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Auf dem Hofe und in dem Park hatte sich in den letzten sechzehn Jahren verhältnismäßig wenig geändert. Nur Ordnung und Sauberkeit waren hergestellt. Keine einzige aber der von dem Baron Joachim von Scherben geplanten größeren, sogenannten Verbesserungen war zur Ausführung gelangt. Auch die beiden Zwillingshäuschen neben der Einfahrt in den Park hatten keine andere Wandlung erfahren, als eine solche von dem Entschwinden der Zeit bedingt war. Nach wie vor lebte in dem einen die nunmehr siebenzig und einige Jahre alte Frau Gertrud Blister still und ungestört; nach wie vor bearbeitete neben dem anderen der bereits etwas ergraute Kunibertus Velten mit Gesellen und Lehrburschen das sprühende Eisen.
Wohl hatte der Baron Joachim es anders im Sinne gehabt und das Äußerste ausgeboten, um die Bewohner der Zwillingshäuschen aus seinen Augen zu schaffen; allein er stand davon ab, nachdem ihm ein Schriftstück vorgelegt worden, das, von der ersten Frau seines Vaters rechtsgültig ausgestellt, Gertrud Blister die freie Nutznießung der beiden Häuser auf Lebenszeit sicherte. Sein Versuch, die Todeserklärung der Angehörigen seines verstorbenen Stiefbruders zu erwirken, scheiterte ebenfalls. Denn er hatte kaum den ersten Schritt dazu getan, als ihm von Rechts wegen eine auf dem Hofe lastende, übermäßig schwere Schuldverschreibung nebst Berechnung der rückständigen Zinsen vorgelegt wurde, die auf dem Wege einer mißglückten Spekulation, wie es hieß, in den Besitz eines Juden übergegangen war.
Zehn Jahre waren verstrichen, seitdem der Baron zum ersten Male den Hof zum Sommeraufenthalt wählte; zehn Jahre, in denen man sich an Blisterchens und der geräuschvollen Schmiede Nachbarschaft gewöhnt hatte. Zehn Jahre, in denen der junge Joachim mit Unica und Amandus eine herzliche Freundschaft geschlossen hatte, die allen dreien die heitersten Genüsse gewährte, und gegen die weder der Baron noch seine Frau Einwendungen erhoben. Die Freundschaft befestigte sich in demselben Maße, in dem die heranwachsenden Kinder häufiger und auf längere Zeit voneinander getrennt wurden. Denn auch Unica und Amandus weilten schließlich – zu der Frau Meisterin Leid, zu Kunibertus' Stolz – nur besuchsweise auf den Stätten ihrer geschwisterlichen Kinderspiele. Erstere war nämlich auf Anordnung ihres Vormundes, des rätselhaften Juden, den die Schmiedsleute im stillen als in näherer Beziehung zu Unica stehend betrachteten, nach der Hauptstadt in eine Erziehungsanstalt gebracht worden, wo sie eine sehr sorgfältige Ausbildung genoß. Amandus dagegen bereitete sich zur gleichen Zeit in der Ferne zum Besuch der Universität vor, wozu aus der gleichen Quelle, aus der die Mittel für Unica geschöpft wurden, ein nennenswerter Zuschuß beigesteuert wurde. Woher das Geld hier wie dort stammte, wußte Blisterchen nur allein, während Kunibertus den auf ihn entfallenden Anteil als eine Vergütung für Unicas treue Pflege ausgezahlt erhielt und dankbar in Empfang nahm. Selbst als Joachim nach Ablauf jener zehn Jahre bei einem Kavallerie-Regiment eintrat und zum ersten Male als Offizier auf dem Hofe erschien, herrschte noch immer die alte Einmütigkeit zwischen den drei Gefährten.
Zwei Jahre gingen weiter dahin. Amandus war längst Student. Ebenso hatte Unica allen Hoffnungen und Erwartungen entsprochen, wozu nicht wenig der Einfluß einer jungen Jüdin, Esther Baruch, beitrug, die, in der gleichen Anstalt mit ihr, obwohl um mehrere Jahre älter und ihr weit voraus, sich doch mit inniger Freundschaft ihr zuneigte.
Herberen Erfahrungen waren der Baron und seine Frau unterworfen gewesen. In den beiden ersten Jahren seines Soldatenlebens hatten nämlich Pferdeliebhaberei, Rennbahn und vor allem das Spiel ihren Sohn dahin gebracht, daß sie, um ihn zu halten, gezwungen waren, den beinah dritten Teil ihres Vermögens zu opfern.
Und abermals zwei Jahre entschwanden, und abermals schwebte über Joachims Haupt ein Verhängnis, das zu beseitigen die Hälfte des dem Baron gebliebenen Vermögens kaum genügte. Bezahlt mußte indessen werden, mochte die Notwendigkeit den Baron noch so tief beugen, ihm sogar, im Vergleich mit früheren Tagen, peinliche Einschränkungen auferlegen. Doch wo erreicht die Langmut der Eltern ihre Grenzen? Nur kurze Zeit beharrte der Baron auf seinem Entschluß, Joachim in einen anderen Beruf einzuführen. Dann gab er dem Bitten und Drängen der Mutter nach, jedoch erst, nachdem Joachim die bindendsten Versprechungen gegeben hatte, jeder Art von Spiel endgültig zu entsagen. Zerknirscht kehrte er in seine Garnison zurück.
Wiederum gesellten sich ein paar Jahre der Ewigkeit bei, als zwei Ereignisse eintraten, die Kunibertus für würdig hielt, mit besonderem Fleiß in seinen Kalender einzutragen. Zunächst hatte Amandus sein Examen bestanden und war als Assistenzarzt in die Armee eingetreten. Dann war der Tag gekommen, an dem Unica, nunmehr beinah achtzehn Jahre alt, die Anstalt zum letzten Male verließ, um für immer zu den Ihrigen heimzukehren. Wie sonst stets, hieß man sie auch jetzt unter Freudentränen willkommen. Außerdem aber wurde sie dadurch überrascht, daß man in Blisterchens Häuschen eine besondere, zwar kleine, dafür aber um so reicher und freundlicher ausgestattete Wohnung für sie eingerichtet hatte.
Doch ob hier oder im Schmiedehause: überall gab sie sich noch ebenso bescheiden, wie damals, als sie, um einen Blick über den großen Familienklapptisch zu werfen, sich noch auf die Zehenspitzen erheben mußte. Verschiedenartig aber, wie die Bewohner der beiden Häuschen in manchen Anschauungen sein mochten: in Einem begegneten sich die Neigungen aller, ihre Hoffnungen, Sorgen und Freuden, und das war Unica Velten, die Schmiedstochter, der Liebling aller, die je in Verkehr mit ihr traten.
Ein klarer Spätsommertag neigte sich seinem Ende zu und weithin verlängerten sich auf den sorgsam geschorenen Rasenflächen die Schatten der ehrwürdigen Parkbäume, als Unica die Rampe des Herrenhauses leichten Schrittes verließ und um den mit malerischen Strauchgruppen und nunmehr wieder ausgeheilten Bildwerken aus der Rokokozeit reich geschmückten Rasenplatz herum die Richtung nach dem Torwege zwischen den beiden Zwillingshäuschen einschlug. Ein Paket Briefe, das dem Baron aus der Stadt nachgeschickt und von dem Postboten in der Schmiede hinterlassen worden war, hatte sie nach dem Hofe hinübergetragen und gewohnheitsmäßig dem Baron eigenhändig übergeben. Ein einfach gearbeitetes Kattunkleid und eine weiße Latzschürze schienen zu bezeugen, daß sie vor dem Gange mit häuslichen Arbeiten beschäftigt gewesen war.
Sie wollte eben in die breite Kastanienallee einbiegen, als hinter einer der deren Mündung begrenzenden umfangreichen Strauchgruppen schnelle Schritte vernehmbar wurden. Gleich darauf trat ein beinah mädchenhaft schlankgewachsener junger Mann in Husarenuniform in ihren Gesichtskreis.
In der Richtung, die Unica eingeschlagen hatte, stehen bleibend, wartete er, bis sie, vor ihm eingetroffen, gerade weit genug auswich, um ihn nicht zu berühren. Dann schritt er neben ihr einher, unbekümmert darum, daß sie ihn mit unverkennbarer Absichtlichkeit nicht beachtete.
»Seit wann ist es Sitte, daß man einen alten Freund und Spielkameraden nicht begrüßt?« fragte Joachim lachend, nachdem sie eine kurze Strecke schweigend nebeneinander gegangen waren.
Unica zuckte die Achseln und fragte gelassen zurück: »Seit wann ist es Sitte, Herr Baron, daß Damen einen Herrn zuerst begrüßen?«
»Zum Teufel, Unica, mit deinen Launen,« versetzte Joachim anscheinend sorglos, umfing aber die anmutige Gestalt verstohlen mit warmen Blicken, »wir kennen einander zu lange, um plötzlich steife Formen zwischen uns einzuführen. Ich liebte dich schon, als du noch nicht ins Backfischalter getreten warst, und heute stehen wir einander doch nicht ferner, als damals.«
»Aber auch nicht näher, Herr Baron,« antwortete Unica, während die Röte der blühenden Wangen sich bis zu ihren Schläfen hinauf ausbreitete, »und nähere Beziehungen müßten schon walten, sollte heut noch gelten, was beim Kinderspiel Brauch gewesen.«
»Wie du gescheit philosophierst,« meinte Joachim, seine wahren Empfindungen in das Gewand heiterer Überhebung kleidend, infolgedessen Unica ihm einen Blick des Spottes zuwarf, »ich dagegen behaupte: wir stehen heute genau so, wie wir immer gestanden haben als gute Freunde und Kameraden, und das lasse ich mir durch deine Launen nicht verkümmern. Nenne du mich nach Belieben, für mich bleibst du nach wie vor meine einzige, inniggeliebte Unica, neben deren Bild kein anderes in meinem Herzen Platz findet.«
Abermals zuckte Unica die Achseln. Sie sah in eine andere Richtung, und pünktlich floß als Erwiderung von ihren Lippen: »Und ich erkläre dem Herrn Baron, daß ich jede Anrede, die meinen Begriffen von Formen der Höflichkeit nicht entspricht – mag ich immerhin nur die Tochter eines Grobschmieds sein – unbeantwortet lasse und als nicht geschehen betrachte.«
»Das ist hart, Unica,« spöttelte Joachim erzwungen, und nunmehr färbte auch sein Antlitz sich tiefer, »trotzdem würde sich wohl noch ein Ausweg finden lassen. So viel erkläre ich dir indessen: gutwillig entsage ich meiner alten, lieben Gewohnheit nicht, und die ist am wenigsten Launen unterworfen, wie bei dir.«
Unica gab sich den Anschein, seine Worte nicht gehört zu haben. Das Haupt zurückwerfend, sah sie in den Wipfel des nächsten Kastanienbaumes hinauf, wie nach einem Specht suchend, der aus Leibeskräften an einem morschen Ast herumhämmerte.
Joachim betrachtete die holde Gefährtin wieder verstohlen. Bittere Enttäuschung, Verdruß und Bewunderung prägten sich in seinen Zügen aus. Er mochte sich fragen, ob sie in dem strafenden Trotz nicht reizvoller noch als in der Eigenschaft einer freundlich gesinnten, nachgiebigen Spielgenossin sei. Nachdenklich drehte er die Spitzen seines Schnurrbartes und sprach zögernd: »Unica –«
In seinen Augen flackerte es leidenschaftlich auf, als er gewahrte, daß diese nur noch schärfer in die breitverzweigte Baumkrone hineinspähte.
»Fräulein Velten,« begann er von neuem, und seine Stimme zitterte vor Erregung.
»Was steht dem Herrn Baron zu Diensten?« hieß es zurück.
»Ist das der Lohn dafür,« fragte Joachim herbe, »daß ich so lange hinter dem Boskett wartete, und zwar nur, um das gnädige Fräulein nach Hause zu begleiten? Seit meinem Eintreffen auf dem Hofe sahen wir uns nur zweimal flüchtig. Ich ertrug es nicht mehr, und nach der langen Trennung gibt es doch so viel zu erzählen. Bisher war das gegenseitige Vertrauen ein unbegrenztes. Ein ganzes Herz voll Not habe ich dir anzuvertrauen.«
Unica blieb stehen. Ruhigen Blickes maß sie den jungen Offizier von der farbigen Mütze bis herunter zu seinen bespornten Lackstiefeln.
»Herr Baron,« versetzte sie ernst, und um ihre Rosenlippen zuckte bekämpfte Entrüstung, »also draußen in einem Versteck warteten Sie auf mich? Freilich, so geschah es ja nicht zum erstenmal, mag ich bisher freundschaftlich darüber hinweggesehen haben. Wollten Sie mich sprechen, weshalb kamen Sie nicht in den Salon zu Ihren Eltern, während ich mich meines Auftrages entledigte?«
Joachim errötete.
»Unica, du kennst meine Eltern –«
»Das vertrauliche du verzeihe ich in diesem Falle,« unterbrach ihn Unica, »bitte aber, in Zukunft die mir gebührende Rücksicht walten zu lassen. Ja, ich kenne Ihre Eltern,« und die einmal aus dem Scheintode wachgerüttelte Leidenschaftlichkeit machte sich wieder in der zunehmenden Glut ihrer Wangen bemerklich, »ich kenne sie nur zu genau. Sie wußten, daß Sie Tadel zu gewärtigen hatten, wenn Sie unter deren Augen die nunmehr erwachsene Unica als Freundin begrüßten, wie damals, als die kleine Schmiedstochter noch als eine Art Spielzeug betrachtet wurde, gut genug, dem ungezogenen Junkerchen zum Zeitvertreib zu dienen. Was dem kleinen, lustigen Dinge eingeräumt wurde, paßt nicht mehr auf heute; das gaben Ihre Eltern mir eben noch deutlich zu verstehen, obwohl ich nicht als Dienstmagd kam, sondern aus Gefälligkeit. Machten sie mich aber mittelbar auf die zwischen uns bestehende Schranke aufmerksam, so ist es meine Pflicht, mit Ihnen ähnlich zu verfahren,« und langsamen, jedoch festen Schrittes und erzwungen sorglos um sich schauend, nahm sie ihren Gang wieder auf.
Joachim ging neben ihr einher, als hätte er seinen Sinnen nicht getraut. Er empfand sichtbar das Gerechtfertigte des Urteils über Verhältnisse, die sich bisher seinen Betrachtungen entzogen. Da er keine Entschuldigungsgründe anzuführen vermochte, suchte er zu beschwichtigen und den Vorwurf von sich selbst abzulenken.
»Ich wiederhole abermals, Unica,« sprach er mit Widerstreben, »du kennst meine Eltern –«
»Bitte, Herr Baron.«
»Nun denn, in des Teufels Namen,« polterte dieser, wie es auf Grund einer langjährigen vertraulichen Freundschaft erklärlich, »Sie kennen meine Eltern, aber auch mich; und Sie werden begreifen, daß wenn ich gezwungen bin, deren Schrullen zu berücksichtigen, dadurch in meiner aufrichtigen Zuneigung zu Ihnen nichts geändert werden kann. Ich liebe Sie, zu Ihnen gehöre ich, und wären Sie mit Ketten an den Himmel geschmiedet.«
Unica blieb wieder stehen. Ihre Augen funkelten.
»Sie wähnen, ich würde über mich ergehen lassen, wie eine verbotene Frucht behandelt zu werden?« fragte sie scharf. »O, Sie haben einen noch ungünstigeren Begriff von mir, als Ihre Eltern, ungünstiger, als ich es Ihnen je zugetraut hätte – bitte, lassen Sie mich aussprechen; nachher mögen Sie versuchen, mich eines Besseren zu belehren, wenn Sie den Mut dazu besitzen. Ich bin fest entschlossen, reinen Tisch zwischen uns zu schaffen. Schon seit Jahren trage ich mich mit diesem Gedanken; genau so lange, wie ich Demütigungen von harmlosen Launen zu unterscheiden verstehe. Vielleicht hätte ich noch länger mit meinen Offenbarungen gesäumt, wäre die Anregung dazu heute nicht von seiten Ihrer Eltern erfolgt. Das Maß war voll; es fehlte nur noch Ihre mittelbare Billigung des gegen mich beobachteten Verfahrens, um es zum Überfließen zu bringen.«
Joachim biß seine Lippen beinah blutig. Gewaltsam kämpfte er den sich in ihm aufbäumenden Hochmut nieder. Es gelang ihm angesichts der vor ihm stehenden, reizvollen Gestalt, und so fragte er anscheinend ruhig: »Wer hat Ihnen den Weg zu solchen Andeutungen gezeigt?«
»Mein eigener gesunder Menschenverstand,« antwortete Unica ebenso gelassen. »Um das Ungereimte, Lächerliche von dem Vernünftigen zu unterscheiden, dazu bedarf es keiner Belehrung von anderer Seite. Führte ich, wie ich hier gehe und stehe, den Titel einer Prinzessin, so würden die Herrschaften mir freilich ehrfurchtsvoller begegnen. Aber eine Prinzessin könnte nicht stolzer auf ihren Rang sein, als die einfache Schmiedstochter auf Hammer und Amboß. Auf eingebildete Vorrechte gebe ich nicht so viel, wie die paar toten Blätter hier im Wege wert sind.«
»Nicht nur meine Eltern und mich, sondern auch unseren Stand greifen Sie in beleidigender Weise an,« versetzte Joachim erbittert.
»Hätten Sie Ihre Worte zuvor überlegt, so würden Sie mit einer derartigen Bemerkung gewiß vorsichtiger gewesen sein,« hieß es mit einem Anfluge von Spott zurück. »Und was nennen Sie überhaupt Stand? Etwa die Glücksgüter Ihrer Eltern? O, mit denen werden Sie bald genug aufgeräumt haben, wie es heißt, und was dann, Herr Baron?«
Als Unica des möglichen Zerfließens der Glücksgüter gedachte, erbleichte Joachim. Er bedurfte der Zeit, um sich zu fassen. Dann sprach er mit eigentümlich veränderter, beinah ausdruckslos kalter Stimme: »Sie scheinen es darauf abgesehen zu haben, einen gänzlichen Bruch zwischen uns herbeizuführen.«
»Ich habe es darauf abgesehen, meine Würde zu wahren. Einem Fremden gegenüber würde ich weniger offenherzig gewesen sein. Ich hätte ihm einfach den Rücken gekehrt. Das zwischen uns bestehende Band der Freundschaft mußte zerrissen werden. Die langjährige Vertraulichkeit erleichterte es mir, mein wohlüberlegtes Vorhaben jetzt auszuführen.«
Joachim lachte mißtönend. Sein bleiches Antlitz verzerrte sich förmlich unter den in ihm wogenden Leidenschaften. Finstere Entschlossenheit sprühte aus seinen Augen, daß es Unica fast beängstigte. Aber als wäre unter den obwaltenden Eindrücken seine Willenskraft nur gewachsen, hob er eisig, tonlos an, wie jemand, der seinen letzten Preis auf eine Karte stellt:
»Unica, kaltblütig zerreißest du ein Band, geheiligt durch tausend freundliche Erinnerungen,« und dieses Mal unterließ Unica, die vertrauliche Anrede zu rügen. »Weiß Gott, Unica, ich hätte von unserer Freundschaft eher alles andere erwartet, als ein solches Ende. Aber du wirst dich besinnen – und wenn nicht, so wirst du es bereuen, mich mit Füßen getreten zu haben. Bricht ein Unglück auf mich herein, so magst du dir sagen, daß Manches durch dich hätte vermieden werden können.«
Unica richtete sich höher auf. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich ein wenig verändert. Doch was immer sie bewegen mochte: in diesen Minuten beherrschte sie nur allein die Erinnerung an die auf dem Hofe erfahrenen Demütigungen. Und so erklärte sie mit Entschiedenheit: »Ich habe Sie nur noch zu bitten, Ihre Eltern zu benachrichtigen, daß ich ihr Haus nie wieder betreten würde. Sie möchten daher nach den Briefen schicken. Wir in der Schmiede haben keine Zeit zu Dienstleistungen, die mit Demütigungen gelohnt werden.«
»Unica! Ist das dein letztes Wort?«
»Das letzte Wort.«
Höhnisch, feindselig lachte Joachim auf, so daß Unica sich abkehrte und ihren Weg langsam weiter verfolgte.
»Unica!« rief er zähneknirschend aus. Dann, als diese nicht auf ihn hörte, mit einer Stimme, in der sich Zorn, Verzweiflung und bitterer Vorwurf einten: »Unica – wenn du wüßtest –.« Wie über sich selbst erschrocken, brach er ab.
Finster sah er der Davonschreitenden nach, die ihn samt der Ursache ihres Zwistes gänzlich vergessen zu haben schien. Die Kündigung der langjährigen ungetrübten Freundschaft war das Letzte, was er für möglich gehalten hätte. Nicht die Ursachen, die hierzu führten, erwog er; nur allein die nackte Tatsache schwebte ihm vor, und die verwirrte ihn vollständig.
Er schritt auf den Hof zu. Das Haupt hatte er geneigt. Seine Züge waren bis zur Mattigkeit abgespannt; tiefer noch schienen die Augen in ihre Höhlen zurückgesunken zu sein.
Auch Unica flüsterte ihre nächsten Gedanken unbewußt vor sich hin; dazu sandten die guten blauen Augen ein Tränlein nach dem anderen über die blühenden Wangen nieder.
»Armer Junge,« hieß es da, »unendlich bedaure ich dich, aber es durfte dir nicht erspart bleiben. Weiß Gott, es ist mir schwer genug geworden; allein so fortgehen konnte es nicht länger, wollte ich nicht in meiner eigenen Achtung sinken. Armer Junge, wie du mir leid tust. Hatten deine Eltern etwa Mitleid mit mir?« Ihr Antlitz verlor plötzlich seine Weichheit. Beinah streng blickten ihre Augen. Mit einer heftigen Bewegung entfernte sie die Spuren der Tränen von ihren Wangen, und mehrere Nelken im Grase entdeckend, wandte sie diesen ihre Aufmerksamkeit ausschließlich zu.
Bald darauf trat sie in die Schmiedewerkstatt ein. Die Blumen ordnete sie in eine mit Wasser gefüllte, zerbrochene Flasche, die zu solchem Zweck auf dem schmalen, rußigen Fensterbrett stand. Sie mochte Blisterchens und ihrer Pflegemutter scharfe Blicke scheuen, die vielleicht mancherlei aus ihren Augen herausgelesen hätten, daß sie keine von ihnen aufsuchte, sondern noch in der Werkstatt blieb. Da aber Kunibertus mit seinen Gehülfen gerade eine entstehende Pflugschar im klingenden Dreitakt bearbeitete, schritt sie zur Esse hinüber, und die Hand in den verrosteten Steigbügel legend, zwang sie den Blasebalg zu seinen tiefsten Atemzügen.
Kunibertus schob das erkaltende Eisen in die Glut zurück, und während Geselle und Lehrbursche ein halbfertiges, weißglühendes Hufeisen kunstgerecht behandelten, betrachtete er Unica mit väterlicher Zärtlichkeit.
»Unica,« redete er sie an, mit dem rotbunten Taschentuch Stirn und geschwärzte Wangen trocknend, zugleich blinzelte er ihr vergnüglich zu, »es ist nur, weil's mir Freude bereitet, dich wieder einmal hier hantieren zu sehen, sonst möcht' ich dich hinausweisen von wegen der weißen Schürze –
»Wasser genug im Brunnen,« versetzte Unica freundlich, und heftiger ließ sie den Blasebalg schnauben; »ich folge Blisterchens Beispiel. Kommt der etwas in die Quere, so geht sie hierher, um es zu vergessen.«
Kunibertus, in der einen Faust das Tuch, in der anderen die schirmlose Mütze und beides in gleicher Höhe mit dem Kopf haltend, sah Unica schärfer an.
»Ich will doch nicht hoffen,« – begann er förmlich drohend, als Unica beschwichtigend einfiel:
»Nichts Böses. Aber Briefe trage ich nicht mehr nach dem Hofe.«
Kunibertus schob das Tuch mit einer grimmigen Bewegung hinter das Bruststück des Schurzfells, stülpte die Mütze schief auf seinen braunen Haarwust und bemerkte tadelnd: »Es war dein eigener Wille, Unica.«
»Nun, ja. Von jetzt ab gehe ich indessen nicht wieder hin. Ich bin es überdrüssig, daß der Baron und seine Frau auf mich herabsehen.«
»Das taten sie und bei deiner Wissenschaft obenein?« fragte Kunibertus grollend.
»Vielleicht gerade wegen meiner Wissenschaft,« antwortete Unica mit einem herzigen Lächeln.
»Um so schlimmer, Mädchen, und so wirst du den Hof nicht mehr betreten. Glaubte schon, der Junker sei dir an den Wagen gefahren.«
Die Brauen leicht runzelnd, sah Unica in die sausende Glut, indem sie wie beiläufig bemerkte: »Der wäre der Letzte gewesen, mich zu kränken.«
»Möcht's ihm auch nicht raten,« versetzte Kunibertus grollend. »Es nimmt überhaupt kein gutes Ende mit ihm. Er wäre ja nicht der erste, der an Leichtsinn und Hoffart zugrunde ginge. Es steckt eben im Blut.«
»Der Mutter und Blisterchen wollen wir lieber nichts davon sagen,« bemerkte sie nach einer kurzen Pause. »Du weißt ja, die nehmen solche Dinge viel zu ernst und beunruhigen sich ohne Not.«
»Keine Silbe, Unica,« beteuerte Kunibertus, »Weiber bleiben Weiber, und kämen sie geraden Weges vom Himmel herunter.« Kurze Zeit schürte er in der Glut; dann zog er die Pflugschar hervor, und gleich darauf erzitterte das ganze Gebäude unter der Wucht der in lustigem Dreitakt aufeinanderfolgenden Schläge. –
Währenddes saß Blisterchen in ihrem Wohnzimmer in dem alten Lehnstuhl. Die Hände auf dem Schoß gefaltet, blickte sie starr auf diese nieder.
Der Postbote, der das Paket für den Baron in der Schmiede abgab, hatte auch ihr einen Brief gebracht, »einen Brief von weit her,« wie er ankündigte, und das war für Blisterchen genug, die Haustür hinter sich abzuschließen, um in nächster Zeit ungestört zu bleiben.
Lange hatte sie die Aufschrift betrachtet; leichenhafter wurde dabei der Ausdruck ihres tief gerunzelten Antlitzes. Sie fürchtete offenbar, den Inhalt kennen zu lernen. Erst als schwarze Ahnungen sie zu übermannen drohten, erbrach sie den Umschlag mit zitternden Händen, und mühsam entzifferte sie die vor ihren Blicken ineinander verschwimmenden, wie mit Kinderhand geschriebenen Worte:
»Frau Blister. Ich lebe nämlich und bin gesund; werd' auch in eine Lage geraten, daß Sorgen mich nicht mehr drücken. Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber Menschen. So traf ich denselben Herrn, mit dem ich vor sechzehn Jahren gemeinschaftlich auf dem Hofe übernachtete. Wir leben hier als Nachbarn und gute Freunde. Er tut zwar noch heimlich, aber das gibt sich mit der Zeit. Viel zuzusetzen hat er nicht, kann mich also nicht ordentlich unterstützen, wie er wohl möchte. Schicke mir also vorläufig dreihundert Taler. Die genaue Adresse schreibe ich dir unten recht deutlich auf. Hilfst du mir nicht, so schreibe ich ans Gericht. Das kundschaftet aus, wer der Herr gewesen, dem du über die Berge halfst. Ich kann nur denken, daß du mir nicht traust. Da werde ich nach ein paar Wochen etwas Schriftliches von ihm selber schicken; daran wirst du die Wahrheit erkennen. An den Baron Joachim geht gleichfalls ein Brief ab. Auch der muß für meinen Dienst zahlen, oder ich bringe Unglück über euch alle. Mir kann keiner mehr 'was; denn ich bin freier amerikanischer Bürger und hier gerade so viel wert, wie ein Graf. Mein Mann hier ist mir in allem zu Willen. Das merke dir und eile mit dem Gelde, oder wir geraten beide in Not. Meinen richtigen Namen brauch ich wohl nicht drunter zu setzen.«
»Das ist furchtbar,« lispelte die Alte, und kraftlos sanken die Hände auf ihren Schoß. »Und ich hielt ihn für tot, längst gestorben in allen seinen Sünden.«
Sie sann eine Weile nach, während ihre Gestalt immer kleiner zu werden schien. Plötzlich aber richtete sie sich mit einer heftigen Bewegung empor. Ihr Antlitz war noch starr und bleich, aus ihren alten Augen leuchtete es dagegen wie erwachende Willenskraft.
»Es ist nicht wahr,« sprach sie in ihrer sinnverwirrenden Erregung unbewußt vor sich hin, »erlogen ist's, um mich auszuplündern, erlogen, daß er an den Baron schreiben möchte. Schickte ich heute Geld, so verlangte er bald mehr. Er und gut Freund mit dem armen Hans –« sie lachte gehässig, und weiter spann sie ihre Betrachtungen: »Der Hans war keine Natur, so viel Schreckliches lange zu überleben – nein, der liegt unter dem Rasen in einem unbekannten Erdenwinkel. Lebte er noch, so stürbe er lieber hundertmal, bevor er auch nur ein Wort mit dem Ruchlosen wechselte. Und dem Mörder meines Kindes antworten soll ich? Nein, ich bring's nicht über mich. Mag er mich für gestorben halten.« Sie sann wieder einige Sekunden nach und fügte vernehmlich mit einem Ausdruck von Entschiedenheit hinzu: »Der Herr Baruch soll mir raten. Ist's doch sein Wille, daß ich zu ihm komme, wenn ich nicht aus oder ein weiß.«