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XIV.

18. November

Rose ist gestorben. Es scheint wirklich, als wäre das Haus des Hauptmanns vom Unglück verfolgt. Armer Hauptmann! Zuerst sein Frettchen, dann Bourbaki, und nun war Rose an der Reihe. Anscheinend war sie schon einige Tage krank, und vorgestern abend wurde sie von einer plötzlich auftretenden Lungenentzündung fortgerafft. Man hat sie heute morgen begraben. Ich stand an den Fenstern der Lingerie und sah den Kondukt vorbeiziehen. Von sechs Männern getragen, schwebte der schwere Sarg mit weißen Kränzen und Buketts bedeckt wie der Sarg einer Jungfrau vorbei an den Hecken. Ein stattlicher Zug von Trauernden, fast ganz Mesnil-Roy, wurde vom Hauptmann, der sehr steif in einer engen schwarzen Redingote einherschritt, militärisch geführt. Und die Kirchenglocken in der Ferne antworteten dem Klingeln der kleinen Schellen, die der Küster schüttelte. Madame hatte mir verboten, am Trauerzug teilzunehmen. Was kümmert das mich! Ich war gar nicht darauf erpicht. Ich konnte diese dicke gehässige Person nie ausstehen, und ihr Tod rührte mich nicht. Wird sie und ihre Nachbarschaft mir dennoch mitunter abgehen? Ich bin neugierig, wie die Krämerin über dieses unvorhergesehene Ereignis klatschen wird!

Ich war auch neugierig, welche Gefühle Roses plötzlicher Tod beim Hauptmann auslösen würde. Da meine Herrschaft nachmittags ausgefahren war, um Besuche zu machen, spazierte ich später entlang der Gartenhecke. Der Nachbargarten wirkte traurig und einsam. Ein vergessener Spaten ragte aus einem Beet, der Hauptmann wird heute sicher nicht in den Garten kommen, sagte ich mir, er wird vielleicht in seinem Zimmer Erinnerungen nachhängen und sie beweinen. Aber plötzlich entdeckte ich ihn. Er trug nicht mehr seinen schönen feierlichen Rock, er hatte wieder Arbeitskleider angelegt und seine Polizistenmütze übergestülpt. Er begann sofort wie wütend zu arbeiten und verteilte Dung auf dem Rasen. Dazu summte er mit leiser Stimme einen Marsch vor sich hin. Dann sah er mich, ließ seinen Mistkarren stehen und kam mit geschulterter Gabel auf mich zu.

»Es freut mich, Sie zu sehen, Mademoiselle Célestine!« sagte er.

Ich wollte ihn gern bedauern oder trösten und suchte nach den passenden Phrasen. Aber findet vor einer komischen Figur die richtigen Trostworte! Also begnügte ich mich zu wiederholen:

»Welch großes Unglück! Welch ein Unglück für Sie, Herr Hauptmann. Arme Rose!«

»Ja, ja ...«, meinte er gleichgültig.

Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, seine Bewegungen ziemlich vage. Er steckte seine Mistgabel neben der Hecke in eine weiche Erdstelle.

»Sie können sich vielleicht denken, daß ich nicht allein bleiben will.«

Sofort rühmte ich Roses häusliche Tugenden:

»Sie werden kaum einen annähernden Ersatz finden, Herr Hauptmann!«

Er blieb vollkommen ungerührt. Man könnte beinahe glauben, daß seine Blicke lebhafter geworden, seine Bewegungen plötzlich schwungvoller waren, so als fühlte er sich von einer schweren Last befreit.

»Ach was!« sagte er nach einer kleinen Pause. »Für alles gibt es einen Ersatz.«

Diese philosophische Resignation erstaunte und verletzte mich sogar ein wenig. Zum Spaß wollte ich ihn jetzt auf das hinweisen, was er alles an Rose verloren hatte.

»Ach, Herr Hauptmann, sie kannte Ihre liebgewonnenen Gewohnheiten so gut, sie war Ihnen so ergeben – und sie wußte vor allem genau, was Ihnen am besten schmeckt!«

»Davon hatte ich längst genug!« sagte er grimmig.

Und dann versuchte er mit einer Geste, sich alle weiteren Lobpreisungen vom Leibe zu halten:

»War sie denn wirklich so ergeben? Ich glaube, es ist besser, ich sage es Ihnen offen: Ich hatte genug von Rose. Meiner Treu, ich hatte genug. Seit wir einen jungen Burschen zur Hilfe ins Haus genommen hatten, wollte sie überhaupt nichts mehr tun. Das ergab ein schönes Durcheinander, nichts klappte mehr. Ich bekam nicht einmal mein weiches Ei gekocht, wie ich es gern mochte. Und diese Szenen von morgens bis abends! Wegen nichts und wieder nichts! Gab ich einmal zehn Sou aus, begann sie schon zu kreischen und mir Vorwürfe zu machen. Und sobald ich mit Ihnen plauderte, Célestine, so wie heute zum Beispiel, gab es die schrecklichsten Streitereien! Sie war eifersüchtig. Eifersüchtig bis auf die Knochen. Bei Gott, wenn Sie wüßten, wie sie über Sie gesprochen hat! Nein, nein, das hätten Sie nicht hören dürfen. Und ich? Ich war überhaupt nicht mehr bei mir zu Hause. Himmelkreuz! Am liebsten wäre ich verduftet.«

Er atmete tief und schnaufend, wie jemand, der lange abwesend gewesen und jetzt heimgekehrt war und voll tiefer Freude den Himmel betrachtet, den Rasen im Garten, das veilchenfarbene Gitter, das herbstliche Licht auf seinem kleinen Haus.

Diese offen zur Schau getragene Freude, endlich wieder allein zu sein, kam mir sehr komisch vor. Ich wollte ihn zu Vertraulichkeiten verleiten und sagte vorwurfsvoll:

»Herr Hauptmann, ich meine, Sie beurteilen Rose ungerecht!«

»Also, da hört sich doch alles auf!« widersprach er erregt. »Sie haben ja keine Ahnung, keine blasse Ahnung! Bestimmt hat sie Ihnen nicht alle Szenen erzählt, die sie mir gemacht hat, nein, Sie wissen nichts. Sie kennen nicht ihre Tyrannei, ihre Eifersucht, auch nicht ihren Egoismus. Mir gehörte nichts mehr in meinem eigenen Haus! Sie werden es nicht glauben, aber ich durfte nicht einmal in meinem Voltairesessel sitzen – überhaupt nicht mehr. Immer saß sie darin, Dir gehörte schließlich alles. So einfach dachte sie sich das. Wenn ich mir nur überlege, daß ich nicht mehr Spargel in Öl essen durfte, weil sie ihn nicht mochte! Sterben, das war das beste, was sie noch tun konnte. Es konnte ihr gar nichts Besseres einfallen, denn unter uns, so oder so, ich hätte sie nicht mehr lange behalten, nein, nein, Himmelkreuz! Ich hätte sie wirklich nicht behalten. Zum Kuckuck, sie trieb es einfach zu toll. Sie konnte mir den Buckel herunterrutschen – und wissen Sie das Schönste? Wenn ich vor ihr gestorben wäre, dann wäre sie die Lackierte gewesen. Ich hatte ihr nämlich eine hübsche Überraschung vorbereitet. Das kann ich Ihnen versichern!«

Er verzog den Mund zu einem abscheulichen Lächeln. Dann fuhr er unter Husten und Spucken fort:

»Sie wissen bestimmt, daß ich ein Testament gemacht habe, in dem ihr alles, Haus, Geld, Rente, also alles, zugesprochen wurde. Sicher hat sie zu Ihnen davon gesprochen, denn sie erzählte es allen Leuten. Aber etwas konnte sie Ihnen nicht sagen, weil sie nichts davon gewußt hat: ich habe nämlich ein zweites Testament verfaßt, schon zwei Monate später, in dem ich das erste für ungültig erklärte. Und in diesem zweiten Testament habe ich ihr überhaupt nichts vermacht, sie hätte nicht das Schwarze unter dem Nagel von mir bekommen. Verflucht und zugenäht! Nicht soviel!«

Er konnte nicht mehr länger an sich halten. Ein wildes Gelächter brach aus ihm hervor, das über den Garten schmetterte wie ein Schwarm kreischender Spatzen. Und er schrie:

»War das vielleicht eine geniale Idee, was? Oh, ich kann mir ihr blödes Gesicht vorstellen, wenn sie erfahren hätte, wem ich mein kleines Vermögen vermacht habe. Ich habe es der Académie Française verschrieben, meine liebe Demoiselle Célestine, und das war bestimmt eine geniale Idee, nicht wahr?«

Ich ließ ihn eine Weile austoben und fragte dann ernst:

»Und was haben Sie jetzt vor, Herr Hauptmann?«

Er sah mich lange an, lächelte maliziös, und dann machte er verliebte Augen.

»Ja, was ich nun vorhabe? Das hängt eigentlich von Ihnen ab.«

»Von mir?«

»Ja, von Ihnen, einzig und allein von Ihnen!«

»Wieso denn?«

Wieder trat in unserem Gespräch eine kleine Pause ein, der Hauptmann streckte seine Gestalt, drückte die Knie durch, strich seinen pomadisierten Schnurrbart in die Höhe und versuchte auf mich verführerisch einzuwirken.

»Also gut«, sagte er plötzlich, »fassen wir das Ziel ins Auge. Reden wir offen, wie es unter Soldaten üblich ist. Wollen Sie Roses Platz einnehmen? Ihre Nachfolgerin werden?«

Ich war auf eine Attacke gefaßt. Ich hatte schon ein gewisses Licht in seinen Augen aufglimmen sehen, war also keineswegs überrascht. Ich blieb ernst und unberührt.

»Und wie steht's mit dem Testament, Herr Hauptmann?«

»Meine letzten Verfügungen zerreiße ich. Meiner Seel!«

»Aber ich kann nicht kochen«, wandte ich ein.

»Aber ich. Ich werde auch mein Bett machen – unser Bett, Himmelkreuz! Ich bin bereit, alles zu machen!«

Er wurde galanter, ausgelassener, seine Blicke wurden zudringlicher. Zum Glück war meine Tugend durch die Hecke zwischen uns geschützt, hätte die uns nicht getrennt, hätte er sich wahrscheinlich wie ein Wilder auf mich gestürzt.

»Es gibt Köchinnen und Köchinnen ...« schrie er mit rauher und zugleich schwärmerischer Stimme, »das, was ich von Ihnen erwarte, Célestine, ich wette, daß Sie das zuzubereiten verstehen! Mit allen Ingredienzen, zum Teufel! Mit allen, Célestine!«

Ich lächelte etwas ironisch und drohte ihm wie einem unartigen Kind mit dem Finger, dann sagte ich sanft:

»Herr Hauptmann, Herr Hauptmann, Sie sind ein kleines Schwein!«

»Kein kleines ...« verbesserte er prahlerisch, »ein großes – ein ganz, ganz großes, dickes, ein sehr verflixtes Schwein! Aber es handelt sich noch um etwas anderes – und darauf muß ich Sie aufmerksam machen ...«

Er beugte sich über die Hecke, streckte den Hals vor, seine Augen waren blutunterlaufen. Er senkte die Stimme und sagte heiser:

»Wenn Sie wirklich zu mir kämen, Célestine, dann …«

»Na und, was dann?«

»Nun, Célestine, die Lanlaires würden vor Wut krepieren. Oh! Das wäre eine Geschichte!«

Ich blieb stumm und stellte mich, als grübelte ich angestrengt nach! Der Hauptmann wurde nervöser, ungeduldiger, seine Stiefelabsätze bohrten Löcher in den Boden.

»Hören Sie zu, Célestine, fünfunddreißig Franc monatlich, mein Tisch, mein Zimmer, mein Bett – alles gehörte Ihnen. Und dazu das Testament! Was sagen Sie jetzt? Würde Ihnen das passen? Antworten Sie mir!«

»Abwarten, das werden wir ja später sehen. Und inzwischen nehmen Sie sich eben eine andere – in der Wartezeit, meine ich, zum Teufel!«

Und dann machte ich kehrt, ich wollte ihm nicht direkt ins Gesicht lachen, es kitzelte mich schon im Halse.

Jetzt sitze ich da und weiß nicht, wen ich nehmen soll. Joseph oder den Hauptmann? Die Entscheidung fällt mir schwer. Beim Hauptmann wird mir das Leben einer Mätresse geboten, mit allen Vor- und Nachteilen, wie sie eben ein solches Dienstverhältnis mit sich bringt. Auch würde ich von der Gnade eines ungeschlachten, stupiden Kerls abhängen, und das könnte peinliche Situationen nach sich ziehen. Es hieße soviel wie in Furcht und Unsicherheit leben. Wenn ich Joseph heirate, erwerbe ich eine geregelte und geachtete Freiheit, die mir eine unabhängige und unkontrollierbare, nicht von Launen abhängige Position sicherstellt. Damit wäre wenigstens teilweise mein Traum von der Zukunft in Erfüllung gegangen ...

Selbstverständlich habe ich mir diese Erfüllung ein wenig großartiger ausgemalt. Aber wenn ich mir andererseits überlege, wie wenig Chancen eine Frau wie ich hat, dann müßte ich mich ja fast beglückwünschen, daß endlich etwas anderes passiert als das ewig einförmige Herumrollen von Haus zu Haus, von einem Bett zum anderen, von fremden Gesichtern zu neuen fremden Gesichtern. Nicht mehr herumgestoßen werden, wäre schon ein Glück.

Natürlich verwerfe ich am besten den Vorschlag des Hauptmanns sogleich. Es hätte gar nicht mehr dieser letzten Unterhaltung bedurft, um mir vollends darüber klarzuwerden, welch lächerliche Drahtpuppe, welch trauriges Geschöpf der Hauptmann Mauger ist. Dabei weiß man nie, was dieser Kerl eigentlich im Schilde führt. Diese seelenlose Marionette ist nämlich nicht zu durchschauen. Rose glaubte sich seiner so sicher, und letzten Endes war er es, der ihr eine bittere Pille zugedacht hatte. Außerdem könnte ich nie, ohne vor Lachen zu bersten, als Geliebte in den Armen dieses Kerls liegen. Ich empfände vielleicht nicht einmal Ekel, denn der schließt die Möglichkeit einer derartigen Beziehung nicht ganz aus. Außerdem bin ich, nüchtern denkend, ziemlich sicher, daß es zu solcher Beziehung niemals kommen wird. Es müßte ein Wunder geschehen oder ein außergewöhnlicher Zufall eintreten, daß ich wirklich einmal im Bett dieses Tölpels lande, aber selbst dann blieben unsere Lippen bestimmt durch mein nicht zu erstickendes Gelächter getrennt. Liebe oder Vergnügen, Feigheit oder Mitleid hat mich dazu getrieben, mit den merkwürdigsten Männern zu schlafen, aber das schien mir ein normaler naturnotwendiger Akt, und ich habe mir deswegen niemals Gewissensbisse gemacht, ich habe dabei höchstens wenig, offen gesagt gar nichts empfunden. Aber mit dem lächerlichen Hauptmann Mauger ins Bett zu gehen, das käme mir direkt widernatürlich vor, fast noch ärger als die Geschichte mit dem Hund von Cléclé. Na schön, so oder so, irgendwie macht mich sein Antrag ein wenig stolz, ja, ich bilde mir sogar darauf etwas ein, denn Komplimente, wo immer sie auch herkommen, stärken das Vertrauen in unsere Schönheit ...

Meine Gefühle für Joseph äußern sich auf ganz andere Art. Er hat von meinen Gedanken Besitz genommen, sein Wesen hat mich gefangen, es beherrscht mich. Dabei stellt sich abwechselnd Verwirrung, Begeisterung oder Angst ein. Bestimmt ist er häßlich, von einer brutalen, erschreckenden Häßlichkeit, aber wenn man über diese Häßlichkeit nachdenkt, hat sie etwas Großartiges und wird beinahe Schönheit, bestürzenderweise schön wie ein Element. Ich bin mir der Gefahren, mit diesem Mann verheiratet zu sein oder auch nur mit ihm zu leben, bewußt. Ihm ist vieles, wenn nicht geradezu alles zuzutrauen, und über seine Vergangenheit wird er mich niemals aufklären. Aber dieses geheimnisvolle Dunkel zieht mich an, fasziniert mich, es ist wie ein Taumel, der mich zu ihm zieht. Zum Guten oder zum Bösen? Joseph wird es einmal zu etwas bringen. Was will er von mir? Was glaubt er aus mir zu machen? Wird er mich, ohne mich zu orientieren, als Werkzeug für seine Pläne gebrauchen? Oder als Spielzeug für seine Leidenschaften? Liebt er mich eigentlich, und warum liebt er mich? Weil ich hübsch und weil ich intelligent bin oder weil ich im Gegensatz zu ihm Vorurteile hasse? Ich weiß es wirklich nicht. Abgesehen von der Anziehungskraft des Unbekannten und Mysteriösen, übt er auf mich auch eine starke körperliche Anziehungskraft aus, der ich einfach nicht widerstehen kann. Wenn ich ihm nahe bin, fangen meine Nerven an zu kribbeln, meine Sinne zu kochen, und so etwas habe ich noch bei keinem anderen Mann erlebt. In seiner Nähe fühle ich eine noch schrecklichere, stärkere Begierde als seinerzeit bei Monsieur Georges, den ich mit meinen Küssen getötet habe. Nein, nein, bei meinem Gefühl für Joseph spielt noch etwas anderes mit, ich könnte es nicht genau definieren, ich fühle mich nur von einer unerklärlichen Begierde gepackt, als hätte mein Körper bisher geschlafen, als hätte ihn noch keine wollüstige Erschütterung geweckt. Wenn Joseph zu mir spricht, oder wenn ich nur an seine Worte denke, durchrieselt es mich vom Kopf bis zu den Füßen, wenn er zum Beispiel sagt:

»Sie sind wie ich, Célestine. Ach, was sage ich da, äußerlich natürlich nicht, aber zwischen uns besteht eine starke Seelenverwandtschaft, unsere Seelen gleichen sich.«

Unsere Seelen! Wäre das möglich?

Die ganze Angelegenheit mit Joseph entwickelt sich mehr und mehr für mich zu einer Sensation, ich lerne eine neue Empfindungswelt kennen, und was ich für diesen Mann fühle, verläßt mich keine Minute. Ich bin von ihm behext. Ich versuche mich abzulenken, ich lese, um auf andere Gedanken zu kommen, ich gehe spazieren, wenn die Herrschaft ausgefahren ist, oder ich versuche, wenn sie daheim sind, in der Lingerie mich auf Ausbesserungsarbeiten zu stürzen. Alles umsonst. Wo ich auch bin, in oder außerhalb des Hauses, ich entrinne der Macht, die Joseph über mich ausübt, nicht. Ich denke nur noch an ihn. Doch seine Gewalt erstreckt sich nicht nur über meine Gegenwart oder über meine Zukunft, sie herrscht sogar über mich in der Vergangenheit, denn er steht zwischen mir und dem, was war, und auf diese Weise rücken alle Erlebnisse, alle Begegnungen mit reizenden oder abscheulichen Geschöpfen mehr und mehr in den Hintergrund, sie werden blaß, verfärben sich, lösen sich auf. Cléophas Biscouille, Monsieur Jean, Monsieur Xavier und William, von dem ich noch gar nichts erzählt habe, alle werden sie zu Schatten. Selbst Monsieur Georges, von dem ich glaubte, er habe meine Seele geprägt, wie das glühende Eisen die Schulter der Zuchthäusler brandmarkt, auch ihn, keinen von ihnen, denen ich mich fröhlich, voll Begierde oder wehen Herzens gab, kann ich noch erkennen. Schatten, alle wurden zu Schatten! Zu kümmerlichen nichtssagenden Erlebnissen, und bald werde ich sie ganz vergessen haben, sie lassen sich nicht mehr heraufbeschwören, sie verschwinden im Nichts! Wenn ich zuweilen am Abend in der Küche Joseph betrachte, seinen Verbrechermund, seine Verbrecheraugen, seine brutalen Backenknochen, seine niedere Stirn, diesen ganzen ungehobelten Schädel, auf den die Lampe harte Schatten wirft, dann sage ich mir:

»Nein, nein, das ist nicht möglich. Nein, ich will diesen Mann nicht lieben – ich will ihm nicht anheimfallen. Ich werde wahnsinnig! Ich will ihn nicht! Nein, nein, nein!«

Und dennoch ist es so. Es ist unumstößliche Wahrheit. Endlich muß ich es mir selbst eingestehen, ich liebe Joseph!

Nun verstehe ich auch, warum man sich über die Liebe niemals lustig machen soll, warum es Frauen gibt, die sich ahnungslos wie getrieben einem Mörder ausliefern, nach den Küssen roher Kerle lechzen, die in der Umarmung eines Monstrums vor Entzücken vergehen und in der Umarmung einer scheußlichen verkommenen Kreatur vor Wollust röcheln ...

Joseph hat von Madame sechs Tage Urlaub erhalten, und unter dem Vorwand, er müsse eiligst Familienangelegenheiten regeln, ist er bereits nach Cherbourg gereist. Somit ist es entschieden, er wird das kleine Café kaufen. Nur wird er es während der nächsten Monate noch nicht selbst bewirtschaften. Aber er hat dort einen zuverlässigen Freund, der sich darum annehmen wird.

»Verstehen Sie?« sagt er zu mir. »Man muß das Lokal erst neu herrichten. Es soll ja schön werden – sehr schön sogar. Ich denke mir dazu ein Schild mit goldenen Buchstaben: ›Zur französischen Armee‹! Und dann – ich kann doch hier nicht so von heute auf morgen meine Stellung verlassen. Nein, nein, das geht nicht.«

»Und warum nicht, Joseph?«

»Weil es jetzt im Augenblick noch nicht geht.«

»Worauf kommt es denn noch an?«

Joseph kratzt sich im Nacken, wirft mir einen verschlagenen Blick zu und murmelt geheimnisvoll:

»Das kann ich nicht so genau sagen. Vielleicht in sechs Monaten, vielleicht früher, vielleicht auch später. Das weiß man nicht so genau. Es hängt von verschiedenen Dingen ab.«

Ich fühle, daß er mit der Wahrheit nicht herausrücken will. Aber ich bin hartnäckig und frage weiter:

»Wovon hängt es ab?«

Er zögert immer noch und sagt schließlich geheimnisvoll:

»Von einer – nun, von einer sehr wichtigen Angelegenheit.«

»Was denn für eine Angelegenheit?«

»Eben eine Angelegenheit ...«

Das sagt er ziemlich brüsk, nicht direkt grob, aber ich spüre, daß eine Nervosität darin mitschwingt. Ich merke, er will mir die Wahrheit nicht sagen.

Von mir ist überhaupt nicht die Rede. Es wundert mich ein wenig und enttäuscht mich. Hat er vielleicht seine Absichten geändert? Haben ihn meine Verdächtigungen damals beim Mord der kleinen Claire mit einemmal umgestimmt? Es ist doch ganz natürlich, daß ich mich dafür interessiere, für einen Plan, dessen Erfolg oder Mißerfolg auch mich betrifft. Ich spüre, daß sich mir das Herz vor Bedauern zusammenzieht, denn bei dem Gedanken, es könnte etwas schiefgehen, werde ich sehr nervös, und das beweist mir, daß ich mich längst für Joseph und das kleine Café entschieden habe. Frei sein, hinter einer blanken Theke thronen, Befehle erteilen, von einer Unzahl Männern gesehen, bewundert, begehrt werden! Und damit sollte es vorbei sein? Wieder sollte mir ein Traum entwischen, wie schon viele andere vorher? Keinesfalls möchte ich den Eindruck erwecken, daß ich mich Joseph an den Hals werfe, aber ich möchte wissen, was ihm durch den Schädel geht. Schnell mache ich ein trauriges Gesicht und seufze:

»Wenn Sie von hier fortgehen, Joseph, dann halte ich es in diesem Hause nicht mehr aus. Ich habe mich schon so an Sie gewöhnt – an unsere Gespräche ...«

»Ja, verflixt!«

»Ich will nicht länger hier bleiben.«

Joseph sagt nichts. Mit gefurchter Stirn geht er in der Sattelkammer hin und her. Er sieht sorgenvoll aus, scheint intensiv über etwas nachzudenken, seine Hände verkrampfen sich nervös um eine Geflügelschere in seiner blauen Schürze! Sein Gesichtsausdruck ist unheilvoll. Während ich ihm mit meinen Blicken folge und er noch immer auf und ab geht, wiederhole ich:

»Ja, ich gehe fort von hier – ich gehe nach Paris zurück.«

Kein Wort des Protestes, kein empörter Schrei, nicht einmal ein flehender Blick. Er schiebt Holz in den Ofen, der am Ausgehen ist. Dann nimmt er sein stilles, ruheloses Hinundherwandern in dem kleinen Raum wieder auf. Warum ist er so still? Nimmt er die Trennung einfach hin? Will er sie vielleicht sogar? Hat er alles Vertrauen und alle Liebe zu mir verloren? Oder ärgert ihn nur meine Unbekümmertheit und mein ewiges Fragen? Ein bißchen zitternd wende ich mich ihm zu und stammle:

»Es macht Ihnen wohl gar nichts aus, Joseph, wenn Sie mich nicht mehr sehen werden? Ist es so?«

Ohne innezuhalten, ohne mich auch nur flüchtig anzusehen, sagt er:

»Doch, doch, aber was wollen Sie? Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Entweder Sie wollen es, oder Sie wollen es nicht.«

»Habe ich denn etwas abgelehnt, Joseph?«

»Außerdem denken Sie noch immer schlecht von mir …« fährt er fort, ohne auf meine Frage einzugehen.

»Ich? Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ...«

»Nein, nein, Joseph. Sie sind es, der aufgehört hat, mich zu lieben. Sie haben plötzlich etwas anderes im Schädel. Ich habe doch nicht abgelehnt, ich habe nachgedacht, das ist alles. Das ist doch ganz natürlich, nicht wahr? Man bindet sich doch nicht so mir nichts, dir nichts fürs ganze Leben, ohne nachzudenken. Sie sollten mir für mein Zögern vielmehr dankbar sein, ist es denn nicht der beste Beweis dafür, daß ich kein Luftikus, sondern eine ernsthafte Frau bin?«

»Schon gut, schon gut, Célestine, Sie sind in Ordnung.«

»Aber?«

Endlich bleibt er stehen und sieht mich etwas mißtrauisch und zugleich beinahe zärtlich an.

»So ist es nicht, Célestine«, sagt er langsam, »es handelt sich ja um etwas ganz anderes. Ich will Ihnen nicht verbieten, daß Sie sich meinen Vorschlag überlegen, meiner Treu, es gefällt mir sogar! Überlegen Sie ruhig, Sie haben ja Zeit. Und wenn ich zurück bin, wollen wir wieder darüber sprechen. Aber es gibt etwas, was ich an Frauen nicht ausstehen kann, was mir gar nicht gefällt. Ich mag es nicht, wenn man zu neugierig ist.«

Mit einem Zurückwerfen seines Kopfes beendet er diesen Satz.

»Ich habe ganz und gar nichts anderes im Kopf, Célestine. Ich träume von Ihnen, Sie bringen mein Blut in Wallung. Ich bin toll verliebt in Sie. Was ich einmal gesagt habe, das ist, bei Gott – wenn er existiert, ich glaube, daß es so ist –, nicht in den Wind gesprochen, sondern das gilt. Wir kommen wieder darauf zurück. Aber Sie sollten nicht so neugierig sein. Sie haben Ihre Aufgaben, und ich habe die meinen. So gibt es keinen Irrtum, keine Überraschung.«

Er kommt zu mir, faßt mich an den Händen:

»Ich habe einen harten Schädel, Célestine – das ist nun einmal so. Was einmal da drin ist, ist drin, und das läßt sich nicht mehr verscheuchen. Ich träume von Ihnen, Célestine, von Ihnen – in dem kleinen Café.«

Die Ärmel seines Hemdes sind zu einem Wulst hochgekrempelt. Unter der weißen Haut bewegen sich seine starken Muskeln geschmeidig, sie verraten eine enorme Kraft und eignen sich zu mächtigen Umarmungen. Auf den Unterarmen und auf jeder Seite der Bizeps hat er Tätowierungen, flammende Herzen, gekreuzte Dolche, Blumen in einem Topf. Von seiner breiten, wie ein Küraß gewölbten Brust geht ein Raubtiergeruch aus, und dieser Geruch männlicher Kraft berauscht mich so, daß ich mich leicht taumelnd an einen Holzblock lehnen muß, auf dem Joseph vorhin Kupfergeschirr poliert hat. Weder Monsieur Xavier noch Monsieur Jean noch sonst einer von den anderen, die unbestreitbar hübsch und parfümiert waren, haben auf mich jemals eine solche Wirkung ausgeübt, wie dieser häßliche, fast alte Mann mit der engen Stirn und dem grausamen Tiergesicht. Ich gehe auf ihn zu, ich drücke mich an ihn und versuche, ob diese stahlharten Muskeln bei meiner Berührung leicht nachgeben ...

»Joseph ...« sage ich mit fast ersterbender Stimme, »wir müssen uns zusammentun, sofort, mein kleiner Joseph. Auch ich träume von Ihnen, auch ich spüre Sie genauso in meinem Blut …«

Aber Joseph antwortet darauf ernst und väterlich:

»Das darf vorläufig noch nicht sein, Célestine.«

»O ja, sofort, Joseph, mein lieber kleiner Joseph!«

Mit behutsamen Händen befreit er sich aus meiner Umarmung.

»Wenn es nur ein flüchtiges Vergnügen wäre, Célestine, dann schon. Aber wenn es sich um eine ernsthafte Verbindung handelt, wenn es für immer ist, dann müssen wir vernünftig sein. So etwas soll man nicht machen, bevor man nicht beim Geistlichen war.«

Und so blieben wir eben einer vor dem andern stehen, er mit glänzenden Augen und kurzem Atem, ich wirr im Kopf, mit hängenden Armen und Feuer im Leib.


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