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24. November
Keine Nachricht von Joseph. Da ich seine Vorsicht kenne, erstaunt mich sein Schweigen nicht besonders, aber es schmerzt mich doch ein wenig. Joseph weiß natürlich, daß alle Briefe an mich durch Madames Hände gehen, und ohne Zweifel will er vermeiden, daß sie gelesen werden, denn allein schon die Tatsache, daß er mir schreibt, könnte von Madame boshaft kommentiert werden. Dennoch habe ich gehofft, daß er mir auf irgendeinem anderen Weg eine Nachricht zukommen lassen würde. Man erwartet seine Rückkunft für morgen früh. Wird er aber auch kommen? Ich bin etwas unsicher, und mein Gehirn arbeitet wie im Fieber. Warum wollte er nicht, daß ich seine Adresse in Cherbourg erfahre? Aber ich will nicht ununterbrochen dasselbe denken, schließlich bekomme ich zu den Kopfschmerzen auch noch wirklich Fieber.
Hier steht die Zeit still, und das drückende Schweigen wird zu einer immer größeren Last. Der Kirchendiener, mit dem Joseph so befreundet ist, vertritt ihn. Er kommt jeden Morgen, um die Pferde zu striegeln und die Glashäuser zu überwachen. Nicht ein Wort ist aus diesem Burschen herauszukriegen. Er ist womöglich noch schweigsamer, noch mißtrauischer und abweisender als Joseph. Auch ist er viel vulgärer und nicht annähernd so groß und stark. Ich begegne ihm kaum, höchstens wenn ich ihm etwas auszurichten habe. Er ist wirklich eine komische Type, dieser Kirchendiener! Die Krämerin hat mir erzählt, daß er ursprünglich Geistlicher werden wollte und daß man ihn vom Seminar gejagt hat, seiner Unmoral wegen, und weil er zu ordinär war. Wäre es nicht möglich, daß er die kleine Claire im Wald vergewaltigt hat? Er hat sich schon in den verschiedensten Berufen betätigt. Einmal war er Bäcker, einmal Chorsänger, einmal fliegender Händler. Er hat es als Ausrufer, Kirchendiener und Diener versucht und seit vier Jahren hält er sich als Sakristan. Daher sein Hochmut. Ein Kirchendiener hält sich ja fast schon für einen Pfarrer. Überdies hat er ein genauso widerliches Betragen wie die meisten Kirchendiener. Er ist abstoßend und widerlich wie eine Kellerassel. Vermutlich schreckt dieser Kerl vor nichts zurück. Und ausgerechnet diesen Kerl hat Joseph zum Freunde erwählt. Und ist er überhaupt dessen Freund? Ist er nicht vielmehr sein Komplice? Joseph sollte sich andere Freunde wählen.
Madame hat Migräne. Das heißt, es überfällt sie regelmäßig alle drei Monate. Dann bliebt sie zwei Tage lang in ihrem Zimmer, ruht dort hinter zugezogenen Vorhängen im Halbdunkel, und nur Marianne hat Zugang zu ihr. Wenn Madame Migräne hat, hat Monsieur seine schönste Zeit. Und die nützt er aus. Sooft er kann, erscheint er bei uns in der Küche, und ich möchte zu gerne Marianne und ihn beim Liebesspiel sehen, das würde mir für immer den Appetit auf Liebe vertreiben.
Hauptmann Mauger spricht nicht mehr mit mir, er wirft mir über die Hecke wütende Blicke zu, aber er hat sich mit seiner Verwandtschaft ausgesöhnt, wenigstens mit einer Nichte, die zu ihm gezogen ist. Sie ist gar nicht so übel: eine große Blonde, mit einer etwas zu langen Nase, aber frisch und gut gewachsen. Die Leute sagen, daß sie ihm die Wirtschaft führt und Roses Platz auch in seinem Bett eingenommen hat. Auf diese Weise bleiben die schmutzigen Händel wenigstens in der Familie.
Was nun Madame Gouin betrifft, so hat ihr Roses Tod die Sonntagsmatinees verdorben. Plötzlich ist die Hauptrolle nicht mehr besetzt. Jetzt ist es diese Pest von Krämerin, die so gern die Klatschtöpfe rührt und bei den Mädchen von Mesnil-Roy für die schmutzigen Talente der infamen Kräutlerin Kunden anwirbt. Letzten Sonntag war ich spaßhalber wieder einmal dort. Na, da war allerhand los! Die ganze Runde war wieder beisammen. Von Rose war kaum die Rede, aber als ich die Geschichte mit den verschiedenen Testamenten erzählte, erntete ich einen tollen Erfolg. Die Weiber kreischten vor Lachen. Ach, der Hauptmann hatte schon recht, als er mir sagte, »für alles findet man einen Ersatz«.
Mit zunehmender Ungeduld erwarte ich Josephs Rückkehr! Mit fieberhafter Spannung brenne ich auf den Augenblick, wo ich wissen werde, was ich vom Schicksal zu erhoffen oder zu befürchten habe. Länger halte ich es einfach nicht mehr aus. Noch nie hat mich die Eintönigkeit dieses Hauses so angewidert wie in diesen Tagen, noch nie waren mir die Leute, bei denen ich diene, ekelhafter, noch nie haben mich diese Marionetten mehr gelangweilt. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde stumpfe ich mehr ab. Hätte ich in meinem augenblicklichen Leben nicht die Aussicht, daß mir die Zweisamkeit mit Joseph einen neuen Auftrieb geben wird, dann würde ich gewiß in den Abgrund von Dummheit und Gemeinheit gezogen werden, der sich immer tiefer vor mir auftut. Ach, selbst wenn Joseph keinen Erfolg hätte, oder wenn er seine Meinung über mich geändert hätte, mein Entschluß, auf keinen Fall länger hier zu bleiben, steht fest. Noch einige Stunden, noch eine angstvolle Nacht, und dann werde ich wissen, wie meine Zukunft aussieht.
Aber diese letzte Nacht will ich damit verbringen, ein letztes Mal alte Erinnerungen aufzufrischen. Das scheint mir die einzige Möglichkeit, die quälende Gegenwart zu ertragen und die bohrende Ungewißheit zu vertreiben. Im Grunde genommen amüsieren mich diese Erinnerungen gerade nur so viel, daß sie mir das Kopfzerbrechen verscheuchen, aber sie erwecken in mir auch die traurige Einsicht, daß ich mich meiner Vergangenheit schäme und mich verachte. Mein Gott, wieviel seltsamen und farblosen Gestalten bin ich auf meinem Dienstwege begegnet! Wenn ich sie mir im Gedächtnis heraufbeschwöre, scheinen sie mir schrecklich, farblos und so schattenhaft, als hätten sie niemals wirklich gelebt. Lebendig sind in meinen Erinnerungen nur ihre Laster geblieben. Wenn man ihnen diese Laster nähme, würden sie in Staub und Asche zerfallen wie Mumien, die man ihrer Bandagen beraubt.
Kurz nachdem ich das Angebot des alten Herrn in der Provinz habe schießen lassen, wurde ich von Madame Paulhat-Durand, versehen mit den allerbesten Referenzen, in ein anderes Haus empfohlen und engagiert. Also, dieser Haushalt war auch wieder eine Sache für sich. Die Herrschaft noch jung, weder Kinder noch Tiere vorhanden, dazu ein sehr aufwendiges, aber schlecht geleitetes Haus. Enormer Luxus und enormer Betrieb. Ich war noch kaum zwei Minuten bei dieser Herrschaft, als ich bereits erkannte, mit wem ich es zu tun hatte. Dieser Platz war endlich die ersehnte Traumstelle. Endlich konnte ich die kleine Kanaille Xavier vergessen, Schluß machen mit meiner ganzen Misere, nie wieder zu den Nonnen nach Neuilly, niemals zurück in die schreckliche Zeit im dunklen Vorzimmer der Stellenvermittlerin mit den trostlosen Tagen voll von Sorgen und den langen einsamen Nächten voll Herzensangst ...
Endlich durfte ich hoffen, mir ein angenehmes Leben zu schaffen. Leichte Arbeit und sicherer Profit erwarteten mich. In der Freude über diesen Wechsel nahm ich mir vor, meine zügellosen Phantasien und meine Launen zu beherrschen, auf mein Mundwerk besser zu achten, kurz alles zu tun, um diese Stellung recht lange zu behalten. Im Nu waren meine Depressionen verschwunden, und auch mein Haß auf die Bourgeoisie hatte erheblich nachgelassen. Ich wurde übermütig, und alles an mir geriet in freudige Bewegung. Eine wahre Lebenswut überkam mich, und ich fand, daß es doch Herrschaften gibt, die wirklich nicht ohne sind. Das Personal war nicht zahlreich, aber gut gewählt: eine Köchin, ein Kammerdiener und ein alter Haushofmeister. Kutscher gab es keinen, denn die Herrschaft hatte vor kurzer Zeit ihren Stall aufgelassen und benützte nur noch Mietwagen. Wir waren alle schnell befreundet. Am ersten Abend meiner Ankunft wurde mein Eintritt mit einer Flasche Champagner begossen.
»Potztausend!« rief ich und klatschte vergnügt in die Hände, »hier läßt sich's leben, das lasse ich mir gefallen!«
Der Kammerdiener lächelte und klimperte mit seinem großen Schlüsselbund eine verheißungsvolle Melodie. Er hatte ja auch die Schlüssel zum Weinkeller, überhaupt die Schlüssel zu allem. Er war die Vertrauensperson dieses Hauses.
»Würden Sie mir einmal die Schlüssel leihen?« fragte ich im Spaß.
»Ja«, sagte er und wagte dabei einen feurigen Blick, »da müssen Sie aber lieb zu Bibi sein.«
Aha, das war ein netter, geriebener Kerl, der wußte mit Weibern umzugehen! Er hieß William. Hm, was für ein hübscher Name!
Während eines ausgedehnten Abendessens sprach der alte Haushofmeister kein Wort, aber dafür trank und aß er mehr als alle. Man kümmerte sich nicht viel um ihn, er kam mir etwas einfältig vor. William dagegen war ungemein charmant und galant, er trieb unter dem Tisch allerhand Spielchen mit mir und bot mir zum Mokka russische Zigaretten an, mit denen er seine Taschen vollgestopft hatte. Schließlich zog er mich auf seine Knie – ich war von dem Tabak ein bißchen berauscht und von seinen Händen ganz zerzaust – und flüsterte mir Dinge ins Ohr, Dinge! Oh! Der war ein Draufgänger!
Eugénie, die Köchin, schien von dem Treiben um sie herum ganz unberührt. Etwas geistesabwesend und sichtlich nervös blickte sie dauernd nach der Tür, streckte den Hals und horchte auf das kleinste Geräusch, als erwarte sie jemanden, und dazu stürzte sie mit seltsam flatternden Augenlidern ein Glas Wein nach dem anderen hinunter. Sie war eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren, mit starkem Busen, sinnlichen Lippen und leidenschaftlichen Augen. Aber sie wirkte unerhört gutmütig. Endlich wurde schüchtern draußen an die Tür des Dienstboteneingangs gepocht. Das Gesicht Eugénies leuchtete auf, und mit einem überraschend jugendlichen Sprung war sie auch schon an der Tür. Ich wollte schnell eine harmlos-züchtige Stellung einnehmen, weil ich ja die Gewohnheiten hier im Domestikenbereich noch nicht genügend kannte, aber William hielt mich zurück, er umschloß mich noch fester und sagte ruhig:
»Keine Ursache, mein Kind, es ist nur der Kleine.«
Inzwischen war ein sehr junger, fast kindlicher Mann hereingekommen. Schlank, blond, sehr weiße Haut, und unter einem weichen Bartflaum ein entzückend geschnittener Mund – wirklich zum Verlieben, wie ein kleiner Amor. Er trug eine neue, sehr elegante Weste, die seinen grazilen Oberkörper gut zur Geltung brachte, und eine rosafarbene Krawatte. Er war der Sohn des Hausmeisters von nebenan. Anscheinend kam er jeden Abend. Eugénie betete ihn an, sie war verrückt nach ihm. Jeden Abend bereitete sie einen großen Korb vor, den der Kleine zu seinen Eltern brachte; er enthielt die beste Bouillon, das schönste Fleisch, Weinflaschen, große Früchte und Kuchen.
»Warum kommst du heute abend so spät?« fragte Eugénie.
Der Kleine entschuldigte sich mit schleppender Stimme:
»Ich mußte in der Loge bleiben, auf die Tür aufpassen. Mama ging einkaufen.«
»Deine Mama, deine Mama. Oh, du Schlingel, lügst du auch nicht?«
Sie seufzte, sah dem Kind tief in die Augen, umfaßte seine beiden Schultern und sagte klagend und vorwurfsvoll:
»Wenn du dich so verspätest, habe ich immer Angst, es könnte etwas passiert sein. Ich will nicht, daß du so spät kommst, mein Liebling! Sage deiner Mutter, daß ich dir nichts mehr mitgebe, wenn das so weitergeht.«
Ihre Nasenflügel begannen zu zittern, Wonneschauer durchfluteten ihren Körper.
»Wie hübsch du bist, mein Schatz! Oh! Dein niedliches Gesichtchen! Dein goldiges Schnäuzchen! Ich will nicht, daß dich andere haben. Warum trägst du heute nicht deine schönen gelben Schuhe? Du sollst immer der Schönste sein, wenn du herkommst! Ach, diese Augen, diese großen frechen Augen, du Schlingel! Oh, ich wette, daß sie schon wieder andere Frauen angesehen haben! Und dein Mund, dein Mund! Was hat er heute wieder Schlimmes getan? An welchen Lippen genascht?«
Er wiegte sich in seinen schmalen Hüften und sagte beruhigend:
»Gott bewahre! Ich versichere dir, Eugénie, es war keine Ausrede, kein Witz, Mama hatte auswärts zu tun, wahrhaftig!«
Eugénie sagte immer von neuem:
»Oh, du Schlingel, du Schlingel, du geliebtes kleines Luder! Ich will nicht, daß du andere Frauen ansiehst. Mir gehört alles, dein Gesichtchen, dein süßer Mund, deine großen frechen Augen – alles mir! Sag mir, daß du mich liebst, nun?«
»Aber ja, abgemacht.«
»Sag es noch einmal!«
»Abgemacht!«
Sie fiel ihm um den Hals, raunte ihm wilde Liebeserklärungen ins Ohr und zog ihn mit sich in ein Nebenzimmer.
William sagte zu mir:
»Macht die ein Theater! Und was der Bengel sie kostet! Letzte Woche hat sie ihn wieder ganz neu eingekleidet. Ja, ja, das nenne ich Liebe!«
Diese Szene hatte mich irgendwie gerührt, ich fühlte mich augenblicklich Eugénie schwesterlich verbunden. Der Bengel hatte Ähnlichkeit mit Monsieur Xavier. Zwischen diesen beiden schönen verdorbenen Wesen bestand eine traurige Duplizität: eine erschreckende Übereinstimmung. Wirklich, es machte mich grenzenlos traurig. Ich sah mich wieder in Monsieur Xaviers Zimmer, an jenem Abend, als ich ihm die neunzig Franc gab. Oh! Dein kleines Gesichtchen, dein kleiner Mund, diese großen Augen, dieselben kalten grausamen Augen, derselbe lässige Gang, dasselbe verruchte Feuerflackern in seinen Augen, dieselbe bittere Süße des Mundes, die seine Küsse vergiftete.
Ich versuchte mich aus Williams Armen frei zu machen, der mehr und mehr angriffslustig wurde, und sagte trocken:
»Nein – heute nicht.«
»Aber du hast versprochen, zu Bibi lieb zu sein!«
»Heute nicht.«
Dann riß ich mich energisch los, glättete mein zerrauftes Haar, meine zerdrückten Röcke und sagte kurz angebunden:
»Nette Manieren! Sie gehen ja hübsch ins Zeug!«
Natürlich wollte ich an den Gewohnheiten dieses Hauses nichts ändern. Bald fügte ich mich. William räumte die Zimmer auf, aber das ging nur husch, husch – hier ein bißchen mit dem Besen, dort ein wenig mit dem Staubwedel, das war alles. Die übrige Zeit quatschte er mit mir, wühlte in den Läden, in den Kästen, las Briefe, die überall herumlagen. Ich machte es ihm nach. Ich ließ den Staub auf und unter den Möbeln liegen, kümmerte mich nicht um die Zimmer, die in schrecklicher Unordnung waren, sondern ließ das Durcheinander unangetastet wie es war. Ich an Madames Stelle hätte mich geschämt, in den vernachlässigten Räumen zu wohnen. Aber die Herrschaft verstand es nicht zu befehlen, sie war schüchtern, fürchtete sich vor Szenen und wagte niemals etwas zu sagen. Wenn es ihnen manchmal doch zu bunt wurde und unsere Schlamperei allzusehr ins Auge fiel, entschlossen sie sich meist zu einem unsicheren Gestammel: »Mir scheint, Sie haben dieses und auch jenes vergessen ...« Dann brauchten wir nur in herausforderndem Ton zu antworten: »Pardon, Madame, aber Madame irren sich sicher. Doch wenn Madame mit mir nicht zufrieden sind ...« Dann brachten sie keinen Ton mehr hervor, und die Angelegenheit war erledigt. Nie in meiner Dienstzeit habe ich eine Herrschaft kennengelernt, die so wenig Autorität gegenüber ihren Domestiken aufbrachte. Und mehr als das! Wir ließen uns von diesen Einfaltspinseln nicht anstecken.
Man muß zugeben, daß William den Betrieb gut organisiert hatte und daß der Laden lief. Leider hatte er eine Leidenschaft, die vielen Hausangestellten eigen ist: Pferderennen! Er kannte alle Jockeis, alle Trainer, alle Buchmacher und sogar einige stolzgeschwellte Gentlemen, Barone, Vicomtes, die ihm zeitweise ein wenig Gunst bezeugten, da er oft fabelhafte Tips wußte. Wenn man diese Leidenschaft befriedigen und gleichzeitig auf dem laufenden sein will, dann war man gezwungen häufig auszugehen, in die entlegensten Vorstädte, und solche Ausflüge lassen sich schlecht mit dem gesetzten Beruf eines Kammerdieners vereinen, der eigentlich mehr als alle anderen ans Haus gebunden ist. Mein schlauer William hatte sein Leben dieser Leidenschaft entsprechend eingeteilt: nach dem Mittagessen zog er sich um und ging aus. Gott, war der Kerl fesch in seinen schwarz-weiß karierten Hosen, seinen Lackstiefeln, seinem Regenmantel und seinem Hut. Oh, Williams Hüte waren einzigartig! Hüte von der Schwärze eines tiefen Wassers, in dem sich Himmel, Bäume, Straßen, Flüsse, Publikum und Pferde und die Rennbahn so großartig spiegelten! Er kam erst gegen Abend wieder nach Hause, um seinem Herrn beim Anziehen behilflich zu sein, aber sehr oft ging er nach dem Diner abermals fort, angeblich hatte er verschiedene Verabredungen mit Engländern. Wenn er spätnachts heimkehrte, war er immer ziemlich beschwipst, denn mit den Engländern hatte er natürlich reichlich Cocktails getrunken. Einmal wöchentlich lud er regelmäßig Freunde zum Abendessen ein, Kutscher, Kammerdiener, Leute von der Rennbahn und Jockeis, ulkige Typen, mit krummen Beinen und deformierten Knien, zynischen komischen Wesens, fast unbestimmbaren Geschlechtes. Man wußte in der Beziehung nicht, wie man mit ihnen dran war. Sie unterhielten sich über Pferde, Turf, Frauen, und nebenbei erzählten sie wahre Schauergeschichten über ihre Herren, die, soweit man ihnen glauben durfte, alle Päderasten waren. Und dann, wenn der Wein ihnen schon zu Kopf gestiegen war, stürzten sie sich auf die Politik, wobei sich William herrlich fanatisch und mit erschreckend umstürzlerischer Heftigkeit beteiligte.
»Mein Mann«, schrie er, »ist Cassagnac, ein fideles Haus, ein schlauer, harter Bursche! Vor dem kuschen die Leute. Was der schreibt, das haut hin! An dem Burschen sollen sich die dreckigen Kanaillen ruhig die Pfoten verbrennen!«
Und plötzlich, mitten im wildesten Spektakel, stand Eugénie plötzlich auf, sehr blaß, mit blitzenden Augen stürzte sie zur Tür. Der Kleine trat ein, sein hübsches Gesicht verzog sich beim Anblick der Fremden, der geleerten Flaschen und streifte den verwüsteten Tisch mit einem verächtlichen Blick. Eugénie hatte für ihn ein Glas Champagner und einen Teller mit pikanten Leckerbissen aufgehoben, und damit verschwanden beide im Nebenzimmer.
»Oh, dein kleines Gesichtchen, dein kleiner Mund, deine groben Augen!«
An diesem Abend waren die Freßkörbe für die Eltern des Jungen wohl doppelt so voll wie sonst. Die braven Leute sollten doch auch etwas von dem Fest profitieren!
Eines Abends, als der Kleine sich verspätete und Eugénie bereits reif für einen hysterischen Anfall war, sagte ein dicker Kutscher, ein zynischer, diebischer Kerl, der immer bei diesen Festen anwesend war:
»Obacht, mein Kind, mach deine Hosen nicht naß, er wird wohl noch kommen, dein kleiner schwuler Schlurf!«
Eugénie erhob sich und sagte wutschnaubend:
»Was haben Sie soeben gesagt? Ein schwuler Schlurf? Dieses Engelskind? Sagen Sie das noch einmal! Und wenn schon, was geht es Sie an, wenn es dem Kind Freude macht? Hübsch genug ist er dazu, hübsch genug für alles, merken Sie sich das!«
»Natürlich ist er ein schwuler Schlurf«, sagte der Kutscher mit fettem Lachen, »erkundigen Sie sich einmal beim Grafen Hurot, in der Rue Marb…«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als eine saftige Ohrfeige ihm das Wort abschnitt.
Im selben Augenblick tauchte der Kleine in der Tür auf. Eugénie lief auf ihn zu:
»Mein Liebling, mein Schätzchen, komm schnell, bleib nicht bei diesen ordinären Kerls.«
Dennoch war ich überzeugt, daß der dicke Kutscher recht hatte.
William sprach auch zu mir häufig über Edgar, den berühmten Zureiter des Baron Borgsheim. Auf diese Bekanntschaft war er besonders stolz, er bewunderte ihn nicht weniger als Cassagnac. Edgar und Cassagnac, das waren die beiden großen Ideale seines Lebens. Es wäre direkt riskant, in seiner Gegenwart über einen von diesen beiden Männern Witze zu machen oder sich mit ihm über sie zu unterhalten. Wenn William nachts nach Hause kam, sagte er entschuldigend:
»Ich war bei Edgar!« Mit Edgar beisammengewesen zu sein, das bedeutete nicht nur eine Entschuldigung für alles, sondern es grenzte an Ruhm.
»Und warum lädst du diesen famosen Edgar nicht auch einmal zum Abendessen ein? Ich würde ihn gerne kennenlernen?« fragte ich ihn eines Tages.
William war über dieses Ansinnen direkt schockiert. Er entgegnete hoheitsvoll:
»Einfälle hast du! Stellst du dir wirklich vor, Edgar würde sich herbeilassen, mit diesen primitiven Domestiken bei Tisch zu sitzen?«
Von diesem sagenhaften Edgar hatte William die unvergleichliche Methode übernommen, seine Hüte auf Glanz zu polieren. Angeblich soll eines Tages auf dem Rennplatz von Auteuil der junge Marquis de Plérin Edgar angesprochen haben, um zu erfahren:
»Jetzt verraten Sie mir, Edgar, was Sie mit Ihren Hüten anstellen?«
»Mit meinen Hüten, Herr Marquis?« antwortete Edgar und fühlte sich unerhört geschmeichelt, denn der junge Plérin, ein raffinierter Falschspieler, was Turf und Karten anbelangt, war eine der berüchtigtsten Persönlichkeiten der Pariser Halbwelt. »Das ist sehr einfach. Man muß sich wie beim Spiel an die Regel halten, man muß sich darauf verstehen, und hier die Reihenfolge: jeden Morgen lasse ich meinen Kammerdiener eine Viertelstunde lang laufen. Er schwitzt, nicht wahr, und sein Schweiß enthält eine ölige Substanz. Dann nehme ich ein Tuch aus reinem Foulard, wische ihm den Schweiß von der Stirn und reibe meine Hüte damit ein. Und nachher mit dem Bügeleisen drübergehen. Aber man muß dazu einen gepflegten gesunden Mann nehmen, am besten einen Brünetten, ich ziehe die Brünetten vor, denn die Blonden haben mitunter einen scharfen Körpergeruch. Und nicht jeder Schweiß eignet sich dafür. Im vergangenen Jahr habe ich das Rezept dem Prinzen von Wales verraten.«
Und als der junge Marquis dem klugen Edgar mit einem Händedruck dankte, bekam er dazu noch den diskreten Rat:
»Setzen Sie diesmal auf Baladeur mit sieben zu eins – der macht das Rennen, Herr Marquis.«
Merkwürdig, wenn ich jetzt so zurückdenke, dann fühlte ich mich wohl damals selbst geschmeichelt, daß William derartige Bekanntschaften hatte. Langsam wurde auch für mich Edgar zu einem wunderbaren anbetungswürdigen Wesen, etwa wie der Kaiser von Deutschland oder Victor Hugo, Paul Bourget und weiß Gott wer sonst noch. Allein deshalb halte ich es für angebracht, alles zu erzählen, was mir William über diese Persönlichkeit berichtete, denn sie wird bestimmt in die Geschichte eingehen.
Edgar wurde in London von einer versoffenen Mutter zwischen zwei Whiskyräuschen in einer elenden Bude geboren. Schon im Kindesalter war er ein kleiner Herumtreiber, er bettelte, stahl und lernte frühzeitig das Gefängnis kennen. Später, als er die körperliche Entwicklung hinter sich hatte und über die nötige instinktive verbrecherische Eignung verfügte, wurde er als Groom angeworben. Bald kannte er sich in allen Gemeinheiten, allen faulen Tricks und Lastern der herrschaftlichen Domestiken aus. Aus den Vorzimmern verlegte er sich dann auf die Tätigkeiten in den Ställen, denn er wurde Lad auf den Gestüten von Eaton. Dort trug er das schottische Kostüm: karierte Mütze, gelbschwarz gestreifte Weste und helle Reithose, die sich um die Schenkel bauschte und an den Knien zu Falten legte. Schon als halbwüchsiger Kerl hatte er etwas von einem alten kleinen Mann, denn er war klein, schmächtig, sein Gesicht faltig, rot an den Bäckchen und gelb an den Schläfen, dazu ein schmaler verkniffener Mund. Sein schütteres Haar trug er in einer fettigen Welle übers Ohr gekämmt. In einer Gesellschaft, die über ordinäre Stalldünste die Nase rümpfte, rückte Edgar sehr schnell von einem anonymen Burschen zu einem angehenden Gentleman vor.
In Eaton erlernte er alle Tricks seines Berufes. Bald verstand er es, die luxuriösen Rennpferde zu bandagieren, er wurde mit ihrer Pflege betraut, wenn sie krank waren, er verstand sie spiegelblank zu striegeln und je nach den Farben des Stalles aufzuputzen; er lernte, wie man die Pferde vor dem Rennen herrichtet, wie man die Hufe blank wichst, wie man die alten müden Schinder zurechtschminkt, damit sie noch in der letzten Stunde wie alte Kokotten nach etwas aussehen. In den Bars lernte er die berühmten Jockeis kennen, ihre Trainer, die dicken Pferdebarone, die echten Grafen und Herzöge, windige Barone und die fadenscheinigen Herumtreiber, kurz die ganze seltsame Blüte des »monde hippique«, die auf dem Dung des Rennbetriebes so üppig gedeiht. Edgar hatte gehofft, Jockei werden zu können, er hatte sich inzwischen zu einem ganz gefinkelten Burschen entwickelt, der mit allen Schlichen seines Metiers gründlich vertraut war. Er wußte, daß in dieser Branche eine Menge Geld zu gewinnen war. Aber er wurde groß. Seine Beine blieben zwar mager und krumm, sein Magen aber wölbte sich, er bekam einen Schmerbauch. Dazu kam sein Übergewicht. Und da er in die Jockeibluse keinesfalls hineinpaßte, war er schnell entschlossen, sich mit der Livree eines Kutschers zu begnügen.
Heute ist Edgar dreiundvierzig Jahre alt. Er gehört zu den fünf oder sechs berühmten Bereitern, von denen man in der eleganten Welt – italienisch oder französisch – bewundernd spricht. Sein Name schmückt nicht nur die Sportblätter, sondern er scheint auch in den mondänen und literarischen Journalen auf. Baron von Borgsheim, sein momentaner Herr, ist stolzer auf ihn als auf eine kühn ausgeführte finanzielle Operation, die vielleicht zum Ruin von zahllosen kleinen Leuten beigetragen hat. Er sagte »mein Bereiter« in einem Tonfall unbesiegbarer Überlegenheit, vielleicht einem Bildersammler ähnlich, der von »seinem Rubens« spricht. Und der Mann hatte allerhand Grund, stolz zu sein, weil er, seit er den berühmten Bereiter besaß, bei allen Aristokraten ungeheuer an Ansehen und Bewunderung gewonnen hatte. So erschien der lang ersehnte Tag, wo er Zutritt zu den exklusivsten Salons erlangte. Durch seinen Bereiter Edgar hatte er allen Widerstand der Aristokratie gegen seine eigene Rasse besiegt. In seinem Club war nur noch von dem famosen Sieg des Barons über England die Rede. »Die Engländer haben uns Ägypten weggenommen«, hieß es, »aber der Baron hat den Engländern Edgar weggenommen.« Das stellte für eine Weile das Gleichgewicht wieder her. Solche Bewunderung geht allerdings mit einer unvermeidlichen Eifersucht Hand in Hand. Man wollte ihm Edgar abspenstig machen, Intrigen, korrupte Machinationen und ein Liebeswerben um Edgar setzten ein, wie das Wettrennen um eine schöne Frau. Aus den enthusiastisch abgefaßten Zeitungsartikeln über die beiden konnte man nicht herauslesen, von wem eigentlich die Rede war, von Edgar, dem glorreichen Bereiter, oder von Borgsheim, dem Finanzgenie.
Leute, die die aristokratischen Salons abgrasen, sind Edgar hin und wieder bestimmt begegnet. Er ist ein mittelgroßer Mann, sehr häßlich, von jener typischen, fast ulkigen Häßlichkeit der Engländer, das Gesicht mit einer halb semitisch, halb bourbonisch geschwungenen Nase bestückt. Schmale, nach oben geschürzte Lippen, die verdorbene Zähne und einige schwarze Löcher sehen lassen. Ohne fettleibig zu sein, trägt er dennoch ein wohlgerundetes Embonpoint vor sich her, das seinem kümmerlichen Knochengerüst etwas Gewicht verleiht. Er geht vorgeneigt, leicht tänzelnd, mit federndem Rückgrat, vorschriftsmäßig nach außen gedrehten Ellbogen und gegrätschten Beinen. Um die Mode schert sich Edgar nicht. Ihr Diktat ist für ihn nicht existent. Er liebt reiche Kleidung nach eigener phantasievoller Art. Er bevorzugt blaue Redingotes mit Moiréaufschlägen, übertrieben anliegend. Dazu viel zu helle Hosen, viel zu weiße Krawatten und viel zu protzige Ringe, allzu parfümierte Taschentücher, Hüte und Stiefel allzu spiegelblank. Wie lange wird die junge männliche Lebewelt Edgar um den Glanz seiner Hüte beneiden!
Jeden Morgen, punkt acht Uhr, trifft Edgar in seinem Automobil vor dem Palais des Barons ein: einen kleinen runden Hut auf dem Kopfe, kurzer Überrock und eine enorme gelbe Rose im Knopfloch. Er steigt mißgelaunt aus. Zu dieser Zeit ist das Striegeln der Pferde bereits beendet. Er wirft einen verkniffenen Blick in die Runde, dann betritt er den Stall und beginnt seine Inspektion, gefolgt von dem besorgten, respektvollen Stallmeister. Nichts entgeht seinem argwöhnischen schiefen Blick: wehe, wenn er einen Stalleimer nicht an seinem Platz, einen Flecken auf den Eisenketten oder einen Kratzer auf Kupfer- und Silbergeschirr irgendwo entdeckt. Dann wütet und tobt er mit einer stark belegten Stimme, die nur zu deutlich den Champagnerkonsum des Vorabends abschätzen läßt. Auch das Rasseln der Bronchien gibt Auskunft darüber. Er visitiert jede Box. Die Hände in blütenweißen Handschuhen betasten die Mähnen der Pferde, Hälse, Bäuche und Beine. Bei der kleinsten Spur von Schmutz auf dem Handschuh ergießt sich eine Flut von wütenden Beschimpfungen über das gesamte Personal. Nachher examiniert er peinlich genau die Pferdehufe, beschnuppert den Hafer in den Krippen, prüft die Streu und betrachtet alles lange und eingehend.
»Das soll anständiger Pferdemist sein? Das nenne ich Droschkengaulscheiße, zum Donnerwetter! Wenn ich morgen wieder so eine Schweinerei vorfinde, lasse ich euch das fressen, ihr Schweinekerle!«
Zuweilen taucht der Herr Baron auf, um sich mit seinem Bereiter zu unterhalten. Edgar nimmt von dessen Anwesenheit kaum Notiz. Auf seine unverkennbar schüchternen Fragen bekommt der Baron kurze verdrießliche Antworten. Edgar sagt nie »Herr Baron« zu ihm, der Baron hingegen hätte nicht übel Lust, seinen Bereiter »Herr Kutscher« zu nennen. Da er aber fürchten muß, Edgar zu irritieren, bleibt er nie sehr lange und zieht sich diskret zurück.
Hat Edgar die Inspektion der Remisen, Ställe und Sattelkammern beendet und im militärischen Kommandoton seine Anordnungen herausgebrüllt, steigt er flink in sein Automobil und braust in Richtung Champs-Elysées davon, um dort in einer kleinen Bar Leute zu treffen, die mit dem Rennen zu tun haben: Buchmacher mit ihren Schnüffelschnäuzchen, die ihm geheimnisvolle Nachrichten ins Ohr raunen und ihm vertrauliche Depeschen zeigen. Den Rest des Vormittags verbringt Edgar bei Lieferanten. Er macht Bestellungen, erteilt Aufträge. Sehr häufig besucht er die Pferdehändler, bei denen man dann folgende Gespräche mit anhören kann:
»Also, Master Edgar?«
»Also, Master Poolny?«
»Habe Käufer für das rotbraune Gespann vom Baron.«
»Fünfzig Livres für Sie ...«
»Nein.«
»Hundert Livres, Master Edgar.«
»Will nachdenken, Master Poolny.«
»Das wäre noch nicht alles, Master Edgar.«
»Sonst noch etwas, Master Poolny?«
»Habe zwei prächtige Füchse für den Baron.«
»Brauchen wir nicht.«
»Fünfzig Livres für Sie.«
»Nein.«
»Hundert Livres, Master Edgar.«
»Mal sehen, Master Poolny!«
Eine Woche später hat Edgar das Gespann des Barons, nicht zuviel und nicht zuwenig, kaputt gemacht und dem Baron erklärt, es sei besser, es heute als morgen loszuwerden, und es dann an Master Poolny verkauft. Der wiederum verkaufte an Edgar die beiden prachtvollen Füchse. Poolny hatte bei der Schiebung genug verdient, um das braune Gespann für drei Monate auf die Weide zu schicken. Dann könnte er es in zwei Jahren ganz leicht dem Baron wieder andrehen.
Mittags hat Edgar seinen Dienst beendet. Er fährt dann zum Dejeuner in seine Wohnung zurück, denn er wohnt nicht beim Baron und fährt ihn auch nie. Sein Appartement in der Rue Euler liegt zu ebener Erde und ist angeräumt mit teils gestickten, teils in allen Regenbogenfarben prangenden Plüschmöbeln. An den Wänden hängt eine Menge englischer Lithographien, Jagdszenen, Steeples oder berühmte Cracks darstellend. Auch besitzt er mehrere Porträts des Prinzen von Wales, darunter sogar eins mit persönlicher Widmung. Überall hängen Stöcke, Rennpeitschen, Jagdpeitschen, Steigbügel, Jagdhörner, und als Zeichen seiner staatsbürgerlichen Zugehörigkeit erhebt sich inmitten all dieser Dinge die imponierende Büste der Königin Victoria aus farbiger Terrakotta. Aller Sorgen ledig, eingezwängt in einen blauen Redingote, mit dem sagenhaft glänzenden Hut auf dem Haar, gibt sich Edgar nachmittags seinen eigenen Interessen und seinen Vergnügungen hin. Er ist an zahlreichen Geschäften beteiligt, auch Teilhaber einer Spielbank, er hält sich einen eigenen Buchmacher und einen Pferdephotographen. Außerdem besitzt er drei eigene Pferde, die in der Nähe von Chantilly im Training sind. Und auch sein ganz persönliches Vergnügen kommt dabei nicht zu kurz.
Die kleinen Dämchen, selbst die von der kostspieligen Sorte, kennen den Weg in die Rue Euler, wo für sie immer Tee serviert wird und auf jede fünf Louis warten.
Abends erscheint Edgar in einem tadellosen Frack mit Seidenrevers im Ambassadeur, im Zirkus, im Olympia, und er weiß sich als tadelloser Gentleman von bester Lebensart zu benehmen. Nachher sucht er das gemütliche Ancien auf, wo er sich im Kreis von anderen Kutschern, die sich ebenso wie Edgar das Ansehen von Gentlemen geben, und schließlich in der Gesellschaft von Gentlemen, die sich wie Kutscher benehmen, in aller Ruhe betrinkt.
Und jedesmal, wenn William mir eine seiner Geschichten von Edgar erzählte, schloß er im Tone höchster Bewunderung:
»Ach, dieser Edgar! Das ist ein Mann. Ein Prachtexemplar! So einen gibt's nur einmal.«
Meine Herrschaft gehörte zu jenen, die man schlechthin seit einiger Zeit die Pariser Gesellschaft nennt. Das will heißen, Monsieur war adelig, besaß keinen Sou, und über Madames Herkunft herrschte diskretes Schweigen. Es kursierten allerhand Geschichten darüber, eine peinlicher als die andere. William, der im Gesellschaftsklatsch sehr bewandert war, schwor, sie sei die Tochter eines ehemaligen Kutschers und einer Kammerzofe, die sich im Laufe der Jahre durch Sparen und Stehlen ein kleines Kapital zusammengekratzt hatten, um sich später in einem üblen Viertel als Geldverleiher niederzulassen. Ihr Zulauf war groß, und sie verliehen vor allem an Kokotten und geldbedürftige Mitglieder der guten Gesellschaft Darlehen und brachten auf diese Weise ein Vermögen zusammen. Oh, diese Glückspilze!
In der Tat hatte Madame trotz ihres eleganten Aufzugs und ihrer hübschen Larve recht merkwürdige Angewohnheiten, um nicht gleich zu sagen sehr gewöhnliche Manieren, die mich anwiderten. Sie liebte gekochtes Rindfleisch und Kohl mit Speck und goß wie ein Fiakerkutscher roten Wein in ihre Suppe. Nein, ich schämte mich oft für sie.
Ein Beispiel: wenn sie sich mit Monsieur zankte, und sie zankten sich oft, vergaß sie sich so, daß sie laut »Scheiße« schrie. Im Zorn zersprang die dünne Schicht aus Eleganz und feinem Getue, und schlagartig stieg aus dem Grunde ihrer Seele ihr ordinäres Wesen auf. Sie warf dann mit so gemeinen Worten um sich, daß selbst ich, die ich doch wirklich keine Dame bin, nur sehr zögernd ein solches Wort in den Mund nehmen würde. Aber da hat man es wieder einmal! Man macht sich ja im allgemeinen gar keinen Begriff davon, wieviel Frauen mit Engelsmündern, Sternenaugen und Dreitausend-Franc-Kleidern bei sich zu Hause aus der Rolle fallen, ein wirklich ordinäres Benehmen an den Tag legen und es mit abscheulichen, unanständigen Redensarten noch untermalen. Strichdirnen sind nichts dagegen!
»Die großen Damen«, pflegte William zu sagen, »sind wie die berühmten Saucen der feinen Küche. Am besten, man sieht nicht zu, wie sie gemacht werden, denn da könnte einem der Appetit vergehen!«
William strotzte von treffenden Aphorismen. Und da er immerhin ein galanter Mann war, versäumte er in solchen Fällen nicht, mich um die Taille zu fassen und hinzuzufügen:
»Ein kleines Gänseblümchen wie du ist für einen Liebhaber vielleicht weniger schmeichelhaft, aber man weiß wenigstens, woran man ist!«
Ich muß feststellen, daß Madame ihren Reichtum an Schimpfworten und ihre Wutanfälle stets nur über Monsieur ausleerte. Uns gegenüber war sie sehr zahm.
Sie bewies auch bei aller Unordnung und der sinnlosen Verschwendung um sie her bei den belanglosesten Begebenheiten einen eigenartigen Geiz. Sie zankte mit der Köchin wegen zwei Sou für Salat, knauserte bei der Wäsche des Personals, machte einen Mordswirbel um eine Rechnung über drei Franc und gab nicht eher Ruhe, bis sie von der Eisenbahn nach zahllosen Beschwerden, Drohbriefen und Laufereien schließlich fünfzehn Centimes zurückerstattet bekam, die ihr für die Zustellung eines Paketes zuviel angerechnet worden waren. Wenn sie einen Fiaker benützte, gab sie dem Kutscher nicht nur kein Trinkgeld, sondern sie brachte es unter viel Theater sogar fertig, den armen Teufel übers Ohr zu hauen. Das alles hinderte sie nicht, ihre Moneten, ihren Schmuck und ihre Schlüssel überall, sei es auf dem Kaminsims oder auf sonst einem Möbelstück, herumliegen zu lassen, aus purem Mutwillen verdarb sie manchmal ihre schönsten Kleider und ihre feinste Wäsche. Von den Lieferanten der Luxusgeschäfte ließ sie sich unverschämt ausbeuten, und die Ausgabenbücher des alten Haushofmeisters akzeptierte sie ohne Wimpernzucken. Genauso verfuhr auch Monsieur mit Williams Abrechnungen. Und mein lieber William nützte diese Gelegenheit schamlos aus! Wenn ich ihn warnte:
»Du treibst deine Profitgier auf die Spitze! Paß auf, dabei fällst du noch einmal herein!« dann antwortete er seelenruhig:
»Laß mich doch. Ich weiß genau, wie weit ich gehen kann. Wenn man eine so blöde Herrschaft hat wie wir, dann wäre es ein Verbrechen, diese Dummköpfe nicht auszunützen.«
Aber bei diesen vielen kleinen Gaunereien erbeutete William trotzdem zuwenig, denn obwohl er immer vorzügliche Tips bekam, blieb sein ergaunertes Geld in den Händen der Buchmacher.
Monsieur und Madame waren seit fünf Jahren verheiratet. Zu Beginn ihrer Ehe waren sie oft eingeladen und gaben auch selbst öfters Diners. Aber nach und nach schränkten sie ihre Besuche und Einladungen merklich ein, sie lebten dann zurückgezogen, und zwar, wie man behauptete, aus gegenseitiger Eifersucht. Madame warf Monsieur vor, mit anderen Frauen zu flirten, und Monsieur behauptete, Madame kokettiere zu auffällig mit anderen Herren. Sie liebten einander abgöttisch, das will heißen, sie stritten den lieben langen Tag, wie man eben in Kleinbürgerkreisen streitet. Die Wahrheit ist aber anders. Madame konnte in der Gesellschaft auf die Dauer keinen Erfolg haben, weil sie sich mit ihren unmöglichen Allüren überall blamierte. Sie warf ihrem Mann vor, daß er nicht fähig sei, ihr die richtige Geltung zu verschaffen, und er verzieh ihr nicht, daß sie ihn vor seinen Freunden so oft lächerlich machte. Die wahre Ursache ihrer Verstimmungen gestanden sie sich gegenseitig nicht, sie fanden es einfacher, ihre Zwietracht ihrer übergroßen Liebe zuzuschreiben.
Jahr für Jahr fuhr man im Juni aufs Land in die Touraine, wo Madame, so hieß es, ein herrliches Schloß besaß. Das Personal vergrößerte sich dann um einen Kutscher, zwei Gärtner, eine zweite Zofe und um Mägde für den Geflügelhof. Es gab dort Kühe, Pfauen, Hühner und Kaninchen – welch ein Glück! Ich dachte mir das Leben dort wunderbar. William dagegen schilderte mir schlecht gelaunt die Einzelheiten des Landaufenthaltes in der Touraine. Er liebte das Land nicht, er langweilte sich inmitten von Blumen, Bäumen und Wiesen schrecklich. Die Natur war für ihn nur dann erträglich, wenn in der Nähe Bars, Rennplätze, Buchmacher und Jockeis zu finden waren. Er war vor allem Pariser. Ein Citymensch.
»Kennst du etwas Langweiligeres als einen Kastanienbaum?« fragte er mich oft. »Nimm zum Beispiel einen Mann wie Edgar. Liebt der etwa das Landleben?«
Ich schwärmte ihm vor:
»Aber denk doch an die Herrlichkeit der Blumen, an die Weite der Wiesen und an die süßen kleinen Vögelchen!«
William grinste:
»Blumen? Sie gefallen mir am besten auf Hüten und bei den Putzmacherinnen. Und die Vögelchen? Die gehen mir auf die Nerven! Nicht einmal ausschlafen kann man dort am Morgen. Sie machen Krach wie schreiende Kinder. Nein, mein Kind, dafür danke ich! Das Landleben ist nichts für mich, das taugt höchstens für Bauern.«
Er richtete sich zu imponierender Größe auf und erklärte stolz:
»Ich brauche Sport. Ich bin kein Bauer, sondern Sportsmann, merk dir das, mein Kind!«
Meinetwegen, dennoch erwartete ich den Monat Juni voll Ungeduld. Ich träumte von den Margeriten auf den Wiesen, von versteckten Pfaden unter zitterndem Laub, ich dachte an die im Efeu verborgenen Nester der Vögel an den Flanken alter Mauern und an die Nachtigallen in den Mondnächten. An zartes Liebesgeflüster, an Träume Hand in Hand auf einem Brunnenrand, der mit Geißblatt und Moos gepolstert ist, und an den zarten Dampf frisch gemolkener Milch. An große Strohhüte, an die niedlichen Küken und an die Sonntagsmesse in den alten Dorfkirchen! An Abendläuten! Das alles bewegte mein Herz wie die hübschen Romanzen, die immer in Kaffeehausgarten gesungen werden!
Eigentlich bin ich eine poetische Natur, obwohl ich auch Späße gern habe. Ich liebe die Hirten, den Heuduft in der Sonne, die Vöglein, die von Ast zu Ast hüpfen, den Kuckuck und das Rieseln der Bäche über blanke Kieselsteine, die schönen Burschen mit der sonnengeröteten Haut und ihren kräftigen Gliedern, ihren gewölbten Oberkörpern. Alle diese Vorstellungen versetzten mich in angenehme Träumereien. Wenn ich an solche Dinge denke, werde ich wieder zum kleinen Mädchen. Meine Seele ist wieder rein und unschuldig, und mein Herz erwacht, ähnlich einer von Sonne und Wind ausgetrockneten Blüte, über die ein kleiner feiner Regen niedergeht. Abends, als ich einmal William in meinem Bett erwartete, war ich plötzlich von diesen künftigen Freuden so bewegt, daß ich folgende kleine Verse verfaßte:
Schwesterlein Blume,
wie lieb' ich dich.
Dein holder Duft,
verzaubert mich!
Brüderlein Bach,
am Hügel fern,
an deinen Ufern,
träum' ich so gern.
Baumgeflüster
und Wellenschlag,
wie ich's ersehne
von Tag zu Tag.
Euch dürft' ich lieben,
nur euch allein,
immer und ewig
wär' ich daheim!
Kaum war William ins Zimmer gekommen, da entfloh die Poesie. Mit ihm kam der schwere Geruch der Bars herein, und seine Küsse, die nach Gin rochen, brachen meinen Träumen die Flügel. Niemals hätte ich es über mich gebracht, ihm meine Verse zu zeigen. Wozu? Er hätte sich sicher über meine lyrischen Ergüsse lustig gemacht. Ohne Zweifel hätte er gesagt:
»Nimm dir ein Beispiel an Edgar! Ist der nicht ein phantastischer Kerl? Macht der etwa Gedichte?«
Meine poetische Ader war nicht der einzige Grund, warum ich mich so sehr nach einem Landaufenthalt sehnte. Ich hatte mir in den vergangenen letzten Wochen, die so voll Elend waren, den Magen verdorben. Dazu kam plötzlich die reiche, stark gewürzte Nahrung in der neuen Stellung, der viele Champagner, die spanischen Weine, die zu trinken mich William immer wieder zwang. Das alles tat mir nicht gut. Seit einiger Zeit hatte ich öfter Schwindelanfälle, vor allem morgens, wenn ich aufstand. Tagsüber versagten mir plötzlich meine Beine den Dienst, Kopfschmerzen quälten mich, als schlüge ein Hammer in meinem Schädel. Ich hatte tatsächlich ein gesünderes Leben nötig, um mich ein wenig zu erholen.
Leider, leider! Es war mir anscheinend bestimmt, daß meine Träume von Glück und Gesundheit nicht in Erfüllung gehen sollten.
»Ach was!« würde Madame sagen. »Scheiße!«
Die Szenen zwischen Madame und Monsieur begannen im allgemeinen immer im Ankleidezimmer von Madame und hatten zunächst völlig harmlose Anlässe. Je unbedeutender der Vorwand war, desto wilder entbrannte dann die Schlacht. Nachdem sie alle ihre angesammelte Wut und ihre Bitterkeit seit dem letzten Streit ausgespien und Herz und Galle erleichtert hatten, wurden sie böse und bockten wochenlang. Monsieur zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er Patiencen legte und seine Pfeifensammlung in Ordnung brachte. Madame schmollte in ihrem Zimmer, wo sie, auf einer Chaiselongue ausgestreckt, Liebesromane las, und sie unterbrach ihre Lektüre nur, um zu ihren Kästen zu stürzen, wo sie mit geharnischter Wut zunächst alles durcheinanderwarf, so daß es bei ihr wie nach einer Plünderung aussah.
Sie sahen einander nur bei den Mahlzeiten. Zu Beginn meines Dienstes, als ich ihre manischen Zornperioden noch nicht kannte, war ich darauf gefaßt, daß sie sich alsbald Teller, Flaschen und Messer an den Kopf schmettern würden. Aber nichts davon geschah! In solchen Zeiten benahmen sie sich ausgesprochen manierlich, Madame war durchaus bemüht, sich als Dame von Welt zu betragen. Sie plauderten ungezwungen, als ob nie etwas vorgefallen wäre, vielleicht eine Idee zu förmlich, zu kühl, zum Unterschied von früher. Man hätte direkt glauben können, sie speisten in der Stadt in einem Restaurant. War die Mahlzeit beendet, ging jeder sehr würdevoll, sehr ernst und mit umwölktem Blick wieder in sein Zimmer zurück. Madame stürzte sich voll Eifer erneut auf ihre Romane und Schubladen, Monsieur griff wieder nach seinen Patiencekarten und seinen Pfeifen, oder er verbrachte eine oder zwei Stunden in seinem Klub. Aber das geschah selten. Ging eine solche Schmollperiode ihrem Ende entgegen, entspann sich plötzlich eine lebhafte Korrespondenz zwischen dem Ehepaar: Liebesbriefchen in der Form von Herzen oder Küken flatterten hin und her, und ich war der Postillon d'amour, der vom Boudoir zur Bibliothek und von dort wieder zum Boudoir eilte. Den ganzen lieben Tag spielte ich Briefträger: Überbringer zahlloser schrecklicher Ultimata, verführerischer Drohungen, reuevoller Verzeihungen, und alles getränkt von Tränen und Liebesschwüren. Es war zum Totlachen!
Nach einigen Tagen versöhnten sie sich dann ebenso grundlos und unerwartet wie sie sich entzweit hatten. War das ein bittersüßes Geschluchze:
»Oh, du Schlimmer!«
»Oh, du Schlimme!«
Und dann geläutert:
»Nun ist alles wieder gut ...«
»Ich schwöre dir, alles ist wieder vorbei und vergessen!«
Schließlich feierten sie die Versöhnung ihrer Liebe in einem kleinen Restaurant, und am nächsten Morgen erhoben sie sich sehr spät, von Liebesschwelgerei ermattet.
Ich hatte die permanente Komödie der beiden Schmierenschauspieler, die sie einander lieferten, bald durchschaut und ihre gegenseitigen Drohungen, einander zu verlassen, niemals ernst genommen. Die beiden verband eine unzerreißbare Kette: er brauchte ihr Geld, und sie klammerte sich an seinen Titel. Aber da sie sich im Grunde ihrer Herzen den Kuhhandel ihrer Heirat übelnahmen, überkam sie von Zeit zu Zeit das rasende Bedürfnis, sich ihre Wut, ihre Betrügerei und ihre Verachtung von der Seele zu schreien.
»Wem dienen eigentlich solche Existenzen?« fragte ich William.
»Mir!« antwortete er lakonisch, denn er hatte wie immer für jede Frage die richtige Antwort parat.
Und um seiner Einstellung sogleich den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, zog er aus seiner Tasche eine fabelhafte Imperiales, die er am Morgen geklaut hatte, schnitt andächtig ihre Spitze ab, zündete sie sorgfältig an und erklärte zwischen zwei genußvollen Zügen:
»Meine kleine Célestine, man soll sich nie über die Dummheit seiner Herrschaft beklagen! Sie ist ja die einzige Garantie für das Wohlleben der Domestiken. Je dümmer die Herrschaft, desto glücklicher die Dienerschaft. Bei dieser Gelegenheit kannst du mir schnell eine fine champagne holen ...«
Behaglich in seinen Schaukelstuhl gelümmelt, die Beine hochgezogen und gekreuzt, die Zigarre zwischen den Zähnen und die Flasche alten Martell in Griffweite, entfaltete er in aller Gemütsruhe und voll Akkuratesse die Autorité und erklärte mir mit bewundernswerter Leutseligkeit:
»Siehst du, meine kleine Célestine, man muß immer seiner Herrschaft überlegen sein. Darauf kommt es an. Cassagnac ist, weiß Gott, ein rüder Bursche, aber er hat Klasse. Ich muß dir gestehen, daß ich diesen Kerl wirklich bewundere. Aber würde ich sein Diener sein wollen? Um nichts in der Welt! Das gilt nicht nur für Cassagnac, sondern auch für Edgar. Das solltest du dir für dein Leben merken, mein kleines Schaf: niemals bei Leuten dienen, die intelligent sind und selbst genau wissen, worauf es im Leben ankommt, denn das ist Selbstbetrug, die hauen einen übers Ohr.«
Er zog genießerisch an seiner Zigarre und fügte nach einer bedeutsamen Pause hinzu:
»Wenn ich mir überlege, daß es eine Menge Domestiken gibt, die ihr Leben damit zubringen, ihre Herrschaft zu belästigen, sie zu langweilen oder zu bedrohen, dann sage ich mir, was für Tölpel! Wenn ich mir überlege, daß es noch andere gibt, die sie am liebsten beiseite räumen würden! Sie zu töten, das ist hundertprozentige Idiotie! Tötet man etwa die Kuh, die Milch gibt, oder schlachtet man das ungeschorene Schaf? Der kluge Mensch melkt zuerst die Kuh, schert das Schaf – mit Geschick und ohne Geschrei. Das ist das ganze Geheimnis.«
Nachdem er seine Weisheiten verzapft hatte, versenkte er sich definitiv in die Geheimnisse der konservativen Politik.
Inzwischen schlurfte Eugénie in der Küche herum, sichtlich verliebt und zerstreut. Sie verrichtete ihre Arbeit mechanisch wie eine Schlafwandlerin, wirklich fern von allem, fern von uns, und manchmal murmelte sie mit abwesendem Blick etwas vor sich hin, das klang wie:
Dein kleiner Mund! Deine kleinen Hände! Deine großen Augen!
Es war ganz offensichtlich, daß das arme Wesen litt. Ihr Zustand machte mich traurig, ich weiß selbst nicht, warum, aber ihr Anblick rührte mich bisweilen zu Tränen. Ja, mich packte oft in diesem seltsamen Haus eine beunruhigende Melancholie, alles bedrückte mich plötzlich, und dann kam mir alles unheimlich vor, angefangen von dem schweigsamen Haushofmeister hatten alle Wesen, mich selbst und William inbegriffen, etwas erschreckend Unwirkliches, wie Gespenster! In dieser Atmosphäre lebten wir nur als Schatten unser selbst.
Die letzte Szene zwischen Monsieur und Madame wirkte auf mich besonders komisch.
Eines Morgens kam Monsieur in das Ankleidezimmer von Madame, just in dem Augenblick, als sie vor mir ein neues, gräßlich geschmackloses Korsett, aus violettem, geblümtem Satin und mit gelben Seidenbändern garniert, anprobierte. Wahrhaftig, an Geschmack erstickte Madame wahrhaftig nicht.
»Hör einmal, Liebling!« sagte sie gespielt vorwurfsvoll, »gehört es sich etwa, bei Frauen einzutreten, ohne anzuklopfen?«
»Oh, die Frauen ...« zwitscherte Monsieur, »du bist doch nicht alle Frauen.«
»So, ich bin nicht alle Frauen? Was bin ich denn sonst?«
Monsieur spitzte die Lippen – Gott, sah der Kerl dämlich aus! – und flüsterte mit geheuchelter Zärtlichkeit:
»Du bist meine Frau, meine kleine Frau, meine hübsche kleine Frau. Ist es etwa nicht erlaubt, bei seiner kleinen Frau einzudringen? Was ist denn dabei?«
Wenn er hier den verliebten Dummkopf spielte, wollte er gewöhnlich Madame Geld aus der Tasche ziehen. Aber sie war auf der Hut und antwortete mißtrauisch:
»Doch, es ist etwas dabei, mein Lieber!«
Und dann schmollte sie:
»Deine kleine Frau? Deine kleine Frau? Es ist gar nicht so sicher, daß ich deine kleine Frau bin.«
»So? Das ist nicht sicher? Warum?«
»Was weiß denn ich! Aber es heißt, bei Männern muß man immer auf etwas Ungewöhnliches gefaßt sein!«
»Ich sage dir, du bist meine kleine Frau, meine einzige kleine herzige Frau!«
»Und ich sage dir, du bist mein Baby, mein dickes Baby. Das einzige dicke Baby deiner kleinen Frau ... Nun?«
Ich schnürte gerade Madame, die sich im Spiegel betrachtete, ihre nackten Arme hob und die Haarpolster in ihren Achselhöhlen streichelte. Ich hätte am liebsten laut gelacht. Ihr läppisches Getue, »meine kleine Frau«, »mein kleines dickes Baby ...«, ging mir auf die Nerven. Die waren wirklich zwei dämliche Typen!
Inzwischen hatte Monsieur in Unterröcken, Strümpfen, Handtüchern, Bürsten, Flakons und Döschen herumgewühlt und begnügte sich dann mit einer Modezeitung, die auf dem Toilettentisch gelegen hatte. Er setzte sich auf einen Plüschhocker. Dann fragte er:
»Ist diesmal ein großes Rätsel drin?«
»Ja, ich glaube, es ist ein Rätsel drin.«
»Hast du es schon erraten?«
»Nein, ich habe es noch nicht angeschaut!«
»Bravo, dann laß uns einmal den Rebus ansehen.«
Während Monsieur sich mit gerunzelter Stirn in sein Rätsel vertiefte, sagte Madame ein wenig pikiert:
»Robert?«
»Liebling?«
»Merkst du nichts?«
»Nein, was denn? An dem Rätsel?«
Sie zuckte mit den Achseln und kniff die Lippen zusammen.
»Es handelt sich nicht um dein blödes Rätsel! Merkst du denn nicht ... Ach, du merkst ja nie etwas!«
Monsieur sah sich um, er schickte seinen etwas törichten und ebenso verständnislosen Blick durch das Zimmer, er betrachtete den Teppich, dann die Decke, die Frisierkommode und blickte schließlich zur Tür. Seine Augen waren groß, rund und komisch.
»Ich merke nichts! Wirklich nichts. Gibt es denn hier etwas Neues, das ich bis jetzt nicht bemerkt habe? Ich sehe wirklich nichts, Ehrenwort!«
Madame wurde tieftraurig und seufzte stöhnend:
»Robert, du liebst mich nicht mehr.«
»Ich liebe dich nicht mehr? Was soll das heißen? Zum Teufel, das ist wirklich ein wenig stark!«
Er sprang auf und schmetterte die Zeitung zu Boden.
Er wiederholte:
»Antworte! Was soll das heißen, ich liebe dich nicht mehr! Ideen hast du!«
»Nein, du liebst mich nicht mehr, denn wenn du mich liebtest, hättest du längst etwas bemerkt.«
»Was denn, zum Teufel?«
»Nun gut! Du hättest – hör gut zu – auf jeden Fall auch mein neues Korsett bemerkt.«
»Dein Korsett? Welches Korsett? Richtig, du hast recht. Das habe ich wirklich nicht bemerkt! Was bin ich doch für ein Esel! Aber wahrhaftig, es ist sehr hübsch, wirklich, ganz entzückend!«
»Ach, das sagst du jetzt nur, und in Wirklichkeit ist dir das Wurst, mein Aussehen ist dir egal! Und ich dummes Frauenzimmer kümmere mich Tag und Nacht um meine Schönheit, damit ich dir gefalle! Und du? Dir ist alles Wurst und egal! ... Wer bin ich denn überhaupt für dich? Ein Nichts. Ein Niemand, weniger als ein Niemand! Du kommst hier einfach herein, und was bemerkst du? Diese dreckige Zeitung. Wofür interessierst du dich? Für Rätsel! Oh, ein hübsches Leben führe ich mit dir! Wir sehen niemanden, wir gehen nie aus, wir leben wie die Maulwürfe. Ach, wir Armen!«
»Aber, aber, Liebling! Ich flehe dich an! Komm nicht immer gleich so in Rage! Hat man schon so etwas gehört! Wir leben doch nicht wie die Armen!«
Er wollte auf Madame zugehen, wollte sie streicheln, faßte sie um die Taille. Aber sie stieß ihn brüsk zurück:
»Nein, laß mich in Ruh, du gehst mir auf die Nerven!«
»Aber Liebling, meine süße kleine Frau ...«
»Hör auf mit deinen Späßen! Komm mir nicht nahe! Bleib wo du bist. Du bist ein großer Egoist, ein Grobian, ein Bauer! Was tust du für mich? Nichts! Weißt du, was du bist? Ein Scheißkerl – jawohl!«
»Warum sagst du das? Das ist doch verrückt! Reg dich nicht so auf. Zugegeben, ich war ein Tölpel, ich hätte das neue Korsett gleich bemerken sollen, dieses hübsche kleine Korsett! Wie konnte ich es überhaupt nur übersehen? Ich verstehe es selbst nicht! Sieh mich an, Liebling, lächle! Gott, wie hübsch ist dieses neue Korsett, und wie reizend es dir steht!«
Der gute Mann drückte zu stark auf die Tube. Selbst mich, obwohl ich an diesem Streit ganz unbeteiligt war, stieß sein Gequatsche ab. Madame trampelte auf dem Teppich herum, geriet immer mehr in Wut und kreischte schließlich mit blassen Lippen und verkrampften Händen:
»Du machst mich fertig, du machst mich fertig. Du regst mich auf – ist das klar? Scher dich zum Kuckuck!«
Aber Monsieur hörte nicht auf zu stammeln, wobei er nicht nur übertrieb, sondern dazwischen auch echte Verzweiflung zeigte:
»Mein armer Liebling! Du bist so unvernünftig. Und das alles wegen des neuen Korsetts. Das hat doch nicht das geringste damit zu tun! Hör mich an, mein Liebling. Sieh mich an. Lächle doch wieder. Ist es nicht töricht, nur wegen eines Korsetts soviel Theater zu machen?«
Da schrie Madame mit der Stimme eines Waschweibes:
»Du Schmutzian! Du kotzt mich an. Verdufte! Hau ab!«
Inzwischen hatte ich meine Herrin fertiggeschnürt. Ich freute mich diebisch, daß sich die Herrschaft so vor mir gehenließ. Welch wunderbare Gelegenheit, sie einmal mit dieser Erinnerung irgendwie demütigen zu können. Anscheinend hatten sie meine Anwesenheit total vergessen. Da ich den Krawall bis zu Ende auskosten wollte, machte ich mich ganz klein, verhielt mich still wie ein Mäuschen.
Da aber wurde Monsieur, der sich wirklich lange zurückgehalten hatte, wild. Er geriet richtig in Wut. Er knäulte das Journal zu einem dicken Knödel zusammen und warf es mit voller Wucht zwischen die Döschen und Fläschchen auf dem Toilettentisch. Jetzt brüllte er los:
»Verflucht und zugenäht, jetzt habe ich es aber satt! Jeden Tag dasselbe! Man kann nichts sagen, nichts tun, ohne wie ein Hund zusammengekuscht zu werden! Und immer verfällst du in diesen Straßendirnenton! Welch abscheuliche Gemeinheiten nimmst du dir heraus! Immer wirst du gleich ordinär! Ich habe dieses Leben satt, endgültig satt. Deine Fischweiberallüren hängen mir zum Hals heraus. Und wenn du es ganz genau wissen willst? Dein Korsett, dein Korsett finde ich abscheulich! Das typische Korsett einer Dirne!«
Sie bekam blutunterlaufene Augen, sie ballte die Hände, stürzte wie eine Furie auf Monsieur los, sie war so aufgeregt, daß ihr die Flut von Gemeinheiten jetzt nur stoßweise aus dem Mund quoll, sie raste:
»Du Elender!« heulte sie auf, »du wagst es, so mit mir zu reden. Ausgerechnet du? Das ist doch die Höhe. Ich habe den sauberen verschuldeten Herrn aus dem Dreck gezogen, damals, als dein Name im Klub wegen Falschspiels angeschlagen war. Ich habe dich aus dem Mist aufgelesen. Da warst du nicht stolz, da war er klein, der Scheißkerl! Jawohl, dein Name, dein erlauchter Titel, ein feiner Name, ein großartiger Titel, auf den kein Wucherer mehr hundert Sou leihen wollte. Du kannst dir deinen Titel zurücknehmen und dir den Hintern damit abwischen! Verstehst du! Und so was redet von Noblesse! Von seinen Ahnen. Du, den ich gekauft habe und den ich aushalte! Von mir bekommst du nichts mehr, nicht so viel! Und was deine Ahnen betrifft, die kannst du von mir aus ins Leihhaus bringen, da wirst du ja erleben, was du für ihre Schnapsnasen und Lakaienfratzen bekommst! Nicht so viel, sag ich dir, nicht was unter den Fingernagel geht! Schau, daß du weiterkommst. Aus meinen Augen – Betrüger! Scher dich zu deinen Huren, du Zuhälter!«
Sie war jetzt wirklich zum Fürchten. Zusammengeschlagen, zitternd, mit krummem Rücken zog sich Monsieur wie ein Hund mit eingezogenem Schweif vor dieser Flut von Beschimpfungen zurück. Als er die Tür erreicht hatte, bemerkte er mich und ergriff die Flucht. Madame schrie ihm mit der heiseren Stimme einer Bordellmutter nach:
»Zuhälter – dreckiger Zuhälter!«
Und dann sank sie, von einem Nervenanfall besiegt, auf ihre Chaiselongue. Ich konnte sie erst beruhigen, nachdem ich sie beinahe ein ganzes Fläschchen Äther hatte einatmen lassen.
Und wieder einmal war es soweit. Madame stürzte sich auf ihre Liebesromane und wütete in ihren Schubladen. Monsieur flüchtete entschlossener als je zuvor in seine komplizierten Patiencen und tröstete sich mit seiner Pfeifensammlung. Und wieder fing das Theater von vorne an. Der Briefwechsel setzte ein, zuerst schüchtern, ziemlich spärlich, aber bald wurde er reger, ich hetzte zwischen Boudoir und Bibliothek hin und her, wieder einmal Briefträgerin der Billets doux voll Drohungen und Bitten und in der Form von Herzchen und Hühnchen. Gott, was habe ich damals gelacht!
Drei Tage nach dieser Schmierenkomödie las Madame gerade ein Billett von Monsieur, rosa Wappenpapier, sehr adelig. Sie las und wurde auf einmal totenblaß. Sie fragte mich, schwer atmend:
»Célestine? Halten Sie es für möglich, daß Monsieur sich umbringt? Haben Sie Waffen in seiner Hand gesehen? Mein Gott! Wenn er sich umbringt ...«
Da bekam ich einen Lachkrampf. Ich stand dicht vor ihr. Und diese Lachsalve, die aus mir hervorbrach, wurde zügellos, das Gelächter überstürzte sich, ich glaubte sterben zu müssen, so erstickt war ich von diesem verfluchten Lachen, das wie ein Sturm von mir Besitz ergriffen hatte, und ich, halb erwürgt von diesem furiosen Gelächter, bekam dazu aus Atemnot noch einen lauten Schluckauf, der in glucksenden Schreien aus meiner Gurgel hervorbrach.
Madames Redefluß erstarrte vor diesem Ausbruch, eine Weile brachte sie keinen Laut hervor. Aber dann!
»Was ist los mit Ihnen? Was haben Sie denn, warum lachen Sie so blöd? Seien Sie doch still! Sie sollen aufhören!«
Aber das Lachen hatte mich in seiner Gewalt, und ich konnte einfach nicht aufhören. Mir tat schon alles weh. Endlich stieß ich keuchend hervor:
»Nein, nein – das ist ja zum Verrücktwerden komisch. Sie und Ihre Geschichten – das ist blöd, und nicht mein Lachen! O là là – o là là. Blöd zum Totlachen!«
Natürlich verließ ich noch am selben Abend das Haus, und wieder stand ich auf der Straße, auf dem Pflaster.
Hundeberuf! Hundeleben!
Dieser Herausschmiß war ein harter Schlag für mich, doch es war zu spät, um darüber nachzudenken. Niemals würde ich eine solche Stelle wiederfinden. Dort hatte ich alle Vorteile genossen: guten Lohn, alle Arten von Profit, wenig Arbeit, Freiheit, Vergnügungen. Dort war ich in einer Stellung, aus der ich mir das Beste herausschöpfen konnte. Jede andere, die weniger verschroben gewesen wäre als ich, hätte viel Geld gespart und auf die Seite gelegt, hätte sich mit der Zeit eine schöne Aussteuer angeschafft, eine hübsche Garderobe zugelegt, ach, ich dumme Gans hätte mir einen kompletten Haushalt kaufen können. Fünf oder sechs Jahre hätten genügt. Man hätte sich verheiraten, ein kleines Geschäft kaufen können, man hätte ein Zuhause gehabt, wäre vor Not geschützt, beinahe so glücklich wie eine Dame gewesen. Nun hieß es wieder von vorne anfangen, und damit begann eine magere Zeit. Ich war gereizt, war wütend über alles, über mich, über William und Eugénie, über Madame, über die ganze Welt. Komische Sache! Komisch und seltsam und eigentlich unnatürlich, denn anstatt die Sache wieder ins Gleis zu bringen, was bei einer so verrückten Madame ganz leicht gewesen wäre, trieb ich das Ganze nur noch auf die Spitze. Statt den natürlichen Weg einzuschlagen, mit einer Entschuldigung wieder alles in Ordnung zu bringen, stellte ich mich dumm und frech, bis zum Schluß nichts mehr gutzumachen war. Sehr oft verstehe ich wirklich nicht, was in mir vorgeht. In meiner unbegreiflichen Besessenheit hatte ich Madame sogar noch auf das unverschämteste beschimpft. Ihre ganze läppische Verlogenheit habe ich ihr vorgeworfen, nicht nur ihre Herkunft, sondern auch ihren Mann in den Dreck gezogen, ich habe vor ihr ausgespuckt wie vor einer Dirne. Wenn ich daran zurückdenke, so hätte wohl nicht viel gefehlt, und ich hätte dieses Weib erwürgt. Gott sei Dank geschah es nicht. Ich bin doch wirklich nicht bösartig, aber manchmal wäre ich eines Verbrechens fähig. Ich bin mir selbst ein Rätsel. Wenn mich die Wut überkommt, schrecke ich vor nichts zurück. Und wenn ich heute an diese arme Frau zurückdenke, an dieses traurige, verlogene Leben, das sie mit diesem Feigling von einem Mann führt, da habe ich Mitleid mit ihr. Heute wünsche ich ihr, daß sie ohne diesen Mann doch noch irgendwie glücklich geworden ist, dennoch bezweifle ich, daß sie die Kraft aufgebracht hat, ihn zu verlassen.
Nach dieser schrecklichen Szene lief ich schnell in die Gesindestube hinunter. William polierte mit lässigen Strichen das Silber, wobei er eine russische Zigarette rauchte.
»Was gibt's denn, was ist los mit dir?« fragte er gemütlich.
»Was los ist? Ich haue ab ...« sagte ich atemlos, »noch heute abend verlasse ich diese Bude.«
»Du haust ab? Warum?« fragte er unberührt.
Außer Atem, in hastigen Sätzen, mit verzerrtem Gesicht erzählte ich ihm die Szene mit Madame, schilderte ihm dramatisch den ganzen Vorfall. William zuckte mit den Achseln.
»Das war sehr dumm von dir«, sagte er ruhig, »so etwas tut man einfach nicht.«
»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«
»Was willst du denn sonst von mir hören? Ich sage dir, daß es dumm gewesen ist, und etwas anderes weiß ich beim besten Willen nicht dazu zu sagen.«
Er spielte den Hochmütigen, sah mich nachsichtig an. Der boshafte Kerl grinste. Oh, jetzt zeigte es sich, wie feige und erbärmlich er war!
»Ich habe dir gesagt, daß ich abhaue. Und du? Was wirst du machen?«
Wieder dieses gemeine Grinsen!
»Ich?« Als verstände er nicht, worauf ich anspielte.
»Ja, du! Ich frage dich, was du jetzt machen wirst!«
»Nichts, ich habe nicht die Absicht, etwas zu tun. Ich wurstle natürlich weiter. Oder glaubst du am Ende ...? Meiner Treu, bei dir ist ein Schraube los, mein armes Kind.«
Länger konnte ich mich nicht beherrschen. Ich platzte los:
»Du würdest es tatsächlich über dich bringen, in diesem Haus zu bleiben, aus dem man mich hinausgeschmissen hat?«
Er stand auf, zündete seine ausgegangene Zigarette wieder an und sagte eiskalt:
»Bitte, keine Szenen! Schließlich bin ich nicht mit dir verheiratet. Soll ich vielleicht für deine Dummheiten zahlen? Nein, meine Liebe, ich bin für dich nicht verantwortlich. Was willst du überhaupt? Du hast dich danebenbenommen, jetzt mußt du auch die Konsequenzen tragen. La vie est la vie.«
»Du gibst mich also auf? Läßt mich fallen? Das ist schändlich, du bist eine Kanaille wie alle anderen, weißt du das?«
William lächelte. Er war wirklich ein Mann, der über alles erhaben ist.
»Du redest lauter dummes Zeug. Als wir uns zusammengetan haben, habe ich dir nichts versprochen und du mir auch nichts. Man lernt sich kennen, man schläft miteinander. Und geht die Geschichte flöten, ist die ganze Sache vergessen. Warum auch nicht? La vie est la vie ...«
Und in belehrendem Ton fügte er hinzu:
»Siehst du, kleine Célestine, im Leben kommt es darauf an, daß man Haltung bewahrt, und dazu gehört noch etwas, was ich als Organisation bezeichnen möchte. Du verfügst weder über Haltung noch über Organisation. Du bist ein Spielball deiner Nerven. In unserem Beruf sind Nerven äußerst schädlich, präg dir das gut ein. La vie est la vie!«
Wäre ich mit den Nerven nicht so fertig gewesen, ich hätte mich bestimmt voll Wut auf ihn gestürzt, um ihm mit meinen Nägeln die feige, kriecherische Lakaienfratze zu zerkratzen. Leider fehlte mir dazu die Kraft, vielleicht auch die Courage. Statt anzugreifen, machte ich schlapp, ein Tränenstrom floß über meine Wangen. Ich schluchzte laut:
»William, oh, William, mein kleiner William, mein lieber kleiner William. Ich bin ja so unglücklich ...«
William versuchte alles, um mich ein wenig aufzurichten. Ich muß zugeben, daß er seine ganze Überredungskunst und seine ganze Philosophie dabei einsetzte. Den ganzen Tag über versorgte er mich mit hohen Gedanken und trostreichen Aphorismen. Aber immer wieder kehrten darin dieselben blöden einschläfernden und zugleich aufreizenden Worte wieder:
»Das Leben, das Leben ist, meine kleine Célestine, wie es ist ...«
»Ja, ja! C'est la vie – das Leben ist so, so ist das Leben …«
Aber ich muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. An diesem letzten Tag war er wirklich äußerst nett, allerdings ein bißchen förmlich, doch er kümmerte sich in jeder Beziehung um mich. Abends belud er sich mit meinem Koffer und verfrachtete ihn und mich und sich in einen Fiaker und fuhr mit mir zu einem Zimmervermieter, den er kannte und den er aus eigener Tasche für eine Woche voraus bezahlte. Dann empfahl er mich seiner Fürsorge. Ich wollte, daß er die letzte Nacht bei mir bleibe, doch er hatte eine Verabredung mit Edgar!
»Edgar, du verstehst mich doch, den darf ich nicht verpassen! Keinesfalls! Am Ende weiß er vielleicht sogar eine Stellung für dich? Du, eine Stellung, die Edgar vermittelt, die wäre ein Traum.«
Als er mich verließ, sagte er:
»Morgen komme ich dich besuchen. Sei artig, mach keine Dummheiten, das führt zu nichts. Und schreib dir meinen Rat gut hinter die Ohren: Célestine, das Leben ist so, wie es ist.«
Aber am anderen Tag wartete ich vergeblich auf ihn. Ich wurde ungeduldig und ging in das Haus zurück. In der Küche fand ich ein großes blondes Mädchen, hübsch und etwas knallig zurechtgemacht, jedenfalls hübscher als ich.
»Ist Eugénie nicht da?« fragte ich.
»Nein, sie ist nicht da«, antwortete die große Blonde trocken.
»Und William?«
»William auch nicht.«
»Wo ist er?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Ich möchte ihn sprechen. Bitte sagen Sie ihm, daß ich ihn sprechen möchte.«
Sie sah mich verächtlich an.
»Bitte sagen Sie ihm, daß ich ihm etwas auszurichten habe!«
Sie sagte unmißverständlich:
»Was fällt Ihnen ein? Bin ich vielleicht Ihr Dienstmädchen?«
Da verstand ich alles. Ich war des Kampfes müde, ich ging fort.
C'est la vie ...
Diese Phrase verfolgte mich wie ein Refrain aus dem Kaffeehauskonzert.
Je mehr ich mich von dem Haus entfernte, desto drastischer rief ich mir im Gedächtnis die fröhliche Szene zurück, die ich damals bei meinem Eintritt erlebte. Sicher hatte es sich mit der Neuen ebenso abgespielt. Man hatte die obligate Flasche Champagner entkorkt, William hatte das große blonde Mädchen auf seine Knie gezogen und ihr ins Ohr geflüstert:
»Mit Bibi muß man lieb sein!«
Ach ja, dieselben Worte, dieselben Gesten, dieselben Zärtlichkeiten, indes Eugénie den Hausmeisterssohn von nebenan mit den Blicken verschlang und ihn ins Nebenzimmer zerrte:
»Dein kleines Gesichtchen, deine kleinen Hände, deine großen Augen!«
Geschlagen ging ich mindestens eine Stunde vor der Tür auf und ab, ich beobachtete die Menschen, die ins Haus hinein- und herausgingen. Ich sah den Gemüsehändler, eine kleine Modistin mit zwei großen Kartons, den Lieferburschen vom Kaufhaus Louvre, ich sah den Spengler aus der Tür herauskommen – und was weiß ich was noch für Leute ...
Schatten, nichts als Schatten. Ich wagte es nicht, beim Concierge im Nachbarhaus einzutreten. Wahrscheinlich hätten sie mich sehr freundlich empfangen. Und was hätten sie mir erzählt? Bei diesen Gedanken beschloß ich endgültig fortzugehen. Unentwegt verfolgte mich der gräßliche Refrain:
C'est la vie, so ist das Leben ...
Die Straßen kamen mir unendlich traurig vor. Die Passanten machten den Eindruck von Gespenstern. Wenn ich von weitem einen fabelhaft glänzenden Hut auf dem Kopf eines Herrn erblickte, dann zitterte mein Herz, aber niemals war es William. Nein, keiner der Hutträger war William, keiner dieser fabelhaft glänzenden Leuchttürme gehörte ihm. Der Himmel war grau, tief lastend. Auf seinem niedrigen bleiernen Gewölbe schimmerte kein Hoffnungslicht ...
Ich kehrte in mein Zimmer zurück, angeekelt von allem.
Ach ja! Die Männer! Mögen sie nun Kutscher, Kammerdiener, Pfarrer, Gecken oder Dichter sein, sie ähneln einander alle. Immer das gleiche Gesindel!
Ich glaube, nun mache ich Schluß mit meinen Erinnerungen. Ich will die Vergangenheit nicht mehr heraufbeschwören. Ich hätte zwar noch einen großen Vorrat an Geschichten zur Verfügung, aber sie ähneln einander zu sehr, und ich habe es satt, in einem farblosen Panorama immer wieder dieselben Fratzen, dieselben Seelen, dieselben Gespenster zu zitieren. Vor allem fehlt mir die nötige Konzentration, denn ich werde mehr und mehr von der Asche meiner Vergangenheit durch die Sorgen um meine Zukunft abgelenkt. Da wäre vielleicht noch meine Zeit bei der Comtesse Fardin – aber wozu? Ich bin müde und angeekelt von allem. Bei der Comtesse konnte ich Bourget auf dem Gipfel seines Ruhms kennenlernen, aber gerade er ist jener Dichter, Philosoph und Moralist, den die präpotente Hohlheit, die intellektuelle Überheblichkeit und der ganze Kitsch der verlogenen mondänen Gesellschaft zu seinen literarischen Machwerken hinreißt: in dieser Sphäre ist alles künstlich! Die Eleganz, die Liebe, die Küche, die Religiosität, Patriotismus, die Kunst, die Mildtätigkeit, ja selbst das Laster, das sich mit heiligen Masken und abscheulichem Kitsch umgibt, nichts ist echt. Dort gibt es nur ein einziges echtes Gefühl: die Sucht nach Geld, das der Lächerlichkeit dieser Marionetten wohl noch mehr Widerwärtigkeit, aber zugleich die einzig menschliche Seite verleiht. Diese Gier allein verleiht ihnen so etwas wie Leben.
Ebenfalls im Haus der Comtesse Fardin habe ich Monsieur Jean kennengelernt, auch er ein Psychologe, auch er ein Moralist, dabei unleugbar begabt, und wenn er auch seine Moral und seine Psychologie aus Küchen und Vorzimmern bezieht, so ist er seinen Kollegen im Salon durchaus ebenbürtig. Monsieur Jean leerte Nachttöpfe aus – Monsieur Bourget die Seelen. Der Unterschied zwischen Küche und Salon ist kleiner, als man glaubt. Aber da ich mich dazu entschlossen habe, die Photographie von Monsieur Jean auf den Boden meines Koffers zu verbannen, ist auch Grund genug vorhanden, die Erinnerung an ihn in den Staub des Vergessens zu versenken.
Zwei Uhr morgens! Mein Feuer beginnt auszugehen, meine Lampe rußt, ich habe weder Holz noch Öl. Ich werde jetzt zu Bett gehen, ich werde kaum schlafen, denn in meinem Schädel rast die Ungeduld. Draußen ist eine finstere, stille Nacht. Die zunehmende Kälte läßt die Erde erstarren, der Himmel ist voll blitzender Sterne. Und Joseph ist unterwegs, irgendwo auf der Reise zu mir, meine Gedanken eilen in die Ferne, und dann sehe ich ihn ganz deutlich, ernst, verschlossen, mächtig sitzt er in einem Eisenbahnabteil, er lächelt mir zu, er kommt näher, immer näher, bald ist er da. Was wird er mir bringen? Die Freiheit, Frieden und Glück – wirklich Glück? Morgen werde ich es wissen.