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28. September
Meine Mutter ist tot. Heute früh erfuhr ich es durch eine Nachricht aus unserem Dorf. Obwohl ich von ihr nur Schläge erhalten habe, hat mich diese Nachricht tief getroffen. Ich habe geweint, geweint und geweint. Als Madame mich in Tränen sah, schimpfte sie mit mir.
»Was soll denn das wieder heißen!«
Ich antwortete:
»Meine Mutter, meine arme Mutter ist tot!«
Da antwortete Madame mit ihrer gewöhnlichen Stimme:
»Schön, das ist ein Unglück. Aber kann ich etwas dafür? Keinesfalls darf die Arbeit darunter leiden.«
Das war alles. An Güte wird dieses Weib bestimmt nicht zugrunde gehen. Was mich aber an diesem Fall besonders bedrückte, war, daß ich eine Kongruenz zwischen dem Tod meiner Mutter und dem Mord an dem kleinen Frettchen zu finden meinte. Ich erblickte darin eine Strafe des Himmels und glaubte, daß meine Mutter vielleicht noch am Leben wäre, wenn ich den Hauptmann nicht herausgefordert hätte, den armen Kléber zu töten. Was nützte es, wenn ich mir sagte, daß meine Mutter lange vor dem Frettchen gestorben war, die Ideenverbindung verfolgte mich den ganzen Tag. Ich hatte Gewissensbisse.
Am liebsten wäre ich sofort nach Audierne gefahren. Aber Audierne ist weit – von hier nach Hause wäre es eine Reise wie zum anderen Ende der Welt. Und ich hatte kein Geld. Von meinem ersten Monatsgehalt muß ich das Vermittlungsbüro bezahlen, und da wird kaum etwas übrigbleiben, um die Schulden zurückzuzahlen, die ich in meiner stellenlosen Zeit machen mußte.
Und was hätte es für einen Sinn, nach Hause zu fahren? Mein Bruder dient als Matrose auf einem Staatsschiff, das zur Zeit den Indischen Ozean durchquert. Das glaube ich wenigstens, denn ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Und Louise, meine Schwester? Von der weiß ich erst recht nichts. Seit sie mit Jean le Duff nach Concarneau durchgebrannt ist, hat man nie wieder etwas von ihr gehört. Weiß der Teufel, wo sie sich seither überall herumgetrieben hat! Wahrscheinlich ist sie in einem öffentlichen Haus gelandet, aber auch sie kann tot sein, auch sie ist vielleicht längst gestorben. Und ob mein Bruder noch am Leben ist, das ist gar nicht so sicher ...
Also wozu eine Reise nach Audierne? Was hätte ich schon davon? Dort lebt niemand mehr, den ich gekannt habe, und meine Mutter hat mir bestimmt nichts hinterlassen. Die paar Kleiderfetzen und etwas altes Gerümpel, das sie noch besaß, wird nicht einmal den Schnaps wert sein, den sie noch zum Schluß schuldig geblieben ist.
Es ist merkwürdig, ich denke jetzt mehr an sie als früher. Ich verspürte niemals Sehnsucht, sie einmal wiederzusehen. Von Zeit zu Zeit schrieb ich ihr, vor allem, wenn ich meine Stellung wechselte, damit sie meine Anschrift wußte. Sie hat mich immerzu geschlagen! Ich war reichlich unglücklich bei ihr, denn sie war eigentlich immer betrunken. Und jetzt macht mich die Nachricht von ihrem Tod dennoch traurig, und ich habe mit einemmal das Gefühl, verlassener zu sein als je.
Meiner Kindheit erinnere ich mich genau. Alle Menschen und Dinge zeichnen sich auf dem düsteren Hintergrund meiner Lehrjahre deutlich ab. Ach, es gibt wenig Gerechtigkeit im Leben. Glück und Unglück sind allzu ungleich verteilt, die einen haben alles, die anderen nichts.
Eines Nachts, ich werde es nie vergessen, obwohl ich damals noch sehr klein war, riß uns das Nebelhorn des Rettungsbootes aus dem Schlaf. Oh, sind solche Rettungsrufe in einer stürmischen Nacht unheimlich! Schon seit zwei Tagen tobte ein heftiger Sturm, der Hafen war weiß überschäumt von rasenden Wogen, nur einige Schaluppen hatten den Rückweg von draußen geschafft, die anderen gerieten in Seenot. Diese Armen ...
Mutter wußte, daß unser Vater sich in den Gewässern der Île de Seine auf Fischfang befand, und war deshalb nicht besonders in Sorge. Sie hoffte, er werde noch rechtzeitig den Inselhafen anlaufen, wie das schon öfters der Fall gewesen war. Trotzdem erhob sie sich beim dumpfen Ruf der Sirenen, zitternd und bleich, hüllte mich hastig in einen dicken Wollschal, nahm mich auf den Arm und lief mit mir zur Mole. Meine Schwester Louise, älter als ich und viel größer, lief mit unserem kleinen Bruder hinterdrein. Beide schrien im Laufen, der Kleine zuerst, abwechselnd: »Heilige Jungfrau! Herr Jesus!«
Die dunklen Gassen waren voll von Menschen: Frauen, Greise und Kinder. Alles, was Beine hatte, rannte. Am Hafen hörte man das Ächzen der dort verankerten Schiffe, und eine Menge vager Gestalten hasteten aufgeregt hin und her. Der wilde Sturm machte es unmöglich, sich auf der Mole aufzuhalten, unförmige Wellen klatschten gegen ihre Mauern und jagten den Gischt donnernd über die ganze befestigte Anlage hin. Meine Mutter schlug einen kleinen Pfad ein.
»Oh, Heilige Jungfrau! Ach, Herr Jesus!«
Sie erreichte auf diesem Weg rund um das Hafenbecken den Leuchtturm. Hie und da sah man in der dunklen Nacht Lichtsignale zwischen den weißen Kämmen der Wogen aufblitzen. Schwarz war die Erde, schwarz war das Meer. Und unheimlich starr und drohend ragte der Leuchtturm in die Höhe, umtost von schäumenden Wellen. Eng an Mutters Brust gepreßt, schlief ich, eingelullt von den gleichmäßigen Bewegungen ihres Laufens, in ihren Armen ein. Ich schlief wie gewiegt von ihrem Leib und von ihrem eintönigen »Heilige Jungfrau! Ach, Herr Jesus!« und erwachte erst wieder in einem großen Raum und entdeckte, eingekreist von dunklen Rücken und ernsten Gesichtern und Armen, die verzweifelt in der Luft ruderten, auf einem Feldbett einen großen Körper, den starren Leib eines Toten.
»Oh, Heilige Jungfrau! Ach, Herr Jesus!« Welch schrecklicher Anblick. Nackt und steif lag der Tote da, das Gesicht zerschunden, die Glieder voll blauer Flecken und von blutenden Wunden übersät ... Das war mein Vater.
Ich sehe ihn noch heute genauso vor mir. In seinem nassen Haar hatte sich Tang verfangen und türmte sich über seinem Schädel wie eine Krone. Einige Männer neigten sich über ihn, rieben ihn mit warmen Flanelltüchern und versuchten ihm durch den Mund Atem einzublasen, um ihn wiederzubeleben. Anwesend waren der Bürgermeister, der Schuldirektor, und auch der Zollhauptmann war da. Auch einer von den Seewächtern. Ich hatte Angst, ich befreite mich von dem warmen Schal und lief umher, lief auf dem nassen Steinboden zwischen den Männerbeinen hin und her, schrie nach meinem Vater – nach meiner Mutter. Schließlich hob mich eine Nachbarin auf und trug mich fort.
Von diesem Tag an ergab sich meine Mutter dem Alkohol, sie verfiel ihm mehr und mehr, das Saufen wurde ihr zum Leben. Zuerst versuchte sie es noch, Arbeit zu finden, man stellte sie in der Sardinenfabrik an, aber da sie meist betrunken war, wollte man sie nirgends behalten. Sie blieb also daheim, fuhr fort, sich zu betrinken, sie wurde launenhaft und trübsinnig, und wenn sie bis oben hin mit Schnaps voll war, schlug sie uns. Hemmungslos. Ich wundere mich noch heute, daß sie keinen von uns totgeschlagen hat.
War es nicht natürlich, daß ich von nun an, sooft es ging, vom Hause floh? Tagelang trieb ich mich am Kai herum, plünderte die Gärten und begab mich sehr waghalsig bei Ebbe hinaus. Oder ich lungerte in einer Mulde in der Nähe von Plogoff herum, hier grünten Weißdorn und Ginster, hier traf ich mich mit den Dorfjungen, und wir spielten und amüsierten uns in diesem vom Meerwind geschützten Winkel.
Wenn ich abends nach Hause kam, lag meine Mutter meist bewußtlos auf der Schwelle, Mund und Kinn befleckt von Erbrochenem, und neben ihr auf dem Boden die geleerten Flaschen. Ich mußte mit einem großen Schritt über sie hinwegsteigen. Wenn sie wieder zu sich kam, geschah Schreckliches, dann geriet sie in eine fürchterliche Zerstörungswut, sie achtete nicht auf meine Schreie und Bitten, sie riß mich aus den Federn, stieß mich durch die Stube gegen Möbel und Mauern und brüllte:
»Warte nur, wenn ich dich kriege! Warte nur! Gleich bekomme ich dich zu fassen, du!«
Oft trat sie mich mit Füßen, und ich glaubte, meine letzte Stunde sei gekommen.
Schließlich sank sie so tief, daß sie sich um Geld verkaufte, um Geld für Schnaps. Nachts, fast jede Nacht, schlug jemand dumpf an unsere Haustür. Dann ließ die Mutter einen Matrosen ein, und sofort füllte sich die Stube mit dem durchdringenden Gestank nach Salzwasser und Fischen. Sie legten sich zusammen ins Bett, er blieb etwa eine Stunde und ging wieder. Und der nächste kam, legte sich ebenfalls zu ihr ins Bett, blieb eine Stunde und verschwand. Oft gab es Streitereien. Schreckliche Schreie ertönten durch die dunkle Nacht, und mehr als einmal mußte die Gendarmerie eingreifen, um Ordnung zu schaffen.
So verstrichen die Jahre. Niemand wollte uns Kinder haben, weder mich noch meine Schwester, ebensowenig meinen Bruder. Im Dorf wich man uns überall aus, bessere Leute verjagten uns, indem sie uns Steine nachwarfen, wenn wir bettelnd vor ihren Fenstern auftauchten oder im Garten Obst und Gemüse stahlen. Eines Tages verschwand meine Schwester Louise, nachdem sie sich mit einem Matrosen eingelassen hatte, bald darauf ließ sich mein Bruder als Schiffsjunge anheuern.
Ich blieb allein zurück, allein mit meiner Mutter.
Mit zehn Jahren war ich nicht mehr unberührt. Das triste Beispiel meiner Mutter und die Spiele, in denen ich mich den Buben im Schutz der Dünen auslieferte, hatten meine körperliche Entwicklung rasch vorangetrieben. Trotz Hunger und Schlägen blieb ich gesund und wurde stark. Ich glaube, ich hatte mein blühendes Aussehen hauptsächlich der ungebundenen Lebensweise, die ich führte, zu verdanken, immer war ich an der frischen Luft, immer atmete ich den herben, starken Duft des Meeres. Daher machten sich bereits im elften Jahr die ersten Anzeichen der Pubertät bemerkbar, ich war stark gewachsen, und obwohl ich noch wie ein Kind aussah, war ich in Wirklichkeit bereits Frau.
Im zwölften Jahr war meine Entwicklung abgeschlossen, es war soweit. Man hatte mich zu einem richtigen kleinen Weib gemacht. Durch Vergewaltigung? Eigentlich nicht. Mit meiner Einwilligung? Halb und halb. Ich ließ es einfach in meiner keimenden Lasterhaftigkeit geschehen, obwohl ich noch ziemlich naiv war. Eines Sonntags, nach dem Hochamt, nahm mich der alte Vorarbeiter der Sardinenfabrik, ein scheußlich behaarter und wie ein alter Bock stinkender Kerl in die Gegend von Saint-Jean mit, schleppte mich dort am Strand in eine Felsenschlucht, wo Seeschwalben ihre Nester bauten. Dort an der Küste gibt es nämlich viele dunkle Verstecke für Strandgut, das die Matrosen aus dem Meer auffischen. In einem dieser Felsenwinkel wurde ich auf einem fauligen Seetanglager seine Beute, ohne daß ich mich irgendwie verteidigte oder wehrte; er besaß mich für eine Orange. Er hatte einen drolligen Namen: man nannte ihn Monsieur Cléophas Biscouille.
Ja, das war eine komische Sache, für die ich noch in keinem Roman ein Gegenstück gefunden habe. Monsieur Biscouille war häßlich, abstoßend, brutal, und ich kann offen gestehen, daß ich die vier- oder fünfmal, die er mich in jenem Felsenloch besaß, nicht das geringste Vergnügen empfand. Aber bei dem Gedanken an ihn, und ich denke öfters an ihn, empfinde ich nicht eine Spur von Haß. Offen gestanden, ich denke sogar gern daran zurück und bin ihm eigentlich irgendwie dankbar. Niemals habe ich mich mit Schaudern daran erinnert oder mich im nachhinein vor ihm geekelt, sondern immer empfand ich eine unerklärliche Zärtlichkeit, sogar echtes Bedauern, daß ich diesen unappetitlichen Kerl auf dem Lager aus fauligem Tang niemals wiedersehen werde.
Bei dieser merkwürdigen Feststellung sei mir trotz meiner unbedeutenden Existenz erlaubt, einen Beitrag zur Lebensgeschichte bedeutender Zeitgenossen hinzuzufügen.
Monsieur Paul Bourget war ein intimer Freund und geistiger Berater der Gräfin Fardin, bei der ich im vorigen Jahr als Kammerzofe diente. Ich hörte in diesem Haus oft sagen, daß nur er allein imstande sei, die komplizierte Seele der Frauen bis in ihre Abgründe zu durchleuchten. Damals kam mir öfters die Idee, ihm zu schreiben und ihm diesen speziellen Fall aus meinem persönlichen Sexualleben zu unterbreiten, aber aus irgendeinem Grund wagte ich es einfach nicht. Man wird ziemlich erstaunt sein über dieses prätentiöse Anliegen, das man kaum alle Tage bei einer Kammerzofe antreffen wird. Aber im Salon der Gräfin war meist von nichts anderem als von Psychologie die Rede. Es wurde längst festgestellt, daß die Gewohnheiten und Passionen unserer Herrschaften auf uns abfärben, und was man im Salon spricht, wiederholt sich in den Diensträumen des Hauspersonals. Nur hatten wir das Pech, in der Herrschaftsküche nicht über einen Bourget zu verfügen, der imstande gewesen wäre, unsere Probleme zu durchleuchten. Die Erklärungen, die Monsieur Jean zu den komplizierten Fällen, die uns erregten, bereit hatte, genügten mir nicht.
Eines Tages schickte mich meine Herrin mit einem dringenden Brief zu dem berühmten Meister. Und da er mir selbst die Antwort übergab, wurde ich kühn, ich wagte endlich, ihm die Frage vorzulegen, die mich beschäftigte. Vorsichtshalber tat ich so, als sei meine seltsame, unbegreifliche Geschichte das Erlebnis einer Freundin. Monsieur Bourget fragte mich:
»Wer ist denn dieses Mädchen? Ein einfaches Geschöpf aus dem Volk? Aus kleinen Verhältnissen vermutlich?«
»Sie ist Kammerzofe wie ich, verehrter Meister.«
Monsieur Bourget schnitt eine verächtliche Grimasse. Weiß Gott, er hatte für die einfachen Leute nichts übrig.
»Mit dem Seelenleben solcher Leute beschäftige ich mich nicht«, sagte er. »Sie haben zu kleinliche Seelen – wahrscheinlich haben sie überhaupt keine Seelen. In meiner Psychologie haben solche Geschöpfe keinen Platz.«
Ich begriff, daß in seinen Kreisen erst derjenige eine Seele hat, der mindestens über hunderttausend Franc Einkommen verfügt ...
Das war bei Monsieur Jules Lemaître, der ebenfalls im Haus verkehrte, ganz anders. Auch ihm stellte ich einmal dieselbe Frage, und da gab er mir einen zärtlichen Klaps auf den Podex und antwortete gemütlich:
»Nun, meine reizende Célestine, Ihre Freundin ist eben ein gutes Kind, und wenn sie Ihnen vielleicht ähnlich sieht, dann bin ich gerne bereit, sie unter vier Augen zu beraten. Hahahaha!«
Dieser bucklige, lustige Kerl mit seinem Faunsgesicht war wenigstens nicht eingebildet, er war gutmütig. Jammerschade, daß er später den Pfaffen in die Hände gefallen ist!
Ich weiß nicht, was in dieser Hölle von Audierne aus mir geworden wäre, hätten mich die kleinen Nonnen von Pontcroix nicht aus Mitleid bei sich aufgenommen. Sie fanden, ich sei intelligent und nett, und sie nützten nicht, wie sonst üblich, meine verzweifelte Lage, meine Jugend und meine Dummheit irgendwie aus, was ja häufig in Klöstern der Fall ist. Dort gibt man sich meist den Anschein der Wohltätigkeit und beutet die Ärmsten auf skandalöse Weise aus. Die Nonnen von Pontcroix waren selbst arme verschüchterte kleine Wesen, die es nicht fertigbrachten, auf die Straße oder in ein Haus betteln zu gehen. Wie oft hatten sie selbst kaum etwas zu beißen, aber sie kamen doch immer irgendwie zurecht. Trotz aller Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hatten, waren sie fröhlich wie die Meisen und zwitscherten den ganzen Tag. Ihre Lebensfremdheit hatte etwas Rührendes, und heute, da ich ihre Selbstlosigkeit besser einzuschätzen vermag, kommt mir in Erinnerung ihrer reinen Güte unwillkürlich das Wasser in die Augen ... Sie lehrten mich schreiben und lesen, flicken, wirtschaften und reinemachen, kurz alle für ein Dienstmädchen erforderlichen Dinge, und brachten mich dann bei einem pensionierten Oberst unter, der mit Frau und Töchtern die Sommermonate regelmäßig in einem kleinen baufälligen Schloß bei Comfort verbrachte. Brave, sehr brave Leute, aber so ledern und trocken. Und wunderlich! Niemals ein Lächeln auf den Lippen, nie ein farbenfrohes Kleid, immer nur schwarz, alles schwarz in schwarz, Kleider und Wesen. Der Oberst hatte sich unter dem Dachstuhl eines Turmes eine Drehbank aufstellen lassen, und dort drechselte er Tag für Tag Eierbecher aus Buchsbaumholz oder zur Abwechslung ovale Holzeier zum Strümpfestopfen. Madame schrieb unentwegt Gesuche, um die Erlaubnis zum Führen eines Tabakladens zu erlangen. Und die beiden Töchter sagten nichts und taten nichts. Die eine hatte einen Entenschnabel, die andere ein Kaninchengesicht, beide waren gelb und mager, ähnlich vertrockneten Pflanzen, denen es an Erde, Licht und Wasser mangelt. Ich langweilte mich fürchterlich unter diesen Leuten. Nach acht Monaten hatte ich zum Platzen genug von ihren sauren Mienen und lief Hals über Kopf davon, was ich später lebhaft bedauerte ...
War das unverständlich? Ich glaube nicht. Man bedenke nur: rings um mich atmete Paris, ich spürte den Herzschlag der großen Stadt. Ihr Leben erfüllte mich mit ungeduldigen, brennenden Wünschen. Obwohl ich nur selten ausging, hatte ich doch Gelegenheit, prächtige Straßen, glänzende Schaufenster, blitzende Equipagen, Menschen und Gebäude und vor allem die schönen Frauen von Paris zu bewundern. Und abends, wenn ich in das oberste Stockwerk zum Schlafengehen hinaufkrabbelte, beobachtete ich voll Neid die anderen Dienstboten des Hauses, die scherzten und allerhand Schabernack trieben, der für mich ungemein verlockend und aufregend war. So kurze Zeit ich in dem Haus verbrachte, so machte ich doch im sechsten Stockwerk die Bekanntschaft mit dem Laster der Großstadt und gab mich ihm mit der Neugierde der Novize hin. Oh, damals zwischen Vergnügen und Laster nährte ich so manche ehrgeizige Hoffnung, hegte ich so manchen trügerischen Traum.
Ach ja! Man ist eben jung und unerfahren, lebensfremd und lebenshungrig, man macht sich Illusionen von der großen Welt, von der man sehnsuchtsvoll träumt. Träume sind Schäume, nicht wahr?
Lauter dummes Zeug! Das Leben ist anders. Dieser Meinung war Monsieur Xavier, ein ganz ausgefallener Knabe, von dem bald die Rede sein wird.
Ich bin viel herumgekommen, man kann schon eher sagen, ich wurde herumgerollt. Ein scheußliches Leben, wenn ich so zurückdenke. Ich bin zwar noch jung, aber ich habe bereits Dinge erlebt – Dinge, die man besser nicht erzählt: aber mein Bedürfnis danach ist unwiderstehlich. Ich habe Menschen nackter als nackt gesehen, ich habe den Geruch ihrer Leiber, ihrer Wäsche, ihrer Seelen zu atmen bekommen. Trotz aller Parfüms, die sie gebrauchten, war dieser Geruch nicht zu verdecken. Ich habe es erlebt, wie sogenannte anständige Familien Schmutz, Laster und gemeine Verbrechen unter dem fadenscheinigen Mantel der Ehrenhaftigkeit geschickt verbergen. Mir können diese Leute nichts mehr vormachen, selbst wenn sie noch so reich sind, sich in Samt und Seide wickeln, ihre Möbel vergolden, sich in silbernen Schüsseln waschen und weiß Gott wie angeben – ich falle ihnen auf diese Komödie nicht hinein. Ich kenne dieses Gesindel. Sie sind weder fein noch anständig, ihre Charaktere sind schäbiger und dreckiger, als es das Bett meiner Mutter war.
Als Dienstbote ist man wirklich ein armes Luder. Immer ist man allein. Auch wenn man nette Kameraden hat und in einem fröhlichen Haus dient, bleibt man allein. Bei fremden Leuten leben bedeutet Einsamkeit. Für diese Menschen ist man weniger als ein Hund, den sie mit Leckerbissen vollstopfen, oder eine Zimmerpflanze, die sie wie ein eigenes Kind pflegen. Einsam sein heißt von fremden Leuten abgelegte Kleider geschenkt oder Speisereste nachgeworfen bekommen. Man hört Worte wie:
»Sie dürfen diese Birne essen, sie fault bereits.« Oder: »Essen Sie das Huhn auf, das in der Küche liegt, es riecht schon.« Jedes Wort drückt Nichtachtung aus, jede Geste Erniedrigung. Man darf dabei nicht aufmucken, man muß sich bedanken und lächeln, sonst wird man für undankbar und schlecht gehalten. Wie oft kam mich Lust an, einer meiner Herrinnen beim Frisieren den Nacken zu zerkratzen.
Na ja, glücklicherweise ist man nicht jeden Tag so rebellisch gelaunt. Man stumpft mit der Zeit ab und versucht irgendwie auf seine Kosten zu kommen, wie es eben geht.
Diesen Abend, nach Erhalt der Todesnachricht, wollte mich Marianne, da sie mich so traurig sah, ein wenig aufheitern. Sie holte aus der Tiefe des Büfetts aus einem Haufen alter Papiere und schmutziger Fetzen eine Flasche Schnaps hervor.
»Kopf hoch! Sie dürfen sich nicht gehenlassen. Sie müssen sich stärken, arme Kleine.«
Dann schenkte sie ein, stützte die Ellbogen auf den Tisch, und während sie uns immer wieder die Gläser füllte, erzählte sie eine Stunde lang mit ihrer schleppenden, weinerlichen Stimme die schrecklichsten Geschichten von Krankheiten und Entbindungen, vom Tod ihrer Mutter, ihres Vaters, und ihre Stimme wurde von Minute zu Minute, von Glas zu Glas langweiliger, in ihren Augen standen Tränen, wenn sie an ihrem Glas leckte, und dabei wiederholte sie ihre Sprüche:
»Sie dürfen sich Ihrem Gram nicht so hingeben. Gewiß, der Tod Ihrer Mutter ...« Sie nickte, »ein großes Unglück, wahrhaftig. Aber was wollen Sie? Wir alle müssen sterben – alle … Mein Gott! Arme Kleine!«
Plötzlich begann sie richtig zu weinen, sie heulte und heulte und jammerte, und zwischendurch ächzte sie:
»Man muß es hinnehmen, Kleine, einfach hinnehmen …«
Ihr Jammern wurde zu einem Stöhnen, das Stöhnen zu einem Spektakel, das Schluchzen verstärkte sich. Ihr großer Bauch und ihre riesigen Brüste begannen zu wogen, ihr Doppelkinn erzitterte, alles an dieser dicken Person geriet in Bewegung.
»Seien Sie endlich still, Marianne«, sagte ich, »wenn Madame Sie hört, kommt sie sofort herunter.«
Aber sie ließ sich nicht beruhigen und heulte noch lauter:
»Oh, welch ein Unglück! ... Welch großes Unglück!«
Schließlich wurde auch ich von ihren Tränen angesteckt, der Schnaps stieg mir zu Kopf, drückte auf meinen Magen, so daß ich mit Marianne um die Wette weinte wie eine Magdalena.
Trotzdem ist diese Marianne kein übles Mädchen.
Aber ich langweile mich hier – langweile mich. Ich langweile mich zum Sterben! ... Wäre ich doch bei einer Kokotte in Stellung! Oder in Amerika ...