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1. Oktober
Armer Monsieur! Ich glaube, ich habe ihn neulich im Garten zu streng behandelt. Bin ich am Ende zu weit gegangen? Er ist dumm genug, anzunehmen, er habe mich schwer gekränkt, und ich sei eine uneinnehmbare Festung. Ach Gott, seine feuchten, demütigen Blicke bitten mich ununterbrochen um Verzeihung.
Obwohl ich inzwischen freundlicher und zugänglicher geworden bin, kommt er nicht mehr auf die Szene im Garten zurück. Es fällt ihm nicht einmal der klassische Trick mit dem abgerissenen Hosenknopf ein.
Ein ziemlich derber Trick. Aber, du lieber Gott, wieviel abgerissene Hosenknöpfe habe ich schon in meinem Leben angenäht!
Und dennoch merke ich ganz deutlich, daß er unbedingt mit mir etwas anfangen möchte, daß er von Tag zu Tag verrückter wird nach mir. Bei den unbedeutendsten Worten wird mir das mehr und mehr klar, aber er wagt keine Anspielung, er hat offenbar Angst – Angst vor einer Einwilligung. Oder er fürchtet, sich eine unmißverständliche Absage zu holen. Jedenfalls wagt er es nicht, auf meine aufmunternden Blicke einzugehen.
Einmal ließ er sich dazu verleiten, aber sein Wesen verriet dabei seltsame Angst, und seine Stimme bebte vor Erregung:
»Célestine ... Sie ... Sie putzen meine Schuhe so schön – wirklich wunderschön ... Niemals waren sie bisher so schön geputzt.«
Aha, dachte ich, jetzt kommt der Trick mit dem abgerissenen Hosenknopf. Aber nein. Monsieur schnaufte und schluckte, als habe er eine zu große und saftige Birne verspeist. Dann pfiff er seinem Hund und ging fort.
Aber die tollste Geschichte passierte gestern.
Madame war zum Markt gefahren, denn sie kauft natürlich alles selbst ein. Monsieur war schon seit dem Morgengrauen aus dem Haus mit Flinte und Hund auf die Jagd gegangen. Er kam ziemlich früh zurück mit drei Krammetsvögeln und begab sich gleich hinauf ins Bad, um sich wie gewöhnlich zu duschen und umzuziehen. Das muß man zugeben, Monsieur ist wirklich sehr reinlich. Eine begeisterte Wasserratte. Ich hielt den Augenblick für gekommen, eine kleine Annäherung in unserer Beziehung anzubahnen. Darum ließ ich meine Arbeit liegen und huschte hinauf zum Badezimmer. Eine kleine Weile drückte ich mein Ohr an die Tür und lauschte bewegungslos. Monsieur spazierte im Badezimmer auf und ab, trällerte und pfiff abwechselnd vor sich hin:
»Et allez donc, Mamz'elle Suzon! ...
Et ron, ronron ... petit patapon ...«
Er warf dabei, wie er das meistens tut, verschiedene Refrains durcheinander.
Ich hörte Stühle rücken, Schranktüren auf- und zuklappen, Wasser in die Wanne rauschen und dazu viele Ah und Oh mit brrr und pfui vermischt und andere ulkige Laute. Monsieur genoß sein Bad. Da öffnete ich jäh die Tür ...
Und erblickte ihn mir gegenüber, tropfnaß, sich schüttelnd und den vollen Badeschwamm an sich drückend, das Wasser floß in kleinen Bächlein an ihm herab. So etwas von verblüfftem Gesicht und aufgerissenen Augen! Noch nie im Leben habe ich einen Mann so überrascht gesehen. Da er nichts in der Nähe hatte, womit er rasch seine Blöße hätte bedecken können, hielt er den Badeschwamm wie ein Feigenblatt vor. Es bedurfte meiner ganzen Willenskraft, um eine aufsteigende Lachsalve zu ersticken. Monsieur ist am Oberkörper dicht behaart wie ein Bär. Trotz aller Komik, er ist ein verflucht kräftiger Kerl! Donnerwetter!
Selbstverständlich stieß ich, wie es sich gehört, einen Schreckensschrei aus und knallte die Tür wieder zu. Aber ich blieb wartend davor stehen und sagte mir: Jetzt wird er dich gleich rufen, und was wird dann geschehen? ... Meiner Treu, ich wartete einige Minuten, aber hinter der Tür nicht das kleinste Geräusch, es blieb ganz still, nur dann und wann tropfte ein bißchen Wasser in die Wanne. Ich überlegte. Wahrscheinlich weiß er nicht, was er jetzt tun soll. Er kann sich nicht entschließen – wenigstens nicht so schnell ... Aber er wird mich rufen ...
Keine Spur. Aber erneutes Wasserplanschen. Dann hörte ich ihn aus der Wanne steigen, hörte an seinem Schnaufen, wie er sich frottierte. Pantoffeln schlurften über den Badezimmerboden, Stühle knarrten, Schranktüren gingen auf und wieder zu. Schließlich begann Monsieur wieder zu singen:
»Et allez donc, Mamz'elle Suzon! ...
Et ron, ronron ... petit patapon ...«
»Nein, wahrhaftig, dem ist nicht zu helfen«, murmelte ich wütend, »er ist wirklich zu dumm.« Ich ging wieder in die Lingerie zurück, fest entschlossen, ihm auf keinen Fall jemals jene irdische Seligkeit zu bereiten, die ich ihm, wenn schon nicht aus Liebe, so doch aus Mitleid, zugedacht hatte.
Am Nachmittag zeigte sich Monsieur sehr beschäftigt, er strich dauernd um mich herum wie eine Katze, und als ich auf dem Weg zum Hühnerhof mit Abfällen unterwegs war, um mich ein wenig über seine Verlegenheit zu amüsieren, stießen wir zusammen, und ich entschuldigte mich sehr höflich für das kleine Malheur am Morgen.
»Das macht doch nichts«, flüsterte er, »das macht doch gar nichts – ganz im Gegenteil ...«
Er versuchte mich zurückzuhalten und sagte irgend etwas Unverständliches. Aber während er sich bereits in seinem Gestammel verhaspelte, ließ ich ihn stehen, lächelte kalt über die Schulter und rief ihm nach:
»Verzeihung, Monsieur, ich bin sehr beschäftigt. Hab' keine Zeit für ein Gespräch. Madame erwartet mich.«
»Sapristi – Célestine, warten Sie doch eine Minute …«
»Nein, Monsieur ...«
Als ich vom Hühnerhof zurückkam und in die Allee einbog, die zum Wohnhaus führt, entdeckte ich ihn immer noch an derselben Stelle. Kopf gesenkt, Augen starr auf den Misthaufen geheftet, und dabei kratzte er sich am Nacken.
Nach dem Diner hatten Monsieur und Madame im Salon einen kleinen Krach.
»Ich sage dir«, erklärte Madame, »du rennst hinter diesem Mädchen her!«
Monsieurs Antwort:
»Ich? Nein so etwas! Du hast manchmal Ideen! Hör einmal, Liebes, so etwas traust du mir zu? Eine Intimität mit diesem faden Püppchen, das wahrscheinlich irgendeine schmutzige Krankheit hat ... Also, das ist stark!«
Madame gab nicht nach:
»Mir kannst du nichts erzählen. Glaubst du, ich kenne dich nicht – und deine Schwächen ...«
»Da hört sich doch alles auf ...«
»Ich weiß ganz genau, daß du hinter jedem dreckigen Kittel her bist, daß du in jeden schmierigen Hintern zwickst, der hier in der Gegend herumstreunt ...«
Ich hörte alles, hörte unter Monsieurs aufgeregten Schritten das Parkett knirschen.
»Ich? Du phantasierst, Liebling. Wie kommst du denn bloß zu solchen Anschuldigungen?«
Aber Madame blieb obstinat:
»Diese Geschichte mit der kleinen Jésureau? Ein fünfzehnjähriges Kind, du Elender! Und wer mußte mit fünfhundert Franc herausrücken, damit du nicht ins Gefängnis kamst? Wie dein Vater!«
Monsieur malträtierte nicht mehr das Parkett. Er hatte sich in seinen Stuhl verkrochen und murmelte etwas vor sich hin. Dann verstummte er ganz.
Der Krach war beendet, Madame behielt wie gewöhnlich das letzte Wort:
»Übrigens ist es mir ganz egal, ich bin nicht eifersüchtig, von mir aus schlaf mit dieser Célestine, aber gib acht. Wehe dir, wenn mich so eine Geschichte wieder Geld kostet ...«.
Also nein! Die beiden können wirklich so bleiben!
Ich weiß nicht, ob es stimmt, daß Monsieur, wie Madame behauptet, hinter allen kleinen Mädchen der Umgebung her ist. Und wenn schon! Warum denn nicht, wenn es ihm Spaß macht? Er ist ein kräftiger Mann, der viel ißt und trinkt, er braucht das. Und von Madame hat er in dieser Beziehung überhaupt nichts. Jedenfalls seit ich im Hause bin, gab es für Monsieur nichts zu stöbern. Das steht einmal fest: Und das ist entschieden ungewöhnlich, wo sie doch in einem Bett schlafen. Wenn eine Kammerzofe nur ein bißchen intelligent ist und Augen im Kopf hat, weiß sie genau, wie es bei ihrer Herrschaft zugeht. Dazu braucht sie nicht einmal an den Türen zu lauschen. Badezimmer, Schlafzimmer, die Wäsche und diverse andere Kleinigkeiten verraten ihr genug. Ja, ja, die feinen Herrschaften, die anderen Moral predigen und von ihren Dienstboten ein keusches Leben verlangen. Sie sollten sich einmal selbst beim Schopf nehmen und die Spuren ihres Sexuallebens besser verbergen. Es gibt sogar Herrschaften, die es darauf anlegen, alles auszubreiten, was auf ihr Intimleben hinweist, sei es aus Verruchtheit, aus Gleichgültigkeit, manchmal ist es auch vielleicht eine Art Herausforderung. Ich bin kein Tugendengel, keine Heuchlerin, ich habe auch gern meinen Spaß, aber ich habe bei den »wohlanständigsten« Ehepartnern Dinge gesehen, die tatsächlich über das gerade noch erlaubte Maß an Geschmacklosigkeit hinausgingen.
Am Anfang, als ich noch nicht lange Kammerzofe war, war es für mich immer eigentümlich, meiner Herrschaft am anderen Morgen zu begegnen, nachdem sie ... Ich kann mir nicht helfen, es war mir wirklich peinlich. Wenn ich das Frühstück brachte, mußte ich sie, ohne daß ich es wollte, anstarren, und zwar mit einer solchen Intensität, daß Monsieur oder Madame häufig sagten:
»Was haben Sie denn? Starrt man seine Herrschaft so an? Passen Sie lieber besser auf Ihr Service auf!«
Dieses Anstarren erweckte in mir gewisse Bilder und Wünsche – wie soll ich mich ausdrücken? Nun, einfach Wünsche, die mich den ganzen Tag nicht mehr verließen und die schließlich zu Zwangsvorstellungen führten, die in beschämende eigene Liebkosungen ausarteten ...
Seit damals hat die Gewohnheit, die alles Übersteigerte abschleift, mich eines Besseren belehrt und mir die Dinge, die mich früher erregten, in einem realen Licht gezeigt; heute können mich diese Gesichter, auf denen weder Schminke noch Puder noch Schönheitselixiere die Kennzeichen einer Liebesnacht zu übertünchen vermögen, nicht mehr aus der Fassung bringen. Heute zucke ich bei einem solchen Anblick einfach mit den Schultern. Heute brauche ich mich bei dem moralischen Getue dieser Leute nicht mehr zu erhitzen und zu quälen. Ihre Verachtung gegenüber gefallenen Mädchen und ihre ständigen Ratschläge, was das Benehmen betrifft, lassen mich völlig kalt.
»Célestine, Sie sind männernärrisch. Immer umtänzeln Sie alle Burschen im Haus. Das zeigt von schlechten Manieren, wenn man sich mit dem Kammerdiener in den Ecken herumdrückt ... Célestine, das gehört sich nicht, mein Haus ist kein Bordell. Solange Sie bei mir dienen, dulde ich ein derartiges Betragen nicht, ich erlaube nicht, daß Sie ...«
Und patati und patata!
Aber das hindert Monsieur nicht, einen auf Kosten der Moral auf einen Diwan zu schmeißen, in sein Bett zu drängen und einen für auferzwungene Liebesdienste nichts anderes zu hinterlassen als ein Kind. Sieh zu, wie du damit fertig wirst – oder nicht. Und schafft man es nicht, dann kann man mit dem Kind krepieren. Das kümmert die Herrschaft nicht.
Und solche Leute reden von ihrem feinen Haus? Meiner Treu, das ist zum Lachen.
In der Rue Lincoln, wo ich auch in Stellung war, ging es jeden Freitag hoch her: großer Damenempfang! Nachmittags strömten sie in Scharen schnatternd, eingebildet und aufgemacht herbei, eingehüllt in eine Duftwolke exquisiter Parfüms. Mein Gott – eben ein Rudel aus den besten Kreisen. Vermutlich war den ganzen Nachmittag nur die Rede von schlüpfrigen Affären, denn am Ende war Madame ziemlich erregt. Abends gingen die Herrschaften dann in die Oper oder was weiß ich wohin – jedenfalls war am Freitag immer großer Jour. Na ja, man kennt das ja. Gehörte der Nachmittag Madame, gehörte die Nacht Monsieur Coco. Und welch eine Nacht! Der Anblick des Badezimmers am nächsten Morgen sprach Bände. Und erst das Schlafzimmer! Das war in einem wüsten Zustand, die Möbel standen durcheinander, überall war Wäsche weggeworfen und die Teppiche naßgespritzt. Und dazu dieser schwere Geruch von Parfüm und menschlichen Leibern!
Im Ankleidezimmer meiner Gnädigen war ein Spiegel angebracht, der nahm die Höhe und Breite einer ganzen Wand ein. Oft lagen am Morgen vor dem Spiegel ein Haufen zerdrückter Kissen, und die Kerzen in den hohen Leuchtern zu beiden Seiten waren ganz heruntergebrannt, wie mit erstarrten Tränen übergossen. Ach, einen Klimbim hatten die nötig! Ich frage mich, was die wohl alles erfunden hätten, wenn sie nicht verheiratet gewesen wären.
Da erinnere ich mich gerade an jene famose Reise nach Belgien, als wir an der Grenze am Bahnhof in Feignies zur Gepäckkontrolle ins Zollhaus gerufen wurden. Wir wollten einige Wochen in Ostende verbringen. Es war aber schon mitten in der Nacht. Monsieur Coco schlief fest und blieb in seinem Abteil liegen. Also gingen Madame und ich in den Raum, wo das Gepäck untersucht wurde.
»Haben Sie etwas zu verzollen?« fragte uns ein dicker Zöllner, der sicher beim Anblick meiner feschen eleganten Herrin dachte, hier gäbe es eine angenehme Abwechslung. Es gibt eine Menge Zollbeamte, die beinahe eine erotische Befriedigung empfinden, wenn sie mit ihren groben Fingern in den Hemden und Höschen schöner Frauen wühlen dürfen.
»Nein«, antwortete Madame, »ich habe nichts.«
»Das werden wir ja sehen! Öffnen Sie diesen Koffer!«
Ausgerechnet auf den größten und schwersten unserer sechs Koffer hatte er es abgesehen. Er war aber auch ein prächtiges Stück, aus echtem Schweinsleder mit einer grauen Schutzhülle aus Segelleinwand.
»Wenn ich doch nichts zu verzollen habe ...« zögerte Madame irritiert.
»Aufmachen!« befahl dieser Lümmel, der, anscheinend durch Madames Widerstand gereizt, eine strenge Untersuchung vorhatte.
Madame – oh, ich sehe sie noch heute vor mir – holte aus ihrer Handtasche einen Schlüsselbund und öffnete den Koffer. Der widerliche Zollbeamte schnupperte den Duft, der aus dem Koffer aufstieg. Dann begann er mit seinen plumpen Pfoten in der feinen Wäsche und in den Kleidern herumzuwühlen. Madame wurde wütend, sie schrie entsetzt, als sie zusehen mußte, wie dieser Tolpatsch mit Absicht auseinanderzerrte, was wir mit soviel Sorgfalt eingepackt hatten.
Nachdem dieses Herumschnüffeln ohne besondere Zwischenfälle beendet war, entdeckte der Lümmel im letzten Moment noch ein längliches rotes Lederetui im Koffer. Er fragte:
»Und was ist das? Was haben Sie da drinnen versteckt?«
»Meinen Schmuck«, erwiderte Madame gelassen.
»Öffnen Sie das Etui.«
»Aber ich sage Ihnen doch, es ist mein Schmuck. Also wozu soll ich ...«
»Nein – ich öffne es nicht. Das ist Mißbrauch Ihrer Amtsgewalt. Übrigens habe ich den Schlüssel gar nicht bei mir.«
Madame war schrecklich aufgeregt. Sie wollte das Schmuckkästchen dem Flegel entreißen, aber der wich zurück und drohte:
»Wenn Sie dieses Kästchen nicht augenblicklich öffnen, rufe ich den Inspektor herbei.«
»Das ist eine Unverschämtheit, eine Gemeinheit ...«
»Und wenn Sie den Schlüssel nicht haben, schön, dann bricht man es eben auf.«
Madame geriet ganz aus dem Häuschen:
»Dazu haben Sie nicht das Recht. Ich werde mich bei der Botschaft beschweren. Bei den Ministern – überall. Ich gehe bis zum König. Wir sind mit ihm befreundet. Oh, ich werde Sie anzeigen und dafür sorgen, daß Sie ins Kittchen kommen.«
Aber all diese Drohungen nützten nichts, der Zollbeamte blieb ungerührt und wiederholte:
»Öffnen Sie das Etui!«
Madame war sehr blaß geworden und verkrampfte die Hände.
»Nein«, flüsterte sie, »ich werde es nicht aufmachen – ich kann, ich will es nicht öffnen.«
Da wiederholte der Kerl vielleicht zum zehntenmal:
»Aufmachen!«
Dieser Wortwechsel hatte eine Gruppe neugieriger Reisender herbeigezogen. Ich selbst war am Ausgang dieses kleinen Dramas interessiert, vor allem aber platzte ich vor Neugierde, den Inhalt des Kästchens kennenzulernen, das ich niemals bei Madame gesehen hatte und das sie ohne mein Wissen in den Koffer gesteckt haben mußte.
Da änderte Madame plötzlich ihre Taktik, sie wurde sanfter, geradezu zärtlich zu dem unbestechlichen Beamten, sie trat ganz nahe an ihn heran, versuchte ihn mit ihrem Parfüm zu betören und sagte leise:
»Entfernen Sie diese Leute, dann mache ich das Etui bestimmt auf.«
Der Flegel glaubte wohl, Madame locke ihn in eine Falle. Er schüttelte mißtrauisch seinen Schädel und grunzte:
»Schluß mit diesen Tricks. Auf diesen Schwindel falle ich Ihnen nicht herein! So ein Affentheater! Öffnen Sie!«
Da ihr nichts anderes übrigblieb, holte Madame aus ihrem Portemonnaie einen winzigen Goldschlüssel hervor. Errötend, resignierend, dennoch in der Hoffnung, daß das, was nun zum Vorschein kommen sollte, den Neugierigen verborgen bleiben werde, schloß sie das rote Kästchen, das der Zöllner in der Hand hielt, auf, dabei versuchte sie den Inhalt mit ihrem Rücken zu decken, um es vor den Blicken der Zuschauer zu verbergen. Im selben Augenblick machte der Mann einen Sprung, als habe ihn ein giftiges Tier gebissen.
»Donnerwetter – das ist ja ...« Dann ging ihm die Puste aus.
Erst als er sich von der Überraschung erholt hatte, sagte er mit einem lustigen Nasenrümpfen:
»Hätten Sie doch gleich gesagt, daß Sie Witwe sind!«
Und er drückte das Schloß des Kästchens zu, jedoch nicht schnell genug, um das Gelächter und Geflüster, die empörten Zurufe und gehässigen Kommentare des Auditoriums zu verhindern. Alle hatten den »Schmuck« gesehen.
Madame war schrecklich verlegen, aber ich muß zugeben, daß sie selbst in dieser heiklen Situation Haltung bewahrte. Ihre Kaltblütigkeit grenzte an Frechheit. Sie half mir ruhig beim Ordnen des zerwühlten Koffers, schließlich verließen wir unter dem Gelächter und dem Pfeifen der Anwesenden das Zollamt.
Ich brachte Madame bis zu ihrem Waggon und trug ihr die Tasche mit dem originellen Schmuckkästchen nach. Auf dem Bahnsteig hielt sie plötzlich inne und sagte mit schamloser Verschmitztheit:
»Ich war schön dumm! Ich hätte doch sagen können, daß das Etui Ihnen gehört.«
Mit derselben Unverfrorenheit antwortete ich:
»Schönen Dank! Madame sind zu gütig! Wirklich zu nett! Aber ich, für meine Person, ziehe solche Kleinodien in natura vor.«
»Still«, sagte Madame mit Humor. »Sie sind ein kleines Schaf.«
Dann schlüpfte sie mit leisem Lächeln in ihr Abteil, in dem der ahnungslose Coco schlief.
Ja, Madame hatte öfters kein Glück. Sei es, weil sie unordentlich war, oder es geschah zuweilen sogar aus Absicht – kurz, im Hause passierten ihr ähnliche Geschichten. Ich könnte allerhand analoge Anekdoten zum besten geben, doch es kommt der Moment, wo einen das ewige Im-Dreck-Wühlen ankotzt, ich glaube, ich habe über die Rue Lincoln, über dieses eklatanteste Beispiel moralischer Verwahrlosung der Gesellschaft, eigentlich genug erzählt. Doch bedarf es hiezu noch einiger Ergänzungen.
Madame verbarg in einem Schubfach ihres Schrankes ungefähr sechs kleine in gelbes Leder gebundene Büchlein mit Goldschließen, in der Art von Gebetbüchern für junge Mädchen. Süße kleine Kostbarkeiten im Wert ihrer Ausführung. Manchmal vergaß sie am Samstagmorgen so ein kleines Buch auf dem Nachttisch oder im Toilettenzimmer zwischen den Kissen. Also, da konnte man darin Bilder sehen – sehr eigentümliche Bilder! Ich spiele wirklich nicht die Scheinheilige, aber ich muß schon sagen, um solche Bücher zu lesen und an solchen schweinischen Bildern Gefallen zu finden, muß man schon eine ausgepichte Hure sein. Denn wenn ich bloß daran zurückdenke, wird mir schon siedend heiß. Frauen mit Frauen, Männer mit Männern, Männer mit Frauen. Und das alles in wilden Verrenkungen und brünstigen Umarmungen, nackte Körper, liegend, sitzend oder stehend in verrückten, fast unmöglichen Posen zu Knäueln verkampft, zu Trauben vereinigt, Münder, die sich wie Krakenmäuler am Fleisch festsaugten, an Brüsten begeilten. Oh, eine ganze Landschaft an Schenkeln und Beinen, verschlungen wie die Äste der Dschungelbäume. Einfach unbeschreiblich! Mathilde, unsere erste Kammerzofe im Hause, mauste eines Tages ein solches Büchlein. Sie glaubte, Madame würde nicht die Frechheit haben, danach zu fragen. Aber sie täuschte sich. Als sie an diesem Tage erfolglos ihre Schubladen und schließlich die ganze Wohnung durchsucht hatte und nicht das geringste fand, fragte sie Mathilde:
»Haben Sie vielleicht in meinem Zimmer ein Buch gesehen?«
»Was für ein Buch, Madame?«
»Ein gelbes Buch.«
»Ein Gebetbuch vielleicht?«
Sie sah Madame starr in die Augen, aber die wurde nicht verlegen. Da sagte Mathilde:
»Mir scheint, ich habe tatsächlich ein gelbes Buch mit einer Goldschließe auf dem Nachttischchen neben Madames Bett gesehen …«
»Nun, und?«
»Nun, ich weiß auch nicht, was damit geschehen ist.«
»Haben Sie es vielleicht genommen?«
»Ich, Madame?«
Und mit bewundernswerter Unverfrorenheit fügte sie hinzu:
»Aber nein! Madame wird doch nicht glauben, daß ich solche Bücher lese!«
Diese Mathilde war wirklich phantastisch. Madame fragte nicht länger.
Von diesem Tag an rief Mathilde in der Wäschekammer:
»Achtung! Jetzt wollen wir die Messe lesen!«
Und sie zog das kleine gelbe Buch aus ihrer Rocktasche und begann uns vorzulesen, obwohl die englische Gouvernante maulte und meckerte:
»Pfui, ihr ungezogenen Mädchen! Hört endlich auf!«
Ach, diese englische Gouvernante! Nie bin ich einer solchen Säuferin begegnet. Ein drolliges Frauenzimmer. Wenn sie zu trinken begann, wurde sie zärtlich und zudringlich zu Frauen. Dann fiel ihre puritanische Strenge wie eine Maske von ihr ab, und noch andere Laster als das Trinken wurden deutlich. Komischerweise blieb sie dabei im Theoretischen stecken, die Realität war diesem kuriosen Geschöpf versagt. Madame meinte, die Engländerin gäbe sich damit zufrieden, sich selbst zu realisieren. In der Kollektion menschlicher Narrheiten, die in diesem Hause vertreten war, durfte unsere Miß nicht fehlen.
Einmal hatte ich Nachtdienst und wartete auf Madame. Alles im Hause schlief bereits, und ich döste allein in der Lingerie. Gegen zwei Uhr morgens kam Madame. Beim ersten Klingelzeichen stand ich auf und fand Madame in ihrem Boudoir. Sie streifte gerade die Handschuhe ab und blickte lachend auf den Teppich.
»Die Miß ist wieder einmal total blau«, und sie zeigte auf die rücklings liegende, mit den Beinen strampelnde, stöhnende, blödes Zeug murmelnde Gouvernante.
»Vorwärts«, befahl Madame, »helfen Sie ihr in die Höhe und bringen Sie sie zu Bett.«
Da die Säuferin groß und schwer war, wollte Madame mir helfen, und endlich gelang es uns beiden unter großen Mühen, diese spleenige Person wieder auf die Beine zu stellen.
Die Miß, in ihrem Dusel, klammerte sich mit beiden Händen an Madames Mantel und versicherte:
»Ich will nicht fortgehen – ich will dich niemals verlassen. Ich liebe dich – du bist mein Püppchen. Du bist so schön ...«
»Miß«, widersprach Madame, »Sie sind eine alte Säuferin. Gehen Sie schlafen.«
»Nein, nein. Ich will bei dir schlafen – zu dir ins Bett will ich. Du bist so schön, ich liebe dich, laß mich dich küssen …«
Mit der einen Hand hielt sie sich noch immer an Madames Mantel fest, mit der anderen aber nestelte sie an Madames Bluse, sie spitzte den Mund und versuchte Madame mit feuchten, schmatzenden Lippen zu küssen. Dazu stammelte sie:
»Süßes Ferkel. Ich will dich küssen, du kleines Schweinchen – küssen ... pu, pu, pu!«
Schließlich gelang es mir, Madame von der verliebten Säuferin zu befreien, ich zerrte das Weibsstück aus dem Zimmer. Aber jetzt wandte sie sich in ihrem Dusel mir zu, sie legte in noch viel zudringlicherer Weise Hand an mich als an meine Herrin und machte sich in unzweifelhafter Weise an meinem Körper zu schaffen. Irrtum ausgeschlossen!
»Schluß damit! Sie sind ein alter Schmutzfink!«
»Nein, nein. Auch dich will ich. Du bist hübsch, ich liebe dich so. Komm mit, mein Püppchen, pu, pu, pu!«
Ich weiß bis heute nicht, wie ich mich von dem alten Ferkel schließlich befreit hätte, wenn sie nicht an der Schwelle ihres Zimmers vom Brechreiz übermannt worden wäre. Sie mußte sich übergeben, und ihre hartnäckige Liebeswut wurde von einer übelriechenden Eruption fortgeschwemmt.
Solche Szenen amüsierten Madame unbeschreiblich, wirklichen Spaß empfand sie überhaupt nur bei einem lasterhaften Schauspiel, wie ekelerregend es auch sein mochte.
Anderntags überraschte ich Madame, als sie in ihrem Boudoir einer Freundin von einem Besuch in einem speziellen Freudenhaus erzählte. Dort hatte sie mit ihrem Mann zugesehen, wie zwei Bucklige sich liebten.
Sie sagte zu ihr:
»Das muß man gesehen haben, Liebste! Ich versichere dir, es gibt nichts Erregenderes ...«
Ja, ja, diejenigen, die sich von Äußerlichkeiten imponieren lassen, haben keine Vorstellung, wie schmutzig und verdorben die oberen Zehntausend sind. Die sogenannte gute Gesellschaft! Die vornehmen Kreise! Daß ich nicht lache! Diese Leute scheinen wirklich nur für die niedersten und abscheulichsten Vergnügungen zu leben. Sowohl in gutbürgerlichen als auch in adeligen Häusern habe ich meine Studien gemacht und nur höchst selten feststellen können, daß dort Liebe mit einem echten Gefühl oder mit der Bereitschaft zu leiden gepaart ist und nur ganz selten mit echter Zärtlichkeit. Und das ist es doch meiner Meinung nach, was die Liebe erst zu einer großen und heiligen Sache macht.
Noch ein Wörtchen über Madame: Wenn sie und ihr Coco keine großen Diners und Empfänge gaben, dann trafen sie sich oft zu intimem Beisammensein mit einem sehr jungen, sehr feschen Ehepaar. Sie besuchten miteinander Theater, Konzerte, Restaurants und, so erzählte man sich, auch höchst berüchtigte Orte. Der Mann war sehr hübsch, ziemlich feminin, bartlos; die Frau, eine rothaarige Schönheit mit leidenschaftlichen Augen, frappierte vor allem durch einen unglaublich sinnlichen Mund. Nie im Leben habe ich etwas Verführerischeres gesehen. Aus diesen beiden Personen wurde man nicht recht klug. Wenn sie bei uns mit unserer Herrschaft dinierten, soll bei Tisch von unerhört obszönen Dingen die Rede gewesen sein – das behauptet wenigstens unser Haushofmeister, und der war bestimmt kein zimperlicher Kerl. Es soll ihn so degoutiert haben, daß er ihnen am liebsten die Schüsseln ins Gesicht geworfen hätte, und er zweifelte nicht daran, daß zwischen den vier Leuten widernatürliche Beziehungen bestanden und daß hauptsächlich von Perversitäten und Orgien gesprochen wurde, wie sie in den kleinen gelben Bändchen abgebildet waren.
Das soll zwar nicht sehr häufig vorkommen, aber immerhin hört man hie und da davon, und die Leute, die diesem Laster frönen, geben sich ihm angeblich nur deshalb hin, um den Schein von Snobismus zu erwecken. Liebe wider die Natur ist also der letzte Schrei ...
Nie hätte ich das von Madame gedacht! Eine Frau, bei der Erzbischöfe und päpstliche Nuntien ein und aus gehen, eine, die fast jede Woche im Gaulois ihrer Tugenden, ihrer Eleganz und ihrer Wohltätigkeit wegen gepriesen wird, die für ihre vornehmen Soireen und ihre Treue gegenüber der katholischen Kirche bekannt war! Aber trotz allem lebten wir in diesem Sumpf frei und glücklich. Nie kümmerte sich Madame um das Privatleben ihrer Dienerschaft.
An diesem Abend blieben wir länger in der Küche beisammen als gewöhnlich. Ich half Marianne bei ihrer Abrechnung, sie kommt manchmal überhaupt nicht damit zurecht. Dabei konnte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß auch sie, genau wie alle vertrauenswürdigen Dienstboten, da und dort stibitzt, etwas unterschlägt, kurz in die eigene Tasche wirtschaftet, soweit es geht. Sie ist eigentümlich raffiniert in diesem Geschäft. Freilich, ganz beherrscht sie den Dreh nicht. Es passiert ihr, daß sie in ihren Zahlenreihen durcheinanderkommt, und so ein Ausrutschen macht sie Madame gegenüber ziemlich unsicher. Denn die hat eine bessere Übersicht, sie irrt sich in ihrer Addition nie.
Der merkwürdige Joseph wird langsam etwas menschlicher zu mir. Hie und da würdigt er mich eines Wortes. Heute hat er sogar versäumt, wie sonst zu seinem besten Freund, dem Küster, zu gehen. Und während Marianne und ich beim Addieren waren, las er seine Leib- und Magenzeitung, Libre Parole. Ein anderes Blatt existiert für ihn nicht. Es fiel mir auf, daß er mich während seines Lesens mehrmals mit einem völlig neuen Gesichtsausdruck betrachtete.
Als er endlich seine Lektüre beendet hatte, zeigte er sich sogar bereit, über seine politischen Ansichten zu sprechen. Er hat, wie er zu sagen pflegt, die republikanischen Phrasen satt. Er behauptet, daß sie zu Ruin und Schmach führen werden. Er rasselte also quasi mit dem Säbel und sagte:
»Aber wir haben einen roten Säbel nötig, verstehen Sie, ohne Rot werden wir nichts gewinnen.«
Er ist merkwürdigerweise zugleich für die Religion, weil nun, er ist eben dafür. Solange die Religion in Frankreich nicht wie früher jeden zwingt, zur Messe und zur Beichte zu gehen, solange haben wir nichts zu hoffen, zum Donnerwetter!
In der Geschirrkammer hängen Bilder vom Papst und von Drumont, in seinem Zimmer hat er ein Porträt von Déroulède angebracht, in der kleinen Kornkammer Zeitungsbilder von Guérin und vom General Mercier, lauter rauhe Burschen, stramme Patrioten, echte Franzosen! Sorgfältig sammelt er alle antisemitischen Blätter, überhaupt alles, was gegen die Juden gerichtet ist, auch Karikaturen und Äußerungen bekannter Persönlichkeiten. Denn Joseph ist ein fanatischer Antisemit. Überdies Mitglied aller religiösen, militaristischen und patriotischen Vereinigungen des Departements. Sogar bei der antisemitischen Jugend in Rouen, der Vereinigung der alten Judengegner in Louviers und natürlich eingetragenes Mitglied der zahllosen Vereine und Untergruppen. Wenn er von Juden spricht, werden seine Augen glühend und düster, und dazu nimmt er eine bedrohliche Haltung an. Niemals geht er ohne Gummiknüppel in die Stadt:
»Solange es noch Juden in Frankreich gibt, wird sich hier nichts ändern!«
Und er fügt hinzu:
»Herrgott, wenn ich in Paris wäre, ich würde sie umbringen – verbrennen. Ich würde diesem verdammten Gesindel den Leib aufschlitzen! Diese Verräter werden sich's überlegen, hier in Mesnil-Roy Fuß zu fassen! Sie wissen genau, was sie hier erwartet!«
Derselbe Haß richtet sich gegen Protestanten, Freimaurer und Freidenker, denn für ihn sind sie Verbrecher, die niemals ihren Fuß in eine Kirche setzen, und im Grunde nur getarnte Juden.
Was den schändlichen Dreyfus betrifft, so sollte sich dieser nur nicht unterstehen, jemals von der Teufelsinsel wieder nach Frankreich zurückzukommen. Und dem ekelhaften Schundliteraten Zola rate er, niemals in Louviers aufzutauchen und dort eine Rede zu halten, sein Schicksal wäre damit besiegelt. Joseph machte sich erbötig, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, Zola ist nämlich ein scheußlicher Verräter, der für sechshunderttausend Franc die ganze französische Armee, ebenso die russische, den Deutschen und den Engländern ausgeliefert hat! Das ist weder ein Witz noch ein vages Gerücht, sondern Joseph erhält es aus zuverlässiger Quelle: sein Freund, der Küster, weiß so gut wie alles, weil er seine Informationen vom Pfarrer empfängt, und der wiederum erhält sie vom Bischof, dem sie der Papst selbst anvertraut hat, und der Papst steht in engster Verbindung zu Drumont. Oh, die Juden sollen nur versuchen hierherzukommen, um Prieuré zu besichtigen. Überall werden sie, selbstverständlich von Joseph geführt, im Keller und auf dem Boden, im Stall, in der Remise, im Unterfutter der Sättel und selbst auf den Stielen der Besen, eben überall, dieselben Worte aufgeschrieben finden: »Es lebe die Armee! Tod den Juden!«
Seine aufrührerischen Reden werden von Marianne ab und zu mit Kopfnicken und beifälligem Gemurmel aufgenommen, auch sie fühlt sich vermutlich von der Republik entehrt und unterdrückt. Auch sie ist für den Umsturz, für die Waffen und gegen die Juden – von denen sie natürlich nicht mehr weiß, als daß ihnen an einer delikaten Stelle etwas fehlt.
Und ich? Auch ich stimme für die Armee, für das Vaterland und gegen die Juden. Übrigens glaube ich, daß es im Dienstpersonal der kleinen sowie der ganz großen Haushalte keinen einzigen Angestellten gibt, der sich von solch überzeugenden Anschauungen ausschließt. Man kann sagen, was man will, sicher haben die Dienstboten manche Fehler, aber eines muß man ihnen lassen: sie sind ehrliche Patrioten. Für mich zum Beispiel ist die Politik absolut nicht interessant, im Gegenteil, sie langweilt mich, aber kurz bevor ich hierherreiste, habe ich mich entschieden geweigert, bei Labori zu arbeiten, und alle meine Kameradinnen, die zur selben Zeit im Vermittlungsbüro waren, haben einhellig erklärt:
»Bei diesem jüdischen Schweinehund? Nein, das kommt nicht in Frage! Das niemals!«
Dennoch, wenn ich es ernsthaft überlege, warum ich eigentlich so gegen die Juden eingestellt bin, so kann ich keine gewichtigen Gründe dafür anführen. Ich war ja selbst, als man es noch ohne Risiko tun konnte, auch bei Juden in Stellung. Im Grunde finde ich, daß zwischen Juden und Katholiken gar kein so großer Unterschied ist. Lasterhaft sind die einen wie die anderen, alle haben sie einen schlechten Charakter und schmutzige Seelen. Wenn Sie es genau wissen wollen, so sage ich: sie gehören derselben Kaste an, und da spielt die Religion keine Rolle. Vielleicht geben die Juden mehr an, oder vielleicht tragen sie stärker auf und sind wilder aufs Geld als die anderen? Obwohl man überall über ihren Geiz und ihre raffinierten Tricks spricht, behaupte ich, daß man bei ihnen im allgemeinen besser dran ist als in den katholischen Häusern.
Aber Joseph wollte von solchen Einwänden nichts hören. Er warf mir sogar vor, eine laue Patriotin und eine schlechte Französin zu sein, und schließlich erhitzten wir uns derart, daß wir uns gegenseitig wütende Worte an den Kopf warfen und fast aufeinander losgingen. Da wurde er des Themas überdrüssig und ging schlafen.
Kaum waren wir allein, holte Marianne aus dem Büfett eine Flasche Schnaps hervor. Wir hatten eine kleine Stärkung nötig und unterhielten uns dann über andere Dinge. Marianne wird von Tag zu Tag vertrauensvoller. Sie hat mir von ihrer traurigen Jugend erzählt und daß sie später als Dienstmädchen bei einer Tabakhändlerin in Caen war, dort wurde sie von einem Pensionatsschüler verführt, einem schlanken, hübschen blonden Bengel mit blauen Augen und einem weichen Spitzbart. Oh! Wie seidenweich war doch dieses Haar! Dann wurde sie schwanger, und die Tabakhändlerin, die mit der ganzen Garnison schlief, jagte sie aus dem Hause. Blutjung, mit einem Kind im Leibe, auf die Straße gesetzt! Oh, sie hatte das Elend ausgekostet, denn ihr Liebhaber war ein armer Teufel. Aber er verschaffte ihr in der Universitätsklinik einen ganz hübschen Posten.
»Mein Gott, ja«, sagte sie, »im Laboratorium schlug ich die kleinen Meerschweinchen tot. Das war wirklich eine niedliche Arbeit.«
Und diese Erinnerung zauberte auf ihre wulstigen Lippen ein merkwürdig melancholisches Lächeln, das mir ganz unbegreiflich war.
Nach einer kleinen Stille fragte ich:
»Und das Kind? Was ist mit ihm geschehen?«
Marianne machte eine vage Handbewegung, so als wollte sie die dichten Vorhänge einer Wiege lüften, in der ihr Kind noch immer schlief. Dann sagte sie mit ihrer Trinkerstimme:
»Das Kind? Was, glauben Sie, hätte ich damit tun sollen? Mein Gott ...« Und wieder vollführte sie eine unbestimmbare Geste.
»Also – dasselbe, was mit den kleinen Meerschweinchen geschah?«
»So war es ...«
Und sie goß sich abermals ihren Becher voll.
Schließlich suchten wir unsere Kammern auf, und beide waren wir ziemlich betrunken.