er ist im Besitz der Mühle geblieben; also . . .

Ich habe sie ihm gelassen, sagte Kolomba voller Verachtung. Da mein Vater tot war, mußte ich in meiner Lage die Schützlinge meiner Familie schonen.

Gleichwohl, sagte der Präfekt, dieser Tomaso erkennt an, daß er den Brief geschrieben hat. Das steht fest.

Was für mich feststeht, unterbrach ihn Orso, ist, daß hinter dieser ganzen Geschichte eine große Infamie steckt!

Ich habe noch einer Behauptung dieser Herren zu widersprechen, sagte Kolomba.

Sie öffnete die Tür zur Küche, und es traten in den Saal Brandolaccio, der Lizentiat der Theologie, und der Hund Brusco. Die beiden Banditen waren wenigstens anscheinend unbewaffnet; sie hatten ihre Patronentasche am Gürtel hängen, aber keine Pistole, die sonst ihr gewöhnlicher Begleiter ist. Wie sie in den Saal traten, nahmen sie respektsvoll ihre Mützen ab.

Man kann sich die Wirkung denken, die ihr plötzliches Erscheinen hervorrief. Der Amtmann fiel beinahe zu Boden; seine Söhne stellten sich tapfer vor ihm auf und griffen nach ihrem Dolch in die Tasche. Der Präfekt wandte sich zur Tür, während Orso, den Brandolaccio beim Kragen fassend, ihm zurief:

Was willst du hier, Elender?

Das ist Verrat, rief der Amtmann aus, indem er die Tür zu öffnen suchte.

Aber Saveria hatte sie von innen zugeschlossen, und zwar auf Befehl der beiden Banditen, wie man später erfuhr.

Liebe Leute, sagte Brandolaccio, habt keine Furcht vor mir, ich bin kein solcher Teufel, wie ich aussehe. Wir haben keine böse Absicht. Herr Präfekt, ich bin Ihr ergebenster Diener . . . Herr Oberleutnant, sachte, sachte! Sie erdrosseln mich. Wir erscheinen hier als Zeugen. Auf, sprich, Pfarrer! Du hast ein gutes Mundwerk.

Herr Präfekt, sagte der Lizentiat, ich habe nicht die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein. Ich heiße Giocanto Castriconi, bekannter unter dem Namen Pfarrer . . . Aha, jetzt kennen Sie mich! Mademoiselle, die ich nicht das Glück hatte zu kennen, hat mich bitten lassen, ihr einige Auskunft über einen gewissen Tomaso Bianchi zu geben, mit dem ich vor drei Wochen im Gefängnisse zu Bastia gesessen habe. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist folgendes . . .

Geben Sie sich keine Mühe! sagte der Präfekt. Ich habe von einem Manne wie Sie nichts zu hören. Herr della Rebbia, ich will gern glauben, daß Sie mit diesem schändlichen Komplott nichts zu schaffen haben. Aber Sie sind der Herr des Hauses. Lassen Sie die Tür öffnen! Ihr Fräulein Schwester dürfte Rechenschaft abzulegen haben über die wunderbaren Beziehungen, in denen sie zu Banditen steht.

Herr Präfekt, rief Kolomba, hören Sie, was dieser Mann sagen wird! Sie sind hier, um allen Gerechtigkeit zu erweisen, und Ihre Pflicht ist es, der Wahrheit nachzuforschen. Sprecht, Giocanto Castriconi!

Hören Sie ihn nicht! riefen im Chor die drei Barricini aus.

Wenn alle auf einmal sprechen, sagte der Bandit lächelnd, dann kann man sich nicht verständigen. Im Gefängnis also hatte ich zum Gefährten, nicht zum Freunde, besagten Tomaso. Er empfing häufige Besuche von Herrn Orlanduccio . . .

Das ist unwahr! riefen beide Brüder zugleich.

Zwei Verneinungen kommen einer Bejahung gleich, bemerkte Castriconi kaltblütig. Tomaso hatte Geld. Er aß und trank aufs beste. Ich habe immer eine gute Mahlzeit geliebt (das ist nicht mein größter Fehler), und trotz meines Widerwillens, mit diesem Schurken zu verkehren, ließ ich mich mehrmals zum Essen mit ihm verleiten. Aus Erkenntlichkeit schlug ich ihm vor, mit mir auszubrechen. Eine kleine Freundin, der ich eine Gefälligkeit erwiesen habe, hatte mir die Mittel dazu geboten . . . doch, ich will niemanden kompromittieren. Tomaso wollte jedoch nicht. Er sagte, daß er seiner Sache sicher wäre, daß der Advokat Barricini ihn allen Richtern empfohlen habe, daß er weiß wie Schnee aus der Sache hervorgehen werde, und mit Geld in der Tasche. Was mich anbetrifft, so hielt ich es für passend, das Weite zu suchen. Dixi.

Alles, was der Mensch da sagt, wiederholte Orlanduccio entschlossen, sind lauter Lügen. Wenn wir auf freiem Felde wären, jeder mit seiner Flinte, würde er nicht so sprechen.

Das ist eine Dummheit! rief Brandolaccio. Verfeinden Sie sich lieber nicht mit dem Pfarrer, Orlanduccio!

Werden Sie mich endlich hinauslassen, Herr della Rebbia? sagte der Präfekt, vor Ungeduld mit den Füßen stampfend.

Saveria, Saveria! rief Orso. Bei allen Teufeln, öffne die Tür!

Einen Augenblick! sagte Brandolaccio. Wir müssen uns erst fortmachen. Herr Präfekt, es ist Sitte, wenn man sich bei gemeinschaftlichen Freunden trifft, sich beim Abschied eine halbe Stunde Waffenstillstand zu gönnen.

Der Präfekt warf ihm einen Blick der Verachtung zu.

Ihr Diener, geehrte Gesellschaft! sagte Brandolaccio. Dann streckte er seinen Arm wagrecht aus und sagte: Allons, Brusco, springe für den Herrn Präfekten!

Der Hund sprang; die Banditen nahmen eilig ihre Waffen in der Küche zusammen und flohen durch den Garten, und auf einen Pfiff öffnete sich die Tür wie durch einen Zauber.

Herr Barricini, sagte Orso in verhaltener Wut, ich halte Sie für einen Fälscher. Heute noch werde ich meine Klage gegen Sie dem Staatsanwalt übersenden, wegen Fälschung und Mitwisserschaft mit Bianchi. Vielleicht werde ich noch eine furchtbarere Klage gegen Sie zu führen haben.

Und ich, Herr della Rebbia, sagte der Amtmann, werde Sie wegen verräterischer Nachstellung und Einverständnis mit Banditen anklagen. Bis dahin wird der Herr Präfekt Sie der Gendarmerie empfehlen.

Der Präfekt wird seine Pflicht tun, sagte dieser mit strengem Tone. Er wird dafür sorgen, daß die Ruhe in Pietranera nicht weiter gestört werden wird; er wird dafür sorgen, daß die Gerechtigkeit aufrechterhalten wird. Ich spreche mit Ihnen allen, meine Herren.

Der Amtmann und Vincentello waren schon außerhalb des Saals, und Orlanduccio folgte ihnen, als Orso ihm leise sagte:

Ihr Vater ist ein alter Mann, den ich mit einer Ohrfeige zu Boden werfen würde, deshalb stelle ich Ihnen und Ihrem Bruder je eine in Aussicht.

Statt einer Antwort zog Orlanduccio seinen Dolch und warf sich wie wütend auf Orso; aber ehe er von seiner Waffe Gebrauch machen konnte, faßte ihn Kolomba beim Arm, den sie umdrehte, während Orso ihm einen Faustschlag ins Gesicht gab und ihn einige Schritte rückwärts gegen den Türrahmen stieß. Der Dolch entglitt der Hand Orlanduccios, aber Vincentello hatte den seinigen in der Hand und trat ins Zimmer zurück, als Kolomba, auf eine Flinte zustürzend, ihm bewies, daß der Kampf ein ungleicher wäre. Jetzt warf sich auch der Präfekt zwischen die Kämpfenden.

Auf demnächst, Orsanton! rief Orlanduccio, und indem er heftig die Tür des Saales zuwarf, verschloß er sie von außen, um sich Zeit zum Rückzug zu verschaffen.

Orso und der Präfekt blieben eine Viertelstunde beisammen, ohne miteinander zu reden, jeder in einer Ecke des Saales. Kolomba, den Stolz des Triumphs auf der Stirn, betrachtete sie wechselweise, indem sie sich auf die Flinte stützte, die den Sieg entschieden hatte.

Welch ein Land, welch ein Land! rief endlich der Präfekt aus, indem er sich stürmisch erhob. Herr della Rebbia, Sie haben unrecht gehabt. Ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Sie sich aller Gewaltsamkeit enthalten und warten, bis das Gericht in dieser vermaledeiten Angelegenheit entschieden hat.

Ja, Herr Präfekt, ich habe unrecht gehabt, diesen Elenden zu schlagen, und ich kann ihm die Satisfaktion, die er von mir verlangen wird, nicht versagen.

Nein, er will sich nicht mit Ihnen schlagen. Aber, wenn er Sie ermordet? Sie haben alles Nötige dazu getan.

Davor wollen wir uns hüten, sagte Kolomba.

Orlanduccio, sagte Orso, scheint mir ein Mann von Mut, und ich habe eine bessere Meinung von ihm, Herr Präfekt. Er ist rasch bei der Hand gewesen, seinen Dolch zu ziehen, aber an seiner Stelle hätte ich es vielleicht ebenso gemacht, und ich freue mich, daß meine Schwester keine zarte Damenhand hat.

Sie werden sich nicht schlagen! rief der Präfekt. Ich verbiete es Ihnen.

Erlauben Sie mir, Herr Präfekt, Ihnen zu sagen, daß ich im Ehrenpunkt keine andre Autorität anerkenne als die meines Gewissens.

Ich sage Ihnen, Sie werden sich nicht schlagen.

Sie können mich arretieren lassen, Herr Präfekt, das heißt, wenn ich mich fangen lasse. Wenn Sie es aber auch täten, so würden Sie damit eine Sache, die jetzt unvermeidlich ist, nur aufschieben. Sie sind ein Mann von Ehre, Herr Präfekt, und Sie wissen sehr wohl, daß es nicht anders sein kann.

Wenn Sie meinen Bruder festnehmen ließen, fügte Kolomba hinzu, dann würde die Hälfte des Dorfes seine Partei ergreifen, und wir würden ein nettes Scharmützel erleben.

Ich sage Ihnen im voraus, Herr Präfekt, erklärte Orso, und ich bitte Sie, zu glauben, daß es keine Großsprecherei ist: mißbraucht Herr Barricini seine Macht als Amtmann, um mich festzunehmen, so werde ich mich zur Wehr setzen.

Vom heutigen Tage an, sagte der Präfekt, ist Herr Barricini seines Amtes enthoben. Er wird sich rechtfertigen, hoffe ich . . . Sehen Sie, Herr della Rebbia, ich nehme Anteil an Ihnen. Was ich von Ihnen verlange, ist nur ein Geringes. Bleiben Sie bis zu meiner Rückkehr aus Corte ruhig zu Hause. Ich werde nur drei Tage abwesend sein. Ich werde mit dem Staatsanwalt zurückkommen, und dann wollen wir diese traurige Sache in Ordnung bringen. Versprechen Sie mir, bis dahin jede Feindseligkeit beiseite zu lassen?

Ich kann es nicht versprechen, Herr Präfekt, wenn, wie ich vermute, Orlanduccio mich herausfordert.

Herr della Rebbia, Sie, ein französischer Offizier, Sie wollen sich mit einem Manne schlagen, den Sie eines Falsums verdächtigen?

Ich habe ihn geschlagen, Herr Präfekt.

Aber wenn Sie einen Galeerensklaven geschlagen hätten, und er Sie deshalb zur Rede stellte, würden Sie sich mit ihm schlagen, Herr Orso? – Nun, ich verlange noch weniger. Suchen Sie Orlanduccio nicht auf! Ich erlaube Ihnen, sich zu schlagen, wenn er ein Rendezvous von Ihnen verlangt.

Er wird es verlangen; ich zweifle nicht daran! Aber ich verspreche Ihnen, ihm keine zweite Ohrfeige zu geben, um ihn zu einem Duell zu zwingen.

Welch ein Land! wiederholte der Präfekt, mit großen Schritten das Zimmer durchmessend. Wann kehre ich nach Frankreich zurück?

Herr Präfekt, sagte Kolomba mit ihrer sanftesten Stimme, es wird spät; möchten Sie uns nicht die Ehre erweisen, hier zu frühstücken?

Der Präfekt mußte lachen.

Ich bin schon zu lange hier gewesen; das sähe wie Parteilichkeit aus. Und der vermaledeite Grundstein. Ich muß fort. Fräulein della Rebbia, wieviel Unglück haben Sie wohl heute zuwege gebracht!

Herr Präfekt, wollen Sie wenigstens meiner Schwester die Gerechtigkeit erweisen, zu glauben, daß ihr Verdacht aus voller Überzeugung hervorgegangen ist; und ich möchte meinen, Herr Präfekt, Sie selber werden kaum noch im Zweifel sein.

Leben Sie wohl, Herr della Rebbia! sagte der Präfekt, ihm mit der Hand zum Abschiede zuwinkend. Ich werde dem Kapitän der Gendarmerie Befehl geben, alle Ihre Schritte zu bewachen.

Als der Präfekt fort war, sagte Kolomba:

Orso, du bist hier nicht auf dem Festlande. Orlanduccio versteht nichts von euren Duellen. Übrigens darf dieser Elende auch nicht als Ehrenmann fallen.

Kolomba, meine Gute, du bist eine starkes Weib. Ich bin dir sehr verbunden, daß du mich vor einem Messerstich gerettet hast. Gib mir deine kleine Hand, daß ich sie küsse. Aber, siehst du, laß mich machen! Es gibt gewisse Dinge, die du nicht verstehst. Gib mir zu frühstücken, und sobald der Präfekt unterwegs ist, laß mir die kleine Chilina kommen, die sich der Aufträge, die man ihr gibt, offenbar vortrefflich zu entledigen weiß. Sie soll mir einen Brief besorgen.

Während Kolomba das Frühstück bereitete, ging Orso in seine Kammer und schrieb folgenden Brief:

Es muß Sie drängen, mit mir zusammenzutreffen; mich drängt es gleichfalls. Morgen um sechs Uhr können wir uns im Tal von Aquaviva treffen. Ich bin im Pistolenschießen geschickt und schlage Ihnen diese Waffe nicht vor. Man sagt, daß Sie gut mit der Flinte schießen; lassen Sie uns jeder eine doppelläufige Flinte nehmen. Wenn Ihr Bruder Sie begleiten will, nehmen Sie einen zweiten Zeugen, und lassen Sie mich es wissen. Nur in diesem Falle werde ich zwei Zeugen nehmen.

Orso Antonio della Rebbia

Der Präfekt, nachdem er eine Stunde beim Adjunkt des Amtmanns verweilt hatte und noch für einige Minuten bei den Barricinis eingetreten war, reiste nach Corte ab, von einem einzigen Gendarmen begleitet. Chilina überbrachte Orsos Brief.

Die Antwort kam erst am Abend. Sie war unterzeichnet: M. Barricini, Vater. Er meldete darin dem Orso, daß er den Brief voll Drohungen gegen seinen Sohn dem Staatsanwalt übergeben werde. Stark in meinem Gewissen, fügte er am Schluß hinzu, warte ich, bis das Gericht über Ihre Verleumdungen ein Urteil gesprochen.

Mittlerweile kamen fünf bis sechs Schäfer, die Kolomba herbeigerufen hatte, um sich als Besatzung in den Turm der della Rebbias zu legen. Trotz Orsos Widerstreben machte man Archere in die Fenster, die auf den Platz gingen, und er empfing den ganzen Abend Dienstanerbietungen von verschiedenen Personen des Dorfes. Er bekam sogar einen Brief vom theologischen Banditen, der in seinem und in Brandolaccios Namen versprach, sich ins Zeug zu legen, falls der Amtmann sich von der Gendarmerie unterstützen ließe.

Er schloß mit folgender Nachschrift: Darf ich Sie fragen, was der Herr Präfekt von der vortrefflichen Erziehung denkt, die mein Freund dem Hunde Brusco gibt? Nächst Chilina kenne ich keinen Schüler, der gelehriger wäre und glücklichere Anlagen zeigte.

XVI

Der folgende Tag ging ohne Feindseligkeiten vorüber. Von beiden Seiten hielt man sich in der Defensive. Orso ging nicht aus seinem Hause, und das der Barricini war fortwährend geschlossen. Man sah die fünf Gendarmen, die in Pietranera belassen waren, auf dem Platz und in der Umgebung des Dorfes streifen, in Begleitung des Flurschützen, der die Ortsgarnison vorstellte. Der Adjunkt legte seine Schärpe nicht ab; aber außer den Archere an den Fenstern beider Häuser kündigte nichts den Krieg an. Nur einem Korsen wäre es aufgefallen, daß man auf dem Platz und unter der Eiche nichts denn Weiber sah.

Zur Stunde der Abendmahlzeit zeigte Kolomba mit heiterer Miene ihrem Bruder folgenden Brief, den sie von Miß Nevil erhalten hatte:

Meine liebe Mademoiselle Kolomba, ich erfahre mit vielem Vergnügen aus einem Briefe Ihres Bruders, daß Ihr Familienzwist zu Ende ist. Empfangen Sie meinen Glückwunsch hierzu. Mein Vater hält es in Ajaccio nicht mehr aus, seitdem Ihr Bruder nicht mehr da ist, um über Krieg zu sprechen und mit ihm zu jagen. Wir reisen heute ab und werden bei Ihrer Verwandten, für die Sie uns einen Brief gegeben haben, die Nacht zubringen. Übermorgen gegen elf Uhr werde ich kommen und Sie um den Genuß eines Bruccio der Berge bitten, der, wie Sie behaupten, so viel besser ist als einer der Stadt. Auf Wiedersehen, teure Mademoiselle Kolomba!

Ihre Freundin

Lydia Nevil

Also hat sie meinen zweiten Brief nicht erhalten, rief Orso aus.

Du siehst aus dem Datum des ihrigen, daß Miß Lydia schon unterwegs sein mußte, als dein Brief nach Ajaccio gelangt ist. Du hast ihr wohl geschrieben, sie solle nicht kommen?

Ich sagte ihr, daß wir im Belagerungszustande wären; meiner Ansicht ist das keine Lage, in der man Besuch empfängt.

Ach was! Diese Engländer sind wunderliche Menschen. Sie sagte mir in der letzten Nacht, die ich in ihrem Zimmer zubrachte, es solle ihr leid tun, wenn sie Korsika verlassen müsse, ohne eine regelrechte Vendetta mitangesehen zu haben. Wenn du wolltest, Orso, könnte man ihr das Schauspiel eines Angriffs gegen das Haus unsrer Feinde darbieten.

Weißt du wohl, sagte Orso, daß die Natur unrecht gehabt hat, aus dir ein Weib zu machen? Du wärst ein vortrefflicher Soldat geworden.

Vielleicht. Auf alle Fälle will ich aber meinen Bruccio zubereiten.

Das ist unnütz. Man muß ihnen jemanden entgegenschicken, der sie anhält, ehe sie sich auf den Weg machen.

Willst du bei diesem Wetter einen Boten absenden, damit ein geschwollener Waldbach ihn samt dem Briefe fortreißt? Wie beklage ich die armen Banditen; zum Glück haben sie gute Piloni. (Das sind dicke Kapuzenmäntel.) Weißt du, Orso, was wir tun müssen? Wenn der Sturm aufhört, machst du dich in aller Frühe auf, so daß du bei unsrer Tante bist, ehe sie sich auf den Weg gemacht haben. Das wird leicht sein, denn Miß Lydia steht spät auf. Du erzählst ihnen, was sich bei uns ereignet hat. Wenn sie trotzdem kommen wollten, würde es uns Freude machen.

Orso stimmte diesem Vorschlage bei, und Kolomba sagte nach einer Pause:

Du glaubst vielleicht, Orso, daß ich scherzte, als ich dir von einem Angriff gegen das Haus der Barricini sprach. Weißt du, daß wir in Übermacht, zwei gegen einen, sind? Seitdem der Präfekt den Amtmann seines Amtes enthoben hat, ist hier alles für uns. Wir könnten sie zusammenhauen. Die Sache wäre leicht zu machen. Wenn du einverstanden bist, gehe ich an den Brunnen und mache mich über ihre Weiber lustig. Sie werden herauskommen. Vielleicht. Aber sie sind so feig. Vielleicht auch schießen sie durch ihre Archere auf mich. Treffen werden sie mich nicht. Dann ist die Sache in Ordnung; dann sind sie die Angreifer. Desto schlimmer für die Besiegten. Wer kann in einem Scharmützel die herausfinden, die einen guten Schuß getan haben? Glaube mir, Orso, die Schwarzröcke werden viel Papier verschmieren und viel unnütze Worte vorbringen. Es wird zu nichts führen. Der alte Fuchs wird Mittel finden, ihnen ein X für ein U vorzumachen. Ja, wenn der Präfekt sich nicht vor Vincentello hingestellt hätte, wäre wenigstens einer weniger da.

Das alles wurde mit derselben Kaltblütigkeit, die sie soeben gehabt hatte, als sie von der Zubereitung des Bruccio sprach, vorgebracht.

Ganz bestürzt sah Orso seine Schwester mit einer Bewunderung an, in die sich Sorge mischte.

Sanfte Kolomba, sagte er, indem er vom Tisch aufstand, du bist, fürchte ich, der Teufel in persona. Wenn es mir nicht gelingt, die Barricinis hängen zu lassen, will ich schon in andrer Weise mit ihnen fertig werden. Heiße Kugel oder kaltes Eisen! Du siehst, daß ich das Korsische nicht verlernt habe.

Je schneller, je besser! sagte Kolomba seufzend. Welches Pferd willst du morgen reiten, Orsanton?

Das schwarze. Warum fragst du danach?

Weil ich ihm Gerste geben will.

Nachdem Orso in seine Kammer gegangen war, schickte Kolomba Saveria und die Schäfer fort, damit sie sich niederlegten, und blieb allein in der Küche, wo der Bruccio auf dem Herde stand.

Von Zeit zu Zeit horchte sie auf; offenbar wartete sie ungeduldig, daß ihr Bruder sich niederlege. Als sie ihn endlich eingeschlafen glaubte, nahm sie ein Messer, versuchte, ob es schneidig wäre, steckte ihre kleinen Füße in plumpe Schuhe und ging, ohne das geringste Geräusch zu machen, in den Garten. Dieser war von Mauern umschlossen und stieß an ein ziemlich großes eingehegtes Stück Land, in das man die Pferde stellte, denn die korsischen Pferde kennen keinen Stall. Gewöhnlich jagt man sie in ein Feld und überläßt es ihrem Instinkt, sich Nahrung zu suchen und sich gegen Kälte und Regen zu schützen. Kolomba öffnete vorsichtig die Gartentür, trat in die Verzäunung und rief leise pfeifend die Pferde herbei, denen sie oft Brot und Salz gab. Sobald das schwarze Pferd in ihre Nähe kam, faßte sie es bei der Mähne und schnitt ihm mit ihrem Messer ins Ohr. Das Pferd machte einen gewaltigen Sprung und rannte mit einem wilden Schrei davon. Befriedigt kehrte Kolomba in den Garten zurück, als Orso das Fenster öffnete und rief: Wer da?

Zu gleicher Zeit hörte sie, wie er den Hahn seiner Flinte spannte. Zum Glück für sie war die Tür des Gartens völlig in Dunkelheit gehüllt, und ein großer Feigenbaum bedeckte sie zum Teil. An dem flackernden Lichtschimmer, den sie in seinem Zimmer bemerkte, erkannte sie, daß er seine Lampe anzuzünden suchte. Sie schloß eilig die Gartentür und gelangte, sich an der Mauer hinschleichend, wobei ihre schwarze Kleidung mit den dunklen Blättern des Spaliers in eins verschmolz, einige Minuten eher in die Küche, als Orso dort erschien.

Was gibt's? fragte sie ihn.

Es kam mir vor, sagte Orso, als sei die Gartentür geöffnet worden.

Unmöglich! Der Hund hätte gebellt. Aber wir wollen sehen.

Orso ging durch den Garten, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die äußere Tür gut verschlossen war, schickte er sich, ein wenig beschämt über seine falsche Beunruhigung, an, sein Zimmer wieder aufzusuchen.

Lieber Bruder, sagte Kolomba, es freut mich zu sehen, daß du vorsichtig wirst, wie man es in deiner Lage sein muß.

Du erziehst mich! erwiderte Orso. Gute Nacht!

Am folgenden Morgen war Orso beim ersten Tagesschimmer aufgestanden und zur Abreise bereit. Sein Kostüm verriet Anspruch auf die Eleganz eines Mannes, der sich vor einer Dame zeigen will, der er gefallen möchte, aber auch zugleich die Vorsicht eines Korsen bei der Vendetta. Über einem enganschließenden blauen Rock trug er eine kleine Blechbüchse voller Patronen, an einer seidnen Schnur über der Brust; sein Dolch steckte in einer Seitentasche, und in der Hand hielt er sein schönes Mantongewehr, mit Kugeln geladen.

Während er eilig eine Tasse Kaffee, die Kolomba ihm einschenkte, trank, ging ein Schäfer hinaus, um das Pferd zu satteln. Orso und seine Schwester folgten ihm auf dem Fuß und traten in die Verzäunung. Der Schäfer hatte sich des Pferdes bemächtigt, aber plötzlich Sattel und Zaum vor Schreck fallen lassen, denn das Pferd erinnerte sich offenbar der in der Nacht erhaltenen Wunde und fürchtete eine zweite für sein andres Ohr. Es stieg und bockte, wieherte, tobte und machte die tollsten Sprünge.

Rasch, eile dich! rief Orso.

Seht, seht, Orsanton! rief der Schäfer und erging sich in endlosen Flüchen und Verwünschungen.

Was ist denn los? fragte Kolomba.

Alle näherten sich dem Tiere, und da sie es am zerschnittenen Ohr bluten sahen, erhob sich ein allgemeines Geschrei des Unwillens. Man muß nämlich wissen, daß für einen Korsen die Verwundung seines Pferdes zugleich Rache, Herausforderung und Todesdrohung bedeutet. Nur ein Flintenschuß kann eine solche Tat sühnen. Obgleich Orso, weil er lange auf dem Festlande gelebt hatte, weniger als ein andrer das ganze Maß dieser Beleidigung empfand, so ist es doch wahrscheinlich, daß, wenn ihm in diesem Augenblick ein Barricinianer übern Weg gelaufen wäre, er ihn augenblicklich eine solche Beleidigung hätte büßen lassen.

Die feigen Schurken! rief er aus. Sich so an einem armen Tier zu rächen, während sie es nicht wagen, mir entgegenzutreten!

Was warten wir noch? rief Kolomba ungestüm. Sie fordern uns heraus, verstümmeln unsre Pferde, und wir sollten ihnen nicht antworten? Seid Ihr Männer?

Rache! riefen die Schäfer. Wir wollen das Pferd im Dorfe umherführen und ihr Haus stürmen.

Es ist da eine mit Stroh gedeckte Scheune, die an ihren Turm stößt, sagte der alte Polo Griffo. Im Handumdrehen stecke ich sie in Brand.

Ein andrer schlug vor, man solle die Kirchturmleitern holen; ein dritter, man solle die Türen des Hauses Barricini mit einem Balken, der, zu einem Bau bestimmt, auf dem Platze lag, einstoßen. Mitten in diesem wilden Geschrei hörte man Kolombas Stimme, die ihren Parteigängern verkündigte, daß, ehe sie ans Werk gingen, jeder von ihr ein großes Glas Anisette bekommen solle.

Unglücklicher- oder vielmehr glücklicherweise war die Wirkung, die sie sich von ihrer Grausamkeit gegen das arme Tier versprochen hatte, für Orso zum großen Teil verloren. Er zweifelte nicht, daß die bösartige Verstümmelung die Tat eines seiner Feinde wäre. Er hatte den Orlanduccio besonders in Verdacht; aber er verstand nicht, wie dieser junge Mann, den er herausgefordert und geschlagen hatte, seine Schmach dadurch habe auslöschen wollen, daß er das Ohr eines Pferdes zerschnitt. Im Gegenteil, diese niedrige, lächerliche Rache vermehrte seine Verachtung der Gegner, und er dachte jetzt wie der Präfekt, solche Leute verdienten gar nicht, daß man sich mit ihnen messe. Sobald er sich vernehmlich machen konnte, erklärte er seinen bestürzten Anhängern, sie sollten ihren kriegerischen Plänen entsagen; die Justiz, die binnen kurzem erscheinen werde, habe das Ohr seines Pferdes zu rächen.

Ich bin hier der Herr, fügte er mit strengem Ton hinzu, und verlange, daß man mir gehorche. Der erste, der es sich einfallen läßt, von Mord und Brand zu sprechen, den könnte ich selbst brennen und töten. Auf, man bringe mir meinen Grauschimmel!

Kolomba zog Orso beiseite. Was, du duldest, daß man uns beleidigt? Zu Lebzeiten unsers Vaters hätten die Barricini niemals gewagt, uns unsre Pferde zu verwunden.

Sie sollen es bereuen! Aber es ist Sache der Gendarmen und der Gefängniswärter, diese Schufte am Kragen zu nehmen, die nur Mut gegen Tiere haben. Ich habe dir's gesagt, die Justiz wird mich an ihnen rächen. Geschieht dies nicht, dann sollst du mich daran erinnern, daß ich der Sohn . . .

Geduld! sagte sich Kolomba seufzend.

Merke dir wohl, liebe Schwester, fuhr Orso fort, wenn ich bei meiner Rückkehr finde, daß man eine Demonstration gegen die Barricini gemacht hat, werde ich es nicht verzeihen. Und in sanfterem Tone fügte er hinzu: Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß ich mit dem Obersten und seiner Tochter zurückkomme. Sorge dafür, daß ihre Zimmer in Ordnung sind und mache das Frühstück gut, damit unsre Gäste hier so wenig schlecht wie möglich aufgehoben sind. Es ist etwas Schönes, Kolomba, Mut zu haben, aber ein Weib muß auch ein Haus in Ordnung halten. Komm, küsse mich, sei verständig! Sieh, da ist ja der Graue schon gesattelt!

Orso, sagte Kolomba, du sollst nicht allein fort.

Ich brauche niemanden, erwiderte Orso, und ich verspreche dir, daß ich mir nicht das Ohr werde abschneiden lassen.

O, ich werde dich nie in Kriegszeiten allein gehen lassen. Halloh! Polo Griffo! Gian Francia! Memmo! Nehmt Eure Flinten zur Hand! Ihr sollt meinen Bruder begleiten.

Nach einer ziemlich lebhaften Erörterung mußte Orso darein willigen, sich von einer Eskorte begleiten zu lassen. Er wählte unter seinen Schäfern die temperamentvollsten aus, die, welche am lautesten geraten hatten, den Kampf zu beginnen, und machte sich, nachdem er seiner Schwester und den zurückbleibenden Schäfern seine Ermahnung wiederholt hatte, auf den Weg, indem er diesmal auf einem Seitenwege das Haus der Barricini mied.

Schon waren sie weit von Pietranera und marschierten in großer Eile, als beim Übergang über einen Bach, der sich in einem Sumpfe verlor, der alte Polo mehrere Schweine bemerkte, die behaglich im Kote lagen und sich gleichzeitig des Sonnenscheins und des frischen Wassers erfreuten. Er zielte auf das dickste und tötete es auf der Stelle, indem er ihm eine Kugel in den Kopf schoß. Die Kameraden des Toten machten sich auf die Beine, flohen mit erstaunlicher Raschheit und verbargen sich in einem Gebüsch, obgleich noch ein andrer Schäfer auf sie schoß.

Ihr Schafsköpfe! rief Orso. Ihr nehmt Schweine für Eber.

Nein, sagte Polo, aber diese Herde gehört dem Advokaten, und wir wollen ihn lehren, unsre Pferde zu verstümmeln.

Was, ihr Schurken, rief Orso wütend aus, Ihr ahmt die Schufterei unsrer Feinde nach? Fort, ihr Elenden! Ihr seid nur gut dazu, Euch mit Schweinen zu schlagen. Ich schwöre Euch bei Gott, wenn Ihr wagt, mir weiter zu folgen, so schlage ich Euch die Schädel ein.

Die beiden Schäfer sahen einander bestürzt an. Orso gab seinem Pferde die Sporen und ritt im Galopp davon.

Schön, sagte Griffo, nun liebe man noch die Leute, damit sie einen so behandeln. Der Oberst, sein Vater, ist böse auf dich gewesen, weil du einmal auf den Advokaten gezielt hast . . . Dummkopf, nicht zu schießen! Und der Sohn? Du siehst, was ich für ihn getan habe. Er sagt, er wolle mir den Schädel einschlagen, wie man es mit einer Feldflasche macht, die den Wein nicht mehr hält. So was lernt man auf dem Festlande, Memmo!

Ja, wenn man erfährt, daß du dies Schwein getötet hast, wird man dir den Prozeß machen, und dann wird Orsanton weder für dich mit den Richtern sprechen noch den Advokaten bezahlen. Zum Glück hat dich niemand gesehen, und die heilige Nega wird dich schon aus der Sache ziehen.

Nach kurzer Beratung kamen die beiden Schäfer zu dem Schluß, daß es das Gescheiteste wäre, das Schwein in ein Sumpfloch zu werfen, ein Plan, den sie ausführten, nachdem natürlich jeder einige Bratenstücke von dem unschuldigen Opfer des Hasses der della Rebbia und der Barricini abgeschnitten hatte.

XVII

Seiner unbotmäßigen Begleitung entledigt, setzte Orso seinen Weg fort, mehr mit der Freude beschäftigt, Miß Nevil wiederzusehen, als mit der Furcht, seinen Feinden zu begegnen.

Der Prozeß, den ich mit diesen elenden Barricinis haben werde, sagte er sich, wird mich zwingen, nach Bastia zu gehen. Warum sollte ich nicht Miß Nevil dahin begleiten? Warum könnten wir nicht zusammen in die Bäder von Orezza gehen?

Plötzlich riefen seine Kindheitserinnerungen ihm diese malerische Gegend zurück. Er glaubte sich auf einen grünen Wiesenplan versetzt am Fuß hundertjähriger Kastanienbäume. Auf einem Rasen hellschimmernder Gräser, bestreut mit blauen Blumen, die den Augen glichen, die ihm zulächelten, sah er Miß Lydia neben sich sitzen. Sie hatte ihren Hut abgenommen, und ihr Haar, feiner und sanfter als Seide, strahlte wie Gold in der Sonne. Ihre Augen, von reinem Blau, erschienen ihm blauer als das Firmament. Die Wange auf eine Hand gestützt, horchte sie gedankenvoll auf die Worte der Liebe, die er ihr zitternd zuflüsterte. Sie trug das Musselinkleid, das sie am letzten Tage getragen, als er sie in Ajaccio gesehen. Unter den Falten dieses Kleides schlüpfte ein kleiner Fuß hervor, den ein schwarzer Atlasstiefel umspannte. Orso sagte sich, daß er glückselig wäre, diesen kleinen Fuß küssen zu dürfen; aber da sah er, wie Miß Lydia einen ihrer Handschuhe abstreifte, um eine Margerite zu pflücken. Ihre weiße Hand bot sie ihm dar. Orso nahm die Blume, und bei der flüchtigen Berührung fühlte er den leisen Druck von Lydias Hand. Er küßte das Maßliebchen und dann die Hand – und Lydia zürnte ihm darob nicht . . .

Alle diese Gedanken verhinderten ihn, auf den Weg zu achten; aber er trabte immer weiter. Er war im Begriff, zum zweitenmal in Gedanken die weiße Hand zu küssen, als er beinahe den Kopf seines Pferdes geküßt hätte, das plötzlich stehen blieb. Die kleine Chilina versperrte ihm den Weg; sie hatte die Zügel ergriffen.

Wohin reitet Ihr, Orsanton? Wisset Ihr nicht, daß Euer Feind in der Nähe ist?

Mein Feind? rief Orsanton, wütend, so wonnevoller Träumerei entrissen worden zu sein. Wo ist er?

Orlanduccio ist hier nahebei. Er erwartet Euch. Kehrt um, kehrt um!

Er lauert auf mich? Hast du ihn gesehn?

Ja, Orsanton. Ich lag im Gebüsch versteckt, als er vorüberkam. Er sah mit seinem Fernrohr nach allen Seiten hin.

Nach welcher Seite hat er sich gewendet?

Er ritt da hinab, wohin Ihr geht.

Danke.

Orsanton, tätet Ihr nicht wohl, meinen Oheim zu erwarten? Er wird bald kommen, und dann wäret Ihr sicher.

Habe keine Furcht, Chili! Ich habe deinen Oheim nicht nötig.

Wenn Ihr wollt, gehe ich voraus.

Danke, danke!

Orso gab seinem Pferde die Sporen und ritt in starkem Tempo in der Richtung weiter, die ihm das kleine Mädchen angegeben hatte.

Seine erste Regung war ein Anfall blinder Wut gewesen, und er hatte sich gesagt, daß das Schicksal ihm eine vortreffliche Gelegenheit böte, den Feigling zu bestrafen, der ein Pferd verstümmelt hatte, um sich wegen einer Ohrfeige zu rächen. Dann, während er weiter ritt, fiel ihm das Versprechen wieder ein, das er dem Präfekten gegeben hatte, und die Furcht, er möchte den Besuch der Miß Nevil verfehlen, veränderte seine Stimmung und erweckte in ihm geradezu den Wunsch, dem Orlanduccio nicht zu begegnen. Bald aber fachten das Andenken an seinen Vater, die Beleidigung, die seinem Pferde angetan war, die Drohungen Barricinis seinen Zorn aufs neue an und drängten ihn, seinen Feind aufzusuchen, ihn herauszufordern und zum Kampfe zu zwingen.

So von wechselnden Entschlüssen bewegt, ritt er weiter; aber jetzt beobachtete er vorsichtig die Gebüsche und die Hecken und machte mitunter halt, um auf die vagen Geräusche zu horchen, die man auf freiem Felde hört. Zehn Minuten nachdem er die kleine Chilina verlassen hatte (es war etwa um neun Uhr morgens), befand er sich am Rand eines außerordentlich steilen Hügels. Der Weg oder vielmehr der kaum angedeutete Fußpfad, den er verfolgte, ging durch eine kürzlich niedergebrannte Macchia. An dieser Stelle war der Boden mit weißer Asche bedeckt; hier und da standen Büsche und dicke, vom Feuer geschwärzte, ihres Laubes beraubte Bäume. Wenn man einen verbrannten Buschwald sieht, glaubt man in eine Gegend des Nordens mitten im Winter versetzt zu sein, und der Gegensatz der kahlen Stelle, den die Flamme durchlaufen hat, mit der üppigen Vegetation der Umgegend läßt sie noch trauriger und trostloser erscheinen. Aber im gegenwärtigen Augenblick sah Orso in dieser Landschaft nur, was in der Tat ihm jetzt am wichtigsten war. Da der Boden nackt war, konnte er keinen Hinterhalt verbergen, und dem, der in jedem Augenblick fürchten muß, hinterm Gebüsch einen Gewehrlauf gegen seine Brust gerichtet zu sehen, erscheint ein ebener Boden, auf dem nichts den Blick hemmt, wie eine Oase.

Auf die niedergebrannte Macchia folgten mehrere bebaute Felder, die nach der Sitte des Landes auf Brusthöhe von Mauern aus rohem Gestein eingeschlossen waren. Der Fußpfad lief zwischen diesen Einzäunungen hin. Riesige Kastanien, die in Gruppen auf den Feldern standen, machten von weitem den Eindruck eines dichten Gehölzes.

Durch die Steilheit des Abhangs gezwungen abzusitzen, stieg Orso, der seinem Pferde den Zügel übergehängt hatte, rasch über die Asche hinab, und war kaum zwanzig Schritt von einer der Verzäunungen zur Rechten des Weges entfernt, als er sich grad gegenüber einen Flintenlauf und einen Kopf bemerkte, der über die Mauer ragte. Die Flinte neigte sich, und er erkannte Orlanduccio, der im Begriff war, Feuer zu geben. Orso setzte sich rasch in Verteidigungszustand, und alle beide, indem sie anlegten, betrachteten sich einige Sekunden in jener heftigen Erregung, die auch der Tapferste in dem Augenblick empfindet, wo er den Tod geben oder empfangen soll.

Erbärmlicher Feigling! rief Orso.

In diesem Augenblick sah er die Flamme von Orlanduccios Flinte, und zu gleicher Zeit ging ein Schuß zu seiner Linken los; er kam von einem Manne, den er nicht bemerkt, und der hinter einer andern Mauer auf ihn gezielt hatte. Beide Kugeln trafen ihn; die eine, die Orlanduccios, ging ihm durch den linken Arm, den er ihm beim Anlegen entgegengehalten hatte; die andre traf ihn in die Brust, zerriß seinen Rock, plattete sich aber an der Klinge des Dolches ab, den er im Busen stecken hatte, und verursachte ihm nur eine leichte Quetschung.

Orsos linker Arm sank ihm gelähmt zur Hüfte nieder, und auch der Lauf seiner Flinte senkte sich für einen Augenblick; aber er hob ihn augenblicklich wieder und schoß, seine Waffe nur mit der rechten Hand bedienend, auf Orlanduccio. Der Kopf seines Feindes, der sich nur bis zu den Augen gezeigt hatte, verschwand hinter der Mauer. Orso, sich links hinwendend, gab seinen zweiten Schuß auf einen Mann los, den er im Rauch kaum sah. Auch diese Gestalt verschwand. Die vier Flintenschüsse waren mit unglaublicher Schnelligkeit einander gefolgt. Nach dem letzten Schuß Orsos ward alles wieder still. Der aus seinem Gewehr aufgehende Rauch stieg langsam zum Himmel; keine Bewegung hinter der Mauer, nicht das geringste Geräusch. Ohne den Schmerz, den er im Arme fühlte, hätte er glauben können, daß jene Männer, auf die er geschossen hatte, Phantome seiner Einbildungskraft gewesen waren.

Auf eine zweite Salve gefaßt, tat Orso einige Schritte, um sich hinter einen der angebrannten Bäume zu stellen, die in der Macchia stehengeblieben waren. Unter seinem Schutz stellte er sein Gewehr zwischen seine Beine und lud es in Eile wieder. Indes sein linker Arm schmerzte ihn sehr; es war ihm, als hätte er an ihm eine schwere Last zu tragen.

Was war aus seinen Gegnern geworden? Er wußte es nicht. Wenn sie geflohen wären, hätte er gewiß ein Geräusch gehört, eine Bewegung in den Zweigen bemerkt. Waren sie also tot, oder warteten sie im Schutz ihrer Mauern auf die Gelegenheit, von neuem auf ihn zu schießen? In dieser Ungewißheit setzte Orso, da seine Kräfte zu schwinden begannen, das eine Knie auf die Erde, stützte seinen verwundeten Arm auf das andre und bediente sich eines Astes, der am verbrannten Baum emporragte, um sein Gewehr darauf zu legen. Den Finger auf den Hahn, das Auge auf die Mauer gerichtet, das Ohr aufmerkend auf das geringste Geräusch, blieb er einige Minuten unbeweglich; sie erschienen ihm wie ein Jahrhundert. Endlich hörte er weit hinter sich einen Ruf, und ein Hund, der pfeilschnell den Hügel herabkam, stellte sich vor ihm hin und wedelte mit dem Schwanze. Es war Brusco, der Zögling und Gefährte der Banditen, der ohne Zweifel die Ankunft seines Herrn verkündete. Niemals ist ein braver Mann ungeduldiger erwartet worden. Alsbald lief er wieder den Hügel so schnell hinauf, wie er heruntergekommen war, einem Mann entgegen, der den Abhang trotz der Steilheit rasch herunterkam.

Hierher, Brando! rief Orso, als ihn seine Stimme erreichen konnte.

Orsanton, Ihr seid verwundet? fragte ihn Brandolaccio. Im Leib oder an den Gliedern?

Am Arm.

Am Arm; das ist nichts. Und der Andre?

Ich glaube, ich habe ihn getroffen.

Brandolaccio eilte, seinem Hunde folgend, an die nächste Verzäunung und blickte über die Mauer. Dann, indem er seine Mütze abnahm, sagte er:

Gnade für Herrn Orlanduccio!

Indem er sich nach Orsos Seite wendete, grüßte er ihn mit ernster Miene und sagte:

Dem habt Ihr's gut gegeben!

Lebt er noch? fragte Orso kaum atmend.

Er wird sich hüten. Die Kugel, die Ihr ihm ins Auge geschossen habt, tut ihm zu weh. Beim Blute der Madonna, das ist ein Loch! Eine gute Flinte, weiß Gott! Welch ein Kaliber! Das schlägt einem das Gehirn zu Brei. Hören Sie, Orsanton, als ich piff paff! hörte, da sagte ich mir: Donnerwetter, man geht meinem Leutnant zu Leibe! Dann höre ich bum bum! Ho, sage ich, das ist die Antwort der englischen Flinte! Aber Brusco, was willst du von mir?

Der Hund lockte ihn an die andre Verzäunung.

Alle Achtung! rief Brandolaccio verblüfft. Ein Doppelschuß! Klipp und klar! Donnerwetter, an Eurer Sparsamkeit sieht man, daß das Pulver teuer ist.

Was ist's, im Namen Gottes? fragte Orso.

Ach, machen Sie doch nicht den Spaßvogel, Herr Leutnant! Ihr schießt das Wildbret ab, und wir sollen es aufnehmen . . . Na, ich weiß einen, der wird heute ein wundersames Gericht auf seiner Tafel haben. Der Advokat Barricini. Menschenfleisch! Verlangt man danach, so hat man es! Wer, beim Teufel, wird aber nun Erbe sein?

Was, Vincentello auch tot?

Mausetot! Salute a noi! Es ist nett von Euch, daß Ihr den Leuten keine Schmerzen verursacht. Kommt und seht den Vincentello! Er liegt noch auf den Knien, den Kopf gegen die Mauer. Er sieht aus, als schliefe er. Ein bleierner Schlaf sozusagen. Armer Teufel!

Orso wandte mit Schaudern den Kopf ab:

Bist du gewiß, daß er tot ist?

Ihr seid ein zweiter Sampiero Corso, der immer nur einen Schuß tat. Seht! Da in der Brust, an der linken Seite. So ward Vincileone bei Waterloo getroffen. Ich wette, die Kugel sitzt nicht weit vom Herzen. Ein Doppelschuß! Ach, ich gebe mich nicht mehr mit Schießen ab! Zwei bei zwei Schuß! Mit zwei Kugeln die beiden Brüder. Hätte er einen dritten Schuß gehabt, der Alte wäre auch weg . . . Der kommt ein andermal dran . . . Das war ein Schuß, Orsanton!

Während er so redete, untersuchte der Bandit Orsos Arm und schnitt ihm den Ärmel mit dem Dolche auf.

Nichts! sagte er. Der Rock wird Mademoiselle Kolomba Arbeit schaffen . . . Doch was sehe ich? Das da auf der Brust ist . . . gräßlich . . . und doch nichts hineingegangen? Nein, das ist mißlungen . . . Versucht einmal, die Finger zu bewegen! Fühlt Ihr meine Zähne, wenn ich Euch in den kleinen Finger beiße? Nicht sehr? Gleichwohl, es wird nichts sein. Laßt mich Euer Taschentuch und Eure Krawatte nehmen! Der Rock ist futsch! Warum macht Ihr Euch auch so schön! Wollt Ihr zur Hochzeit? Kommt, trinkt einen Schluck Wein! Warum habt Ihr keine Feldflasche? Geht ein Korse je ohne Feldflasche aus?

Dann, mitten beim Verbinden, rief er wieder aus: Doppelschuß! Beide mausetot! Der Pfarrer, der wird lachen! Doppelschuß! Ah, da kommt endlich die kleine Schnecke Chilina.

Orso antwortete nicht. Er war blaß wie ein Toter und zitterte an allen Gliedern.

Chili, rief Brandolaccio, schau hinter jener Mauer nach!

Das Kind kletterte mit Händen und Füßen hinauf, und sobald es Orlanduccios Leiche bemerkte, machte es ein Kreuzeszeichen.

Das ist nichts! fuhr der Bandit fort. Schau weiter nach! Da!

Das Kind machte aufs neue ein Kreuzeszeichen.

Bist du es gewesen, Oheim? fragte es schüchtern.

Ich? Bin ich noch gut zu etwas? Chili, es ist das Werk des Herrn. Mache ihm dein Kompliment!

Da wird sich Mademoiselle aber freuen, sagte Chilina. Nur wird es ihr leid tun, Euch verwundet zu sehen, Herr Orsanton.

Orsanton, sagte der Bandit, als er mit dem Verband fertig war, Chilina hat Euer Pferd eingeholt. Sitzt auf und kommt mit mir zur Macchia de la Stazzona. Da wird Euch so leicht niemand finden. Wir werden Euch aufs beste behandeln. Beim Sankt-Christinen-Kreuz müßt Ihr absitzen. Ihr gebt Euer Pferd Chilina. Die wird Mademoiselle benachrichtigen. Gebt ihr unterwegs Eure Aufträge! Ihr könnt der Kleinen alles sagen, Orsanton. Sie läßt sich eher zerhacken als daß sie ihre Freunde verriete.

Dann sagte er zu ihr mit sanftem Tone:

Sei verflucht, Hexe!

Abergläubisch wie viele Banditen, fürchtete Brandolaccio, das Kind zu behexen, wenn er es segnete oder lobte; denn es ist bekannt, daß die geheimen Mächte, die über der Annochiatura walten, das Gegenteil von unsern Wünschen erfüllen.

Wohin soll ich gehen, Brando? fragte Orso mit erlöschender Stimme.

Ihr habt die Wahl: ins Gefängnis oder in die Macchia. Aber ein della Rebbia kennt den Weg zum Gefängnis nicht. In die Macchia, Orsanton!

Lebt wohl denn, alle meine Hoffnungen!

Eure Hoffnungen? Beim Teufel, hofftet Ihr noch etwas Besseres mit einer Doppelflinte zu machen? Übrigens, wie konntet Ihr getroffen werden? Die Burschen müssen ein zähes Leben gehabt haben wie die Katzen.

Sie haben zuerst geschossen, sagte Orso.

Das ist wahr, ich vergaß. Piff, paff, bum, bum! Der zweite Schuß mit einer Hand! Mehr kann keiner . . . So, jetzt sitzt Ihr! Ehe Ihr fortreitet, seht Euch ein wenig Euer Werk an! Es ist nicht höflich, Leute zu verlassen, ohne ihnen Lebewohl zu sagen.

Orso trieb sein Pferd an. Um keinen Preis hätte er die Unglücklichen sehen mögen, denen er den Tod bereitet hatte.

Hört mich an, Orsanton! sagte der Bandit, indem er dem Pferd in die Zügel faßte. Soll ich offen mit Euch reden? Ohne Euch kränken zu wollen: die beiden jungen Leute tun mir leid. Verzeiht mir! So schön, so stark, so jung! Orlanduccio, mit dem ich so oft gejagt habe! Er hat mir erst vor vier Tagen ein Bündel Zigarren gegeben. Vincentello, der immer so guter Laune war . . . Freilich, Ihr habt getan, was Ihr tun mußtet . . . Übrigens ist der Schuß zu gut, um ihn zu bedauern. Hat man einen Feind, so muß man sich seiner entledigen. Aber die Barricini, das war eine alte Familie. Also wieder eine, die sich empfiehlt, und – durch einen Doppelschuß.

Indem er so die Leichenpredigt der Barricini hielt, führte Brandolaccio Orso, Chilina und den Hund Brusco eiligst zur Macchia von Stazzona.

XVIII

Mittlerweile hatte Kolomba bald nach Orsos Fortgang durch ihre Kundschafter erfahren, daß die Barricini im Felde wären, und von diesem Moment an war sie lebhafter Unruhe anheimgefallen. Man sah, wie sie im Hause hin und her ging, von der Küche zu den instand gesetzten Fremdenzimmern, nichts tat und doch immer beschäftigt war, und aller Augenblicke innehielt, um zu sehen, ob sich nicht im Dorfe ungewöhnliche Bewegung zeigte. Gegen elf Uhr zog eine ziemlich zahlreiche Kavalkade in Pietranera ein: es war der Oberst, seine Tochter, ihre Bedienten und ihr Führer.

Als sie sie empfing, war Kolombas erstes Wort: Haben Sie meinen Bruder gesehen? Dann fragte sie den Führer, welchen Weg sie genommen hätten und wann sie aufgebrochen wären. Bei seiner Antwort konnte sie nicht begreifen, daß er ihnen nicht begegnet sei.

Vielleicht, sagte der Führer, hat er den oberen Weg genommen. Wir sind unten geritten.

Aber Kolomba schüttelte den Kopf und erneuerte ihre Fragen. Trotz ihrer natürlichen Festigkeit, die durch das Bedürfnis erhöht wurde, vor den Gästen keine Schwäche zu zeigen, war es ihr unmöglich, ihre Unruhe zu verheimlichen, und sie teilte sie alsbald dem Obersten und besonders Miß Lydia mit, wobei sie sie mit dem Versöhnungsversuche bekannt machte, der einen so schlimmen Ausgang genommen hatte.

Miß Nevil wurde unruhig und wollte, daß man nach allen Seiten Boten sende, und ihr Vater bot sich an, zu Pferde mit dem Führer Orsos Spur aufzusuchen. Die Befürchtungen ihrer Gäste erinnerten Kolomba an ihre Pflichten als Hausfrau. Sie bemühte sich zu lächeln, bat den Obersten, sich zu setzen, und fand, um das Ausbleiben ihres Bruders zu erklären, eine Menge Gründe, die sie bald selber wieder zunichte machte. In der Meinung, es wäre seine Mannespflicht, die Frau zu beruhigen, gab der Oberst auch seine Erklärung zum besten.

Ich wette, sagte er, daß Herr della Rebbia auf Wild gejagt hat. Er hat der Versuchung nicht widerstehen können, und er wird uns eine ganze Jagdtasche voll mitbringen. Da fällt mir ein, wir haben unterwegs vier Flintenschüsse gehört. Es waren zwei stärkere darunter, und ich habe zu meiner Tochter gesagt: Ich wette, es ist della Rebbia, der da jagt. Nur mein Gewehr hat einen so starken Knall.

Kolomba erblaßte, und Lydia, die sie aufmerksam beobachtete, erriet leicht, welchen Verdacht die Vermutung des Obersten in ihr erregte. Nach einigen Minuten Stillschweigens fragte Kolomba lebhaft, ob die beiden stärkeren Knalle den andern vorausgegangen oder gefolgt wären? Aber weder der Führer noch der Oberst und seine Tochter hatten auf diesen wichtigen Punkt geachtet.

Da bis ein Uhr keiner der Boten, die Kolomba ausgesandt hatte, zurückgekommen war, nahm sie all ihren Mut zusammen und nötigte ihre Gäste, sich zu Tisch zu setzen; aber außer dem Obersten mochte niemand essen.

Beim geringsten Geräusch auf dem Platze eilte Kolomba ans Fenster, setzte sich jedesmal traurig wieder nieder und bemühte sich, noch trauriger, eine nichtssagende Unterhaltung mit ihren Freunden fortzusetzen, der niemand Teilnahme erwies und die von langen Zwischenräumen des Schweigens unterbrochen ward.

Plötzlich hörte man den Galopp eines Pferdes.

Das ist mein Bruder! rief Kolomba und sprang auf. Aber beim Anblick Chilinas, die Orsos Pferd ritt, rief sie mit herzzerreißender Stimme:

Mein Bruder ist tot!

Der Oberst ließ sein Glas fallen. Miß Nevil stieß einen Schrei aus, und alle eilten an die Haustür. Ehe Chilina vom Pferde herunterspringen konnte, wurde sie wie eine Feder von Kolomba herabgerissen, die sie beinahe mit ihrer Umschlingung erstickte. Die Kleine begriff ihren furchtbaren Blick, und ihr erstes Wort war:

Er lebt!

Kolomba ließ sie los, und Chilina sprang leicht wie eine Katze zur Erde.

Die Andern? fragte Kolomba in herbem Tone.

Chilina machte mit dem Mittelfinger das Kreuzeszeichen; sogleich folgte der tödlichen Blässe eine lebhafte Röte auf Kolombas Antlitz.

Sie warf einen flammenden Blick auf das Haus der Barricini und sagte lächelnd zu ihren Gästen:

Lassen Sie uns wieder eintreten und den Kaffee trinken!

Die Botin der Banditen hatte viel zu erzählen. Ihr Patois, das Kolomba so gut wie möglich ins Italienische und Miß Nevil ins Englische übersetzten, entlockte dem Obersten mehr als eine Verwünschung und Miß Lydia mehr als einen Seufzer. Aber Kolomba hörte mit unerschütterlicher Ruhe zu, zerknüllte nur dabei ihre Damastserviette. Sie unterbrach das Kind fünf- bis sechsmal, um sich Brandolaccios Behauptung wiederholen zu lassen, daß die Wunde nicht gefährlich sei. Zum Schluß meldete Chilina, daß Orso eifrig nach Papier verlange, um zu schreiben, und daß er seine Schwester beauftrage, eine Dame, die sich vielleicht bei ihm zu Hause befände, zu bitten, sie möchte nicht eher abreisen, als bis sie von ihm einen Brief empfangen hätte. Das ist es, fügte Chilina hinzu, was ihn am meisten quälte, und ich war schon unterwegs, als er mich zurückgerufen hat, um mir diesen Auftrag ans Herz zu legen. Er hat ihn mir dreimal wiederholt. Bei diesem Auftrag ihres Bruders lächelte Kolomba leicht und drückte die Hand der Engländerin, die in Tränen zerfloß, es aber nicht für nötig hielt, ihrem Vater diesen Teil der Erzählung zu übersetzen.

Ja, Sie werden bei uns bleiben, meine Liebe, rief Kolomba aus, indem sie Miß Nevil umarmte, und Sie werden uns beistehen.

Dann zog sie aus einem Schrank eine Menge altes Linnen und zerschnitt es, um Binden und Charpie daraus zu machen.

Beim Anblick ihrer glänzenden Augen, ihrer belebten Hautfarbe, des plötzlichen Übergangs von Besorgnis zur Gelassenheit war es schwer zu sagen, ob sie mehr wegen der Wunde ihres Bruders beunruhigt oder über den Tod ihrer Feinde entzückt war. Bald goß sie dem Obersten Kaffee ein und rühmte ihm ihr Talent, ihn zu bereiten; bald, indem sie der Miß Nevil und Chilina Arbeit gab, ermahnte sie sie, die Binden zu nähen und aufzurollen, und fragte zum zwanzigsten Male, ob Orsos Wunde schmerzhaft sei. Sie unterbrach sich fortwährend in ihrer Arbeit, um dem Obersten zu sagen:

Zwei gegen Einen! Zwei durchtriebene, furchtbare Leute. Er allein, verwundet, nur einen Arm frei! Er hat sie alle beide niedergeschossen! Welcher Mut, Oberst! Ist Orso nicht ein Held? Ach, Miß Nevil, wie glücklich ist, wer in einem Lande lebt, das so ruhig ist wie das Ihrige . . . Gewiß haben Sie meinen Bruder bisher nicht richtig gekannt . . . Ich habe es Ihnen ja gesagt:

Schwebt empor mit breiten Flügeln . . .
Doch, er rafft sich auf, der Sperber,

Sie täuschten sich über seine sanfte Miene; die hat er bei Ihnen, Miß Nevil. Ach, wenn er Sie für ihn arbeiten sähe, der liebe Orso!

Miß Lydia arbeitete nicht weiter und fand keine Worte. Ihr Vater fragte, warum man sich nicht beeile, vor der Behörde eine Klage anzubringen. Er sprach von der Untersuchung durch den Coroner und von vielen andern in Korsika unbekannten Dingen. Dann wollte er wissen, ob das Haus des guten Herrn Brandolaccio, der dem Verwundeten Hilfe gebracht, weit entfernt wäre, und ob er seinen Freund nicht besuchen könne.

Kolomba erwiderte mit ihrer gewohnten Ruhe, Orso wäre im Buschwald; ein Bandit verpflege ihn; er liefe große Gefahr, wenn er sich zeige, ehe man die Stimmung des Präfekten und den Richter kenne; sie wolle aber dafür sorgen, daß sich ein geschickter Wundarzt zu ihm begäbe.

Vor allem, Herr Oberst, behalten Sie im Gedächtnisse, sagte sie, daß Sie vier Schüsse gehört haben und daß Sie mir gesagt haben, Orso habe zuletzt geschossen.

Der Oberst begriff nichts von der ganzen Geschichte, und seine Tochter tat nichts als seufzen und sich die Tränen abwischen.

Der Tag war schon vorgeschritten, als eine traurige Prozession ins Dorf zog. Man brachte dem Advokaten Barricini die Leichen seiner Söhne; jede lag quer über einem Maulesel, den ein Bauer führte. Eine Menge von Anhängern und Müßiggängern folgte dem Trauerzuge. Dazwischen sah man die Gendarmen, die immer zu spät kommen, und den Adjunkten des Amtmanns, der immerfort mit zum Himmel erhobenen Armen ausrief: Was wird der Herr Präfekt sagen! Einige Weiber, unter andern Orlanduccios Amme, rissen sich die Haare aus und erhoben ein wildes Geschrei. Aber ihr lärmender Schmerz brachte weniger Eindruck hervor als die stumme Verzweiflung einer Person, die aller Blicke auf sich zog; es war der unglückliche Vater, der von einer Leiche zur andern ging, ihre mit Erde beschmutzten Häupter emporhob, ihre bläulichen Lippen küßte und ihre schon starren Glieder stützte, als wolle er sie vor dem holperigen Wege schützen. Manchmal sah man ihn den Mund öffnen, als wollte er sprechen; aber kein Schrei, kein Wort entglitt ihm. Immer seine Augen auf die Leichen gerichtet, stieß er sich an den Steinen, an den Bäumen, an allem, was im Wege stand.

Das Klagegeschrei der Weiber, die Verwünschungen der Männer verdoppelten sich, als man sich dem Hause Orsos gegenüber befand. Einige rebbianische Schäfer hatten gewagt, Rufe des Triumphes laut werden zu lassen. Da hielt der Ingrimm der Gegner sich nicht mehr zurück. Rache! Rache! schrie man. Steine wurden geworfen, und zwei Schüsse gingen auf die Fenster des Saales, in dem sich Kolomba und ihre Gäste befanden. Die Kugeln drangen in die Läden, und einige Holzsplitter flogen bis an den Tisch, an dem die beiden Frauen saßen. Miß Lydia stieß schreckliche Schreie aus; der Oberst ergriff ein Gewehr, und Kolomba, ehe er sie zurückhalten konnte, stürzte an die Tür des Hauses und öffnete sie stürmisch. Auf der erhöhten Schwelle erhob sie ihre Hände und stieß Verwünschungen gegen ihre Feinde aus.

Ihr Feiglinge, rief sie aus, Ihr schießt auf Weiber, auf Fremde? Seid Ihr Korsen, seid Ihr Männer? Ihr Elenden, die Ihr nur von hinten anzugreifen wagt! Kommt heran! Ich fordere Euch heraus. Ich bin allein. Mein Bruder ist fern. Tötet, tötet meine Gäste! Das wäre Eurer würdig. Ihr wagt es nicht? Ihr Feiglinge, Ihr wißt, daß wir uns rächen. Geht, weint wie die Weiber und dankt uns, daß wir nicht mehr Blut von Euch fordern.

In Kolombas Stimme und Haltung war etwas Großartiges und Furchtbares. Bei ihrem Anblick wich die Menge erschreckt zurück wie beim Erscheinen einer jener bösen Feen, von denen man sich an den Winterabenden in Korsika schauerliche Geschichten erzählt. Der Adjunkt, die Gendarmen und einige Weiber benutzten den Augenblick, um sich zwischen die streitenden Parteien zu werfen, denn die rebbianischen Schäfer nahmen bereits ihre Waffen zur Hand. Einen Augenblick konnte man befürchten, es werde ein allgemeiner Kampf auf dem Platz entbrennen. Aber beiden Parteien fehlten ihre Führer; und die Korsen, die selbst in ihrer Wut eine gewisse Ordnung innehalten, werden bei Abwesenheit der Hauptanstifter ihrer inneren Händel selten handgemein. Übrigens hielt Kolomba, die durch den Erfolg vorsichtig geworden war, ihre kleine Hilfstruppe im Zaume.

Laßt diese armen Leute weinen! sagte sie. Laßt diesen Greis sein Fleisch und Blut heimtragen! Wozu den alten Fuchs töten, der keine Zähne mehr zum Beißen hat? Giudice Barricini! Denke an den zweiten August! Denke an das Merkbuch, in das du mit deiner falschen Hand geschrieben hast! Mein Vater hatte deine Schuld hineingeschrieben. Deine Söhne haben sie bezahlt. Wir sind somit quitt, Vater Barricini!

Mit gekreuzten Armen, ein Lächeln der Verachtung auf den Lippen, sah Kolomba die Leichen in das Haus ihrer Feinde tragen. Bald zerstreute sich die Menge langsam. Sie schloß die Tür aufs neue und sagte, indem sie wieder in den Eßsaal trat, zum Obersten:

Herr Oberst, ich bitte wegen meiner Landsleute um Vergebung. Ich hätte nie geglaubt, daß die Korsen auf ein Haus schössen, in dem Fremde sind; und ich schäme mich meines Landes.

Als am Abend Miß Lydia sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, folgte ihr der Oberst und fragte sie, ob es nicht besser sei, am folgenden Morgen ein Dorf zu verlassen, wo man in jedem Augenblick der Gefahr ausgesetzt wäre, eine Kugel in den Kopf zu bekommen, und sich so rasch wie möglich aus einem Lande zu entfernen, wo man nur Mord und Verrat fände.

Miß Nevil blieb einige Augenblicke stumm. Augenscheinlich setzte der Vorschlag ihres Vaters sie in nicht geringe Verlegenheit.

Wie können wir dies unglückliche junge Mädchen zu einer Zeit verlassen, wo es so sehr des Trostes bedarf! Findest du nicht, Vater, daß es grausam von uns wäre?

Es ist deinetwegen, liebe Tochter, sagte der Oberst. Und wenn ich wüßte, daß du im Gasthofe zu Ajaccio sicher wärest, möchte ich diese verfluchte Insel nicht gern verlassen, ohne dem braven della Rebbia die Hand gedrückt zu haben.

Dann, lieber Vater, laß uns warten, und ehe wir abreisen, laß uns sehen, ob wir ihnen nicht einige Dienste erweisen können.

Du hast ein gutes Herz, sagte der Oberst, seine Tochter auf die Stirn küssend. Es macht mir Freude zu sehen, wie du dich aufopferst, um andrer Unglück zu lindern. Laß uns bleiben! Man bereut es nie, eine gute Handlung getan zu haben.

Miß Lydia lag lange unruhig in ihrem Bett, ohne schlafen zu können. Bald waren es unbestimmte Töne, die sie hörte, die Vorbereitungen zu einem Angriff auf das Haus; bald wieder war sie wegen ihrer selbst beruhigt und dachte nur an den armen Verwundeten, der in diesem Augenblick wahrscheinlich auf kaltem Erdboden ausgestreckt lag, ohne andre Hilfe als die, die ihm das Mitleid der Banditen brachte. Sie stellte sich ihn mit Blut bedeckt vor, wie er sich in furchtbaren Qualen hin- und herwälzte; und, was sonderbar dabei war, jedesmal, wenn Orsos Bild sich ihrem Geiste darstellte, erschien er ihr so wie sie ihn im Augenblick des Abschiedes gesehen hatte, als er den Talisman, den sie ihm gegeben, an seine Lippen drückte . . . Sie gedachte seiner Tapferkeit. Sie sagte sich, daß die furchtbare Gefahr, der er entgangen war, durch sie heraufbeschworen war, weil er sich, um sie ein wenig eher zu sehen, ihr ausgesetzt hatte. Sie redete sich geradezu ein, daß Orsos Arm verwundet worden sei, weil er sie habe verteidigen wollen. Sie warf sich seine Wunde vor und bewunderte ihn um so mehr; und wenn auch der famose Doppelschuß in ihren Augen nicht dasselbe Verdienst hatte wie in denen Brandolaccios und Kolombas, so fand sie doch, daß wenig Romanhelden so viel Unerschütterlichkeit, so viel Kaltblütigkeit in großer Gefahr gezeigt hätten.

Das von ihr bewohnte Gemach war Kolombas Zimmer. Über einer Art Betschemel von Eichenholz neben einer geweihten Palme hing an der Mauer ein Miniaturbild Orsos in Leutnantsuniform. Miß Nevil machte das Bild los, betrachtete es und legte es dann neben ihr Bett, statt es wieder hinzuhängen.

Erst mit Tagesanbruch schlief sie ein, und die Sonne stand schon hoch über dem Horizonte, als sie erwachte. Vor ihrem Bette bemerkte sie Kolomba, die unbeweglich auf den Augenblick wartete, wo sie die Augen öffnen werde.

Ach, liebes Fräulein, sind Sie nicht recht schlimm daran in unserm Hause? fragte Kolomba. Ich fürchte, Sie haben gar nicht geschlafen.

Haben Sie Nachricht von ihm, meine liebe Freundin? fragte Miß Nevil, indem sie sich erhob.

Sie bemerkte Orsos Bildnis und warf eilig ein Taschentuch darüber, um es zu verbergen.

Ja, ich habe Nachrichten von ihm, erwiderte Kolomba lächelnd, und, indem sie das Bild in die Hand nahm, fügte sie hinzu:

Finden Sie es ähnlich? Er ist hübscher.

Mein Gott, sagte Miß Nevil errötend, ich habe . . . dies Porträt aus Zerstreuung losgemacht. Ich habe die üble Gewohnheit, alles anzufassen und nichts wieder an Ort und Stelle zu setzen. Wie geht es Ihrem Bruder?

Ziemlich gut. Gianetto ist heute morgen vor vier Uhr gekommen; er brachte mir einen Brief für Sie, Miß Lydia. Mir hat Orso nicht geschrieben. Er hat wohl auf die Adresse: Kolomba gesetzt, aber darunter: für Miß Lydia. Gianetto vermeldet, das Schreiben habe ihm Schmerzen verursacht. Da er eine vortreffliche Hand schreibt, hat er ihm angeboten, unter seinem Diktat zu schreiben; er hat aber nicht gewollt. Er hat dann, auf dem Rücken liegend, mit einem Bleistift geschrieben. Brandolaccio hielt das Papier. In jedem Augenblick wollte mein Bruder sich erheben, und bei der geringsten Bewegung hatte er furchtbare Schmerzen im Arm. Es sei zum Erbarmen gewesen. Hier ist sein Brief.

Miß Nevil las den Brief, der auf englisch geschrieben war, wahrscheinlich aus übermäßiger Vorsicht.

Folgendes war der Inhalt:

 

Verehrtes Fräulein!

Ein unseliges Geschick hat mich getrieben. Ich weiß nicht, was meine Feinde sagen werden, welche Verleumdungen sie erfinden. Es soll mir gleichgültig sein, wenn Sie es nur nicht glauben. Seit ich Sie gesehen, habe ich mich in unsinnigen Träumen gewiegt. Dieses erschütternde Ereignis mußte kommen, um mich aus meiner Torheit aufzuschrecken. Jetzt bin ich vernünftig. Ich weiß, welche Zukunft meiner harrt. Den Ring, den Sie mir gegeben haben und den ich für ein Unterpfand des Glückes hielt, wage ich nicht zu behalten. Ich fürchte, Miß Nevil, Sie bedauern, Ihr Geschenk nicht besser angebracht zu haben, oder vielmehr, ich fürchte, daß er mich an die Zeit erinnert, wo ich ein Tor war. Kolomba wird ihn Ihnen wiedergeben. Leben Sie wohl, Fräulein Lydia! Sie werden Korsika verlassen, und ich werde Sie nicht wiedersehen; aber sagen Sie meiner Schwester, daß ich Ihre Achtung noch habe, und ich kann es mit Überzeugung sagen: ich verdiene sie.

O. D. R.

 

Miß Lydia hatte sich abgewendet, um den Brief zu lesen, und Kolomba, die sie aufmerksam beobachtete, übergab ihr den ägyptischen Ring, indem sie sie mit einem Blick befragte, was er bedeute. Aber Miß Lydia wagte nicht das Haupt zu erheben; sie betrachtete traurig den Ring, den sie sodann an ihren Finger steckte. Alsbald zog sie sich zurück.

Verehrte Miß Nevil, sagte Kolomba, darf ich nicht wissen, was mein Bruder sagt? Berichtet er Ihnen von seinem Zustand?

Nein, sagte Miß Lydia errötend. Er spricht nicht davon; der Brief ist auf englisch geschrieben. Er beauftragt mich, meinem Vater zu sagen, daß er hoffe, der Präfekt werde die Sache in Ordnung bringen.

Boshaft lächelnd, setzte sich Kolomba aufs Bett, faßte Miß Nevils Hand und sagte, indem sie sie mit ihren durchdringenden Augen betrachtete:

Werden Sie gut sein? Nicht wahr, Sie antworten meinem Bruder? Es wird ihm wohltun. Einen Augenblick habe ich den Gedanken gehabt, Sie aufzuwecken, als der Brief ankam; dann aber getraute ich es mir nicht.

Das war sehr unrecht von Ihnen, erwiderte Miß Nevil. Wenn ein Wort von mir ihn . . .

Jetzt kann ich ihm keinen Brief schicken. Der Präfekt ist angekommen, und Pietranera ist voll von seinen Leuten. Später wollen wir sehen. Ach, wenn Sie meinen Bruder kennten, Miß Nevil, würden Sie ihn so lieben, wie ich ihn liebe. Er ist so gut, so tapfer! Bedenken Sie doch, was er getan! Allein gegen zwei, und noch dazu verwundet!

Der Präfekt war also wieder in Pietranera. Benachrichtigt durch einen Boten des Adjunkten, war er begleitet von Gendarmen und Jägern. Auch hatte er den Staatsanwalt, den Gerichtsschreiber und das übrige Personal mitgebracht, um sich über die neue furchtbare Katastrophe zu unterrichten, die die Feindseligkeit der beiden Familien noch mehr verwickelte oder auch beendete.

Bald nach seiner Ankunft sah er den Obersten Nevil und seine Tochter und verfehlte nicht, ihnen seine Furcht, die Sache möchte schlimm auslaufen, mitzuteilen.

Sie wissen, sagte er, daß der Kampf keine Zeugen gehabt hat, und der Ruf der Geschicklichkeit und des Mutes dieser beiden unglücklichen jungen Leute war so groß, daß man nicht glauben kann, Herr della Rebbia habe sie ohne den Beistand der Banditen, zu denen er sich, wie man sagt, geflüchtet hat, töten können.

Das ist unmöglich, rief der Oberst. Orso della Rebbia ist ein junger Mann von Ehre. Ich sage für ihn gut.

Ich glaube es, erwiderte der Präfekt; aber der Staatsanwalt (diese Herren haben immer Mißtrauen) ist offenbar nicht gerade günstig gestimmt. Dazu hat er ein für Ihren Freund bedenkliches Dokument in Händen. Es ist ein an Orlanduccio gerichteter Drohbrief, in dem er ihm ein Stelldichein gibt, und dieses Stelldichein erscheint dem Staatsanwalt mit einem Hinterhalt verknüpft.

Orlanduccio, sagte der Oberst, hat es verweigert, sich wie ein Mann von Ehre zu schlagen.

Der Zweikampf ist hier nicht Sitte. Man legt sich in den Hinterhalt und erschießt die Leute von hinten. Das ist Landesbrauch. Es liegt allerdings eine günstige Aussage vor, die eines Mädchens, das behauptet, vier Schüsse gehört zu haben, von denen die beiden letzten stärker waren und aus einem Gewehr von großem Kaliber kamen, wie das des Herrn della Rebbia es ist. Unglücklicherweise ist dies Mädchen die Nichte eines der Banditen, die man der Mitschuld bezichtigt; man wird ihr vorgeschrieben haben, was sie aussagen soll.

Herr Präfekt, unterbrach ihn Miß Lydia, bis ins Weiße der Augen errötend, wir waren unterwegs als die Schüsse fielen, und wir haben dasselbe gehört.

Ist dies an dem? Das ist wichtig. Sie, Herr Oberst, haben wahrscheinlich dieselbe Beobachtung gemacht?

Gewiß, fiel Miß Nevil lebhaft ein, mein Vater, der dies Gewehr kennt, hat ausgerufen: Das ist della Rebbia, der mit meinem Gewehr schießt!

Und waren jene Schüsse, die Sie erkannt haben, die letzten?

Die beiden letzten, nicht wahr, Vater?

Der Oberst hatte kein vortreffliches Gedächtnis, aber er hütete sich wie immer, seiner Tochter zu widersprechen.

Sie müssen dies sogleich dem Staatsanwalt mitteilen, Herr Oberst. Übrigens erwarten wir heute einen Chirurgen, der untersuchen wird, ob die Wunden von der fraglichen Flinte herrühren.

Ich habe sie dem Orso geschenkt, sagte der Oberst, aber ich wollte, sie läge im Meere, wo es am tiefsten ist. Das heißt, es ist mir doch lieb, daß er sie gehabt hat, der Wackere, denn ich wüßte nicht, wie er sich ohne meinen Manton aus der Affäre gezogen hätte.

XIX

Der Wundarzt kam ein wenig spät; er hatte unterwegs eine Abhaltung gehabt. Giocanto Castriconi war ihm begegnet und hatte ihn höflichst gebeten, einem Verwundeten beizustehen. Man hatte ihn zu Orso geführt, und er hatte den ersten Verband auf seine Wunde gelegt. Dann hatte der Bandit ihn ziemlich weit begleitet und hatte ihn mit allerlei Geschichten von den berühmtesten Professoren Pisas unterhalten, die, wie er sagte, seine vertrauten Freunde wären.

Doktor, hatte der Theologe ihm beim Abschied gesagt, Sie haben mir zuviel Achtung eingeflößt, als daß ich es für nötig halten sollte, Sie daran zu erinnern, daß ein Arzt ebenso verschwiegen sein muß wie ein Beichtvater (und dabei hatte er seinen Hahn gespannt). Sie werden den Ort vergessen, wo wir die Ehre gehabt haben, einander zu sehen. Leben Sie wohl! Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.

Kolomba bat den Obersten, der Leichenschau beizuwohnen.

Sie kennen besser als sonstwer die Flinte meines Bruders, sagte sie, und Ihre Gegenwart wird sehr nützlich sein. Übrigens gibt es hier so viel böse Leute, daß wir in große Gefahr kämen, wenn wir niemanden hätten, der unsre Sache verträte.

Mit Miß Lydia allein zurückbleibend, beklagte sie sich über heftiges Kopfweh und schlug ihr vor, einen Spaziergang in die Nähe des Dorfes zu machen.

Die frische Luft wird mir wohltun, sagte sie. Es ist so lange her, daß ich sie nicht geatmet habe.

Unterwegs sprach sie von ihrem Bruder, und Miß Lydia, der dies Gespräch naheging, merkte gar nicht, daß sie sich weit von Pietranera entfernten. Die Sonne versank bereits, als sie aufmerksam darauf wurde und Kolomba aufforderte, umzukehren. Kolomba kannte, wie sie sagte, einen Richtweg, der sie bald wieder nach Hause bringen werde; und indem sie den Fußpfad verließ, schlug sie einen andern ein, der augenscheinlich weniger betreten war. Bald kletterte sie einen Hügel hinauf, der so steil war, daß sie, um sich zu halten, gezwungen war, mit der einen Hand Baumzweige zu erfassen, während sie mit der andern ihre Gefährtin nach sich zog.

Nach viertelstündigem mühevollem Klettern befanden sie sich auf einer mit Myrtenbüschen und anderm Gesträuch bedeckten kleinen Bergebene inmitten von Granitgestein, das von allen Seiten den Boden durchdrang. Miß Lydia war sehr ermüdet; das Dorf zeigte sich nicht, und es war beinahe schon Nacht.

Wissen Sie was, liebe Kolomba? Ich fürchte, daß wir uns verirrt haben.

Fürchten Sie nichts! antwortete Kolomba. Wir wollen nur weitergehn. Folgen Sie mir!

Aber gewiß irren Sie sich. Das Dorf kann unmöglich in dieser Richtung liegen. Ich wette, daß wir ihm den Rücken zukehren. Sehen Sie dort in der Ferne die Lichter? Das muß Pietranera sein.

Meine liebe Freundin, sagte Kolomba in erregtem Tone, Sie haben recht; aber zwei Schritte von hier, dort im Buschwalde . . .

Nun?

Da liegt mein Bruder. Wenn Sie einwilligten, könnte ich ihn sehen und ihn umarmen.

Miß Nevil machte eine Geste der Verwunderung.

Ich bin aus Pietranera nur herausgekommen, ohne daß man acht darauf gehabt hat, weil ich in Ihrer Gesellschaft war. Sonst wäre man mir gefolgt. So nahe beim Bruder sein und ihn nicht sehen! Warum wollen Sie nicht mit mir kommen? Sie würden meinem Bruder eine große Freude machen!

Aber Kolomba, das wäre unpassend.

Ich begreife. Ihr Stadtdamen quält euch immer über das, was anständig ist; wir Dorfweiber denken nur an das, was gut ist.

Aber, es ist so spät, und Ihr Bruder, was wird der von mir denken?

Er wird denken, daß seine Freunde ihn nicht verlassen haben, und das wird ihm Mut zum Leiden geben.

Und mein Vater wird unruhig sein.

Er weiß, daß Sie mit mir sind. Nun, entschließen Sie sich! Sie haben heute morgen sein Bild angeschaut . . ., fügte sie mit boshaftem Lächeln hinzu.

Nein, wahrhaftig, Kolomba, ich wage es nicht. Die Banditen dort . . .

Ach, die Banditen, die kennen Sie nicht. Was schadet das? Sie wünschten ja, welche zu sehen.

Mein Gott!

Mademoiselle, fassen Sie einen Entschluß! Allein kann ich Sie hier nicht lassen; man weiß nicht, was geschehen könnte. Gehen wir, Orso zu sehen, oder kehren wir ins Dorf zurück. Gott weiß, wann ich meinen Bruder wiedersehen werde, vielleicht nie!

Was sagen Sie, Kolomba? Sei es also! Wir wollen hingehen; aber nur für eine Minute, und dann kehren wir gleich wieder um.

Kolomba drückte ihr die Hand und lief ohne zu antworten mit solcher Eile, daß Miß Lydia ihr kaum folgen konnte. Zum Glück hielt sie bald inne und sagte zu ihrer Gefährtin:

Wir wollen nicht weiter vorgehen, ohne uns angekündigt zu haben; wir könnten sonst einen Schuß abkriegen.

Sie pfiff durch die Finger und hörte alsbald Hundegebell. Gleich darauf erschien der Vorposten der Banditen. Es war unser alter vierbeiniger Bekannter Brusco, der Kolomba rasch erkannte und ihr als Führer diente. Nach allerlei Windungen in den engen Wegen des Buschwaldes sahen sie auf einmal zwei bis zu den Zähnen bewaffnete Männer vor sich stehen.

Seid Ihr es, Brandolaccio? fragte Kolomba. Wo ist mein Bruder?

Dort, antwortete der Bandit. Aber nähert Euch langsam. Er schläft; seit seinem Unfall ist es das erstemal. Gottlob, man sieht, wo der Teufel durchschlüpft, bekommt es ein Weib auch fertig.

Die beiden Frauen näherten sich vorsichtig und bemerkten ein Feuer, um das man eine kleine Steinmauer gebaut hatte, damit sein Schein nicht bemerkt werde. Daneben lag Orso auf einem Haufen trockener Blätter mit einem Pilone bedeckt. Er war sehr blaß; man hörte ihn schwer atmen.

Kolomba setzte sich neben ihn und betrachtete ihn schweigend und die Hände faltend, als ob sie still betete. Miß Lydia, ihr Antlitz mit ihrem Taschentuch bedeckend, drückte sich an sie; aber sie erhob von Zeit zu Zeit den Kopf, um über Kolombas Schultern den Verwundeten anzusehen. Es ging eine Viertelstunde hin, ohne daß man ein Wort sprach. Auf ein Zeichen des Pfarrers hatte sich Brandolaccio mit ihm ins Gebüsch begeben, und zwar zur großen Freude der Miß Lydia, die fand, daß die dicken Bärte und der ganze Anzug der Banditen zuviel Lokalfarbe hatten.

Endlich machte Orso eine Bewegung. Sogleich neigte sich Kolomba über ihn und küßte ihn wiederholt, indem sie ihn mit Fragen nach seiner Wunde, seinen Schmerzen und seinen Bedürfnissen überhäufte. Orso sagte, es ginge ihm leidlich, und fragte nun seinerseits, ob Miß Nevil noch in Pietranera wäre, und ob sie ihm geschrieben hätte. Kolomba, über ihren Bruder gebeugt, verbarg ihm ihre Gefährtin vollständig; übrigens hätte er sie auch in der Dunkelheit nicht erkannt. Sie hielt Miß Nevils eine Hand fest und stützte mit der andern das Haupt des Verwundeten.

Nein, lieber Bruder, sagte sie, sie hat mir keinen Brief für dich gegeben. Aber denkst du noch immer an Miß Nevil? Du liebst sie wohl sehr?

Kolomba, ich liebe sie! Aber sie? Vielleicht verachtet sie mich jetzt.

In diesem Augenblick machte Miß Nevil Anstrengung, ihre Hand zurückzuziehen; aber es war nicht leicht, sie loszumachen, denn Kolombas Hand, obgleich fein gebildet und klein, hatte eine Kraft, von der wir einige Proben gesehen haben.

Dich verachten? rief Kolomba. Nach dem, was du getan? Im Gegenteil, sie spricht gut von dir. Ach, Orso, ich habe dir viel von ihr zu erzählen.

Die Hand wollte sich immer heftiger losmachen, aber Kolomba zog sie näher und näher hin zu Orso.

Aber, sagte der Verwundete, warum antwortet sie mir nicht? Eine einzige Zeile, und ich wäre zufrieden gewesen!

Indem sie die Hand der Miß Nevil noch näher heranzog, legte Kolomba sie endlich in die ihres Bruders. Dann trat sie plötzlich zurück, brach in helles Lachen aus und sagte: Nimm dich in acht, Orso, daß du nichts Böses von Miß Lydia sagst, denn sie versteht sehr gut Korsisch.

Miß Lydia zog die Hand sogleich zurück und stotterte einige unverständliche Worte. Orso wähnte zu träumen.

Sie hier, Miß Nevil! Mein Gott! Wie? Sie haben es gewagt? O, wie glücklich Sie mich machen! Und sich mit Mühe emporrichtend, suchte er sich ihr zu nähern.

Ich habe Ihre Schwester begleitet, sagte Miß Lydia, damit man nicht erraten sollte, wohin sie ging, und dann wollte ich mich auch versichern, ob . . . Ach, wie elend Sie hier liegen!

Kolomba hatte sich hinter Orso gesetzt; sie hob ihn vorsichtig empor, so daß sie ihm den Kopf auf ihre Knie legen konnte. Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und machte der Miß Lydia ein Zeichen, daß sie näher kommen solle.

Näher, näher! sagte sie. Ein Kranker darf nicht zu laut sprechen.

Da Miß Lydia noch zögerte, nahm sie sie bei der Hand und zwang sie, sich so nahe zu setzen, daß Orso von ihrem Kleide berührt ward, und daß ihre Hand, die sie noch immer festhielt, auf der Schulter des Verwundeten ruhte.

So liegt er sehr gut, sagte Kolomba in frohem Tone. Nicht wahr, Orso, es ist gar nicht übel im Buschwald, im Lager unter freiem Himmel, in einer schönen Nacht wie dieser?

Ach ja, sagte Orso, welch schöne Nacht! Ich werde sie nie vergessen.

Wie mögen Sie leiden! sagte Miß Nevil.

Ich leide nicht mehr; ich möchte hier sterben, erwiderte Orso, und seine rechte Hand näherte sich der der Miß Lydia, die Kolomba noch immer festhielt.

Man muß Sie unbedingt irgendwo hinbringen, wo man für Sie sorgen kann, Herr della Rebbia, sagte Miß Nevil. Ich werde nicht mehr schlafen können, seitdem ich gesehen, wie schlecht Sie liegen, so obdachlos.

Wenn ich nicht gefürchtet hätte, Ihnen zu begegnen, sagte Orso, würde ich versucht haben, nach Pietranera zurückzukehren, mich dem Gericht zu stellen.

Warum fürchtetest du diese Begegnung, Orso? fragte Kolomba.

Ich bin Ihnen ungehorsam gewesen, Miß Nevil, und hätte nicht gewagt, Ihnen unter solchen Umständen entgegenzutreten.

Wissen Sie wohl, Miß Nevil, sagte Kolomba lachend, daß Sie aus meinem Bruder machen, was Sie wollen? Ich werde dafür sorgen, daß Sie ihn nicht mehr zu sehen bekommen.

Ich hoffe, sagte Miß Nevil, diese unglückliche Geschichte wird sich aufklären. Dann werden Sie nichts mehr zu fürchten haben. Und wenn ich weiß, daß man Ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließ und Ihre gute Gesinnung wie Ihre Tapferkeit anerkannt hat, werde ich beruhigt abreisen.

Sie reisen fort, Miß Nevil? Ach, sagen Sie das nicht wieder!

Aber mein Vater kann doch nicht ewig auf die Jagd gehen; er will fort.

Orso ließ seine Hand, die die der Miß Nevil berührte, fallen, und es folgte ein Augenblick Stillschweigen.

Gibts nicht! hob Kolomba an. Wir lassen Sie so bald nicht weg. Wir haben Ihnen in Pietranera noch vielerlei zu zeigen . . . Übrigens haben Sie mir versprochen, mein Bild zu machen, das noch nicht einmal begonnen ist. Und ich habe Ihnen versprochen, eine Serenata in fünfzehn Strophen zu dichten. Und dann . . . Aber was hat Brusco zu knurren? Da kommt auch Brandolaccio eiligst hinter ihm her. Was bedeutet das?

Sogleich sprang sie auf, und indem sie ohne Umstände Orsos Kopf auf die Knie der Miß Nevil legte, eilte sie dem Banditen entgegen.

Ein wenig bestürzt, einen schönen jungen Mann an sich gelehnt, allein dazusitzen, noch dazu mitten in einer Macchia, wußte Miß Nevil nicht recht, was sie tun sollte; denn wenn sie plötzlich aufstand, mußte sie befürchten, dem Verwundeten wehe zu tun. Aber Orso entsagte aus freiem Antrieb der süßen Stütze, die seine Schwester ihm gegeben hatte, und sich auf seinem rechten Arm emporrichtend, sagte er: Sie reisen also bald ab, Miß Lydia? Ich habe nie geglaubt, daß Ihr Aufenthalt in diesem unseligen Lande kein Ende nähme; und doch, seitdem Sie hierhergekommen sind, leide ich hundertmal mehr, indem ich daran denke, daß ich Ihnen Lebewohl sagen muß. Ich bin ein armer Leutnant ohne Zukunft, zur Zeit ein Geächteter. Welch ein Augenblick, Miß Lydia, um Ihnen einzugestehen, daß ich Sie liebe! Aber es ist wahrscheinlich das einzige mal, daß ich es kann, und mir ist schon leichter, seitdem ich mein Herz ausgeschüttet habe.

Miß Lydia wendete den Kopf weg, als ob die Dunkelheit nicht genügte, ihr Erröten zu verbergen.

Signor della Rebbia, sagte sie mit zitternder Stimme, wäre ich wohl an diesen Ort gekommen, wenn . . .? Und indem sie so redete, legte sie in Orsos Hand den ägyptischen Talisman. Dann machte sie eine gewaltige Anstrengung, um ihren gewöhnlichen scherzhaften Ton wiederzugewinnen:

Es ist sehr schlecht von Ihnen, Herr Orso, so zu reden . . . Mitten im Buschwald, von Ihren Banditen umringt, muß mir da nicht aller Mut vergehen, Ihnen zu grollen?

Orso machte eine Beugung, um die Hand zu küssen, die ihm den Talisman zurückgegeben hatte; und da Miß Lydia ihre Hand ein wenig hastig zurückzog, verlor er das Gleichgewicht und fiel auf seinen verwundeten Arm. Er konnte einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.

Sie haben sich weh getan, mein Freund? rief sie aus, indem sie ihn wieder emporhob. Daran bin ich schuld. Verzeihen Sie mir!

Sie sprachen noch einige Zeit leise miteinander, sehr nahe eins dem andern. Kolomba, die eilig herbeikam, fand sie noch in derselben Stellung, in der sie sie verlassen hatte.

Die Voltigeurs! rief sie. Orso, suche dich zu erheben und zu gehen! Ich werde dir helfen.

Laßt mich! sagte Orso. Sage den Banditen, sie sollen fliehen. Man mag mich gefangennehmen. Es ist mir einerlei . . . Aber nimm Miß Lydia mit fort, um des Himmels willen, daß man sie hier nicht sieht!

Ich werde Euch nicht verlassen, sagte Brandolaccio, der Kolomba folgte. Der Sergeant der Voltigeurs ist ein Patenkind des Advokaten. Statt Euch festzunehmen, wird er Euch töten und sagen, er hätte es nicht mit Absicht getan.

Orso versuchte aufzustehen; er tat sogar einige Schritte; aber er gab es bald wieder auf. Ich kann nicht weiter, sagte er. Leben Sie wohl, Miß Nevil. Geben Sie mir die Hand und leben Sie wohl!

Wir werden nicht gehen! riefen die beiden Frauen aus.

Wenn Ihr nicht gehen könnt, sagte Brandolaccio, muß ich Euch tragen. Auf, Herr Leutnant, nur Mut! Ihr werdet Zeit genug haben, dort durch die Schlucht zu entkommen. Der Herr Pfarrer wird die Soldaten schon so lange aufhalten.

Nein, laßt mich! sagte Orso, indem er auf die Erde sank. Um alles in der Welt, Kolomba, bringe Miß Nevil fort!

Ihr habt Kraft, Fräulein Kolomba! sagte Brandolaccio. Packt ihn bei der Schulter! Ich nehme die Füße. Gut so! Vorwärts!

Sie fingen an, ihn rasch fortzutragen, trotz seines Widerstrebens. Miß Lydia folgte ihnen in gräßlicher Angst, als man einen Flintenschuß hörte, auf den fünf oder sechs andre sogleich antworteten. Miß Lydia stieß ein Geschrei aus; Brandolaccio eine Verwünschung, aber er verdoppelte seine Eile. Kolomba, seinem Beispiel folgend, lief durch die Macchia, ohne auf die Zweige zu achten, die ihr ins Gesicht drangen und ihr die Kleider zerrissen.

Bücken Sie sich, bücken Sie sich, Beste! sagte sie zu ihrer Gefährtin. Eine Kugel kann Sie treffen.

Man ging, oder vielmehr man lief so fünfhundert Schritte weiter, als Brandolaccio erklärte, er könne nicht mehr. Ungeachtet der Ermahnungen und Vorwürfe Kolombas ließ er sich auf die Erde fallen.

Wo ist Miß Nevil? fragte Orso.

Miß Nevil, durch die Flintenschüsse erschreckt und aller Augenblicke durch das Gestrüpp aufgehalten, hatte bald die Spur der Flüchtigen verloren und war allein in größter Angst zurückgeblieben.

Sie ist zurückgeblieben, sagte Brandolaccio, aber sie ist nicht verloren. Weiber finden sich immer wieder. Hört, Orsanton, was für tollen Lärm der Pfarrer mit Eurer Flinte macht! Schade nur, daß man nichts sieht und sich im Stockdunkeln kein großes Leid antun kann.

Still! rief Kolomba. Ich höre ein Pferd. Wir sind gerettet!

Wirklich kam ein Pferd, das durch die Macchia lief und durch die Flintenschüsse scheu geworden war, in ihre Nähe.

Wir sind gerettet! wiederholte Brandolaccio. Auf das Pferd zueilen, es bei der Mähne fassen, ihm statt des Zaums einen Strick in das Maul knoten, war für den Banditen, unterstützt durch Kolomba, die Sache eines Augenblicks.

Jetzt müssen wir den Pfarrer rufen! sagte er. Er pfiff zweimal. Ein entfernter Pfiff antwortete auf das Zeichen, und plötzlich hörte die Mantonflinte auf zu knallen. Brandolaccio sprang aufs Pferd; Kolomba setzte ihren Bruder vor den Banditen hin, der ihn mit fester Hand faßte, während er mit der andern die Zügel handhabte.

Trotz seiner doppelten Ladung trabte das Pferd, durch zwei tüchtige Stöße in den Bauch angespornt, rasch davon und lief im Galopp einen Abhang hinab, wobei jedes andre Pferd verunglückt wäre.

Kolomba ging darauf zurück und rief Miß Nevil aus Leibeskräften, aber keine Stimme antwortete der ihren. Nachdem sie einige Zeit umhergelaufen war, um den Weg, den sie verfolgt haben mochte, zu finden, stieß sie auf zwei Voltigeurs, die ihr zuriefen: Wer da?

Meine Herren, sagte sie mit spöttischem Ton, das ist ja ein Höllenlärm. Wieviel Tote?

Sie waren bei den Banditen, sagte einer der Soldaten. Sie werden mit uns kommen.

Sehr gern, erwiderte sie; aber ich habe hier eine Freundin. Die müssen wir erst suchen.

Ihre Freundin ist schon gefangen, und Sie werden mit ihr im Gefängnis schlafen.

Im Gefängnis, das wollen wir doch sehen; aber zuvörderst fuhren Sie mich zu ihr!

Die Voltigeurs führten sie an die Lagerstelle der Banditen, wo sie die Trophäen ihres siegreichen Streifzuges zusammengestellt hatten, nämlich den Pilone, der Orso bedeckt hatte, eine alte Bratpfanne und einen Krug voll Wasser. Am selben Orte befand sich Miß Nevil, die von den Soldaten aufgefunden war und halbtot vor Angst durch Tränen auf die Fragen über die Zahl der Banditen und die von ihnen eingeschlagene Richtung Antwort gab.

Kolomba warf sich ihr in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: Sie sind gerettet!

Dann wandte sie sich an den Sergeanten der Voltigeurs.

Herr Sergeant, sagte sie zu ihm, Sie sehen, daß Mademoiselle von allem, was Sie sie fragen, nichts weiß. Lassen Sie uns zum Dorfe zurückkehren, wo man uns mit Ungeduld erwartet.

Man wird Sie schneller dahin abführen, Kleine, als Sie wünschen, sagte der Sergeant, und Sie werden sich darüber zu verantworten haben, was Sie zu dieser Stunde bei den entflohenen Banditen zu schaffen hatten. Ich weiß nicht, welche Hexerei diese Halunken anwenden, aber sie tun es den Frauen und Mädchen an, denn überall, wo Banditen sind, kann man auch sicher sein, hübsche Weiber zu finden.

Sie sind galant, Herr Sergeant! sagte Kolomba, aber Sie täten wohl daran, Ihre Worte etwas zu bedenken. Dies Fräulein ist eine Verwandte des Präfekten; mit ihr darf man sich keine Scherze erlauben.

Verwandte des Präfekten! flüsterte ein Voltigeur seinem Führer zu; da muß man sich in acht nehmen. Wahrhaftig, sie hat einen Hut auf.

Der Hut tut nichts zur Sache, meinte der Sergeant. Sie waren beide beim Pfarrer, der der größte Weiberheld im Lande ist, und meine Pflicht ist es, sie abzuführen. Wir haben hier jetzt nichts weiter zu schaffen. Wäre der verfluchte Maupin nicht gewesen, der versoffene Franzose, der sich zeigen mußte, ehe ich den Buschwald umstellt hatte, so hätten wir sie alle wie in einem Netze gefangen.

Seid Ihr Eurer sieben? fragte Kolomba. Wissen Sie, meine Herren, ob zufällig die drei Brüder Gambini, Sarocchi und Theodor Poli am Sankt-Christinen-Kreuz mit dem Pfarrer und Brandolaccio zusammen waren? Die könnten Ihnen doch zu schaffen machen. Wenn Ihr eine Unterhaltung mit dem Beherrscher des Feldes hättet, so möchte ich lieber nicht dabei sein. Die Kugeln wissen bei Nacht Freund und Feind nicht zu unterscheiden.

Die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit den eben genannten furchtbaren Banditen machte offenbar Eindruck auf die Voltigeurs. Während der Sergeant fortwährend gegen den Korporal Maupin, diesen Hund von einem Franzosen, fluchte, gab er Befehl zum Abmarsch, und seine kleine Truppe schlug den Weg nach Pietranera ein, indem sie den Pilone und die Pfanne mitschleppte. Was den Wasserkrug anbetrifft, so machte ihm ein Fußstoß den Garaus. Ein Voltigeur wollte Miß Lydias Arm nehmen, aber Kolomba stieß ihn sofort zurück.

Daß niemand sie anrührt! sagte sie. Glaubt Ihr, daß wir Lust hätten zu fliehen? Kommen Sie, teure Lydia, stützen Sie sich auf mich, und weinen Sie nicht wie ein Kind! Das ist nun ein Abenteuer, aber es wird nicht schlimm enden. In einer halben Stunde sind wir beim Abendessen. Ich, ich bin halbtot vor Hunger.

Was wird man von mir denken! fragte Miß Nevil leise.

Man wird denken, daß Sie sich in der Macchia verirrt haben; das ist alles.

Was wird der Präfekt sagen, und besonders mein Vater?

Der Präfekt? Dem werden Sie erwidern, er möge sich um seine Präfektur bekümmern. Ihr Vater? Nach Ihrem Gespräch mit Orso möchte ich glauben, Sie hätten Ihrem Herrn Vater etwas Besonderes zu sagen.

Miß Nevil drückte ihr den Arm ohne zu antworten. Nicht wahr, flüsterte Kolomba ihr ins Ohr, mein Bruder verdient, daß man ihn liebt? Lieben Sie ihn nicht ein wenig?

Ach, Kolomba, antwortete Miß Nevil, indem sie trotz ihrer Bestürzung lächelte, Sie haben mich verraten, mich, die ich so viel Vertrauen in Sie gesetzt habe!

Kolomba schlang ihren Arm um ihren Leib und küßte sie auf die Stirn, indem sie sagte:

Liebe Schwester, verzeihst du mir?

Ich muß wohl, erwiderte Lydia, den Kuß zurückgebend.

Der Präfekt und der Staatsanwalt wohnten im Gemeindeamt von Pietranera; und der Oberst, sehr unruhig wegen seiner Tochter, kam aller Augenblicke und erkundigte sich. Endlich erschien ein Voltigeur, der als Eilbote vom Sergeanten entsendet war, und erzählte ihnen den furchtbaren Kampf gegen die Banditen, in dem es weder Verwundete noch Tote gegeben, bei dem man aber eine Bratpfanne, einen Pilone und zwei Mädchen erbeutet hatte, die, wie er sagte, die Liebsten und Kundschafterinnen der Banditen seien. So angekündigt erschienen die beiden Gefangenen inmitten der Soldaten. Man kann sich die vor Heiterkeit strahlende Miene Kolombas, die Verschämtheit ihrer Gefährtin, das Erstaunen des Präfekten und die Verwunderung des Obersten denken. Der Staatsanwalt machte sich das boshafte Vergnügen, die arme Lydia einer Art Verhör zu unterziehen, das sie fassungslos machte.

Mich dünkt, sagte der Präfekt, daß wir die ganze Gesellschaft in Freiheit setzen können. Die jungen Damen sind spazierengegangen. Nichts ist natürlicher bei schönem Wetter. Sie sind zufällig einem liebenswürdigen, verwundeten jungen Manne begegnet; nichts natürlicher.

Dann, indem er Kolomba beiseite nahm, sagte er: Mademoiselle, Sie können Ihrem Bruder melden, daß seine Sache eine bessere Wendung nimmt, als ich geglaubt hatte. Die Untersuchung der Leichen und die Aussage des Obersten beweisen, daß er die Schüsse nur erwidert hat, und daß er im Augenblick des Kampfs allein war. Alles wird sich arrangieren; aber er muß den Buschwald so rasch wie möglich verlassen und sich dem Gericht stellen.

Es war beinahe elf Uhr, als sich der Oberst, seine Tochter und Kolomba zu Tische setzten zu einem kalt gewordenen Frühstück. Kolomba aß mit gutem Appetit, indem sie sich über den Präfekten, den Staatsanwalt und die Voltigeurs lustig machte. Der Oberst aß, sprach aber kein Wort, indem er seine Tochter dauernd betrachtete, die ihre Augen nicht vom Teller emporhob. Dann sagte er mit sanfter, aber ernster Stimme auf englisch zu ihr: Lydia, du bist also mit della Rebbia verlobt?

Ja, lieber Vater, seit heute, antwortete sie errötend, doch mit fester Stimme.

Dann schlug sie den Blick auf und, als sie in seiner Miene kein Zeichen von Unmut entdeckte, warf sie sich ihm in die Arme und küßte ihn, wie es wohlerzogene junge Mädchen bei solcher Gelegenheit zu tun pflegen.

Gut! sagte der Oberst. Rebbia ist ein braver Junge, aber bei Gott, in seinem Teufelslande bleiben wir nicht; andernfalls gebe ich meine Einwilligung nicht.

Ich verstehe kein Englisch, sagte Kolomba, die sie mit höchster Neugier betrachtete; aber ich wette, ich errate, was Sie sagen.

Wir sprechen davon, erwiderte der Oberst, daß wir Sie mit nach Irland nehmen.

Ja, gern, ich werde la surella Colomba sein. Abgemacht, Oberst? Geben wir uns darauf die Hand!

In solchem Fall, sagte der Oberst, gibt man sich einen Kuß!

XX

Einige Monate nach dem Doppelschuß, der die Gemeinde von Pietranera in Bestürzung versetzte, wie es im Zeitungsstil heißt, ritt ein junger Mann, den linken Arm in der Binde, aus Bastia und schlug die Richtung nach dem Dorfe Kardo ein, das wegen seiner Quelle berühmt ist, die im Sommer den feinen Leuten der Stadt ein köstliches Wasser bietet. Ein junges Weib, von hohem Wuchs und hervorragender Schönheit, begleitete ihn auf einem schwarzen Pferdchen, dessen Kraft und Schnittigkeit der Kenner bewundert hätte; leider war ihm das eine Ohr durch ein sonderbares Ereignis verstümmelt.

Im Dorfe sprang das junge Weib rasch vom Pferd, und nachdem sie ihrem Begleiter beim Absitzen behilflich gewesen, schnallte sie ihre beiden schweren Packtaschen ab. Die Pferde wurden einem Bauern übergeben, und das Weib mit den Taschen, die es unter seinem Mezzaro verbarg, und der junge Mann, der eine Doppelflinte auf der Schulter trug, schlugen auf einem sehr steilen Fußpfad, der kaum zu einer Behausung führen konnte, den Weg in die Berge ein.

Auf einer der oberen Terrassen des Berges Quercio hielten sie an und setzten sich beide ins Gras. Sie erwarteten wohl jemanden, denn sie richteten unaufhörlich ihre Augen nach dem Gebirge, und das junge Weib sah oft nach der Uhr, vielleicht mehr, um einen Edelstein zu betrachten, den sie seit kurzem besaß, als um zu erfahren, ob das Stelldichein heranrücke. Sie brauchte nicht lange zu warten. Ein Hund sprang aus dem Buschwald und umwedelte sie, als er den Namen Brusco hörte. Bald darauf erschienen zwei bärtige Männer, die Flinte unterm Arm, die Pulvertasche am Gürtel und die Pistole an der Seite. Ihre zerrissenen und geflickten Kleider standen in Widerspruch zu ihren glänzenden Waffen aus einer berühmten Fabrik des Festlands. Trotz des unverkennbaren Gegensatzes ihrer gesellschaftlichen Stellung begrüßten sich diese vier Personen wie alte Freunde.

Nun, Orsanton, sagte der älteste der Banditen zum jungen Manne, Eure Sache ist in Ordnung. Die Untersuchung ist niedergeschlagen. Meinen Glückwunsch! Es tut mir nur leid, daß der Advokat nicht mehr auf der Insel ist, so daß Ihr seinen Ärger nicht seht. Und Euer Arm?

In vierzehn Tagen, sagt man mir, darf ich meine Binde ablegen. Brando, braver Kerl, ich reise morgen nach Italien und wollte dir wie auch dem Herrn Pfarrer Lebewohl sagen; darum habe ich euch hierher bestellt.

Ihr habts recht eilig! sagte Brandolaccio. Gestern sind Sie freigesprochen, und morgen reisen Sie ab!

Ja, man hat Geschäfte, sagte das junge Weib frohgelaunt. Meine Herren, ich habe Ihnen zu essen mitgebracht. Essen Sie und vergessen Sie meinen Freund Brusco nicht!

Sie verwöhnen den Brusco, Fräulein Kolomba; aber er ist dankbar. Sie werden es sehen. Achtung, Brusco, rief er, indem er seine Flinte wagerecht ausstreckte. Einen Sprung für die Barricini!

Der Hund blieb unerbittlich stehen, leckte sich das Maul und sah seinen Herrn an.

Einen Sprung für die della Rebbia!

Und er sprang zwei Fuß höher als nötig.

Hört, meine Freunde, sagte Orso, ihr treibt ein elend Handwerk. Wenn es auch nicht gerade auf dem üblen Platze da unten endet; das Beste, was ihr zu erwarten habt, ist die Kugel eines Gendarmen in der Macchia.

Und wenn schon, sagte Castriconi, das ist ein Tod wie jeder andre und besser als das Fieber, das einen im Bette umbringt mitten unter dem Geheule mehr oder minder aufrichtiger Erben. Wenn man an die frische Luft gewöhnt ist wie wir, dann gibt es nichts Besseres als in seinen Stiefeln zu sterben, wie die Leute im Dorf sagen.

Ich möchte, sagte Orso, ihr verließet das Land und führtet ein etwas ruhigeres Leben. Zum Beispiel, warum geht ihr nicht nach Sardinien, wie es mehrere eurer Kameraden getan? Ich könnte euch die Mittel dazu verschaffen.

Nach Sardinien? rief Brandolaccio aus. Istos Sardos! Der Teufel soll sie mit ihrem Kauderwelsch holen. Das ist für uns zu schlechte Gesellschaft.

In Sardinien, fügte der Theologe hinzu, gibt es keine Schlupfwinkel. Ich verachte die Sarden. Um Banditen zu jagen, brauchen sie eine berittene Truppe; ein Schimpf, zugleich für die Banditen wie für das Land. Pfui über Sardinien! Es wundert mich, Herr della Rebbia, daß Ihr, der Ihr ein Mann von Geschmack und Wissen seid, unsre Lebensweise in der Macchia wieder aufgebt, nachdem Ihr sie gekostet habt.

Bedenkt, entgegnete Orso, als ich das Vergnügen hatte, euer Tischgenosse zu sein, war ich nicht imstande, alle Reize eures Daseins zu würdigen. Die Rippen tun mir noch weh, wenn ich mich des Rittes in einer gewissen Nacht erinnere, wo ich wie ein Sack auf einem Pferde ohne Sattel lag, das mein Freund Brandolaccio führte.

Und das Vergnügen, der Verfolgung entwischt zu sein, gilt Euch nichts? Wie können Sie unempfänglich sein für den Reiz der unbegrenzten Freiheit in einem Klima wie dem unsrigen? Mit diesem Szepter (er zeigte seine Flinte) ist man überall König, wohin man seine Kugel sendet. Man herrscht; man straft das Unrecht. Das ist eine höchst moralische Unterhaltung, die wir uns mitunter erlauben. Welch schönes Leben, ein fahrender Ritter zu sein, wenn man besser bewaffnet und vernünftiger ist als Don Quichotte! Hören Sie! Neulich erfuhr ich, daß der Ohm der kleinen Lilla Luigi, der alte Geizkragen, ihr keine Mitgift geben wollte. Ich habe ihm geschrieben, ohne zu drohen, dann das ist nicht meine Weise, und plötzlich war er dazu geneigt. Jetzt ist sie verheiratet. Ich habe zwei Menschen glücklich gemacht. Glauben Sie mir, Herr Orso, es geht nichts über das Banditenleben. Wäre es nicht um eine gewisse Engländerin, die ich nur flüchtig gesehen habe, von der aber jedermann in Bastia mit Bewunderung spricht, wer weiß, ob Ihr nicht doch einer der Unsrigen würdet!

Meine künftige Schwägerin, sagte Kolomba lachend, liebt die Macchia nicht; sie hat darin zuviel Angst ausgestanden.

Wenn ihr hier bleiben wollt, meinetwegen! Sagt mir nur, ob ich etwas für euch tun kann.

Nichts, sagte Brandolaccio, als uns ein wenig Andenken bewahren. Sie haben uns mit Güte überhäuft. Chilina hat ihre Mitgift, und um ihr weiterzuhelfen, ist es nur nötig, daß der Pfarrer einen Brief ohne Drohung schreibt. Wir wissen, daß Euer Pächter uns Brot und Pulver im Notfall gibt; also, lebt wohl! Ich hoffe, Euch hienieden einmal in Korsika wiederzusehen.

In der Not, sagte Orso, sind ein paar Goldstücke etwas wert. Jetzt, da wir alte Bekannte sind, werdet ihr mir diesen kleinen Beutel nicht abschlagen.

Kein Geld unter uns, Herr Leutnant! sagte Brandolaccio entschieden.

Geld macht alles in der Welt! meinte Castriconi, aber in der Macchia schätzt man nur ein tapferes Herz und eine Flinte, die nie versagt.

Ich möchte euch nicht verlassen, ohne Euch irgendein Angedenken zu geben. Brando, was kann ich dir schenken?

Der Bandit kratzte sich hinter den Ohren, und indem er auf Orsos Doppelflinte einen schielenden Blick warf, sagte er:

Verdammt, wenn ich wagte . . . doch nein, Ihr hängt zu sehr daran.

Was ist es, das du dir wünschest?

Nichts. Das Ding an sich tut's nicht. Es kommt auf die Handhabung an. Ich denke immer an den verteufelten Doppelschuß mit einer Hand. So etwas macht man nicht zweimal.

Willst du diese Flinte? Ich habe sie für dich mitgebracht; aber bediene dich ihrer so wenig wie möglich.

Daß ich sie handhaben werde wie Ihr, das kann ich nicht versprechen, aber seid ruhig! Wenn ein andrer sie einmal besitzen wird, dann dürft Ihr sagen: Brando Savelli hat dem Tode salutiert.

Und Ihr, Castriconi, was soll ich Euch geben?

Da Ihr mir durchaus ein greifbares Angedenken hinterlassen wollt, so möchte ich Euch ohne Umschweif bitten, mir einen Horaz in möglichst winziger Ausgabe zu stiften. Das wird mich zerstreuen und mich hindern, mein Latein zu verlernen. In Bastia, im Hafen, ist ein Mädel, das Zigarren verkauft; gebt das Büchlein dort ab; sie wird es mir zustellen.

Ihr sollt einen Elzevir haben, Herr Gelehrter; es befindet sich just einer unter den Büchern, die ich mitnehmen wollte. Jetzt, ihr lieben Freunde, müssen wir uns trennen! Geben wir uns die Hand! Wenn ihr einmal Sardinien besuchen wollt, dann schreibt an den Advokaten N***; er wird Euch meinen Wohnort auf dem Festlande mitteilen.

Herr Leutnant, sagte Brando, morgen, wenn Ihr aus dem Hafen seid, dann schaut nach den Bergen zurück. Wir werden hier stehen und mit unsern Tüchern schwenken.

Sodann trennten sie sich. Orso und seine Schwester schlugen den Weg nach Kardo ein und die Banditen den ins Gebirge.

XXI

An einem schönen Aprilmorgen fuhr der Oberst Sir Thomas Nevil mit seiner Tochter, die seit einigen Tagen verheiratet war, sowie mit Orso und Kolomba in einer Kalesche aus den Toren von Pisa, um eine etruskische Grabanlage zu besehen, die seit kurzem entdeckt war und von allen Fremden besucht wurde. Unten im Gewölbe zogen Orso und seine Frau ihre Bleistifte heraus und zeichneten die Wandgemälde ab; der Oberst und Kolomba, beide gleichgültig gegen die Archäologie, ließen sie allein und schlenderten durch die Umgegend.

Meine liebe Kolomba, sagte der Oberst, nimmermehr werden wir zur rechten Zeit nach Pisa kommen zu unserm Luncheon. Sind Sie nicht hungrig? Orso und seine Frau stecken in den Altertümern; wenn sie zusammen zeichnen, hören sie nicht wieder auf.

Ja, sagte Kolomba; und doch bekommt man davon nie etwas zu sehen.

Mein Rat wäre, sagte der Oberst, daß wir in die kleine Meierei da gingen. Dort finden wir Brot, vielleicht Aleatico, und wer weiß, sogar Erdbeeren und Milch. Dabei könnten wir behaglich unsre Zeichner erwarten.

Sie haben recht, Oberst, Sie und ich, die wir die Vernünftigen der Familie sind, wir täten unrecht, uns zu Opfern dieser Verliebten machen zu lassen, die nur von Poesie leben. Geben Sie mir den Arm! Nicht wahr, ich fange an, mich zu bilden? Ich hake den Arm ein, ich setze einen Hut auf, habe Kleider nach der Mode und Schmucksachen. Ich lerne allerlei schöne Dinge; ich bin gar keine Wilde mehr. Sehen Sie nur, mit welcher Grazie ich diesen Schal trage! Jener Blondkopf, Ihr Regimentskamerad, der bei der Hochzeit war, ach, ich kann seinen Namen nicht behalten, dieser Dandy, den ich mit einer Hand umstoßen könnte . . .

Chatworth? sagte der Oberst.

Ja, der! Seinen Namen werde ich nie aussprechen lernen. Wissen Sie? Der ist verliebt in mich.

Ei, ei, Kolomba, Sie werden kokett. Es wird nicht lange dauern, da haben wir eine zweite Hochzeit.

Ich mich verheiraten? Wer sollte dann meinen Neffen erziehen, wenn Orso mir einen geschenkt haben wird? Wer sollte ihm das Korsische beibringen? Denn Korsisch soll er sprechen, und ich werde ihm eine Zipfelmütze verfertigen, um Sie wütend zu machen.

Warten wir zunächst, bis Sie einen Neffen haben. Dann können Sie ihn auch lehren, den Dolch zu gebrauchen, wenn Sie es für gut halten.

Fort mit den Dolchen! sagte Kolomba lustig. Jetzt habe ich einen Fächer, um Ihnen damit auf die Finger zu schlagen, wenn Sie Böses von meinem Lande reden.

Indem sie so plauderten, traten sie in die Meierei ein, wo sie Wein, Erdbeeren und Milch fanden. Kolomba half der Pächterin Erdbeeren suchen, während der Oberst Aleatico trank. An der Ecke eines Gartenganges bemerkte Kolomba einen Greis, der auf einem Strohstuhl in der Sonne saß und offenbar krank war, denn er hatte fahle Wangen und tiefliegende Augen; er war äußerst mager, und seine Unbeweglichkeit, seine Blässe, sein starrer Blick machten, daß er eher einem Leichnam glich als einem lebenden Wesen. Während mehrerer Minuten betrachtete Kolomba ihn dermaßen scharf, daß sie die Neugier der Pächterin erregte.

Dieser arme Greis, sagte die Frau, ist einer Ihrer Landsleute, denn ich höre es an Ihrer Aussprache, daß Sie Korsin sind. Er hat in seinem Vaterlande Unglück gehabt; seine Kinder sind auf schreckliche Weise umgekommen. Man sagt, ich bitte um Verzeihung, mein Fräulein, daß Ihre Landsleute in ihrer Feindschaft nicht ganz zart seien. Seitdem ist der arme Herr, allein und verlassen, nach Pisa gekommen zu einer entfernten Verwandten, der Besitzerin dieses Pachthofes. Der arme Kerl ist nicht mehr ganz richtig im Kopfe; das kommt vom Unglück und vom Kummer. Das ist lästig für Madame, die gern Besuche hat; und darum hat sie ihn hierher geschickt. Er ist sehr sanft und stört gar nicht. Er sagt den ganzen Tag keine drei Worte. Der Arzt kommt jede Woche, und er meint, er werde es nicht lange mehr machen.

Also ein Todeskandidat! sagte Kolomba. In seiner Lage ist es ein Glück, wenn es aus ist.

Sie sollten mit ihm ein wenig Korsisch sprechen, gnädiges Fräulein. Es würde ihn gewiß erheitern, die Sprache seiner Heimat zu hören.

Das wird sich herausstellen, sagte Kolomba mit ironischem Lächeln und näherte sich dem Greise, bis ihr Schatten ihm die Sonne nahm. Da erhob der Schwachsinnige sein Haupt und blickte Kolomba scharf an, die ihn weiter lächelnd betrachtete. Nach einem Augenblick fuhr der Greis mit seiner Hand über das Gesicht und schloß seine Augen, als wolle er Kolombas Blick entgehen. Dann öffnete er sie wieder, aber übermäßig weit. Seine Lippen zitterten; er wollte die Hände ausstrecken, aber durch Kolomba gebannt, war er wie festgenagelt auf seinem Stuhl und außerstande, zu sprechen oder sich zu regen. Schließlich flossen dicke Tränen aus seinen Augen, und einige Seufzer entwanden sich seiner Brust.

Das ist das erstemal, daß ich ihn so sehe, meinte die Pächtersfrau. Das gnädige Fräulein ist aus Ihrem Lande. Sie ist gekommen, Sie zu besuchen, sagte sie zum Greise.

Erbarmen! rief er mit stockender Stimme. Bist du nicht befriedigt? Wie hast du es fertig gebracht, jenes Blatt zu lesen, das ich verbrannt hatte? Aber warum alle beide? Du hättest mir einen lassen sollen, einen einzigen, Orlanduccio . . . Gegen den konntest du nichts haben . . . Seinen Namen hast du nicht gelesen.

Ich mußte sie beide haben, erwiderte ihm Kolomba leise in korsischer Mundart. Die Äste sind abgeschnitten, und wäre der Stamm nicht morsch, ich hätte ihn ausgerodet. Geh, beklage dich nicht! Du hast nicht mehr lange zu dulden. Ich aber, ich habe zwei Jahre gelitten!

Der Greis stieß einen Schrei aus, und das Haupt sank ihm auf die Brust. Kolomba wandte ihm den Rücken zu und kehrte langsam ins Haus zurück, indem sie einige unverständliche Worte aus einem Vocero sang:

Hab die Hand, die abgedrückt hat,
Hab das Auge, das gezielet,
Hab das Herz, das ausgesonnen
Die verruchte Freveltat . . .

Während die Pächterin sich beeilte, dem Greise beizuspringen, setzte sich Kolomba mit erregtem Gesicht und flammendem Auge zum Obersten zu Tisch.

Was haben Sie? fragte er. Sie sehen gerade so aus, wie in Pietranera am Tage, wo man uns beim Mittagsmahle Kugeln auftischte.

Erinnerungen an Korsika sind mir ins Gedächtnis gekommen. Aber es ist vorbei. Ich werde Patin sein, nicht wahr? O, welch schöne Namen werde ich dem Jungen geben: Ghilfuccio – Tomaso – Orso – Leone!

In diesem Augenblick trat die Frau wieder ein.

Nun? fragte Kolomba mit größter Kaltblütigkeit. Ist er tot oder bloß ohnmächtig?

Es ist nichts, gnädiges Fräulein; aber es ist doch sonderbar, welche Wirkung Ihr Anblick auf ihn gehabt hat.

Hat der Arzt nicht gesagt, daß er nicht mehr lange zu leben habe?

Vielleicht noch zwei Monate.

Das wird kein großer Verlust sein, meinte Kolomba.

Teufel noch einmal! Von wem reden Sie? fragte der Oberst.

Von einem Verrückten aus meiner Heimat, erwiderte Kolomba mit gleichgültiger Miene, der hier Aufnahme gefunden hat. Ich werde mich von Zeit zu Zeit nach ihm erkundigen. Aber, lieber Oberst, lassen Sie doch Erdbeeren für meinen Bruder und für Lydia übrig!

Als Kolomba aus dem Meierhofe ging, um wieder in die Kalesche zu steigen, folgte ihr die Pächterin eine Weile mit den Augen.

Hast du das schöne Fräulein gesehen? sagte sie zu ihrer Tochter. Ich bin überzeugt, sie hat den Bösen Blick.

 

Anmerkungen eingearbeitet. joe_ebc für Gutenberg

 

Ende

 


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