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XIII.

13. November

Wenn ich so meine Dienstzeit überblicke, sehe ich mich auch bei den Nonnen von »Notre-Dame des Trente-six-Douleurs«, eine Art Fürsorgeheim und Stellenvermittlung für Dienstboten. Ein verblüffend schönes Etablissement mit weißer Fassade inmitten eines großen Gartens. In seinen gepflegten Anlagen traf man alle fünfzig Schritte auf Statuetten der Heiligen Jungfrau und zum Schluß auf eine kleine, prunkvoll von Kollektengeldern erbaute Kapelle, die, von hohen Bäumen umgeben, zu jeder Stunde ihr Glockengeläute ertönen ließ. Ich habe Glockenstimmen gern, sie rühren an mein Herz und erwecken längst vergessene vergangene Dinge. Wenn Glocken erklingen, schließe ich meine Augen, dann horche ich in mich hinein und erblicke liebliche Landschaften, die ich vielleicht nie gesehen habe und die mir trotzdem vertraut vorkommen, weil sie mit Kindheitserinnerungen erfüllt sind. Ich höre die Dudelsackpfeifen, ich sehe eine Küste, einen Sandstrand, eine Prozession sonntäglich gekleideter Menschen vor einer Kulisse Heideland ... Ding – ding – dong ... Es wirkt nicht sehr fröhlich, dieses schöne Bild, eher traurig, tief traurig sogar, wie die Liebe. Aber ich habe das gern, ich finde es schön. In Paris hört man meistens nur das Geklingel der Tram und das Rauschen der Wasserbehälter.

Bei den Nonnen der Heiligen Jungfrau schlief man auf Pritschen in einem Schlafsaal unter dem Dach; das Essen, das sie einem vorsetzten, für vierundzwanzig Sou pro Tag, war schändlich, man bekam nur schäbige Fleischabfälle und verdorbenes Gemüse. Ein Fraß. Das bedeutet also, daß diese Schwestern, wenn sie einem einen Posten verschafft hatten, das erste Gehalt für sich behielten. Und so was nannten sie einen ohne Bezahlung in einem Haus unterbringen. Zudem hieß es von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends arbeiten wie in einem Gefängnis, niemals ein Ausgang, kein freier Tag. Die Mahlzeiten und die Gottesdienste waren unsere Erholungspausen. Oh, diese Schwestern langweilten sich nicht, und ihre sogenannte Barmherzigkeit war nichts als ein famoser Trick.

Sie waren schlaue Leute. Sie verstanden es, einen für dumm zu verkaufen. Und ich sollte wohl mein Leben lang dumm bleiben. Aus allem, was ich bisher erlebte, habe ich blutwenig gelernt, ich stelle mich zwar so, als wüßte ich eine ganze Menge, aber am Ende bin ich es, die immer wieder hereingelegt wird.

»Ja, ja, meine Liebe«, hieß es dann, »bei uns geben sich die vornehmsten Damen ein Rendezvous, Komtessen, Marquisen suchen hier passende Zofen, da kann man leicht einen sehr guten Posten erwischen.«

Später, wieder einmal im tiefen Wellental meines Dienstbotenlebens, dachte ich voll Wehmut an die lieben guten Nonnen von Pont-Croix. Irgendwohin mußte ich schließlich gehen, denn wenn man keinen Groschen mehr im Beutel hat, darf man nicht hochmütig sein.

Als ich in diesem Kloster ankam, gab es dort ungefähr vierzig Stellungsuchende. Viele stammten aus der Bretagne, manche aus dem Elsaß, andere aus dem entlegenen Süden. Unter ihnen gab es Mädchen, die noch niemals gedient oder irgend etwas gelernt hatten. Ungeschickte, ungepflegte Geschöpfe, mit unschönem Teint, eingebildet dazu, und immer mit neugierigen Augen über die Klostermauern nach den Wundern von Paris ausspähend. Andere, die besser auf dem laufenden waren als ich, hatten ihre Stellung verloren.

Die Nonnen hier fragten mich, woher ich stamme, was ich könne, ob ich gute Zeugnisse und etwas erspartes Geld habe. Ich erzählte ihnen allerhand unmögliches Zeug, das nicht wahr war, und sie nahmen mich, ohne Erkundigungen einzuziehen, mit den Worten auf:

»Welch liebes Kind! Wir werden ihm eine gute Stellung suchen.«

Wir waren alle ihre lieben Kinder. Angeeifert durch die Aussicht auf die versprochene gute Stellung war jedes dieser lieben Kinder seinen Fähigkeiten entsprechend mit einer Arbeit beschäftigt. Einige arbeiteten in der Küche und versorgten das Haus, andere wieder verrichteten Gartenarbeit, wie männliche Gärtner. Mich betraute man sofort mit leichteren Arbeiten, man schickte mich in die Nähstube, da ich, wie Schwester Bonifazia meinte, geschickte Finger hatte und ein feineres Wesen. Mein erster Auftrag war, die Hosen des Anstaltsgeistlichen zu flicken und die Unterwäsche eines Kapuziners zu stopfen, der ab und zu in unserer Kapelle predigte. Diese Beinkleider! Diese Unterhosen! Diese Wäsche! Sie ähnelten wirklich in nichts der feinen Wäsche von Monsieur Xavier.

Als ich damit fertig war, übertrug man mir eine weniger klerikale Beschäftigung. Ich bekam feine Damenwäsche zu nähen und fühlte mich von nun an viel eher in meinem Element. Auch bei der Herstellung von Aussteuern und Babyausstattungen durfte ich mithelfen, da reiche, wohltätige Damen die Nonnen unterstützten und dafür bei ihnen solche Arbeiten bestellten.

Zuerst einmal empfand ich nach soviel Schicksalsschlägen die Ruhe und Gleichmäßigkeit dieses neuen Lebens wie eine Wohltat, trotz miserabler Ernährung, trotz der Hosen des Anstaltsgeistlichen, trotz Mangels an Freizeit und trotz des Ausbeutungssystems der Nonnen, ich erholte mich. Über alle diese gemeinen Schliche dachte ich zunächst nicht viel nach. Ich hatte mitunter sogar das Bedürfnis zu beten, ich hatte mein bisheriges Leben irgendwie satt und empfand darüber echte Reue. Mehrere Male beichtete ich dem Geistlichen, dessen schmutzige Hosen ich geflickt hatte, aber dieser ordinäre dicke Kerl, der wie ein alter Bock stank, stellte mir recht sonderbare Fragen, vor allem interessierte er sich für meine Lektüre.

»Armand Silvestre? Mein Gott, der ist sicher sehr anrüchig – aber nicht riskant. Jedenfalls nicht zur Nachahmung empfohlen. Vor allem, mein Kind, vermeiden Sie gottlose Bücher – Schriften gegen die Religion. Zum Beispiel Werke von Voltaire! Lesen Sie niemals etwas von Voltaire! Das wäre eine Todsünde. Auch nichts von Renan und Anatole France, die sind sehr gefährlich!«

»Und Paul Bourget, mein Vater?«

»Bourget – Paul Bourget. Der schlägt anscheinend den rechten Weg ein, da sage ich nicht direkt nein. Aber sein Katholizismus läßt noch zu wünschen übrig, er ist zu unseriös. Paul Bourget macht mir immer den Eindruck eines Waschzubers, in dem schon allerhand gewaschen wurde, einer Waschschüssel, in der außer Haaren und Seifenschaum auch ein paar Oliven des Kalvarienberges schwimmen. Besser abwarten, meine Tochter! Abwarten. Huysmans zum Beispiel ist empfehlenswert, oh, der ist stark, sapristi, sogar sehr stark! Aber orthodox.«

Später einmal sagte er noch:

»So, so, Sie haben also mit Ihrem Körper Dummheiten getrieben. Das war nicht recht. Mein Gott, das ist niemals gut. Wenn schon sündigen, dann lieber mit den Herrschaftsleuten, natürlich nur, wenn dieselben fromm sind, das ist besser als sich mit Personen des eigenen Standes einzulassen, denn das zieht nur herab. Gott ist nachsichtiger, wenn man sich mit den Herren der höheren Klasse abgibt, das irritiert ihn weniger. Vielleicht haben diese Personen eine Dispens. Viele besitzen tatsächlich solchen Vorzug ...«

Als ich zu ihm von Monsieur Xavier und seinem Vater sprach, hob er entsetzt die Hände:

»Keine Namen ...« rief er, »bitte ja keine Namen. Nennen Sie mir niemals Namen, mein Kind, halten Sie mich denn für einen von der Polizei? Übrigens handelt es sich bei den Leuten, die Sie mir gerade nennen, um durchaus begüterte und ehrenhafte Personen, sehr fromme Menschen. Folglich sind Sie im Unrecht, meine Tochter! Sie lehnen sich damit gegen die Moral und gegen die Gesellschaft auf ...«

Diese überflüssigen Unterhaltungen, vor allem seine Hosen, deren Gerüche nicht aus meinem Gedächtnis weichen wollten, ließen meinen religiösen Eifer erlahmen, auch meine Bereitwilligkeit zur Reue verflog. Die ganze Arbeit machte mir ebenfalls keine Freude mehr, im Gegenteil, ich bekam Heimweh nach meinem eigentlichen Beruf. Meine Ungeduld wuchs, ich dachte nur mehr daran, aus diesem Gefängnis auszubrechen und in die warme Intimität der Toilettenzimmer zurückzukehren. Ich sehnte mich nach den Schränken voll duftender Wäsche, nach knisterndem Taft und schmeichelndem Samt, der sich so köstlich um die Hände schmiegt, nach Badezimmern, wo rosige Frauenleiber in duftigem Seifenschaum der Wannen sich rekelten. Auch nach den Gesindestuben mit ihrem Klatsch, nach den Abenteuern auf der Treppe, nach den Geheimnissen der Kammern. Es ist komisch, wahrhaftig – wenn ich in Stellung bin, langweilen mich diese Dinge meistens oder sie sind mir widerlich, aber wenn ich stellenlos bin, fehlt mir das alles. Ich hatte die Klosteratmosphäre satt, ja sie kotzte mich geradezu an, denn seit einer Woche gab es immer wieder nur die Marmelade gegorener Johannisbeeren zum Frühstück, die die Nonnen zu niederen Preisen auf dem Markt gekauft hatten. Alles, was die Nonnen aus dem Müllmist aufhoben, war gut genug als Fraß für ihre lieben teuren Kinder ...

Mehr als alles andere reizte mich hier die perfide Schamlosigkeit, mit der man von den Schwestern ausgenutzt wurde. Das System war einfach und dabei von perfekter Heuchelei, denn man verschaffte aus Prinzip nur den unfähigen Mädchen Arbeitsplätze, die anderen, begabten, tüchtigen, die sie ausnutzen konnten, behielten sie aus Profitgier zurück, unter dem Mantel christlicher Nächstenliebe. So konnten sie sich Domestiken halten, die sie nicht einen Sou kosteten, sondern die sie auch noch ihrer Ersparnisse beraubten. Je länger man im Kloster bleiben mußte, desto mehr stiegen die Schulden bei den Wohltäterinnen an, man war ihnen ausgeliefert.

Zuerst beklagte ich mich schüchtern, später etwas nachdrücklicher, weil ich noch nicht ein einziges Mal in das Büro der Stellenvermittlung geholt worden war. Aber unsere scheinheiligen Wohltäterinnen gaben mir immer dasselbe zur Antwort:

»Nur noch ein wenig Geduld, mein liebes Kind. Wir behalten Sie im Auge, wir denken an Sie, wir wissen, was Ihnen zukommt, aber es ist noch nie jemand da gewesen, dessen Haus für Sie geeignet gewesen wäre. Sie müssen wissen, für Sie wollen wir einen außergewöhnlichen Platz.«

Tage und Wochen verstrichen, und sämtliche Stellungen waren noch immer nicht gut genug für mich. Und meine Schulden wuchsen weiter an.

Im Schlafsaal, obwohl es dort eine Aufsichtsperson gab, spielten sich bei Nacht ziemlich schockierende Dinge ab. Kaum hatte die Aufpasserin ihre Runde beendet, während der alle so taten, als schliefen sie, sah ich plötzlich weiße Gestalten aufspringen und hinter den geschlossenen Vorhängen in andere Betten schlüpfen. Bald darauf hörte man Gelächter, Geflüster und die leisen Geräusche von Küssen. Oh, sie genierten sich nicht, meine kleinen Kameradinnen. Im fahlen Licht der schwankenden Lampe, die mitten im Schlafsaal hing, erlebte ich oft Szenen trauriger Schamlosigkeit. Die guten Nonnen, diese heiligen Frauen, schlossen die Augen, um nichts zu sehen, sie verstopften sich die Ohren, um nichts zu hören. Man wollte keinen Skandal im Kloster, das hätte Folgen nach sich gezogen, die Schuldigen hätte man fortschicken müssen, also duldeten sie lieber alles und taten so, als geschähe nichts.

Und die Schulden wuchsen.

Glücklicherweise, als ich eben glaubte, das Leben nicht mehr ertragen zu können, hatte ich die Freude, eine kleine Freundin von früher in dieses Etablissement eintreten zu sehen. Es war Clémence, die ich Cléclé nannte. Wir waren in einem Haus in der Rue de l'Université, wo wir beide angestellt waren, bekannt geworden. Cléclé war ein lustiges schlaues Ding, von reizendem Wesen, hellblond und rosig und sehr aufgeweckt. Sie fand alles zum Lachen komisch, machte bei allem mit und fand sich überall zurecht. Als Freundin treu und aufopfernd, kannte sie keine größere Freude als anderen zu helfen. Lasterhaft bis in die Knochen, hatte ihre Lasterhaftigkeit nichts Widerliches, eher etwas Naives, Unschuldiges, Naturhaftes, sie trug sie, wie eine Pflanze Blüten trägt, wie ein Kirschbaum Früchte. Ihr lustiges Geschwätz war lieblich wie Vogelzwitschern, es verbesserte meine trübe Stimmung und besänftigte für einige Tage den Aufruhr in meinem Inneren. Da unsere Betten nebeneinander standen, schliefen wir schon in der zweiten Nacht zusammen, vermutlich angeregt durch das schlechte Beispiel der anderen oder durch meine Neugierde, die mich schon seit langem peinigte. Übrigens war es Cléclés Passion, seit eine ihrer Damen, die Frau eines Generals, sie vor vier Jahren dazu verführt hatte. Sie war bald auf den Geschmack gekommen.

Eines Nachts, nachdem wir in meinem Bett schlafen gegangen waren, erzählte sie mir in ihrer drolligen Art, flüsternd und kichernd, daß sie zuletzt bei einem Magistratsbeamten in Stellung gewesen war.

»Stell dir vor, der hatte nur Viehzeug in seinen Buden, Katzen, drei Papageien, einen Affen, zwei Hunde. Und die hatte ich zu pflegen. Nichts war gut genug für diese Biester, uns, dem Personal, verstehst du, wurden alte Reste und Konservenfraß vorgesetzt, aber ihnen Dinerreste, Creme, Bäckereien und Mineralwasser. Jawohl, bestes Tafelwasser von Évian, mein Liebe! Etwas anderes kannten diese dreckigen Biester gar nicht, angeblich eine Vorsichtsmaßregel, weil eine Typhusepidemie in Versailles herrschte. Heuer im Winter hatte Madame die Frechheit, den Ofen aus meinem Zimmer zu entfernen, um ihn bei den Katzen und dem Affen aufstellen zu lassen. Was sagst du dazu? Du kannst dir wohl denken, daß ich das Viehzeug haßte, vor allem den Hund, den alten häßlichen Mops, der mir immer unter die Röcke kroch, obwohl ich ihn mit Fußtritten traktierte. Unlängst hat mich Madame ertappt, als ich das widerliche Biest schlug. Du kannst dir die Szene ausmalen, wie? Und da setzte sie mich im Nu vor die Tür. Ach, und wenn du wüßtest, Liebling, daß dieser Hund ...«

Jetzt erstickte sie beinahe vor Lachen, sie erstickte es an meinem Busen zwischen beiden Brüsten.

»Und dieser Hund«, fuhr sie fort, »hatte dieselben Angewohnheiten wie ein richtiger Mann ...«

Nein, diese Cléclé! Sie war einzig in ihrer Art.

 

Man macht sich im allgemeinen keinen Begriff, wie heutzutage das Dienstpersonal ausgenutzt wird. Eine schier unerträgliche Last bürdet man uns auf. Überall stößt man auf Menschenschinder, auf schamlose Ausbeuter. Unter den Kameraden findet man selten wirkliches Verständnis, keiner schert sich um den anderen. Immerfort wird man hin und her gestoßen. Ganz gleich wo man dient, von der Herrschaft kann man nicht viel mehr als Laster kennenlernen. Die Szenen wechseln, man arbeitet in den verschiedensten Milieus. Aber die Sucht und die Gier der Menschen ist überall die gleiche. Ob man in der engen Wohnung eines Bourgeois dient oder im pompösen Palast eines Bankiers, überall gibt es die gleichen Schmutzereien, überall wird man angerempelt und verletzt. Überall ist das Leben unerbittlich.

Es heißt, daß es keinen Sklavenhandel mehr gibt. Ein guter Witz! Und die Domestiken? Sind sie etwas anderes als Sklaven? Für die schäbigste Bezahlung verlangt man von uns hervorragende Eigenschaften und Opfer, und wenn man noch so unverdorben in ein Haus kommt, lastet von vornherein jeder abscheuliche Verdacht auf einem, niemand traut uns, überall riegelt man die Türen ab, verschließt die Schubfächer, zählt das Konfekt in den Schalen, das Obst, starrt auf unsere Hände, visitiert unsere Taschen, unser Gepäck, überwacht uns mit dem beleidigenden Blick eines Polizisten und stößt uns damit aus der menschlichen Gemeinschaft aus, als wollten uns unsere Herrschaften ins Gesicht sagen:

»Sie haben ja nur die Seele eines Domestiken!«

Wenn man soviel Verachtung hinnehmen muß, was kann da aus einem noch werden? Geht man unbeschadet durch die Hölle? Können sich diese Leute denn gar nicht vorstellen, daß es auch uns gefallen würde, kostbare Roben zu tragen, in schönen Equipagen zu fahren, Liebesfeste zu feiern, uns, den Domestiken? Sie erwarten und fordern von uns Ergebenheit, Rechtschaffenheit und Treue. Das einzige, was sie uns entgegenbringen, ist Mißtrauen in rauhen Mengen. Jede Tür, jeder Schrank, die Schublade, ja sogar jede Flasche Wein nennt uns auf stille unheimliche Weise: »Diebin! Diebin! Diebin!«

Wir sind für sie nichts anderes als ein Ausbeutungsobjekt, eine zu melkende Kuh.

Einmal, ich war in der Rue Cambon – Herrgott, in welch unzähligen Häusern bin ich schon gewesen? –, war man dabei, die Hochzeit der Tochter vorzubereiten. Man gab eine große Soirée, bei der man die Geschenke zur Schau stellte, einen ganzen Möbelwagen voll Geschenken hatte man ihnen ins Haus geschickt. Ich fragte den Kammerdiener, Baptiste, spaßeshalber:

»Und Sie, Baptiste? Wie steht's mit Ihrem Geschenk?«

»Mein Geschenk?« fragte er und hob die Schultern.

»Tun Sie nicht so heimlich, verraten Sie's mir schon!«

»Eine Kanne Petroleum unter das Brautbett! Und dann angezündet, das wäre mein Geschenk.«

Das war eine kurze, eindeutige Antwort. Baptiste war im übrigen ein hervorragender Politiker.

»Na, und Ihr Geschenk?« fragte er nun seinerseits.

»Meines?« Ich krümmte meine Finger zu Krallen, als zerkratzte ich ein Gesicht. »Meine Nägel in ihre Augen!« antwortete ich.

Der Kellner, den wir gar nicht fragten und der eben mit geschickten Fingern Blumen und Früchte in einer Kristallschale arrangierte, sagte ungerührt:

»Mir würde es genügen, wenn ich ihr in der Kirche ein Fläschchen Vitriol in die Schnauze gießen könnte!«

Und damit befestigte er eine Rose zwischen zwei Birnen.

Es ist erstaunlich, daß solche Racheakte nicht öfter vorkommen. Wenn ich an die Köchin denke, die jeden Tag das Leben ihrer Herrschaft in den Händen hat. Ein bißchen Arsen statt Salz, ein paar Tropfen Strychnin statt Essig – und die Sache wäre passiert. Aber nein! Anscheinend haben wir alle miteinander immer noch das Dienen im Blut!

Ich habe wenig gelernt, ich verfüge über keine Bildung und ich schreibe nur nieder, was ich denke und was ich gesehen habe. Ich behaupte nicht, daß das alles besonders erfreulich ist, ich behaupte aber doch, daß jemand, der einen armen Teufel bei sich aufnimmt, und sei es auch nur ein verhungerter Strolch oder ein gefallenes Mädchen, diesem Wesen ein wenig Schutz und Glück schuldig ist. Ich behaupte ebenfalls, daß wir von der Herrschaft uns selbst eine Entschädigung holen dürfen, wenn man uns diese bescheidenen Menschenrechte verweigert. Wer nicht bekommt, was ihm zusteht, muß sich eines Tages den Tresor dieser Leute gründlicher ansehen, niemand darf uns übelnehmen, wenn wir ihnen manches heimzahlen, selbst wenn es um ihr Blut geht.

Aber jetzt Schluß mit dieser Grübelei. Es hat keinen Sinn, sich mit Dingen zu beschäftigen, die einem Kopfschmerzen bereiten und wobei sich einem der Magen umdreht. Ich komme also auf meine eigenen Histörchen zurück.

 

Ich hatte große Schwierigkeiten, das Haus der Nonnen »Notre-Dame der dreißig Schmerzen« zu verlassen. Trotz Cléclés Zuneigung und der kleinen Sensationen, die sie mir verschaffte, hatte ich das Gefühl, in diesem Kasten zu verwelken, mein Heißhunger nach Freiheit wurde überwältigend, ich geriet in eine Zwangsvorstellung. Als die Schwestern eingesehen hatten, daß ich zum Verlassen ihres Etablissements fest entschlossen war, boten sie mir mit einemmal einen fabelhaften Posten nach dem anderen an. Plötzlich war jeder gut genug für mich, jeder wäre geeignet gewesen. Doch nun drehte ich den Spieß um, ich war inzwischen doch etwas klüger geworden, ich rächte mich für die Schufterei bei ihnen und wies alle Angebote zurück, an jedem fand ich etwas auszusetzen, niemals paßte ich da oder dorthin. Na, ihre Gesichter waren unbezahlbar. Die heiligen Fräulein dachten wohl, sie könnten mich bei irgendeiner alten Frömmlerin unterbringen und den Hauptteil meines Lohnes einstecken. Mir machte es einen Riesenspaß, ihnen meinerseits ein Schnippchen zu schlagen, ihre niederträchtigen Pläne zu durchkreuzen.

Eines Tages erklärte ich Schwester Bonifazia, daß ich noch am selben Abend fortgehen wolle. Sie hatte die Frechheit, mir mit zum Himmel erhobenen Händen zu erklären:

»Aber, liebes Kind, das ist unmöglich.«

»Wieso unmöglich?«

»Meine Liebe, Sie können unser Haus nicht einfach verlassen. Sie schulden uns mehr als siebzig Franc. Zuerst einmal müssen Sie diese siebzig Franc bezahlen.«

»Und womit?« erwiderte ich. »Ich besitze keinen Sou. Sie können mich durchsuchen ...«

Schwester Bonifazia verriet sich durch ihren haßerfüllten Blick, obwohl sie würdevoll sagte:

»Mademoiselle, wissen Sie, daß das Diebstahl ist? Arme Frauen wie uns zu bestehlen, ist mehr als Diebstahl. Das ist – das ist Raub, Gotteslästerung, wofür der liebe Herrgott Sie bestrafen wird. Also überlegen Sie sich das!«

Da übermannte mich die Wut, ich schrie:

»Ich eine Diebin? Das ist ein starkes Stück! Wer stiehlt denn hier eigentlich? Ihr kleinen Heiligen seid wirklich phantastisch!«

»Mademoiselle, ich verbiete Ihnen so zu sprechen!«

»Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe! Man räumt bei euch euern Dreck weg, schuftet von morgens bis abends – und ihr verdient mit unserer Arbeit ein enormes Geld. Dabei habt ihr die Stirn, uns einen Fraß hinzustellen, den kein Hund nehmen würde. Und dafür sollen wir auch noch bezahlen! Bei Ihnen im Kopf ist wohl eine Schraube los!«

Schwester Bonifazia wurde ganz blaß. Ich fühlte, daß sie die gemeinsten Beschimpfungen bereit hatte, aber sie traute sich nicht einmal ein einziges grobes Wort auszuspucken. Sie stammelte bloß:

»Schweigen Sie! Sie sind ein Geschöpf ganz ohne Scham. Gottlos! Der Himmel wird Sie dafür bestrafen. Von mir aus verschwinden Sie, wenn Sie wollen, aber das Kloster behält Ihren Koffer!«

Ich pflanzte mich kerzengerade vor ihr auf und starrte ihr in die Augen.

»Oh, das wollen wir doch sehen! Versuchen Sie es nur, meinen Koffer zu behalten. Dann rufe ich sofort die Polizei ins Haus! Und wenn das zu Ihrer Religion gehört, daß ich die dreckigen Hosen Ihres Anstaltsgeistlichen flicken muß, wenn das religiös ist, daß Sie armen Mädchen das Brot stehlen und mit den schmutzigen Verderbtheiten spekulieren, die Nacht für Nacht im Schlafsaal passieren ...«

Da wurde die Nonne aschfahl. Sie versuchte mich zu überschreien.

»Mademoiselle – Mademoiselle ...«

»Wollen Sie mir am Ende klarmachen, daß Sie keine Ahnung davon haben, was jede Nacht im Schlafsaal geschieht? Dann sagen Sie mir das doch ins Gesicht, Auge in Auge, wiederholen Sie, wenn Sie es wagen, daß Sie von gewissen Schweinereien keine Ahnung haben! Sie geben ja den Mädchen geradezu Gelegenheit dazu, weil Ihnen das etwas einträgt!«

Meine Zunge war trocken vor Aufregung, zitternd, mit heiserer Stimme warf ich ihr meine Anschuldigungen ins Gesicht.

»Gehört das zu Ihrer Religion, hier ein Gefängnis und gleichzeitig ein Bordell im Kloster zu führen? Wenn ja, dann kann mir Ihre Religion den Buckel herunterrutschen. Her mit meinem Koffer, verstehen Sie? Ich will meinen Koffer. Sie werden mir sofort meinen Koffer ausfolgen.«

Schwester Bonifazia bekam es mit der Angst.

»Ich streite nicht mit einem gefallenen Mädchen«, sagte sie in würdigem Ton. »Gut. Gehen Sie ...«

»Mit meinem Koffer?«

»Mit Ihrem Koffer.«

»Gut ...« Anscheinend mußte man sich hier gehörig in Szene setzen, um seine Sachen ausgehändigt zu bekommen! Hier ist es beinahe schlimmer als beim Zoll.

Tatsächlich zog ich noch am selben Abend aus. Cléclé war so nett, mir etwas von ihren Ersparnissen zu pumpen. Ich nahm mir ein Zimmer in der Rue de la Sourdière – und abends leistete ich mir einen Sitz im »Paradies de la Porte-Saint-Martin«. Man spielte »Die beiden Waisen«. Ein wunderbarer Abend, ich sah beinahe meine eigene Geschichte. Und heulte, heulte, heulte ...


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