Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
20. November
Joseph ist also gestern, wie abgemacht, nach Cherbourg gereist. Er ist schon fort, als ich morgens in die Küche komme. Marianne, schlecht gelaunt, verschlafen und wortkarg, holt Wasser. Auf dem Küchentisch steht noch Josephs Suppenteller und die geleerte Mostkanne. Ich bin unruhig und zugleich angenehm erregt, denn ich fühle, daß mit dem heutigen Tag ein neues Leben für mich beginnt. Es dämmert erst. Ein frostiger Morgen. Hinter dem Garten schlummert das Land in dichten Nebelschwaden. Und von weitem her, aus dem Tal, höre ich den Pfiff einer Lokomotive. Das ist der Zug, der Joseph und meine Zukunft mit sich fortführt. Ich habe keine Lust zu frühstücken. Mir kommt vor, als füllte etwas Schweres, zu Großes meinen Magen. Das Pfeifen der Lokomotive ist verstummt. Und der dichter werdende Nebel erreicht den Garten.
Und wenn Joseph nicht mehr wiederkommt?
Mit Madame hatte ich eine heftige Szene, nach der ich glaubte, sie würde mich entlassen. Wenn ich nur wüßte, wie ich diese sechs Tage ohne Joseph überstehen soll. Mir graut vor den einsamen Mahlzeiten mit Marianne. Ach, warum habe ich hier niemanden, mit dem ich reden könnte.
Wenn es Abend wird, beginnt Marianne gewöhnlich zu trinken und versinkt in Stumpfsinnigkeit. Sie starrt dann vor sich hin, ihre Stimme klingt breiig, und ihre hängenden Lippen glänzen wie ein nasser Brunnenrand. In solchen Stunden ist sie zum Weinen traurig, furchtbar traurig, und ich bringe nichts weiter aus ihr heraus als Jammern, Tränen und hilflose Kinderschreie. Dennoch war sie gestern abend einmal weniger betrunken als sonst und vertraute mir unter Seufzen und Wimmern an, daß sie vielleicht schwanger sei, Marianne schwanger! Meiner Treu, das ist doch wirklich die Höhe. Ich finde diese Vorstellung zum Schreien komisch, doch dann durchzuckt mich ein Schmerz, wie ein Peitschenschlag. Meine Magengrube hebt sich. Ist Joseph am Ende schuld an Mariannes Zustand? Ich erinnere mich recht gut, daß ich am Tag meiner Ankunft sofort den Verdacht hatte, daß diese beiden miteinander schlafen, aber dieser blöde Verdacht hat sich bis jetzt nicht bestätigt, im Gegenteil. Nein, nein, das ist ja unmöglich. Wenn Joseph ein Verhältnis mit Marianne hätte, dann wüßte ich es längst, ich hätte es gleich gewittert. Nein, das kann einfach nicht sein. Und dann – Joseph ist in seiner Art zu sehr gerissen, er hätte bestimmt aufgepaßt. Ich frage also:
»Sind Sie ganz sicher, Marianne?«
Marianne klopft mit ihren dicken Fingern auf ihren Bauch. Und diese Hand versinkt fast in einer Bauchfalte wie in einem schlecht aufgeblasenen Gummikissen:
»Sicher? Nein, eigentlich nicht. Doch ich habe Angst.«
»Und von wem könnten Sie schwanger sein?«
Sie zögert, dann aber sagt sie mit einer Art Stolz:
»Natürlich von Monsieur!«
Da wäre ich vor unterdrücktem Lachen beinahe geplatzt. Von Monsieur! Das hat gerade noch gefehlt! Ach, dieser Monsieur ist wirklich einmalig! Marianne hält mein ausbrechendes Lachen für Bewunderung. Und sie beginnt ebenfalls zu lachen.
»Ja, ja, von Monsieur!« wiederholt sie stolz.
Aber wie war es möglich, daß ich nie etwas gemerkt habe? Eine so komische Sache hat sich sozusagen unter meinen Augen abgespielt und ich habe nie Verdacht geschöpft, überhaupt nichts gesehen! Nun bestürme ich Marianne mit Fragen. Ich will alles wissen. Sie gibt mir selbstgefällig Auskunft.
»Das war vor ungefähr zwei Monaten: Monsieur kam zufällig gerade in die Waschküche, wo ich das Mittagsgeschirr spülte. Sie waren damals noch nicht lange im Haus, Célestine. Und wissen Sie, Monsieur hatte sich damals gerade im Stiegenhaus mit Ihnen unterhalten und kam dann von dort direkt zu mir herein. Er schien sehr aufgeregt, er schnaufte und hatte ganz blutunterlaufene Augen. Sie quollen ihm direkt aus den Höhlen. Ich dachte, es wird ihn gleich der Schlag treffen. Ohne ein Wort zu sagen, stürzt er sich plötzlich auf mich, und da habe ich natürlich gleich kapiert, um was es sich handelt. Monsieur, verstehen Sie, da kann man sich einfach nicht wehren, und wann hat unsereins denn schon Gelegenheit? Ich war natürlich ein bißchen erstaunt, aber es machte mir Spaß, und dann ist es öfter vorgekommen, er kam immer wieder. Er ist ein lieber Kerl, sehr zärtlich ...«
»Und auch ein bißchen ein Schwein, was, Marianne?«
»Ach ja!« stöhnt sie ganz entzückt und mit schwimmenden Augen, »… ein schöner Mann! Und überhaupt …«
Ihr großes schwammiges Gesicht glänzt vor tierischem Behagen, und sie lächelt zufrieden. Unter ihrer blauen, abgenützten, von Fettflecken und Kohlenstaub verschmutzten Bluse heben sich ihre Brüste und wogen hin und her.
Ich frage: »Sind Sie wenigstens glücklich?«
»Oh, ich bin sehr zufrieden!« versichert sie. »Doch ich wäre viel zufriedener, wenn ich sicher wäre, nicht schwanger zu sein. In meinem Alter wäre eine Schwangerschaft wirklich zu traurig!«
Ich bemühe mich, sie zu beruhigen. Und sie unterstreicht jedes meiner Worte mit einem Kopfnicken. Dann fügt sie hinzu:
»Einerlei, morgen gehe ich jedenfalls zu Madame Gouin.«
Ich empfinde aufrichtiges Mitleid mit dieser armen Frau, deren Schädel nur mit dunklen, unheilvollen Gedanken erfüllt ist. Sie ist wirklich bedauernswert! Und was wird schließlich aus ihr werden? Merkwürdigerweise wurde diese Frau von der Liebe nicht verschönt, nicht durchleuchtet. Nichts von Grazie, nichts von einem heimlichen Strahlen ist an ihr zu bemerken, obwohl die Liebe oft dem Häßlichsten einen Schimmer von Schönheit verleiht. Sie wird immer die gleiche bleiben, schwerfällig, schlaff und fett. Dennoch überkommt mich ein leises Glücksgefühl darüber, daß ich es war, die dieser armen Kreatur die sicher schon lang entbehrten Zärtlichkeiten eines Mannes verschafft hat. Denn Monsieur hat schändlicherweise die Begierden, die ich in ihm entfacht hatte, nun an diesem traurigen Geschöpf gestillt. Teilnahmsvoll sage ich zu ihr:
»Seien Sie vorsichtig, Marianne! Es wäre schrecklich, wenn Madame Sie überraschte ...«
»Oh!« Sie stößt einen Triumphschrei aus und versichert: »Monsieur kommt nur, wenn Madame nicht zu Hause ist. Er bleibt ja nie lange. Er geht, wenn er befriedigt ist. Und da gibt es ja auch noch die kleine Tür zur Waschküche, die auf den kleinen Hof mündet. Und von dort wieder gibt es eine kleine Tür zum Gang, und so kann Monsieur beim kleinsten Geräusch fliehen, ohne daß ihn jemand bemerkt. Überhaupt, was geht Sie das an? Wenn Madame uns überrascht, meinetwegen, soll sie doch, von mir aus!«
»Madame würde Sie an die Luft setzen, arme Marianne!«
»Meinetwegen!« wiederholt sie gleichgültig und wackelt wie eine alte Bärin mit dem Kopf.
Nach einem gespannten Schweigen, währenddessen ich mir diese beiden lächerlichen Geschöpfe bei ihrem Treiben in der Waschküche vorstelle, frage ich:
»Ist Monsieur wirklich zärtlich zu Ihnen?«
»Selbstverständlich ist er zärtlich.«
»Gibt er Ihnen manchmal Kosenamen? Antworten Sie, Marianne, was sagt er da zu Ihnen?«
Und Marianne gibt Auskunft:
»Er kommt, wirft sich auf mich, und dann sagt er: ›Ah, kolossal – ah, kolossal!‹ Oh, er ist einfach allerliebst zu mir.«
Ich verlasse sie mit etwas schwerem Herzen. Und ich nehme mir vor, niemals mehr über Marianne zu lachen, und das Mitleid, das ich für sie fühle, wird beinahe zu einer wehen Rührung. Als ich in mein Zimmer zurückkehre, überkommt mich plötzlich eine Art Schamgefühl und eine schreckliche Depression. Man sollte über Liebe nicht zuviel nachdenken. Im Grunde genommen ist die Liebe traurig! Und was bleibt nach Liebe zurück? Spott, Bitterkeit, und meist überhaupt nichts. Was ist mir von Monsieur Jean zurückgeblieben, dessen Photographie im roten Plüschrahmen auf dem Kamin in meinem Zimmerchen prunkt? Nichts, außer der Erkenntnis, daß ich einen herzlosen eitlen Gecken geliebt habe. Aber habe ich ihn denn wirklich geliebt, diesen Schöntuer mit dem weißen, ungesund aussehenden Gesicht, den schwarzen Koteletten und dem schnurgeraden Scheitel über der Stirn? Seine Photographie irritiert mich. Plötzlich kann ich diese stummen Augen, diesen ausdruckslosen Domestikenblick nicht mehr ertragen. Zum Teufel mit ihm! In den Koffer mit ihm, zu den anderen! Dort mag er bleiben, bis ich mit ihm und allen Zeugen meiner mir mehr und mehr abscheulich scheinenden Vergangenheit ein Freudenfeuer entzünde, von dem nur ein Häufchen Asche zurückbleiben wird.
Ich denke an Joseph. Wo mag er jetzt sein? Was macht er jetzt? Denkt er an mich? Sicher steckt er die ganze Zeit in dem kleinen Café. Er nimmt Maß, diskutiert und stellt sich vielleicht vor, wie ich mich eines Tages hinter der Theke vor dem großen Spiegel inmitten glänzender Gläser und vielfarbiger Flaschen ausnehmen werde. Ich möchte Cherbourg bald kennenlernen, seine Straßen, seine Plätze, und ich möchte mir Joseph vorstellen können, wie er siegessicher durch die Stadt geht, genauso, wie er mich erobert hat. Diese Gedanken lassen mich nicht schlafen, ich wälze mich im Bett hin und her, als hätte ich Fieber. Meine Vorstellungen wandern zurück in den Wald von Raillon, dann wieder nach Cherbourg und wieder zurück zur Leiche der kleinen Claire und dann wieder zu Josephs kleinem Café. Und nachdem ich mich lange mit Schlaflosigkeit gequält habe, schlummere ich schließlich ein, sehe vor mir noch Joseph, wie er unbeweglich und streng vor einem dunklen drohenden Hintergrund mit weißen Masten und roten Segelstangen steht.
Heute, Sonntag nachmittags, bin ich in Josephs Zimmer gegangen. Die beiden Hunde folgen mir. Sie sehen zu mir auf, als wollten sie mich nach Joseph fragen. Ein schmales eisernes Bett, ein großer Schrank, eine Art niedrige Kommode, ein niederer Tisch, zwei Stühle, das alles aus blankem Holz, dazu ein Garderobenhaken für Mäntel, ein Kleiderrechen mit einem grünen Lüstervorhang an einer Gardinenstange, der vor Staub schützt. Das ist das ganze Mobiliar. Das Zimmer ist wahrhaftig nicht luxuriös eingerichtet, aber die peinliche Sauberkeit ersetzt den Komfort. Der Raum hat etwas von der Nüchternheit einer Mönchszelle. An den weißgetünchten Wänden hängen Porträts von Déroulède und von General Mercier, uneingerahmte Heiligenbilder, Madonnenbilder, die Anbetung der Heiligen Drei Könige und der Kindermord von Bethlehem. Ein Blick ins Paradies! Über dem Bett ein großes Kruzifix aus schwarzem Holz, daneben ein Weihwasserkessel mit einem Buchsbaumzweig.
Daß ich da herumschnüffle, ist nicht gerade taktvoll, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein bißchen herumzuwühlen, und das in der unbestimmten Hoffnung, wenigstens etwas von Josephs Geheimnissen zu entdecken. Aber dieser Raum ist nicht das Zimmer eines Mannes, der etwas verbergen will, sondern eher eines braven Burschen, dessen Leben sauber und ohne besondere Ereignisse verläuft. Die Schlüssel stecken an allen Möbeln im Schloß, nicht eine Schublade ist abgeschlossen. Auf dem Tisch eine Menge Papiersäcke mit Samen und ein Buch »Der gute Gärtner«, auf dem Kamin ein altes Gebetbuch mit vergilbten Blättern und ein kleines Kästchen mit Rezepten für Bohnerwachs, für die Behandlung von Tabakblättern und noch andere nichtssagende Notizen. Kein Brief, kein Rechnungsbuch, nirgends auch nur die kleinste Spur von geschäftlicher Korrespondenz, nirgends ein Anzeichen von politischer Tätigkeit, keine Privatbriefe, keine verwandtschaftlichen Mitteilungen oder ein Briefwechsel amouröser Art. In den Schubladen der Kommode neben einigen ausrangierten alten Schuhen und abgenützten Mundstücken für den Gartenschlauch eine Menge Broschüren, zahlreiche Nummern der Libre Parole. Unter dem Bett Fallen für Siebenschläfer und Ratten. Ach, ich habe wirklich alles abgegriffen, ausgeleert, umgestülpt, Kleider, Matratzen, Wäsche und sämtliche Schubladen visitiert. Ich konnte nichts entdecken. Auch der Schrank sieht nicht anders aus als vor acht Tagen, als ich ihn in Josephs Gegenwart aufräumte. Gibt es das, daß ein Mensch nichts von den kleinen privaten und intimen Sächelchen besitzt, die seine Neigungen, seinen Geschmack, seine Gewohnheiten irgendwie kennzeichnen? Nichts von dem, was seinen Charakter prägt und irgendwie bedeutsam scheint? Endlich entdecke ich etwas. In der Tiefe einer Schublade finde ich eine Zigarrenschachtel, die mit Bindfäden fest verschnürt und verknotet ist. Mit viel Mühe entknote ich die Schnüre, öffne die Schachtel, und was finde ich darin? Fünf geweihte Medaillen, ein kleines silbernes Kruzifix und einen Rosenkranz aus roten Perlen auf Watte gebreitet. Immer wieder die Religion!
Nun, da meine Hausdurchsuchung beendet ist, verlasse ich das Zimmer mit dem unangenehmen Gefühl, nicht das geringste entdeckt zu haben, was ich zu finden hoffte. Nicht nur er selbst, sondern alles, was ihn umgibt, ist von der gleichen Undurchsichtigkeit. Die Dinge, die er besitzt, bleiben stumm wie sein Mund, undurchschaubar wie seine Augen und seine Stirn. Für den Rest des Tages bleibe ich sehr nervös, zeitweise sehe ich Josephs Gesicht deutlich vor mir, einmal rätselhaft, ein andermal spöttisch, aber auch grinsend oder mürrisch. Einmal so, einmal so, und jedesmal scheint mir, als wollte er mir sagen:
»Weit hast du's gebracht! Das hast du nun davon, du ungeschicktes Kind, das kommt davon, weil du so neugierig bist. Oh, mach nur weiter so! Du kannst in meiner Wäsche, in meinen Koffern und in meiner Seele wühlen, du wirst nie etwas entdecken!«
Ich gebe es auf. Ich will an das alles nicht mehr denken, vor allem will ich nicht an Joseph denken, ich habe schreckliche Kopfschmerzen, und ich glaube, ich werde schließlich noch verrückt.
Kehren wir zu meinen Erinnerungen zurück ...
Nach dem gewaltsamen Austritt bei den guten Schwestern von Neuilly landete ich wieder im Fegefeuer eines Vermittlungsbüros mit seinen schmutzigen Bedingungen. Zunächst einmal kostet es zehn Sou für die Einschreibung, und dann hat man das fragwürdige Glück, in schlechten Häusern untergebracht zu werden. Das einzige, was es in diesen miesen Vermittlungsbaracken zum Schweinefüttern gibt, das sind miserable Plätze. Die Wahl fällt einem schwer! Heutzutage bildet sich schon jede erbärmliche Krämerin ein, sie müsse Domestiken haben und könne vielleicht ein wenig Comtesse spielen! Wird man nach langem, entwürdigendem Hin und Her endlich mit so einer knauserigen Bürgerin einig, dann verlangt die Vermittlungsstelle drei Prozent des Jahreslohnes. Bleibst du nur zehn Tage an einem Platz, den sie dir verschafft hat, dann ist es deine eigene Schuld. Das Warum geht sie nichts an. Oh, diese Weiber kommen auf ihre Rechnung, die kennen den Trick. Sie wissen genau, wo sie einen hinschicken müssen, damit man recht bald wieder vor ihrer Tür steht. Ich zum Beispiel habe in viereinhalb Monaten sieben Stellen hinter mich gebracht. Eine Pechsträhne. Ekelhafte Häuser, Zustände schlimmer als im Frauengefängnis. Und für die Vermittlung dieser Stellen mußte ich drei Prozent von einem Siebenmonatslohn blechen, das heißt, alles in allem zehn Sou für jede Neueinschreibung, mehr als achtzig Franc. Und zum Schluß habe ich erst recht keine Stellung! Ist das noch gerecht? Ich frage Sie! Ich nenne es anders, es ist gemeinster Diebstahl!
Diebstahl? Meiner Treu, wohin man blickt, überall wird gestohlen. Und immer sind es die Ärmsten, die am schamlosesten ausgebeutet werden, und meist von denen ausgebeutet, die am meisten haben. Und was ist dagegen zu tun? Man tobt, man schäumt, man lehnt sich auf, schließlich findet man, es sei noch immer besser bestohlen zu werden, als wie ein Hund auf der Straße zu krepieren. Für unsereinen ist es auf der Welt hundemäßig schlecht eingerichtet. Das steht für mich fest. Jammerschade, daß der General Boulanger seinerzeit keinen Erfolg hatte! Der hatte ein Herz für die Domestiken.
Das Vermittlungsbüro, wo ich Gans mich habe einschreiben lassen, lag in der Nähe der Rue du Colisée im dritten Stockwerk eines alten schmutzigen Gebäudes, schwarz und dunkel wie ein Arbeiterhaus, und auf der engen steilen Treppe blieben einem die Schuhsohlen fast auf den dreckigen Stufen kleben. Am schmierigen Geländer konnte man sich nicht festhalten, und schon nach den ersten Schritten kam einem ein stinkiger Brodem aus Aborten und Ausgußrohren entgegen. Ich bin keine Mimose, ich gebe nicht an, aber beim Anblick eines solchen Treppenhauses hebt sich mein Magen, meine Beine werden schwach und mich überkommt panischer Schrecken. Dazu eine wilde Lust davonzulaufen. Die Hoffnung, die einem beim Herkommen etwas vorgezaubert hat, erlischt schlagartig in dieser stickigen Atmosphäre, und man wird innerhalb dieser feuchten Mauern, dieser ekligen Treppenstufen so bedrückt, daß man sich in solcher Umgebung höchstens Kröten und häßliche Larven vorstellen kann, doch niemals elegante Damen, die sich in dieses stinkende Gemäuer wagen, um hier Dienstboten für ihre luxuriösen Wohnungen zu finden. Aber anscheinend haben sich die Zeiten geändert, die eleganten Damen von heute ekeln sich wohl vor nichts mehr. Sicher würden sie solch ein Haus kaum betreten, um Armenbesuche zu machen, um Almosen auszuteilen, aber um eine Hausangestellte zu finden, die sich schikanieren läßt, dafür gehen sie weiß der Teufel wie weit!
Das Vermittlungsbüro wurde von Madame Paulhat-Durand geleitet. Sie war eine große stattliche Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, mit einer Flut schwarzer, leicht gewellter Haare, und trotz ihrer formlosen Üppigkeit, die von einem fürchterlichen Korsett zusammengepreßt wurde, konnte man noch Reste einer sehr respektablen Schönheit erkennen. Und Augen! Potztausend! Sie war mit schlichter Eleganz gekleidet, schwarzer Taft, eine goldene Kette auf dem üppigen Busen, ein brauner Samtschal, sehr weiße Hände, kurz, sie verströmte den Eindruck von Vornehmheit und, beinahe hätte ich gesagt, Hoheit. Sie lebte mit einem kleinen Angestellten der Stadtwerke, Monsieur Louis, zusammen, den wir alle nur unter seinem Vornamen kannten. Das war eine drollige Type, sehr kurzsichtig, linkisch, sehr still und unscheinbar in seinem grauen, abgeschabten, viel zu kurzen Jackett, ein trauriges ängstliches Wesen, schon in jungen Jahren gebeugt, weder glücklich noch unglücklich, vielleicht resigniert, vielleicht verschlossen. Er wagte nie mit einer von uns zu sprechen, es wäre ihm niemals eingefallen, eine von uns anzusehen, denn die Chefin war sehr eifersüchtig. Beim Hereinkommen, immer mit der Aktentasche unter dem Arm, begnügte er sich mit einem unmerklichen Schwenken seines Hutes in unsere Richtung, dann verschwand er wie ein Schatten im Flur, das eine Bein zog er ein wenig nach. Der arme Kerl war sichtlich überanstrengt, nach seiner Tagesarbeit führte er noch die Korrespondenz von Madame, Buchführung und Schreibarbeiten zählten zu seinen Aufgaben. Und noch anderes ...
Madame Paulhat-Durand hieß natürlich weder Paulhat noch Durand, denn diese Namen, die in Verbindung miteinander so gut klangen, hatte sie, so hieß es, angeblich von zwei verschiedenen Herren übernommen, mit denen sie zusammen gelebt hatte. Von ihnen sollte auch das Kapital ihres Geschäftes stammen. Ihr wirklicher Name war Joséphine Carp. Wie die meisten Vermittlerinnen war auch sie früher einmal Kammerzofe gewesen. Das ließ sich mit geübtem Auge leicht an ihren prätentiösen Allüren erkennen. Ihre damenhafte Haltung hatte sie im Dienst gelernt, und unter dem schwarzen Taftkleid verbarg sie den Makel einer niedrigen Herkunft. Uns gegenüber war sie schamlos und anmaßend, wie es nur ehemalige Kammerzofen fertigbringen. Aber diese Seite ihres Benehmens reservierte sie für uns, die andere machte sich in kriecherischer Unterwürfigkeit im Umgang mit ihren Kundinnen bemerkbar. Dennoch verfügte sie auch im Umgang mit den Damen über andere Register, die sie je nach Vermögen oder Stellung der Kundin spielen ließ.
»Unhaltbare Zustände heutzutage, Madame la Comtesse«, flötete sie, »Luxuszofen, das will heißen, Flittchen, die nichts tun wollen, für deren Fleiß und Anständigkeit ich mich nicht verbürgen kann, soviel Sie nur wollen! Aber Zofen, die arbeiten, die nähen, die ihr Metier verstehen, die gibt es nicht mehr. Niemand hat sie – das ist nun einmal so ...«
Trotz ihres Geschimpfes war ihr Büro immer voll. Ihre Kundschaft waren die Leute aus den Champs-Elysées, reiche Jüdinnen und Ausländerinnen. Oh, davon könnte ich Geschichten erzählen!
Die Tür mündet auf einen Flur, der zu dem Salon führt, wo Madame Paulhat-Durand in ihrer ständigen schwarzen Seidenrobe thront. Links vom Flur befindet sich ein dunkles Loch, so eine Art großes Vorzimmer mit einer Bank rundum und einem von rotem verwaschenem Sackleinen bedeckten Tisch. Nichts sonst! Das Vorzimmer erhält nur durch ein schmales Glasfenster, das dicht unter der Decke in der an den Salon grenzenden Wand angebracht ist, etwas Licht. Ein grämliches Zwielicht fällt durch diese Scheibe herab, so daß Menschen und Gegenstände immer in Dämmerung gehüllt sind.
Es strömten an jedem Vormittag und jedem Nachmittag Scharen herbei, Köchinnen, Kammerzofen, Gärtner und Diener, Kutscher und Haushofmeister. Wir vertrauten einander unser Schicksal an, verfluchten die Herrschaft, träumten von wunderbaren nebulosen Stellen, wo alles Elend ein Ende fände. Manche brachten Bücher und Zeitungen mit, die sie mit Eifer lasen, andere wieder schrieben Briefe. Einmal heiter, einmal traurig summten die Gespräche durch den Raum, aber nur zu oft überfiel uns Madame, die wie ein Windstoß in der Tür aufrauschte:
»Ruhe, Mädchen!« schrie sie, »drüben im Salon versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.«
Oder:
»Mademoiselle Jeanne!« rief sie mit harter knarrender Stimme.
Mademoiselle Jeanne stand auf, strich sich ein wenig ihr Haar aus dem Gesicht und folgte der Vermittlerin ins Büro. Einige Minuten später tauchte sie wieder auf, mit verächtlich verzogenem Mund. Sie habe zuwenig Zeugnisse, wurde behauptet. Was wollten die denn? Am Ende den Prix Monthyon? Oder ein Sittendiplom?
Vielleicht hatte man sich nicht über den Lohn einig werden können!
»Ach nein, diese Xanthippen! Ein dreckiges Loch. Dort ist nichts zu holen. Madame kauft selbst ein. O là là, vier Kinder im Haus. Vielleicht sonst noch etwas?«
All diese Kommentare wurden zumeist von zornigen oder obszönen Gesten unterstrichen. Alle wurden wir der Reihe nach gerufen, immer von derselben harten knarrenden Stimme Madames, die vor Wut schon ganz grün angelaufen war. Längst hatte ich gelernt einzuschätzen, mit wem ich es zu tun hatte und ob aus einer Stelle für mich Profit zu schlagen war. Manchmal machte ich mir den Spaß, selbst Fragen zu stellen, statt mir dumme Fragen anzuhören, zum Beispiel:
»Natürlich.«
»Aha! Madame haben Kinder?«
»Gewiß.«
»Auch Hunde?«
»Ja.«
»Läßt Madame die Kammerzofe abends aufbleiben?«
»Wenn ich ausgehe – selbstverständlich.«
»Und Madame geht oft abends aus?«
Ihre Lippen wurden verkniffen. Sie wollte aufbrausen. Da musterte ich sie von oben bis unten, ihren Hut, ihr Kostüm, eben die ganze Person, und sagte schließlich kurz angebunden:
»Ich bedaure, das wäre keine Stellung für mich, was mir Madame da bietet, kann ich nicht annehmen.«
Und ich ging triumphierend hinaus.
Ein andermal kam eine kleine Frau mit knallig gefärbtem Haar, stark überschminkten Lippen, fingerdick Puder auf den Wangen, eine freche Krämerin, parfümiert wie eine Hure, die mich nach sechsunddreißig Fragen mit folgendem auf den Baum brachte:
»Was führen Sie für einen Lebenswandel? Empfangen Sie Liebhaber?«
»Und Sie, Madame?« fragte ich überlegen und ruhig.
Unter uns Mädchen gab es viele, die längst nicht so anspruchsvoll waren wie ich, schüchterne Geschöpfe, die bereit waren, die unmöglichsten Stellungen anzunehmen. Man verhöhnte sie:
»Gute Reise! Auf baldiges Wiedersehen!«
Wenn ich uns so beobachtete, auf die Bänke gelümmelt, abgestumpft, haltlos, mit gespreizten Beinen, manche vor sich hinbrütend, andere schwatzend, und Madame, die von Zeit zu Zeit hereinrauschte und rief: »Mademoiselle Victoire! ... Mademoiselle Irène! ... Mademoiselle Zulma!« dann hatte ich oft den Eindruck, wir seien hier in einem Bordell und warteten auf Kundschaft. Das schien mir komisch, aber auch traurig, und unwillkürlich machte ich darüber eines Tages eine diesbezügliche Bemerkung. Brüllendes Gelächter! Auf einmal packten sie alle aus, was sie über derartige Etablissements gehört hatten, ich aber wußte mehr zu berichten. Eine dicke Alte, die gerade eine Orange schälte, schwärmte:
»Kunststück! Sicherlich wäre das besser, immer Champagner, immer zu tun, immer nur im dünnen Hemdchen, mit Sternen bestickt.« Sie seufzte: »Und kein Korsett!«
Eine lange dürre Schwarze mit kräftigem Schnurrbart, die sehr unsauber wirkte, erklärte:
»Sicher ist das weniger anstrengend, als wenn ich am selben Tag mit Monsieur, mit den Söhnen Monsieurs, mit dem Concierge, mit dem Kammerdiener, mit dem Fleischhauerboten, mit dem Laufburschen vom Gemüsegeschäft, mit dem Postboten, mit Gas und elektrischem Licht geschlafen habe – dann wußte ich, was ich geleistet habe!«
»Oh, diese Hure«, tönte es von allen Seiten.
»Gebt nicht an! Spielt nicht die kleinen Unschuldsengel!« meinte die lange Schwarze und zuckte mit den eckigen Schultern.
Und sie schlug sich mit der Hand auf die dürren Schenkel.
Ich erinnere mich noch an diesen Abend, weil ich damals an meine Schwester Louise denken mußte, die bestimmt in einem dieser Häuser gelandet war. Ich stellte sie mir dort vor, wie sie ein glückliches, auf alle Fälle geregeltes Leben führte, das sie vor Hunger und Elend bewahrte. Und da mir damals mehr als je zuvor vor meinem unruhigen, unsicheren, freudelosen Leben graute, dachte ich mir:
»Ja, vielleicht wäre das wirklich besser!«
Und der Abend kam – die Nacht. Eine Nacht, schwärzer als der dunkelste Tag. Wir schwiegen in der Dunkelheit, wir fühlten uns erschöpft von so vielen Worten, so langem Warten. Im Flur flammte das Gaslicht auf, Punkt fünf Uhr, regelmäßig wie stets, erblickte man durch die Glasscheibe in der Tür die leicht gebeugte Silhouette von Monsieur Louis, die schnell vorüberhuschte. Das war das Signal zum Aufbruch.
Nicht selten erwarteten uns auf der Straße recht zwielichtige Gestalten von respektabler Aufmachung, Kupplerinnen, die in ihrer verdächtigen Freundlichkeit Nonnen ähnelten. Sie folgten uns heimlich im Schatten der Straße und sprachen uns erst hinter den dunklen Mauern der Champs-Elysées an, weil sie sich dort vor der Beobachtung durch Polizisten sicher glaubten:
»Kommen Sie doch zu mir, statt Ihr Leben so von Elend zu Elend, von Enttäuschung zu Enttäuschung zu vergeuden. Bei mir haben Sie es besser, dort finden Sie Vergnügen, Luxus, Geld – die Freiheit …«
Geblendet von diesen verlockenden Versprechungen folgten ihnen mehrere meiner Schicksalsgenossinnen – folgten den Kupplerinnen. Wohin? Ich weiß es nicht. Ich sah sie fortgehen und wurde traurig. Wo mögen sie geblieben sein?
Eines Abends folgte mir eine jener abscheulichen Zuhälterinnen – ich hatte sie schon mehrmals abblitzen lassen –, und ich ließ mich von ihr in ein Café am Rond-Point zerren. Die alte fette Henne bestellte für mich ein Glas Chartreuse und versuchte mich noch mehr für ihr Programm zu begeistern und mir alle Vorzüge eines Dirnenlebens vorzugaukeln. Ich sehe sie noch jetzt vor mir in ihrer strengen Witwentracht, mit ihren grauen Haaren, mit ihren fetten, lasterhaften Händen, mit Ringen überladen. Sie leierte ihr Märchen vom freien sorglosen Leben herunter, und da ich ihren Anstrengungen gleichgültig zuhörte, warf sie sich erst recht ins Zeug:
»Ach, wenn Sie nur wollten, meine Kleine!« rief sie. »Ich brauche Sie nur einmal anzusehen, um zu wissen, daß Sie von oben bis unten prachtvoll sind! Ist es nicht ein Verbrechen, soviel Schönheit als Hausangestellte zu vergeuden! Schön und keck wie Sie geartet sind, hätten Sie bei mir längst Ihr Glück gemacht! In kürzester Zeit hätten Sie ein schönes Sümmchen auf die Seite gebracht! Oh, Sie haben ja keine Ahnung, was für eine tolle Kundschaft ich habe. Alte Herren, sehr einflußreich und sehr freigiebig. Manchmal ist die Arbeit bei mir ein wenig hart, das darf ich nicht verschweigen, aber dafür verdient man auch einen Batzen! Bei mir verkehren nur die besten Kreise. Berühmte Generäle, einflußreiche Beamte, nicht zu vergessen die ausländischen Botschafter.«
Sie beugte sich näher zu mir und raunte:
»Unter uns gesagt, ob Sie es mir glauben oder nicht, sogar der Präsident der Republik kommt höchstpersönlich! Ach ja, meine Kleine! Damit habe ich Ihnen also eine Vorstellung von meinem Etablissement gegeben! Und gerade gestern um fünf Uhr war der Herr Präsident so zufrieden, daß er mir eine akademische Auszeichnung für meinen Sohn versprochen hat, der ist nämlich Chef in einem Heim für religiöse Erziehung in Auteuil. So ist das!«
Sie betrachtete mich noch einmal gründlich, prüfte mich auf Herz und Nieren und wiederholte:
»Ach, wenn Sie nur wollten! Sie würden den Himmel auf Erden haben!«
Und dann, unangenehm vertraulich:
»Zu mir kommen öfters, ganz heimlich natürlich, auch Damen der großen Gesellschaft. Manchmal allein, manchmal mit ihren Gatten oder ihren Liebhabern. Ich glaube, Sie verstehen mich, bei mir geht es nicht einseitig zu!«
Ich verlegte mich auf Ausreden, ich sei für einen solchen Beruf nicht ausgebildet, ich besäße keine Luxuswäsche, keine Toiletten, keinen Schmuck. Die Alte versicherte mir:
»Wenn es weiter nichts ist! Darüber brauchen Sie sich kein Kopfzerbrechen zu machen, denn bei mir, wissen Sie, kommt es hauptsächlich auf die natürliche Schönheit an. Ein hübsches Paar Strümpfe genügt – mehr brauchen Sie gar nicht!«
»Ja, ja, aber –«
»Ich sagte Ihnen doch schon, das braucht Sie nicht zu beunruhigen. Hören Sie zu! Das ist nämlich so: ich habe sehr vornehme Kunden, sogar Botschafter, wie ich schon gesagt habe, die wollen bei mir nichts anderes als Kammerzofen und Soubretten, Mädchen mit einem sehr kurzen, engen schwarzen Kleid und einer winzigen weißen Schürze. Was die Reizwäsche betrifft, das wird sich finden. Hören Sie gut zu: unterschreiben Sie mir einen Vertrag für drei Monate, und ich verschaffe Ihnen eine Wäscheausstattung, wie sie selbst die Soubretten vom Théâtre-Français noch nie besessen haben. Das verspreche ich Ihnen!«
Ich verlangte Bedenkzeit.
»Geht in Ordnung, überlegen Sie es sich nur. Für alle Fälle gebe ich Ihnen meine Adresse«, sagte diese Mädchenhändlerin.
»Wenn Sie entschlossen sind, genügt ein Blick, und Sie brauchen nur zu kommen. Sie werden kommen, da bin ich ganz beruhigt! Und morgen werde ich Sie gleich dem Präsidenten ankündigen!«
Wir hatten unseren Likör ausgetrunken. Die alte Hexe bezahlte für uns beide und zog aus einer schwarzen Brieftasche eine Karte, die sie mir heimlich zusteckte. Als sie endlich fort war, las ich:
Madame Rebecca Ranvet,
Damenmoden.
Ich erlebte bei Madame Paulhat-Durand die unglaublichsten Szenen. Leider kann ich sie hier nicht alle wiedergeben, doch ich greife die eine oder andere heraus, weil sie mir bezeichnend erscheinen für das, was sich täglich in diesem Büro abspielt.
Ich habe bereits von dem schmalen Glasfenster gesprochen, das in der Mauer zwischen Büro und Vorzimmer unter der Decke angebracht war. Darin befand sich ein Guckloch, das, gewöhnlich durch einen Vorhang verhüllt, manchmal aus Versehen offen blieb. Eines Tages bemerkte ich es und kletterte auf eine Bank, nahm noch einen Hocker zu Hilfe und konnte mit meinem Kinn gerade das Türchen vom Guckloch erreichen. Ich schob es soweit wie möglich zurück. Auf diese Weise bekam ich einen Überblick über das Büro, und ich konnte folgendes beobachten:
Eine Dame saß in einem Fauteuil, vor ihr stand eine Kammerzofe. Madame Paulhat-Durand hatte sich in ihre Schreibtischecke zurückgezogen und kramte in ihren Notizen. Die Dame kam aus Fontainebleau, um hier ein Dienstmädchen zu finden. Sie mochte fünfzig Jahre alt sein und sah aus wie eine wohlhabende ungehobelte Bürgersfrau. Sie gab sich zurückhaltend und war mit provinzieller Geschmacklosigkeit gekleidet. Vor ihr das junge Mädchen wirkte schwächlich und ungesund, mit grauem Teint, der von kümmerlicher Ernährung zeugte. Trotzdem war sie nicht unsympathisch und wäre unter glücklicheren Lebensbedingungen sogar hübsch gewesen. Sie sah sauber und schlank aus in ihrem schwarzen Rock, eine schwarze Wollbluse schloß sich eng um ihren zarten Oberkörper, ein Häubchen aus weißem Stoff hielt das blonde gelockte Haar straff aus der Stirn.
Nach einer peinlich aufreizenden Musterung begann die Dame endlich zu sprechen.
»Sie sind also Kammerzofe?«
»Ja, Madame.«
»Sie sehen aber nicht so aus. Wie heißen Sie?«
»Jeanne Le Godec.«
»Was sagen Sie da?«
»Jeanne Le Godec, Madame.«
Die Dame zuckte mit den Achseln.
»Jeanne ...« meinte sie gedehnt, »das ist kein Name für ein Dienstmädchen. Das ist der Name einer jungen Dame. Wenn Sie in mein Haus kommen, dürfen Sie diesen anspruchsvollen Namen nicht beibehalten, verstehen Sie?«
»Wie Madame wünschen ...«
Jeanne hatte den Kopf gesenkt, mit beiden Händen stützte sie sich auf den Griff ihres Regenschirmes.
»Heben Sie den Kopf«, befahl die Dame, »halten Sie sich gerade! Merken Sie denn nicht, daß Sie mit Ihrer Schirmspitze den Teppich durchbohren? Woher sind Sie?«
»Aus Saint-Brieuc ...«
Während sie das wiederholte, strahlte ihr Gesicht tiefen Abscheu aus. Die Mundwinkel zogen sich herab, sie kniff die Augen ein, als habe sie ein Glas Essig getrunken.
»Wirklich aus Saint-Brieuc?« wiederholte sie angewidert. »Dann sind Sie ja Bretonin? Oh! Ich mag die Bretonen nicht, sie sind eigensinnig und unsauber.«
»Aber ich bin sehr sauber«, widersprach die arme Jeanne.
»Sie behaupten es! Aber hören wir weiter. Wie alt sind Sie?«
»Sechsundzwanzig.«
»Sechsundzwanzig? Nicht eingerechnet die Stillzeit vermutlich, wie? Sie sehen ja viel älter aus. Machen Sie mir nichts vor!«
»Ich mache Madame nichts vor, ich versichere Madame, daß ich nicht älter als sechsundzwanzig Jahre bin. Wenn ich älter scheine, dann kommt das wohl daher, weil ich lange krank gewesen bin.«
»Ach so! Da haben wir es. Sie waren krank?« wiederholte die eingebildete Bürgerin spöttisch und mitleidlos. »So so, Sie waren lange krank. Ich mache Sie gleich darauf aufmerksam, meine Liebe, daß mein großes Haus viel Arbeit verlangt und daß ich eine kräftige Hausgehilfin brauche.«
Jeanne wollte ihre Unvorsichtigkeit wieder gut machen. Sie erklärte:
»Aber jetzt bin ich geheilt, vollkommen gesund.«
»Das geht mich nichts an. Vorerst sind wir ja noch gar nicht so weit. Sind Sie ledig? Oder verheiratet? Also was denn?«
»Ich bin Witwe, Madame.«
»Aha. Ich hoffe, Sie haben keine Kinder?«
Und da Jeanne mit der Antwort ein wenig zögerte, sagte die Dame ungeduldig:
»Antworten Sie, haben Sie Kinder oder nicht?«
»Ich habe ein kleines Mädchen«, gestand Jeanne schüchtern.
Madame zog ein Gesicht und machte eine Bewegung, als wollte sie die Fliegen verscheuchen.
»Keinesfalls Kinder in meinem Haus«, sagte sie grob. »Das dulde ich absolut nicht. Wo befindet sich Ihre Tochter?«
»Sie ist bei einer Tante meines Mannes.«
»Und wer ist diese Tante?«
»Sie ist Weinhändlerin in Rouen.«
»Weinhandel! Ein schauerlicher Beruf! Trunkenheit, Ausschweifungen, nettes Beispiel für kleine Mädchen! Aber das geht mich nichts an. Das ist Ihre Angelegenheit. Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Achtzehn Monate, Madame.«
Madame sprang auf, aufs äußerste empört. Sie fiel wieder in ihren Stuhl zurück und stieß angeekelt hervor:
»Das ist doch die Höhe! Unglaublich! Ich frage Sie, setzt man Kinder in die Welt, wenn man sie nicht einmal aufziehen kann? Oh, diese Leute sind unverbesserlich, sie haben den Teufel im Leib!«
Während die Dame immer aggressiver und grimmiger wurde, stand die arme Jeanne zitternd da.
»Das lassen Sie sich ein für allemal gesagt sein«, sagte sie und betonte jede Silbe in gemeiner Weise, »sollten Sie in mein Haus kommen, dann dulde ich keinesfalls, daß Sie Ihre Tochter mitbringen. Mein Haus ist kein Durchgang für fremde Leute! Ich wünsche keine Fremden, ich dulde keine Landstreicher, überhaupt kein Gesindel, das man nicht kennt! Man hat ohnehin genug zu ertragen. Und so etwas schon gar nicht! Nein, danke!«
Trotz dieser wenig ermunternden Unterhaltung wagte die kleine Jeanne schüchtern zu fragen:
»Vielleicht dürfte ich dann meine kleine Tochter besuchen. Ungefähr einmal im Jahr?«
»Nein!« sagte die unerbittliche Dame.
Und sie fügte noch hinzu:
»Bei mir geht man nicht spazieren, das ist ein Prinzip meiner Haushaltung, und in diesem Punkt dulde ich keine Ausnahme. Ich bezahle meine Angestellten nicht, damit sie, unter dem Vorwand ihre Kinder zu besuchen, auf Lustreisen gehen. Das wäre ja noch schöner! Stellen Sie nicht derartige Fragen. Besitzen Sie Zeugnisse?«
»Ja, Madame.«
Sie holte aus ihrer Tasche ein Papier hervor, in das ihre vergilbten zerdrückten Zeugnisse eingeschlagen waren. Schweigend, mit zitternder Hand gab sie der Dame die Papiere hin. Diese nahm sie, sichtlich angewidert, mit den Fingerspitzen entgegen, zog eine Grimasse, faltete ein Papier auseinander und las laut:
»›Hiermit bestätige ich, daß das Mädchen Jeanne ...‹«
Sie brach ab und warf der armen Person vernichtende Blicke zu.
»Das Mädchen? Da steht das Mädchen? Sie sind also gar nicht verheiratet? Sie haben ein Kind und sind nicht verheiratet? Was hat das zu bedeuten?«
Jeanne begann verwirrt stockend zu erklären:
»Ich bitte Madame um Verzeihung, ich war seit drei Jahren verheiratet. Dieses Zeugnis ist sechs Jahre alt, Madame kann sich selbst überzeugen.«
»Das geht mich nichts an.«
Aber sie fuhr in ihrer Lektüre fort:
»›… daß das Mädchen Jeanne Le Godec bei mir in Dienst war und daß ich ihr punkto Arbeit, Führung und Ehrlichkeit nicht das geringste vorzuwerfen habe.‹ – Ach ja, immer die gleiche Geschichte. Zeugnisse, aus denen man nichts erfährt. Das sind keine Auskünfte. Kann man dieser Dame schreiben? Wohin?«
»Sie ist gestorben.«
»Sie ist gestorben. Meiner Treu, natürlich ist sie gestorben. Sie besitzen also nur Zeugnisse einer Person, die leider gestorben ist. Sie werden zugeben müssen, daß das sehr merkwürdig ist.«
Sie entfaltete das nächste Papier und fragte:
»Das Zeugnis dieser Dame? Wahrscheinlich ist sie auch gestorben?«
»Nein, Madame. Madame Robert ist in Algerien bei ihrem Mann, er ist Oberst.«
»In Algerien!« rief die Dame hämisch aus, »natürlich, und da soll ich wohl nach Algerien schreiben? Die einen sind tot, und die anderen in Algerien. Wie soll ich Auskünfte aus Algerien beziehen! Das alles ist doch sehr merkwürdig!«
»Aber ich habe ja noch andere Zeugnisse, Madame«, flehte die unglückliche Jeanne Le Godec. »Madame könnte sich erkundigen ...«
»Ja, ja, ich sehe schon, daß Sie noch andere haben, ich sehe, daß Sie bereits in vielen Stellungen gewesen sind. In Ihrem Alter ist das gerade kein gutes Zeichen. Meinetwegen, lassen Sie mir Ihre Zeugnisse und man wird sehen. Aber jetzt zu etwas anderem: was können Sie?«
»Ich kann aufräumen, nähen, bei Tisch servieren …«
»Können Sie auch ausbessern?«
»Ja, Madame.«
»Können Sie Geflügel mästen?«
»Nein, Madame, das ist nicht mein Beruf.«
»Ihr Beruf, meine Liebe«, hörte sie von Madame, »ist, das auszuführen, was Ihnen Ihre Herrschaft befiehlt. Sie scheinen mir keinen guten Charakter zu haben, Sie widersprechen.«
»Aber nein, Madame, ich widerspreche wirklich nicht.«
»Natürlich, das behaupten Sie! Das behaupten übrigens alle. Und kaum hat man sie dann im Haus, werden sie unausstehlich. Schließlich habe ich Ihnen jetzt allerhand gesagt, und Sie wissen, daß ich viel verlange. Bei mir steht man um fünf Uhr auf.«
»Auch im Winter?«
»Auch im Winter. Natürlich. Was soll diese Frage? Gibt es im Winter weniger zu tun als im Sommer? Wieder einmal eine überflüssige Frage! Bei mir macht die Kammerzofe das Treppenhaus, den Salon, das Arbeitszimmer von Monsieur, selbstverständlich auch das Schlafzimmer, und sie kümmert sich natürlich auch um alle Öfen. Die Köchin macht das Vorzimmer, die Gänge und das Speisezimmer. Ich halte sehr viel auf Sauberkeit, bei mir will ich kein Körnchen Staub sehen. Die Türschnallen müssen immer blitzen, die Möbel glänzen, alles muß tadellos geputzt sein. Und bei mir kümmert sich die Zofe auch um den Geflügelhof.«
»Aber davon verstehe ich nichts, Madame ...«
»Dann werden Sie es eben verstehen lernen! Zudem haben Sie noch folgende Pflichten: waschen, bügeln, ausgenommen die Hemden von Monsieur, nähen, bei Tisch servieren, der Köchin beim Abwaschen helfen, also abtrocknen. Überall muß Ordnung sein, peinliche Ordnung, und natürlich Sauberkeit. Und Ehrlichkeit selbstverständlich. Übrigens halte ich alles eingeschlossen, wer etwas will, muß mich fragen. Bei mir wird nichts vergeudet. Was trinken Sie zum Frühstück?«
»Milchkaffee, Madame.«
»Milchkaffee! Sagen Sie einmal, Sie genieren sich wohl überhaupt nicht? Trinken jetzt alle Kammerzofen am Morgen Milchkaffee? Bei mir gibt es das jedenfalls nicht. Sie werden Suppe essen. Das ist gesünder für den Magen – was haben Sie soeben gesagt?«
Jeanne hatte überhaupt nichts gesagt, aber es war deutlich zu merken, daß sie eine Frage auf der Zunge hatte.
Endlich wagte sie zu sagen:
»Ich bitte um Verzeihung, Madame, aber was bekomme ich zu trinken?«
»Sechs Liter Most wöchentlich.«
»Ich darf leider keinen Most trinken, Madame, der Arzt hat es mir verboten.«
»Aha, der Arzt hat es Ihnen verboten. Trotzdem werden Sie bei mir Most bekommen. Wenn Sie Wein trinken wollen, müssen Sie ihn sich selbst kaufen. Das ist Ihre Angelegenheit. Wieviel wollen Sie verdienen?«
Jeanne zögerte, sie starrte auf den Teppich, von Madame wanderte ihr Blick zur Uhr, von dort zur Decke, schließlich drehte sie den Regenschirm in den Händen und sagte schüchtern:
»Vierzig Franc.«
»Vierzig Franc!« schrie Madame empört. »Warum nicht gleich hundert, warum nicht tausend Franc? Sie sind ja verrückt. Vierzig Franc! Einfach lächerlich! Dabei verstehen Sie sich nicht einmal aufs Geflügelmästen! Ich will Ihnen etwas sagen, Sie können überhaupt nichts! Ich zahle dreißig Franc und damit basta. Eigentlich ist das schon zuviel. Dreißig Franc und nicht einen Sou mehr. Sie haben bei mir weder Ausgaben für Kleidung noch für Logis, Wäsche und Kost, denn was Kleidung anbelangt, bin ich nicht anspruchsvoll. Und die Ernährung ist bei mir weiß Gott erstklassig. Natürlich verteile ich selbst die Portionen.«
Jeanne wagte noch einmal zu versichern:
»Ich habe bisher auf allen Stellen vierzig Franc bekommen.«
Aber die Dame hatte sich inzwischen erhoben, sie sagte trocken und bösartig:
»Nun gut, dann ist Ihnen eben nicht zu helfen. Vierzig Franc! Eine Unverschämtheit! Hier haben Sie Ihre Zeugnisse, Zeugnisse einer Toten und von unerreichbaren Leuten. Gehen Sie!«
Jeanne wickelte ihre Zeugnisse wieder in das Papier und legte sie zurück in ihre Tasche. Dann meinte sie mit schmerzlicher, fast erstickter Stimme:
»Wenn Madame wenigstens bis fünfunddreißig Franc gehen wollte, man könnte sich einigen.«
»Nicht einen Sou mehr! Verschwinden Sie! Verschwinden Sie und kehren Sie zurück zu Ihrer Madame Robert! Von mir aus gehen Sie hin, wohin Sie wollen! Solche Tagediebe wie Sie haben wir hier genug!«
Jeanne wandte sich langsam und traurig um. Bevor sie den Salon verließ, knickste sie zweimal. An ihren Augen und ihren zuckenden Lippen konnte ich wahrnehmen, daß sie mit dem Weinen kämpfte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, explodierte die Dame:
»Oh, diese Dienstboten! Wahrhaftig eine Plage. Man kann heutzutage wirklich keine anständige Bedienung mehr finden!«
Worauf Madame Paulhat-Durand, die inzwischen mit ihrer Zettelräumerei fertig war, voll majestätischer Empörung antwortete:
»Sehen Sie, Madame, ich hatte Sie gewarnt. Es sind alle gleich. Keine will sich die Hände schmutzig machen, dabei wollen sie Unsummen verdienen. Leider kann ich Ihnen im Augenblick mit nichts Besserem aufwarten. Morgen hoffe ich etwas für Sie zu finden. Ach, es ist wirklich manchmal zum Verzweifeln!«
Ich kletterte von meinem Beobachtungsposten herunter, als Jeanne Le Godec das Vorzimmer betrat, in dem es wie in einem Bienenkorb summte.
Die Arme setzte sich wortlos auf eine Bank im dunkelsten Winkel des Zimmers, den Kopf gesenkt, die Arme wie in einem Krampf verschränkt, bestimmt mit schwerem Herzen und mit leerem Magen. Ihre kleinen Füße pendelten nervös unter dem schwarzen Rock.
Ich sah noch ganz andere Dinge, viel deprimierendere als bisher. Unter den vielen Mädchen, die Tag für Tag zu Madame Paulhat-Durand pilgerten, war mir eine besonders aufgefallen, weil sie eine bretonische Haube trug und dann, weil mich ihr bloßer Anblick mit einer unbesiegbaren Melancholie erfüllte. Niemand ist beklagenswerter als eine Bäuerin, die es in dieses erbarmungslose hektische Paris getrieben hat. In diesem Fall spiegelte sich mein eigenes Schicksal wider, und das berührte und beunruhigte mich sehr. Wohin geht sie und woher kommt sie? Was erwartet sie hier? Warum hat sie ihren Heimatboden verlassen? Welcher Wahnsinn, welches Drama, welcher Orkan hat sie auf dieses brausende unmenschliche Großstadtmeer getrieben? Beinahe jeden Tag stellte ich mir dieselbe Frage, wenn ich jenes einsame arme Geschöpf in seinem dunklen Winkel betrachtete.
Sie war von jener hoffnungslosen Häßlichkeit, die Mitmenschen niemals Mitleid, sondern höchstens Widerwillen einflößt. Mehr als das! Sie wirkte wie eine personifizierte Beleidigung. So stiefmütterlich auch eine Frau von der Natur bedacht sein mag, es kommt selten vor, daß sie diese vollkommene, unbedingte Häßlichkeit erreicht. Fast jede Frau besitzt etwas, worauf der Blick des Betrachters verweilen kann, ohne beleidigt zu werden, seien es Augen, sei es der Mund, eine zarte Körperlinie, ein hübsches Gelenk, eine graziöse Armbewegung oder eine jugendfrische Haut. Selbst viele alte Frauen behalten fast immer eine unbestimmbare Anmut, die Spuren dessen, was sie einmal waren. Aber diese Bretonin, obwohl noch jung, sehr jung sogar, besaß nichts von alledem: klein, untersetzt, langer Oberkörper, eckige Hüften, kurze Beine. Man hätte sie für eine Zwergin halten können, aber sie hatte auch eine entfernte Ähnlichkeit mit jenen unförmigen, aus Stein gehauenen stumpfnasigen Heiligen auf den Calvaires armoricains in der Bretagne, ein seit Jahrhunderten herzzerreißender Anblick. Und ihr Gesicht! Das arme Ding hatte eine Sattelnase unter einer unnatürlich vorgewölbten Stirn, ein monströses Gebilde mit flachem Ansatz, der Mitte zu nach innen gedrückt und an der Spitze steil aufwärts gebogen mit zwei aufgerissenen Nasenlöchern, aus denen schwarze Haare wuchsen. Die Haut ähnelte der grauen körnigen Haut toter Schlangen. Aber plötzlich entdeckte ich an dieser mißgebildeten Kreatur eine Schönheit, um die sie jede schöne Frau beneidet hätte: prachtvolles, dichtes rotgoldenes Haar, auf dem das Licht purpurne Reflexe hervorzauberte. Aber wie merkwürdig! Statt ihre Häßlichkeit zu mildern, verstärkte es vielmehr das abstoßende Äußere dieses mißglückten Geschöpfes.
Und das war noch lange nicht alles. Jede ihrer Bewegungen war von aufreizender Ungeschicklichkeit. Sie konnte keinen Schritt gehen, ohne irgendwo anzustoßen, ihre Hände ließen jeden Gegenstand fallen. Ihre Arme blieben an den Möbeln hängen, und alles, was darauf stand, fegten sie herunter. Sie trat einem auf die Füße, bohrte einem den Ellbogen in irgendeinen Körperteil, entschuldigte sich mit einer rauhen, kreischenden Stimme, und sobald sie dabei den Mund aufmachte, entströmte ihm ein pestilenzartiger Gestank. Sooft sie das Vorzimmer betrat, überfiel uns alle eine unerklärliche Unruhe. Und diese machte sich in feindlichem Gemurmel und beleidigenden Ausdrücken bemerkbar. Nur unter Gespött wackelte das unglückselige Geschöpf auf seinen Zwergenbeinen durch das Vorzimmer, wurde von allen beiseite gestoßen, bis es sich am Ende im dunkelsten Winkel des Zimmers verkrümelte. Jede einzelne von uns gab ihrem Abscheu mit unmißverständlichen Gesten Ausdruck, Taschentücher wurden hervorgezogen und an Mund und Nase gedrückt. In der absoluten Abwehr, die ihr Erscheinen auslöste, entstand um sie herum eine Leere, die sie von uns isolierte, doch das trostlose Wesen spürte es scheinbar gar nicht, denn sie setzte sich wortlos, ohne zu klagen, ohne aufzubegehren, ich vermutete sogar ohne zu verstehen, was diese verächtliche Ablehnung bedeutete, wie eine Ausgestoßene an die Wand und wartete.
Auch ich hatte mich schon oft an grausamen Spielen beteiligt, doch dieser mißgestalteten Bretonin gegenüber empfand ich so etwas wie Mitgefühl. Ich hatte begriffen, daß sie eines von jenen Geschöpfen war, die das Schicksal für das Unglück prädestiniert, eines jener Wesen, die, was sie auch tun, von den Mitmenschen abgelehnt und gemieden werden, und selbst Tiere benehmen sich oft gehässig gegen die Entstellten.
Eines Tages überwand ich meinen Widerwillen, ich ging auf sie zu und fragte sie:
»Wie heißen Sie?«
»Louise Randon.«
»Ich bin Bretonin, aus Audierne – und Sie? Sind Sie nicht auch Bretonin?«
Sie war sichtlich erstaunt darüber, daß jemand das Wort an sie richtete, so daß sie, eine neue Beleidigung oder neuen Spott erwartend, nicht gleich antwortete. Sie bohrte ihren Daumen in eines der schrecklichen Nasenlöcher und stierte mich an. Ich wiederholte meine Frage:
»In welcher Gegend der Bretagne sind Sie beheimatet?«
Als sie in meinen Augen keine Bosheit aufleuchten sah, entschloß sie sich Antwort zu geben.
»Ich bin aus Saint-Michel-en-Grève. Das liegt in der Nähe von Lannion.«
Ich wußte darauf keine Antwort. Ihre Stimme stieß mich ab. Das war überhaupt keine menschliche Stimme, das war ein heiseres Krächzen, fast einem unterdrückten Schluchzen ähnlich. Bei diesen Urtönen verflog mein Mitgefühl. Dennoch fuhr ich fort:
»Haben Sie noch Eltern?«
»Ja. Meinen Vater, meine Mutter, drei Brüder, vier Schwestern. Ich bin die älteste.«
»Und Ihr Vater? Hat er keinen Beruf?«
»Doch! Er ist Hufschmied.«
»Seid ihr arme Leute?«
»Mein Vater hat drei Felder, drei Häuser und drei Dreschmaschinen.«
»Also ist er reich?«
»Natürlich ist er reich. Er bestellt seine Äcker, vermietet seine Häuser, fährt mit der Dreschmaschine in die Felder, um das Korn der Bauern zu dreschen.«
»Und Ihre Schwestern?«
»Sie haben schöne bretonische Hauben aus Spitzen und hübsch gestickte Kleider.«
»Und Sie?«
»Ich? Ich habe nichts.«
Ich wich ein wenig zurück, um dem Leichengeruch ihres Mundes auszuweichen.
»Warum sind Sie dann Dienstmädchen?« begann ich wieder.
»Weil ...«
»Warum haben Sie Ihre Heimat verlassen?«
»Weil man ...«
»Sie waren nicht glücklich?«
Jetzt sprach sie sehr schnell, wie aus einer Maschine, die kleine Ziegelsteine herausstürzt, so purzelten die Worte über ihre Lippen:
»Mein Vater schlug mich, meine Mutter schlug mich, meine Schwestern schlugen mich – alle schlugen mich. Ich mußte die ganze Arbeit besorgen – und ich habe meine Schwestern aufgezogen.«
»Und warum schlug man Sie?«
»Das weiß ich nicht. Um mich zu schlagen. In jeder Familie gibt es einen, der geschlagen wird, weil – es ist eben so.«
Meine Fragen verwirrten sie nicht mehr, sie faßte Zutrauen zu mir.
»Und Sie«, fragte sie mich, »haben Ihre Eltern Sie nicht geschlagen?«
»O doch!«
»Na also! Es ist eben so ...«
Louise bohrte nicht mehr in der Nase, dafür legte sie ihre Hände mit den abgesplitterten Fingernägeln flach auf ihre Schenkel. Man flüsterte um uns herum. Es gab Gelächter, kleine Streitereien, und die pausenlosen Beschwerden verhinderten die anderen unsere Unterhaltung zu verstehen.
»Wie sind Sie eigentlich nach Paris gekommen?« fragte ich sie nach einer kleinen Pause.
»Im letzten Jahr«, erzählte Louise, »kam nach Saint-Michel-en-Grève eine Dame aus Paris, um mit ihren Kindern Meerbäder zu nehmen. Ich ging zu ihr und habe mich ihr vorgestellt, weil sie ihr Mädchen davongejagt hatte, von dem sie bestohlen worden war. Und dann – ja und dann hat sie mich nach Paris mitgenommen. Ich sollte ihren alten kränklichen Vater pflegen, der gelähmte Beine hatte.«
»Ja, warum sind Sie denn nicht in der Stellung geblieben? Gefiel es Ihnen nicht in Paris?«
»Nein«, sagte sie entschlossen, »so war es nicht. Ich wäre ganz gern auf diesem Platz geblieben, aber – wir konnten nicht einig werden.«
In ihre sonst so glanzlosen Augen kam ein seltsames Licht. Fast ein wenig Hochmut schienen sie auszustrahlen. Sie richtete sich auf, ihr Körper streckte sich förmlich:
»Wir konnten uns nicht einigen ...« wiederholte sie, »der Alte machte mir unanständige Anträge.«
Ich war einige Augenblicke lang sprachlos. Diese Enthüllung übertraf alles Bisherige. War denn so etwas möglich? Dieser formlose Klumpen Fleisch hatte die Begierde eines wenn auch gemeinen Greises entfacht? Auf dieses Monstrum hatten sich begehrliche Blicke gerichtet? Männerlippen wollten diesen stickigen Atem aussendenden Mund, diese kariösen Zähne berühren? Ach, wie verderbt und gemein ist doch das menschliche Geschlecht! Und welch schrecklicher Wahnsinn ist doch die sogenannte Liebe! Ich betrachtete Louise neugierig. Aber das Funkeln ihrer Augen war erloschen, und ihre Pupillen waren nur mehr graue leblose Tupfen.
»Wie lange ist das her?« fragte ich.
»Drei Monate.«
»Und haben Sie nie wieder eine neue Stellung gefunden?«
»Niemand will mich haben. Dabei weiß ich gar nicht, warum. Sobald ich in das Büro eintrete, rufen alle Damen sofort: ›Nein, nein, die will ich nicht!‹ Irgendein Fluch liegt auf mir. Schließlich bin ich doch nicht häßlich. Ich bin sehr stark, ich verstehe meine Arbeit und schrecke vor nichts zurück. Wenn ich zu klein geraten bin, dafür kann ich doch nichts. Bestimmt hat mich irgendjemand verflucht!«
»Wo leben Sie eigentlich?«
»Bei einem gewerbsmäßigen Zimmervermieter. Ich mache dort die Zimmer sauber und flicke die Wäsche. Man gibt mir einen Strohsack auf dem Dachboden und morgens eine warme Mahlzeit.«
Also gibt es noch viel Unglücklichere als mich! Dieses Bewußtsein erfüllte mich aufs neue mit Erbarmen.
»Hören Sie, meine kleine Louise«, sagte ich mit einer Stimme, der ich möglichst viel Freundlichkeit und Überredung beizulegen versuchte, »es ist sehr schwierig, in Paris eine Stellung zu finden. Hier wird von den Angestellten mehr verlangt als anderswo, weil die Herrschaft anspruchsvoller ist. Ich mache mir Sorgen Ihretwegen. Ich an Ihrer Stelle ginge in die Heimat zurück!«
Da sagte Louise sichtlich erschrocken:
»Nein, nein! Das niemals! Ich will nicht dorthin zurück! Man würde sagen, daß ich keinen Erfolg hatte, daß mich niemand nehmen wollte. Man würde mich verspotten. Nein, nein, zurückzugehen ist ganz unmöglich. Da würde ich lieber gleich sterben!«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Vorzimmers. Die scharfe Stimme von Madame Paulhat-Durand rief:
»Mademoiselle Louise Randon!«
»Bin ich es, die man da ruft?« fragte mich Louise aufgeregt und zitternd.
»Ja, ja, man hat Sie gerufen! Beeilen Sie sich und strengen Sie sich an, daß es diesmal klappt!«
Sie stand auf, stolperte, gab mir einen Stoß mit dem Ellbogen in die Brust, trat mir dabei fest auf die Füße, stieß am Tisch an, daß er wackelte, und das alles gefolgt vom gehässigen Gelächter der anderen. So trampelte sie in den Salon, so verschwand sie hinter der Tür.
Aber ich stieg wieder zu meinem Platz auf der Bank, stieß das Guckloch des Fensters auf und konnte die folgende Szene Wort für Wort mit anhören und alles sehen, wie es sich abspielte.
Noch nie war mir der sogenannte Salon von Madame Paulhat-Durand, das Büro, so trostlos vorgekommen. Obwohl ich es jedesmal mit einem gewissen Ekel betrat, sooft ich hineingerufen wurde. Oh, diese verschlissenen blauen Ripsmöbel! Oh, dieses riesige ausgebreitete Register, das wie ein geschlachtetes ausgeweidetes Tier auf dem Tisch lag, den ebenfalls ein blaues, ekelhaft verfärbtes Tischtuch bedeckte! Und dieses Stehpult, in dessen dunklem Holz Monsieur Louis' Ellbogen helle glänzende Dellen gerieben hatten! Und dazu das scheußliche Büfett in der Ecke, in dem Jahrmarktsgewinne und zusammengeerbtes Porzellan angehäuft waren! Und auf dem Kaminsims, zwischen zwei abgesplitterten Bronzelampen und verblaßten Photographien, eine häßliche Uhr, die mit ihrem enervierenden Ticktack die Wartezeit ins Endlose zu verlängern schien. In einem turmartigen Käfig spreizten zwei heimwehkranke Kanarienvögel ihr kränkliches Gefieder aus, und die Mahagonifurniere an den Schreibtischschubladen war von habgierigen Fingern zerkratzt. Aber ich war ja nicht hier oben auf meinem Beobachtungsposten, um das Inventar dieses Zimmers, das ich leider nur zu gut kannte, aufzunehmen, sondern ich war hier, um zu beobachten, wie Louise Randon mit den Tricks der Sklavenhändlerinnen fertig wurde.
Sie stand im Gegenlicht des Fensters, starr, mit baumelnden Armen. Die Schatten verhüllten, gnädig wie ein milchiger Schleier, ihr häßliches Gesicht, betonten aber die monströse Form ihres Körpers. Ein greller Lichtstrahl entflammte Louises Haarspitzen, umsäumte die winkeligen Konturen ihrer Arme, die Gedrungenheit ihres Oberkörpers und verlor sich in den Falten ihres schwarzen armseligen Rockes. Eine alte Dame musterte Louise. Die Kundin saß auf einem Stuhl, den Rücken mir zugewandt, ich fand, es sei ein feindseliger Rücken und ein bösartiger Nacken. Ich konnte von dieser alten Dame nicht viel mehr sehen als einen unmöglichen schwarzen Federhut, einen Umhang von unbestimmbarer Farbe, der mit hellerem Pelz gesäumt war, und ein schwarzes Kleid, das in schweren Falten rund um sie auf dem Teppich lag. Vor allem aber fiel mir ihre Hand, eine schwarzbehandschuhte knochige Hand, auf, deren Finger sich nur langsam öffneten und wieder schlossen, sich in den Stoff verkrallten und wieder lockerließen, wie Raubtierkrallen beim Festhalten einer Beute. Madame Paulhat-Durand stand sehr gerade, sehr würdevoll neben dem Tisch und wartete.
Das Zusammentreffen von drei gewöhnlichen Wesen in einer durchaus gewöhnlichen Umgebung ist im allgemeinen nichts Besonderes, nicht wahr? Niemand würde finden, daß an diesem banalen Tatbestand etwas Ungewöhnliches oder Erregendes zu entdecken wäre, mir aber kamen diese drei schweigsamen Gestalten, die einander belauerten, wie Akteure eines furchtbaren Dramas vor, ja, ich hatte sogar den Eindruck, daß ich beinahe Zeugin einer fürchterlichen sozialen Tragödie, beinahe Zuschauerin eines richtigen Mordes war. Mein Mund war vor Spannung ganz trocken, mein Herz schlug wie verrückt.
»Ich kann Sie ja gar nicht richtig sehen, meine Kleine«, sagte die alte Dame plötzlich, »bleiben Sie nicht dort stehen, ich sehe Sie wirklich kaum. Treten Sie etwas zurück, damit ich Sie besser sehen kann!«
Dann rief sie überrascht:
»Mein Gott! Wie klein Sie sind!«
Bei diesen Worten verrückte sie ihren Fauteuil ein wenig, so daß ich sie nun im Profil betrachten konnte. Ich hatte erwartet, eine Hakennase, lange vorstehende Zähne und gelbe Sperberaugen zu sehen zu bekommen. Aber ich sah nichts von alledem. Ihr Gesicht wirkte ruhig, beinahe liebenswürdig. Ihre Augen hatten überhaupt keinen Ausdruck, sie verrieten weder Bosheit noch Güte. Sie war bestimmt eine alte gerissene Händlerin, die sich von ihrem Geschäft zurückgezogen hatte. Alle Krämer haben nämlich die Fähigkeit, einen Gesichtsausdruck anzunehmen, der von ihrer eigentlichen Natur nicht das geringste verrät. Im Laufe der Jahre entwickeln sich bei solchen Personen durch ihren Beruf hauptsächlich der niedere Instinkt und ein ans Kriminelle grenzender Ehrgeiz, und darum, so denke ich mir, glättet und neutralisiert sich ihr Gesichtsausdruck und verschleiert alles, was die Kunden mißtrauisch machen könnte. Dieses Böse zieht sich an bestimmte Stellen ihres Körpers zurück, die bei anderen Menschen überhaupt nichts ausdrücken. Bei dieser alten Dame hatte sich die charakterliche Härte und ihre Gewinnsucht, die weder aus ihren Augen strahlten, noch von Stirne oder Mund abzulesen waren, im Nacken konzentriert. Ihr Nacken war ihr wahres Gesicht, und dieses Gesicht war schrecklich.
Louise war auf die Aufforderung der Dame ein wenig in den Hintergrund getreten. Ihr Wunsch zu gefallen steigerte jetzt ihr monströses Aussehen. Kaum stand sie im vollen Licht, da rief die Dame schon:
»Oh! Wie sind Sie häßlich, meine Kleine!«
Und sich an Madame Paulhat-Durand wendend, wie um sie als Zeugin anzurufen, fuhr sie fort:
»Ist es denn möglich, daß es auf der Welt so häßliche Geschöpfe gibt wie diese Zwergin?«
Betont feierlich und würdig antwortete die Vermittlerin:
»Sie ist keine Schönheit, ohne Zweifel, aber Mademoiselle ist sehr ordentlich.«
»Kann sein«, entgegnete die alte Dame, »aber sie ist zu häßlich. Was haben Sie gesagt?«
Louise hatte keine Silbe gesprochen. Sie war bloß ein wenig errötet, hatte den Kopf gesenkt. Auch ihre Augenränder waren röter geworden. Ich dachte: sie wird gleich anfangen zu weinen.
»Nun, wir werden ja sehen ...«, fuhr die Dame fort, die mit ihren Fingern bei diesen Worten den Stoff ihres Kleides wie ein grausames Tier bearbeitete.
Sie fragte Louise über ihre Familie, über ihre bisherigen Stellungen aus und wollte wissen, ob sie kochen, saubermachen und nähen könne.
Die arme Louise brachte jedesmal nur ein rauh hervorgestoßenes »ja, Madame«, »nein, Madame« hervor. Das grausame, taktlose Verhör dauerte zwanzig Minuten.
»Also, meine Kleine«, sagte die alte Dame abschließend, »aus ihren Antworten höre ich heraus, daß Sie überhaupt nichts können. Ich werde Ihnen erst beibringen müssen zu arbeiten, und das will heißen, daß ich fünf oder sechs Monate lang keine Spur von Nutzen haben werde. Und häßlich wie Sie Sind, meine Kleine, sind Sie kein erfreulicher Anblick. Und diese Narbe da auf Ihrer Nase? Woher rührt die? Hat Sie jemand geschlagen?«
»Nein, Madame, ich wurde damit geboren.«
»Ja, ja, das alles ist keineswegs erfreulich. Wieviel wollen Sie verdienen?«
»Dreißig Franc, Wäsche frei und auch den Wein …«, sagte Louise resolut.
Diese Antwort gab der Alten einen Stich:
»Dreißig Franc? Haben Sie sich eigentlich niemals im Spiegel betrachtet? Sie sind ja verrückt! Übergeschnappt! Niemand nimmt Sie, niemand wird Sie jemals anstellen wollen! Wissen Sie das? Wenn ich, zum Beispiel, Sie nehmen würde, dann täte ich es nur aus Güte, denn im Grunde tun Sie mir leid! Und dafür verlangen Sie dreißig Franc! Das ist eine Unverschämtheit, mein Kind. Zweifellos haben Ihre Kameradinnen Ihnen den Kopf verdreht. Sie sollten auf diese Mädchen nicht hören!«
»Das will ich meinen!« pflichtete Madame Paulhat-Durand bei, »sie hetzen einander auf!«
»Natürlich!« sagte die Alte, »dreißig Franc, die Wäsche frei und auch noch den Wein, das ist zuviel. Aber ich will Ihre Not und Ihre Häßlichkeit nicht ausnutzen.«
Ihre Stimme wurde immer freundlicher, fast zärtlich.
»Eine solche Gelegenheit werden Sie nie wieder finden. Also, seien Sie vernünftig, Kleine, ich bin nicht wie die anderen, ich bin allein, ich habe keine Familie, meine Familie besteht aus meinem Dienstmädchen. Und was verlange ich von ihr? Ein bißchen Zuneigung, das ist alles. Mein Mädchen lebt mit mir, speist mit mir – ausgenommen ist der Wein! Aber sonst verhätschle ich sie beinahe. Und wenn ich einmal sterbe – ich bin öfters kränklich und schon sehr alt –, also wenn ich sterbe, dann vergesse ich ganz bestimmt diejenige nicht, die mir ergeben war, die mir gut gedient und mich gepflegt hat. Sie sind häßlich, sehr häßlich, eigentlich allzu häßlich, aber, lieber Gott, ich werde mich an Ihre Häßlichkeit gewöhnen, mich mit Ihrem Gesicht befreunden. Es gibt viele hübsche Frauen, die böse sind und einen bestehlen, wo es nur möglich ist. Die Häßlichkeit im Haus kann unter Umständen eine Garantie für die Moral sein. Sie würden doch niemals Männer in mein Haus bringen? Sie sehen also, daß ich Ihren Fall gerecht behandle. Und was ich Ihnen biete, Kleine, ist mehr als ein Vermögen, es ist eine Familie!«
Louise war sichtlich durcheinander. Bestimmt erweckten die Worte der Alten ungeahnte Hoffnungen in ihrem Schädel. Ihre angeborene bäuerliche Habgier gaukelte ihr Kisten voll Gold vor, fabelhafte Testamente, ein behagliches Leben bei dieser freundlichen Herrin, gemeinsame Mahlzeiten, vielleicht Spaziergänge im Park, in den Gärten der Vorstadt. Diese Aussichten blendeten sie. Aber zugleich spürte ich, daß sie mit der Angst kämpfte, denn ich glaube, ein instinktives unerklärliches Mißtrauen trübte diese glitzernden Aussichten. Sie wußte nicht, was sie sagen oder tun sollte, wie sich entscheiden. Sie zauderte und hielt sich zurück. Ich hätte ihr am liebsten zugerufen: »Nein! Nimm nicht an!« Oh, ich konnte mir dieses vorgegaukelte Wohlleben deutlich vorstellen. Schwere Arbeit, abgeschlossen von der Außenwelt, ständige Nörgeleien, abgenagte Knochen und verdorbenes Fleisch lieblos diesem armen ohnmächtigen Geschöpf hingeworfen. Ein Höhepunkt quälerischer Ausbeutung! Ich wollte schreien: »Hör nicht länger zu, bring dich in Sicherheit!« Aber diese Worte erstarben auf meinen Lippen.
»Kommen Sie näher, meine Kleine«, befahl die Alte. »Oder haben Sie am Ende Angst vor mir? Fürchten Sie nichts, hören Sie! Wie merkwürdig: plötzlich erscheinen Sie mir weniger häßlich, schon gewöhne ich mich an Ihr Gesicht!«
Louise kam langsam näher, sehr steif, ängstlich darauf bedacht, nirgends anzustoßen. Aber kaum war sie bei der Alten angekommen, als diese sie mit einer Grimasse des Ekels zurückstieß.
»Mein Gott!« schrie sie, »was ist denn mit Ihnen los? Warum riechen Sie so entsetzlich? Haben Sie irgend etwas Faulendes in Ihrem Körper? Es ist ja fürchterlich! Unglaublich! Niemals habe ich etwas ähnlich Abscheuliches gerochen. Haben Sie vielleicht Nasenkrebs, oder kommt der Gestank aus dem Magen?«
Madame Paulhat-Durand sagte mit einer noblen Geste:
»Ich habe Sie gewarnt, Madame. Das ist ihr großer Fehler, das hindert sie, eine gute Stelle zu finden.«
Die Alte ächzte:
»Mein Gott! Mein Gott! Ist denn so etwas möglich? Sie werden mir ja das ganze Haus verpesten. Nein, nein, ich könnte Sie nicht in meiner Nähe dulden – so etwas! Das ändert augenblicklich unsere Bedingungen. Ich begann schon Sympathien für Sie zu empfinden, aber jetzt. Nein, nein, bei all meiner Güte, das ist einfach unmöglich!«
Sie hatte ihr Taschentuch hervorgezogen und wedelte damit den üblen Atem der Ärmsten davon:
»Schrecklich, wirklich schrecklich, ich hätte so etwas nie für möglich gehalten!«
Madame Paulhat-Durand beschwichtigte:
»Machen Sie doch den Versuch, Madame! Ich bin sicher, daß dieses unglückliche Mädchen Ihnen immer dankbar sein wird.«
»Dankbar? Schön und gut, aber diese Dankbarkeit wird das Geschöpf nicht von dieser scheußlichen Krankheit befreien. Mein Gott! Daß es so etwas gibt. Na, meinetwegen! Natürlich mehr als zehn Franc kann ich Ihnen nicht geben. Zehn Franc! Annehmen oder abtreten!«
Louise, die bis jetzt ihre Tränen zurückgehalten hatte, weinte laut auf:
»Nein, ich will nicht – ich will nicht ...!«
»Hören Sie, Mademoiselle«, sagte Madame Paulhat-Durand kurz und trocken, »entweder Sie nehmen diese Stelle jetzt an, oder ich kümmere mich nie mehr um Sie! Da müssen Sie es schon in anderen Vermittlungen versuchen. Jetzt habe ich nämlich die Nase voll! Übrigens, gehen Sie nur, Sie schaden sowieso nur meinem Haus.«
»Sehr richtig!« nickte die Alte, »und für die zehn Franc müßten Sie sich noch bei mir bedanken. Ich gebe sie Ihnen aus Mitleid, aus purer Güte! Verstehen Sie denn gar nicht, daß ich damit ein gutes Werk tue, das mich, wie alle anderen, eines Tages reuen wird?«
Dann wandte sie sich an die Vermittlerin:
»Sehen Sie, meine Liebe, so bin ich eben! Ich kann die Armen nicht leiden sehen, ich bin ganz dumm, wenn es sich um Unglückliche handelt. Und in meinem Alter werde ich mich kaum noch ändern, nicht wahr? Also, Kleine, ich nehme Sie mit!«
Während dieser Worte bekam ich einen Krampf im Bein und war gezwungen, von meinem Beobachtungsposten hinunterzusteigen. Ich habe Louise niemals wiedergesehen.
Am übernächsten Vormittag forderte mich Madame Paulhat-Durand sehr zeremoniell auf, in ihr Büro zu kommen. Und nachdem sie mich eine Weile auf unbegreifliche Weise gemustert hatte, fragte sie:
»Mademoiselle Célestine, ich habe eine gute – eine ausgezeichnete Stelle für Sie. Aber Sie müßten in die Provinz gehen. Oh, nicht sehr weit.«
»In die Provinz? Sie wissen doch, daß ich mich darum nicht reiße!«
Die Vermittlerin fuhr fort:
»Die Provinz ist viel zuwenig bekannt. Es gibt hervorragende Stellen in der Provinz.«
»Hervorragende Stellen? Das ist ein Witz!« fiel ich ihr ins Wort. »Nirgends gibt es hervorragende Stellen, und schon gar nicht in der Provinz.«
Madame Paulhat-Durand lächelte katzenfreundlich, aber ein wenig verkrampft. So hatte ich sie noch nie lächeln gesehen.
»Ich muß Ihnen widersprechen, Mademoiselle Célestine, es gibt überhaupt keine schlechten Stellen!«
»Zum Teufel! Da habe ich entschieden mehr Erfahrung. Es gibt eigentlich nur schlechte Herrschaften!«
»Nein, ich muß Sie verbessern, nur schlechte Domestiken. Schauen Sie. ich empfehle Sie meistens in die besten Häuser, aber ist es meine Schuld, wenn Sie sich nirgends halten? Ich verstehe nicht, was Sie wollen!«
Sie blickte mich direkt freundschaftlich an.
»Da Sie intelligent sind, Mademoiselle, ist die Sache um so unverständlicher. Sie sind eine attraktive Person, haben ein hübsches Gesicht, eine ausgezeichnete Figur, wunderhübsche Hände, die von der Arbeit nicht verdorben sind, und Ihre Augen verstecken Sie auch nicht in Ihrer Tasche. Eine Person wie Sie könnte leicht Glück haben! Gar nicht auszudenken, welches Glück Sie bei guter Führung finden könnten!«
»Sie meinen wohl – ein wenig Verführung?«
»Es kommt darauf an, wie man die Dinge sieht. Ich nenne es gute Führung.«
Nach und nach gab sie ihre Betulichkeit auf und ließ die Maske fallen. Schon habe ich nur noch die ehemalige Kammerzofe vor mir, eine mit allen Infamien ausgerüstete Kanaille. Als sie sich so allmählich entpuppte, bekam sie plötzlich Augen wie ein Schwein, ihre Bewegungen wurden rund und weich, ihre Lippen gaben den typischen Schmatzlaut von sich, den man häufig bei Kupplerinnen vernimmt und den ich auch bei Madame Rebecca Ranvet, Damenmoden, festgestellt hatte. Sie wiederholte:
»Wie gesagt, Mademoiselle, ich nenne das gute Führung.«
»Das? Was?«
»Nicht so kritisch, Mademoiselle. Sie sind doch bei Gott keine Anfängerin, Sie kennen das Leben! Mit Ihnen kann man reden. Ohne Getue. Also! Es handelt sich um einen alleinstehenden Herrn, nicht mehr ganz jung eben ein älterer Herr. Nicht sehr weit von Paris. Sehr reich – na ja, sagen wir ziemlich reich. Sie würden ihm das Haus führen, sozusagen als Hausdame, verstehen Sie? Das sind sehr gesuchte Stellen, die man nicht jeder anbieten kann, Stellen, die viel Profit versprechen. Das würde für eine Frau wie Sie, intelligent und reizend wie Sie sind, unter Umständen eine gesicherte Zukunft bedeuten, wenn Sie sich, ich muß es wiederholen, zu einer guten Führung entschließen.«
So ein Angebot war schon lange mein Ziel. Wie oft hatte ich von einem Verhältnis mit einem Alten und einer daraus resultierenden sorglosen Zukunft geträumt. Nun wäre dieses erträumte Ziel vorhanden, dicht vor meinen Augen, es lächelte mir zu, lockte mich an! Aber aus einer unerklärlichen blödsinnigen Laune heraus, aus einer unheilvollen Inkonsequenz, deren Grund ich mir bis heute nicht erklären kann, lehnte ich das erträumte Glück einfach ab.
»Ein alter Lebemann? Ein blöder Lustgreis, besser gesagt! O nein. So etwas habe ich gerade hinter mir, pfui Teufel! Ich habe genug von den Männern, sie ekeln mich an, die alten wie die jungen, einfach alle!«
Madame Paulhat-Durand erstarrte. Diesen Ausgang hatte sie nicht erwartet. Doch aalglatt wie sie war, glitt sie schnell wieder in die Rolle der korrekten Bürgerin, die sie gewählt hatte, um die Distanz zwischen ihr und mir, der leichtsinnigen Bummlerin, zu unterstreichen. Sie sagte:
»Aber Mademoiselle! Ich muß schon bitten! Was glauben Sie eigentlich? Was denken Sie von mir? Und was bilden Sie sich eigentlich ein?«
»Ich bilde mir gar nichts ein. Nur, und das muß ich wiederholen, sagte ich, daß ich von den Männern die Nase voll habe und damit basta.«
»Wissen Sie überhaupt, was Sie reden? Dieser Herr ist ein sehr geschätztes Mitglied der Gesellschaft von Saint-Vincent-de-Paul, er ist Royalist! Deputierter, Mademoiselle!«
Ich lachte ihr ins Gesicht.
»Ja, ja, ich kenne Ihre Saint-Vincent-de-Paul und alle anderen verdammten Heiligen – und Ihre Deputierten dazu. Nein, danke!«
Plötzlich, wie in einer Eingebung, schaltete ich um.
»Also schießen Sie los! Was ist das für ein Kerl, Ihr Alter«, fragte ich, »einer mehr oder weniger – ist ja egal, meiner Treu! Was macht mir das schon aus nach allem!«
Aber Madame Paulhat-Durand fiel darauf nicht herein. Sie erklärte entschlossen:
»Ich bedaure, Mademoiselle, Sie sind nicht die vertrauenswürdige Person, die dieser Herr sucht. Ich hätte Sie für klüger gehalten. Offenbar kann man sich auf Sie nicht verlassen.«
Ich gab nicht nach, wurde zudringlicher, aber Madame blieb bei ihrem Nein. Mit sehr bedrückter Seele kehrte ich in das Wartezimmer zurück. Ach, dieses trostlos dunkle, gleichmäßig unerfreuliche Wartezimmer! Tag für Tag dasselbe! Auf den Bänken hockende Mädchen! Zur Schau gestellt wie auf einem Sklavenmarkt. Eine Auslage Menschenfleisch für gierige Bürgersfrauen. Flut und Ebbe in nie endendem Gewoge von Elend und Schmutz, es spült uns hinaus und wieder hinein, wie wehrlos umhergeworfenes Strandgut, wie ewige Schiffbrüchige ...
»Was bist du doch für ein komisches Geschöpf!« dachte ich mir. »Immer erträumst du und erwünschst du dir glühend bestimmte Dinge – solange sie dir unerreichbar vorkommen. Aber wird dir die Verwirklichung plötzlich geboten, ist die Erfüllung plötzlich ganz nahe, dann zuckst du zurück und willst nicht mehr.«
Auch in der heutigen Ablehnung traf das ein. Nur das? Nein, mich reizte es, der verhaßten Madame Paulhat-Durand ein Schnippchen zu schlagen, ihr nach Gassenbubenart eins auszuwischen. Es war eine berauschende Genugtuung für mich, sie, die uns alle immer so verächtlich und hochnäsig behandelte, bei der Kuppelei zu ertappen.
Jetzt tat es mir leid um den unbekannten Alten, der vielleicht das unerreichbare Ideal verkörpert hätte. Und ich begann mir eine Zeitlang diesen Menschen vorzustellen, sicher ein gepflegter Sechziger mit weißen Händen und einem freundlichen Lächeln in seinem rosigen, glattrasierten Gesicht, heiter und großzügig, nett und gutmütig, und durchaus bereit, sich von mir kommandieren zu lassen wie ein kleiner Hund.
»Kommen Sie her! Kommen Sie doch!« und er würde kommen, zärtlich, folgsam, mit einem ergebenen Blick.
»Nun machen Sie einmal schön!«
Und er würde brav Männchen machen, sich auf seinen Podex setzen und mit den Pfoten in der Luft herumrudern.
»Oh, der brave Hund!«
Und ich würde ihm Zucker geben und sein weiches Fell kraulen. Dieses Spiel gefiel mir. Ich dachte weiter:
»Bin ich nicht dumm? Ein gutes Hündchen, ein schöner Garten, ein schmuckes Haus, Geld, Geborgenheit, die gesicherte Zukunft – und das alles habe ich abgelehnt! Bin ich nicht ein kleines Schaf? Abgelehnt, ohne zu wissen warum! Niemals werde ich wissen, was ich will, und niemals werde ich wissen, was ich mir wünsche oder nicht wünsche! Ich habe mich jahrelang so vielen Männern hingegeben, doch im Grunde lassen sie mich kalt, sie sind mir sogar verhaßt, vorausgesetzt, daß ich weit genug von ihnen entfernt bin. Aber sobald ich einen Mann in meiner Nähe spüre, lasse ich mich greifen wie ein krankes Huhn. Dann bin ich jeder Gemeinheit fähig. Ich bin nur standhaft gegen Dinge, die niemals eintreffen und gegen Männer, die ich nicht kenne. Ich glaube, ich werde nie richtig glücklich sein.«
Das Vorzimmer deprimierte mich an diesem Tag schrecklich. Diese herumhockenden Mädchen, die ganze Atmosphäre des Raumes lastete einfach auf mir. Ohne die Sperrstunde abzuwarten, verließ ich schweren Herzens und mit zugeschnürter Kehle das niederdrückende Milieu. Auf der Treppe begegnete ich Monsieur Louis. Er zog sich am Geländer schwerfällig und langsam Stufe für Stufe hinauf. Einen Augenblick lang sahen wir uns in die Augen. Er sagte nichts, ich auch nicht, wir fanden beide keine Worte, aber mit unseren Blicken sagten wir uns alles. Ach! Auch er war nicht glücklich. Eine Weile horchte ich auf seine Schritte, während er mühselig hinaufstieg, dann jagte ich die Treppen hinunter. Armer alter Kerl!
Auf der Straße blieb ich taumelnd und irgendwie benommen stehen. Ich suchte mit den Blicken die Liebesanwerberinnen, den runden Rücken, das schwarze Kleid von Madame Rebecca Ranvet. ich sah sie nicht. Ach, ich weiß, wenn ich sie gesehen hätte, wäre ich ihr gefolgt und hätte mich ihr ausgeliefert. Aber niemand war da, den ich kannte, die Leute gingen vorüber, hastig, gleichgültig, sie achteten nicht auf mein Elend. Dann kaufte ich mir bei einem Schenkwirt eine Flasche Schnaps, und nachdem ich eine Zeitlang stumpfsinnig durch die Straßen flaniert war, ziellos, mit dumpfem Schädel, landete ich endlich in meinem Hotel. Spät am Abend klopfte es an meine Tür. Ich lag lang ausgestreckt auf meinem Bett, halb nackt, fast betrunken.
»Wer ist da?« schrie ich.
»Ich bin es ...«
»Wer?«
»Der Kellner ...«
Ich kroch aus dem Bett, mit nackten Brüsten, zerrauften Haaren, die mir bis auf die Schultern hingen, und öffnete die Tür:
»Was willst du?«
Der Kellner lächelte. Ein großer rothaariger Kerl, der einen Zipfel seiner Schürze zwischen seinen großen Fingern drehte. Ich war ihm schon öfters im Treppenhaus begegnet, und er sah mich dabei immer ganz merkwürdig an.
»Was willst du?« wiederholte ich.
Er lächelte verwirrt und strich mit der dicken Hand über seine blaue, von Ölflecken bedeckte Schürze. Er stammelte:
Mit stumpfen begehrlichen Blicken starrte er auf meine Brüste, meinen halbnackten Bauch, von dem das Hemd über die Rundung der Hüften herabgeglitten war.
»Also komm schon herein, du Tier!« schrie ich plötzlich.
Gleichzeitig stieß ich ihn ins Zimmer und warf die Tür heftig hinter uns zu.
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß man uns beide am nächsten Morgen total betrunken im Bett überraschte. Und in welcher Lage! Der Kellner wurde entlassen. Ich kannte nicht einmal seinen Namen.
Ich möchte meine Berichte über Madame Paulhat-Durand nicht beenden, ohne noch einen letzten für das Dienstbotendasein so typischen Fall zu erzählen. Es handelt sich um einen armen Teufel, einen Gärtner, der seit vier Monaten verwitwet und schon lange auf Arbeitssuche war. Unter all den erbarmungswürdigen Gestalten, die ich in jenem Büro im Laufe der Zeit zu sehen bekam, gab es keine, die so jämmerlich und so vom Leben zu Boden gedrückt wirkte wie er. Seine Frau war an einer Fehlgeburt – wenn es wirklich eine war! – gestorben, einen Tag bevor sie nach zwei bitteren Hungermonaten endlich eine neue Stelle antreten sollten, sie als Magd und er als Gärtner. Sei es Pech, sei es Ungeschicklichkeit oder Lebensüberdruß, er hatte seit jenem traurigen Ereignis keine Anstellung mehr gefunden. Vermutlich hat er niemals richtig gesucht. Seine kleinen Ersparnisse waren in der arbeitslosen Zeit bald geschwunden. Obwohl er ungewöhnlich verschlossen wirkte, schien ich ihm Zutrauen einzuflößen. Daraus ergab sich ein Kontakt. Ich möchte in unpersönlicher Form das einfache und doch so erschütternde Drama schildern, von dem er mir berichtete, als ich ihm an einem Tag mehr Anteilnahme als sonst bezeugte. Und nun seine Geschichte:
Als sie alles besichtigt hatten, die Gärten, die Terrassen, die Glashäuser und gleich neben dem Park das von Efeu und wildem Wein umwucherte Gärtnerhäuschen, begaben sie sich schüchtern und erwartungsvoll, ohne ein Wort zu sprechen, zu dem Rasenplatz, wo sich die Hausherrin mit ihren Kindern aufhielt. Die Gräfin verfolgte mit zärtlichen Blicken das Spiel ihrer Kinder, die unter Aufsicht ihrer Gouvernante auf dem Rasen herumtollten. Zwanzig Schritte davon entfernt blieb das arbeitssuchende Ehepaar respektvoll stehen, der Mann barhäuptig, mit der Kappe in der unruhigen Hand, die Frau eingeschüchtert und gehemmt unter ihrem schwarzen Strohhut und in ihrem schwarzen Wollkleid, sichtlich um sich Haltung zu geben, den Henkel ihrer kleinen Ledertasche in den Händen drehend. In der Ferne zogen sich unter mächtigen Baumgruppen die sanftgewellten Rasenflächen dahin.
»Nun, tretet näher!« sagte die Gräfin in gütigem, aufmunterndem Ton.
Das Männergesicht war sonnengebräunt, die Hände waren knotig, erdfarben und hatten vom jahrelangen Umgang mit Werkzeugen deformierte Fingerkuppen. Die Frau dagegen wirkte blaß unter den vielen Sommersprossen, die ihr Gesicht übersäten, auch ein wenig linkisch und sehr sauber. Sie wagte nicht, die Augen zu der schönen Dame zu erheben, die ihnen sogleich indiskrete Fragen stellen würde, wie es bei schönen Damen üblich war. Verzaubert starrte sie auf das reizende Bild der drei spielenden Kleinkinder, deren Bewegungen von merkwürdiger Grazie waren. Zaudernd und langsam kamen sie einige Schritte näher und kreuzten mechanisch und gleichzeitig die Hände auf dem Bauch.
»Nun ...« fragte die Gräfin, »habt ihr euch alles angesehen?«
»Frau Gräfin sind zu gütig«, antwortete der Mann, »alles ist sehr groß, sehr, sehr schön. Oh! das ist ein herrlicher Besitz! Das gibt allerhand Arbeit.«
»Ich bin sehr anspruchsvoll, das sage ich Ihnen gleich, und sehr gerecht – aber eben sehr anspruchsvoll. Ich wünsche, daß alles tadellos instand gehalten wird – und Blumen, Blumen, Blumen überall! Übrigens erhalten Sie zwei Hilfskräfte im Sommer und eine Hilfskraft für den Winter, das genügt.«
»Oh!« beteuerte der Mann, »die viele Arbeit stört mich nicht. Je mehr es zu tun gibt, desto zufriedener bin ich. Ich liebe meine Arbeit, und ich verstehe mich darauf. Blumen, Bäume, Frühgemüse, Blumenbeete verlangen starke Arme und Geschmack, Wasser, gute Erde und, wenn Frau Gräfin gestatten das zu sagen, guten Mist, mit viel Dung erreicht man allerhand.«
Nach einer Pause fuhr er fort:
»Meine Frau ist auch sehr tüchtig und sehr geschickt, sie versteht mit ihren Kräften umzugehen. Ja, nur sieht sie nicht gerade sehr kräftig aus, aber sie ist zäh, niemals krank und auf die Pflege der Tiere versteht sie sich wie kaum eine andere. Wo wir zuletzt in Stellung waren, gab es drei Kühe und zweihundert Hühner.«
Die Gräfin nickte zustimmend und fragte dann:
»Die Wohnung gefällt euch?«
»Die Wohnung ist auch sehr schön, ein bißchen zu groß für uns kleine Leute. Wir haben nicht genug Möbel für alle Räume, aber wir werden nur möblieren, was wir können, natürlich. Sie ist auch vom Schloß weit genug entfernt, das gehört sich so. Die Herrschaften lieben es nicht, wenn die Gärtner zu nahe wohnen, und unsereins möchte ja auch nicht stören, so bleibt jeder für sich, und das ist besser für alle. Nur ...«
Er zauderte, scheute plötzlich zurück vor dem, was er fragen wollte.
»Nur? Was, nur?« fragte die Gräfin nach einem Schweigen, das die Verwirrtheit des Mannes noch erhöhte. Er knetete verlegen mit den Händen seine Kappe, und dann sagte er entschlossen:
»Das ist nämlich so, Frau Gräfin, ich wollte darauf aufmerksam machen, daß die Bezahlung nicht hoch genug für die Stellung ist. Mit dem besten Willen kommt man da nicht aus. Frau Gräfin sollten etwas mehr bezahlen!«
»Anscheinend haben Sie vergessen, mein Freund, daß Sie freies Logis und Licht haben, dazu Obst und Gemüse. Ich gewähre ein Dutzend Eier pro Woche und pro Tag einen Liter Milch. Das ist doch enorm.«
»Ach ja. Frau Gräfin geben Milch und Eier und das Licht.«
»Und die Heizung.«
Er sah seine Frau fragend an, als wolle er bei ihr Rat holen, dabei murmelte er:
»Verdammt! Das ist schon etwas, dagegen läßt sich nichts einwenden, das ist gar nicht so übel.«
Die Frau stammelte:
»Sicher, das hilft etwas.«
Und dann zitternd und verschämt:
»Frau Gräfin geben sicherlich auch eine Weihnachtsgratifikation und Geschenke zum Saint-Fiacre-Tag?«
»Nein, nichts.«
»Aber es ist üblich ...«
»Meine Gewohnheit ist es nicht.«
Dann erkundigte sich der Mann seinerseits:
»Und für die Wiesel, die Marder und die Iltisse, geben Sie da auch nichts?«
»Nicht das geringste. Aber ich lasse Ihnen die Felle!«
Das alles wurde so dezidiert gesagt, daß die beiden Leute sich nichts zu erwidern getrauten. Die Gräfin fuhr fort:
»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich meinem Gärtner verbiete, an irgendwen Gemüse zu verkaufen oder zu verschenken. Ich weiß sehr gut, daß man zuviel anbauen muß, um genügend zu haben und daß mitunter drei Viertel des Angebauten unverbraucht bleiben. In diesem Falle wünsche ich, daß man es verderben läßt. Um so besser!«
»Ja, ich weiß, so wird es überall gemacht.«
»Schön, und damit ist wohl alles klar? Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Seit sechs Jahren«, antwortete die Frau.
»Und noch keine Kinder?«
»Doch, wir hatten ein kleines Mädchen, es ist gestorben.«
»Gut so, sehr gut«, sagte die Gräfin zustimmend. »Aber ihr seid beide noch jung, ihr könnt doch noch welche bekommen?«
»Das wünschen wir uns nicht, Frau Gräfin. Aber, meiner Treu, so etwas erwischt man leichter als hundert Taler Rente!«
Der Blick der Gräfin war streng geworden.
»Da mache ich Sie ebenfalls darauf aufmerksam, daß ich unter gar keinen Umständen fremde Kinder auf meinem Besitz dulde. Sollten Sie ein Kind erwarten, wäre ich gezwungen, Sie zu entlassen – sofort! Nur keine Kinder! Die schreien, laufen herum, machen alles kaputt, sie machen die Pferde scheu und schleppen Bazillen ins Haus. Nein, nein, auf keinen Fall würde ich ein fremdes Kind auf meinem Besitz haben wollen! Also, nun wissen Sie Bescheid, richten Sie sich danach, treffen Sie Ihre Vorsichtsmaßnahmen!«
In diesem Augenblick kam eines der kleinen Kinder, das gestürzt war, schreiend und weinend herbeigelaufen, um bei der Mutter Trost zu suchen. Sie nahm es in ihre Arme, wiegte es unter zärtlichen Worten, besänftigte es, umarmte es voll Liebe und schickte es lächelnd zurück zu den beiden anderen auf dem Rasen. Die andere, die arme Frau, fühlte ihr Herz schwer werden. Sie glaubte, sie werde ihre Tränen nicht länger zurückhalten können. Gab es also wirklich Freude, Zärtlichkeit und Glück der Mutterliebe nur für die Reichen? Die Aristokratenkinder spielten wieder ruhig auf dem Rasen, sie aber fühlte einen wilden Haß in sich aufkeimen, sie hätte diese Kinder schlagen, verfluchen oder umbringen können, verfluchen und schlagen auch diese hartherzige, hochmütige Dame, deren grausame Worte ihre eigene Leibesfrucht dazu verdammte, nach Willen dieser egoistischen Mutter nicht geboren zu werden. Aber sie riß sich zusammen und erwiderte auf diese neue unbarmherzige Anordnung mit den einfachen Worten:
»Wir werden aufpassen, Frau Gräfin, wir werden es versuchen.«
»Hoffentlich, denn ich kann Ihnen gar nicht deutlich genug einprägen, es ist ein Prinzip von mir, das ich niemals aufgeben werde.«
Und in einem fast schmeichlerischen Tone setzte sie hinzu:
»Übrigens, glauben Sie mir, wer nicht reich ist, sollte lieber keine Kinder haben!«
Und der Mann, um seiner künftigen Herrin zu gefallen, fügte hinzu:
»Sehr wahr, sehr wahr. Die Frau Gräfin hat bestimmt recht!«
Aber sein dunkler, wilder Blick strafte die Wahrheit seiner letzten Worte Lügen. Der Haß in ihm wuchs. Es blitzte aus seinen Augen, sie sah es nicht. Sie konnte dieses mörderische Aufblitzen nicht sehen, weil sie instinktiv ihren Blick auf den Leib der Frau gerichtet hatte, den sie soeben zur Unfruchtbarkeit oder zum Kindermord verurteilt hatte.
Man wurde handelseinig. Die Gräfin erklärte in allen Einzelheiten, was sie von der Arbeit des Gärtnerehepaares erwartete. Als sie die beiden mit einem herablassenden Lächeln verabschiedete, fragte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch aufkommen ließ:
»Ich hoffe, Sie sind beide gläubig? Hier geht man sonntags zur Messe und zu Ostern zur Kommunion. Darauf bestehe ich.«
Die beiden entfernten sich und machten sich stumm und nachdenklich auf den Heimweg. Die Straße war staubig, die Hitze drückend, und die arme Frau kam nur mühsam vorwärts. Schließlich blieb sie keuchend stehen, stellte ihre Tasche zu Boden und hakte ihr Korsett auf.
»Uff!« sagte sie und atmete in tiefen Zügen die Luft ein.
Und ihr fest eingeschnürter Leib dehnte sich jetzt und schwoll und verriet ihren Makel und ihr Verbrechen: sie war schwanger. Sie setzten ihren Weg fort.
Ein wenig später kehrten sie auf der Straße in eine Herberge ein und bestellten einen Liter Wein.
»Warum hast du nicht gesagt, daß ich guter Hoffnung bin?« fragte die Frau ihren Mann.
»Du bist gut!« brauste er auf. »Damit sie uns expediert wie die drei anderen!«
»Ob heute oder morgen ...«
Da sagte der Mann zwischen den Zähnen:
»Wenn du eine Frau wärest, eine richtige Frau, dann gingest du heute abend zur Mutter Hurlot, die hat die richtigen Kräuter!«
Doch seine Frau begann zu weinen. Unter Tränen stieß sie hervor:
»Sag das nicht, sag das nicht! So etwas bringt Unglück!«
Da hieb der Mann auf den Tisch und schrie:
»Verdammte Heulerei! Dann müssen wir eben verrecken!«
Und das Unglück geschah. Vier Tage später erlitt die Frau eine Frühgeburt – wirklich eine Frühgeburt? – und starb unter schrecklichen Qualen an einer Bauchfellentzündung.
Als der Mann seinen Bericht beendet hatte, sagte er zu mir:
»Und da stehe ich nun ganz allein da, ohne Frau, ohne Kinder, ohne alles. Freilich habe ich daran gedacht, mich zu rächen. Ich hatte lange vor, die drei auf dem Rasen spielenden Kinder zu ermorden. Ich bin kein schlechter Mensch, aber ich schwöre Ihnen, ich wäre imstande gewesen, die drei Kinder dieser Dame mit Freuden zu erdrosseln – jawohl, mit Freuden! Ja, und dann habe ich es doch nicht gewagt. Was wollen Sie? Man hat Angst, man ist feige, man hat nur noch Kraft zum Leiden!«