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Der Sturmnacht folgte ein noch stürmischerer Tag. Schnee und Regen wechselten in wildem Durcheinander. Die entlaubten Bäume ächzten unter dem heftigen Andrange der unregelmäßigen Luftströmungen. Die krausen Wellen, die sich auf dem Kanadian bildeten, hätte man mit dem Stirnrunzeln eines verdrießlichen, ungeschlachten Gesellen vergleichen mögen. Es war ein Wetter, das sogar Tommy mit Verachtung strafte. In seiner Hütte lag er, unter eintönigem knurrenden Winseln an seinen langen Nägeln saugend.
Die Früharbeiten waren beendigt. Wie abends zuvor saßen Charon und Joachim im Gespräch beisammen.
»Ich habe mich im Laufe der Nacht ernst mit Ihnen und Ihrer Lage beschäftigt,« erklärte Charon, sobald sie sich allein befanden, »auch einen Weg entdeckte ich, auf dem Sie, ohne viel Not wenigstens, über den Winter hinausgelangen. Nachher mögen wir weiter sehen. Es fragt sich nur, wie Sie meinen Vorschlag beurteilen. Ich bin nämlich bereit, Sie als meinen Gehilfen in Lohn und Brot zu nehmen. Das monatliche Gehalt kann freilich nur das eines Handarbeiters, also sehr mäßig sein, ist indessen nennenswert, wenn man die geringen Bedürfnisse in diesem abgeschiedenen Erdenwinkel in Betracht zieht. Ob Ihnen die Art der Arbeit zusagt, ist eine andere Frage. Leicht wird sie Ihnen nicht werden, das schicke ich voraus; allein tägliche Übung schafft Gewohnheit, und die hilft über die größten Schwierigkeiten hinweg. Als Gegenleistung sollen Sie mich bei der Fährarbeit unterstützen und gemeinschaftlich mit mir den Viehstand überwachen und pflegen; ferner Bäume fällen und Einfriedigungsriegel spalten. Unseren Fleischbedarf entnehmen wir vorzugsweise der Jagd, und es steht in Ihrem Belieben, sich an dieser zu beteiligen. Erwägen Sie alles –«
»Ich brauche nichts zu erwägen,« unterbrach Joachim ihn freudig überrascht, und frischer Jugendmut lachte aus seinen Augen, »ein Leben, wie Sie es mir bieten, übersteigt meine kühnsten Erwartungen; Geduld und Nachsicht muß ich indessen für mich erbitten –«
Abwehrend hob Charon die Hand.
»Ich fordere von einem Menschen nie mehr, als er zu leisten vermag,« bemerkte er einfallend. »Dies vorausgeschickt, füge ich indessen noch eine ernste Bedingung hinzu. Von deren Erfüllung ist nicht nur Ihr Aufenthalt unter meinem Dach, sondern auch die Dauer meiner freundschaftlichen Teilnahme für Sie abhängig.«
Joachim sah befremdet in die ruhigen Augen des Fährmanns, und dieser fuhr fort: »Sie haben meine Tochter kennen gelernt –«
»Eine bezaubernde Erscheinung,« warf Joachim bewundernd ein.
Durchdringend begegnete Charon dem Blick des jungen Mannes, und abermals erhielt seine Stimme einen harten, stählernen Klang, indem er wiederholte: »Eine bezaubernde Erscheinung, ja, wohl geeignet, das Blut eines jungen Mannes schneller kreisen zu machen. Geschähe das bei Ihnen, so würde eine der natürlichsten Regungen Ihnen nicht zum Vorwurf gereichen. Anders dagegen,« und wie eine böse Drohung lugte es unter Charons buschigen Brauen hervor, »wenn Sie es wagen sollten, in dem zutraulichen Entgegenkommen des lieben, arglosen Mädchens etwas anderes zu erblicken, als eine treuherzige Kundgebung ihres reinen, goldenen Gemütes.«
»Muß denn notwendigerweise ein Fehl darin gesucht werden, wenn ich jemand meine Verehrung zolle?« fragte Joachim anscheinend leichtfertig, und gewahrend, daß Charons Antlitz sich noch mehr verfinsterte, fügte er ernster hinzu: »Ich könnte Ihnen das Heiligste versprechen und würde Unglauben und Mißtrauen begegnen. Aber ich kenne ein anderes Mittel, Sie vollständig zu beruhigen, und obwohl ich in zarten Angelegenheiten das Herz nicht auf der Zunge trage, stehe ich Ihnen gegenüber nicht an, offen zu erklären, daß ich bereits für das Leben gebunden bin.«
»Eine Braut in der Heimat und doch außer Landes? Das klingt rätselhaft,« versetzte Charon nachdenklich.
»Ihnen mag es rätselhaft klingen,« bemerkte Joachim, »wer dagegen mit den Verhältnissen vertraut ist, hört auf zu zweifeln. Ich bin gewiß der Letzte, meinem sinnlosen Treiben auch nur die kleinste Lichtseite abgewinnen zu wollen; gedenke ich aber des herzigen Wesens, das nicht davor zurückschreckt, seine ganze Zukunft mit der meinigen unauflöslich zu verflechten, dann ist mir, als hätte ein Schicksalsspruch mich zu dem gemacht gehabt, was ich gewesen bin. Denn ohne mein Dahinsinken und ohne meine Flucht wäre wohl nie die zwischen dem treuen Mädchen und mir bestehende eingebildete Kluft überbrückt worden. Der unerschütterliche Wille meiner Eltern hätte uns wahrscheinlich auf ewig voneinander getrennt – doch das ist jetzt gegenstandslos geworden. Mag Kleinmut mich zuweilen beschleichen, so richte ich mich jedesmal wieder um so entschlossener auf, wenn ich des Tages gedenke, an dem die Teure sich mir zugesellt.«
»So ist Ihre Auserkorene eine Unebenbürtige, wie man es drüben nennt?«
»Unebenbürtig mit Rücksicht auf den Namen; jedoch mehr als ebenbürtig – o, alles überragend durch ihre Schönheit, durch ihre Erziehung und vor allem durch ihr edles Gemüt und eine über jede Beschreibung opferwillige Liebe.«
»Aber deren Angehörige, wie urteilen die über das Verhältnis?«
»Sie besitzt nur noch Pflege-Eltern, ehrliche Grobschmiedsleute. Von ihnen im zartesten Kindesalter angenommen, ist es ihnen möglich gewesen, ihr eine sorgfältige Erziehung angedeihen zu lassen, worin sie allerdings von einer wunderlichen alten Frau, die einst in näherer Beziehung zu dem verstorbenen Bruder meines Vaters stand, redlich unterstützt wurden. Bis jetzt ahnen weder die Veltens, so heißen nämlich die Pflege-Eltern, noch die alte Frau Blisterchen die Wahrheit. Ist aber die Stunde gekommen, in der ich mit gutem Gewissen Unica zu mir nehme, so dürfen weder sie, noch irgend ein anderer Einspruch erheben. Wir gehören zueinander, darin liegt alles.«
Einer Erwiderung harrend, richtete Joachim seine Blicke fragend auf Charon.
Dieser saß stumm da. Den Arm auf den Tisch gestützt, hatte er die Stirn in die Hand gelegt, dadurch sein Antlitz bis auf den langen weißen Bart verbergend. Joachim dagegen, das Schweigen als einen Ausdruck des Mißfallens beutend, hob alsbald wieder an: »Ich errate, meine Mitteilungen erscheinen Ihnen abenteuerlich, wohl gar zweifelhaft; das darf ich nicht dulden,« und ungestüm aufspringend, eilte er aus dem Zimmer.
Charon saß wie versteinert. Erst als er unterschied, daß Joachim die Leiter erstieg, richtete er sich schwerfällig auf, und die sich ineinanderringenden Hände gen Himmel streckend, einte sich mit seinem schmerzlichen Aufseufzen: »Auch das noch! Mein Gott, mein Gott, wo endet deine Heimsuchung! Warum mußt du mich jedesmal da treffen, wo es am vernichtendsten wirkt!«
Er erhob sich. Das Geräusch, mit dem Joachim oberhalb des Zimmers zwischen seinen Habseligkeiten suchte, mahnte ihn, die letzte Fassung nicht zu verlieren. Der Gedanke an die Möglichkeit eines Irrtums erleichterte es ihm, notdürftige äußere Ruhe zu erzwingen. Als bald darauf Joachim, glühend vor Eifer, mit einer Brieftasche in der Hand eintrat, war er gerüstet, den weiteren Enthüllungen ohne sichtbare Merkmale des in ihm lebenden Jammers zu begegnen.
»Herr Charon,« rief Joachim ihm triumphierend zu, und er legte die geöffnete Brieftasche vor sich auf den Tisch, »gestern, nachdem Sie unabsichtlich feurige Kohlen auf mein Haupt sammelten, sahen Sie mich verzagen und verzweifeln. So weit wäre es nie gekommen, hätten diese Bilder mir vor Augen gelegen. Hier ist zunächst Unica Velten in ihrem zwölften Jahr,« und er überreichte Charon ein kleines Porträt in Kartenform, »im Kinderspiel tauschten wir unsere Bilder, aber schon damals liebte ich sie mit einer wahren Eifersucht. Ein schönes Kind, nicht wahr? Und doch erst ein Schatten von dem, was sie noch werden sollte. Hier ist ein zweites, das zur Zeit ihrer Einsegnung angefertigt wurde. Es ist kaum glaublich, daß vier Jahre eine derartige Wandlung zu bewirken vermögen. Ein drittes Bild erwarte ich mit dem nächsten Briefe, ein ganz neues; dann sollen Sie erstaunen, wie das Kind zu einer holdseligen Jungfrau erblühte. Betrachten Sie die großen Augen – blau sind sie – wie sie treuherzig blicken, und doch sah ich sie funkeln und leuchten, wenn das wilde Junkerchen – so nannte man mich allgemein – ihre Unzufriedenheit auf sich geladen hatte. Zerwürfnisse kamen natürlich auch vor, aber sie dauerten nie lange und befestigten das gegenseitige Vertrauen. Oft reizte ich sie mutwillig, und zwar nur um der darauffolgenden Versöhnung willen und um mich an dem Bilde zu ergötzen, das sie in ihrer leidenschaftlichen Erregung bot. Das war beinah noch schöner, als wenn Sanftmut ihre Züge beherrschte.«
Hier überwältigte ihn die Erinnerung, daß die Worte ihm versagten, er nur noch Sinn für die beiden Porträts hatte. Es schmeichelte seinem Stolz, daß Charon seine Blicke gar nicht von ihnen schien losreißen zu können. Und so entging ihm, daß dieser angesichts der ihm durch eine längst Verstorbene vertrauten Züge sich nur mit Mühe aufrecht erhielt, Tränen in seinen Augen zusammenliefen und ihren Weg langsam in den weißen Bart hinab suchten.
Endlich atmete Charon tief auf. Die Wirkung der andauernden lautlosen Stille fürchtete er wie die in seiner Haltung sich verratende Erschütterung. Er suchte nach Worten, vermochte aber nur hervorzubringen: »In der Herstellung solcher Porträts sind doch bedeutende Fortschritte gemacht worden.«
Und abermals ergriff Joachim begeistert das Wort: »Fortschritte? Ja, doch nur insoweit, als es erleichtert wird, diese oder jene Person sich zu vergegenwärtigen. Um aber die liebliche Erscheinung hier gebührend zu würdigen, müßten Sie sie in Wirklichkeit vor sich sehen, müßten Sie in ihre prachtvollen Augen schauen, ihre herzige Stimme hören, ihr süßes Lächeln bewundern. Und dann ihre Gestalt, die Anmut ihrer Bewegungen – ach, was ist ein Bild ohne Farben und Leben? Könnten Sie nur einen Blick durch meine Augen werfen, so würden Sie nicht länger zweifeln, daß ich freudig mein Leben für die Verwirklichung unserer Hoffnungen einsetze. Und was gebrauchen wir viel? Reichtum habe ich hassen und verachten gelernt, denn er stürzte mich ins Verderben. Auf eine eigene kleine Erdscholle beschränkt sich mein ganzes Sehnen, und ist das erreicht, dann mag alles andere hinter mir versinken. Ein neues Leben beginnt, und von meiner Unica selbst weiß ich, daß ein Stück trocken Brot, das ich mit meinem sauren Schweiße bezahlte, ihr besser mundet, als das Köstlichste aus dem Füllhorn angeerbten Überflusses. Sie ist mein guter Engel, sie hat mich errettet von den Dämonen des Wahnwitzes und jämmerlicher Selbstvernichtung, und dafür will ich sie lieben und ehren bis zum letzten Atemzuge – o, bis über das Grab hinaus« – wie beschämt kehrte er sich Charon zu, der noch immer die kleinen Porträts aufmerksam betrachtete.
»Ich bin wohl ein wenig zu ausführlich gewesen,« bemerkte er entschuldigend.
»Ich erfreue mich an den Bildern,« versetzte Charon, eine unmittelbare Antwort umgehend, »Rührung ergreift mich angesichts der freundlichen Augen, deren Blick auf den unscheinbaren Papierstreifchen festgehalten wurde.« Er ließ sich nieder und legte die beiden Karten vor sich hin, zu Joachims Genugtuung sich abermals in deren Anschauen versenkend. Dann sprach er, unbewußt seine Gedanken offenbarend, zu den Bildern nieder: »Armes, armes Kind –«
»Arm?« fiel Joachim erregt ein. »Unica arm? O, Herr Charon, was verstehen Sie unter Armut? Reich ist sie, überschwenglich reich in dem Bewußtsein ihrer Liebe zu mir, reich in dem festen Vertrauen auf meine unwandelbare Treue, reich in unseren gemeinsamen Hoffnungen auf ein stilles häusliches Glück.«
»Ich gedachte des Ungemachs, von dem das liebe Kind in dem fremden Lande und in den fremden Verhältnissen schwerlich ganz verschont bleiben wird,« entgegnete Charon eintönig, und wiederum unterbrach Joachim ihn leidenschaftlich:
»Wer dürfte sich rühmen, daß Ungemach ihm stets fern bleibe? Auf Ungemach sind wir gefaßt, und verteilt sich das auf zwei, erträgt es sich um so leichter.«
»Aber Ihre eigenen Eltern,« wendete Charon bedachtsam ein, »wird das Bewußtsein, mit deren Wünschen und Wollen in beständigem Widerspruch zu leben, sich ihnen gänzlich entfremdet zu haben. Sie nicht von Tag zu Tag schwerer bedrücken?«
Joachim sah betroffen vor sich nieder. Erst nach einer längeren Pause des Schweigens antwortete er zögernd: »Das Unrecht, das ich an meinen Eltern beging, wird mir auch fernerhin manche Stunde trüben, ich meine, insoweit es sich für sie auf die unmittelbaren Folgen meines sträflichen Leichtsinns bezieht. Im übrigen aber« – und sein geschmeidiges Gemüt richtete sich wieder lebenskräftig empor – »o, da hat sich alles geändert. Nicht mehr als Stein des Anstoßes gilt ihnen die arme Schmiedstochter, sondern als eine liebe Hausgenossin, deren teuerstes Geheimnis das ihrige geworden. Doch Sie mögen selbst urteilen,« und einen der vor ihm liegenden Briefe auseinander schlagend, las er aus diesem vor:
»Du glaubst nicht, wie Deine Eltern darauf bedacht sind, mir ihr herzliches Wohlwollen zu beweisen. Wer hätte je geglaubt, daß so viel Liebe in ihnen wohne. So fühle auch ich meine Anhänglichkeit an sie mit jedem neuen Tage wachsen, und zwar nicht allein, weil sie Deine Eltern sind, sondern auch um ihrer selbst willen. Was ich ihnen an den Augen absehen kann, geschieht aus vollem, freudigem Herzen. Sie werden mich gewiß sehr vermissen, wenn ich erst bei Dir bin, und doch gönnen sie Dir Deine Unica so gern. Mit Wehmut gedenke ich schon jetzt der Trennungsstunde. Was werden Vater Kunibertus und die Mutter dazu sagen! Und dann Blisterchen! Quäle Dich nicht zu sehr, liebster Joachim. Mir genügt das bescheidenste Heim. Je früher Du mich rufst, um so früher bin ich bei Dir. Arbeiten wir Hand in Hand, geht es so viel leichter und schneller –«
Hier sah Joachim auf.
»Das Fernere ist weniger zum Vorlesen geeignet,« bemerkte er glücklich lachend, und gewahrend, daß Charons Blicke mit einem seltsamen Ausdruck der Gier an dem geöffneten Briefe hingen, schob er diesen zu ihm hinüber, ihn jedoch nicht ganz frei gebend.
»Ist es nicht eine schöne Handschrift?« fragte er stolz. »Und wie verständig sie sich ausdrückt. Nichts von Überschwänglichkeit, und doch leuchtet aus jedem Wort eine Welt der Herzensgüte hervor.« Er zog den Brief zurück, um ihn gemeinschaftlich mit den Porträts wieder in die Brieftasche einzuschließen, und bemerkte zuversichtlich: »Ich hoffe, Sie bezweifeln nicht länger, daß Ihre Warnung, wenn auch von Ihrem Standpunkte aus berechtigt, im Grunde überflüssig war.«
Wie von wirren Träumen umfangen, sah Charon auf Joachim, der sich noch immer peinlich sorgfältig mit dem Ordnen seiner Heiligtümer beschäftigte. Eine Bemerkung schwebte ihm auf den Lippen, doch wie den Blick des jungen Mannes scheuend, erhob er sich. Schwerfällig schritt er nach dem Winkel hinüber, in dem seine Kleider hingen, und einen weiten Rock von Deckenstoff auswählend, streifte er diesen über.
»Ich muß ein wenig ins Freie hinaus,« sprach er dabei eintönig, »es ist eine alte Gewohnheit, und die möchte ich nicht unterbrechen.«
»Ich werde Sie begleiten,« versetzte Joachim bereitwillig.
»Nein, nein,« hieß es zurück, »bleiben Sie und leisten Sie meiner Tochter Gesellschaft. Erzählen Sie ihr von unserer gemeinschaftlichen fernen Heimat, so bereiten Sie ihr eine große Freude.«
Etwas Unnahbares lag in seiner Haltung, so daß Joachim keine Einwendungen zu erheben wagte. Gleich darauf schritt er aus dem Zimmer. Ein wenig später erschien Molly, die von ihrem Gemach aus die Unterredung teilweise angehört hatte. Gefällig eröffnete sie eine Unterhaltung, die der glücklichen Stimmung Joachims entsprach.
Draußen wechselten Schnee und Regen noch immer im wilden Durcheinander. Nach wie vor ächzten die entlaubten Bäume unter dem heftigen Andrange der unregelmäßigen Luftströmungen. Charon schien unempfindlich gegen Witterungseinflüsse zu sein. Planlos in der Nachbarschaft umherirrend, bot er sein hartes Antlitz dem sturmgepeitschten Regen und Schnee dar. Die feuchte Kälte tat ihm wohl; denn heftiger noch als ringsum stürmte es in seinem Innern.
»Wie finde ich einen Ausweg aus allen Wirren,« lebte es in seinen Gedanken. »Wo finde ich Ruhe für mich, Frieden für andere? Wo das Schicksal den Schleier für mich lüftet, da starren mir düstere Schatten entgegen. Wo das Herz mich drängt, meine warnende Stimme zu erheben, da gebietet ein böses Verhängnis mir, zu schweigen.« –
Und wie an dem Tage, an dem der Gast eingetroffen war, durchstreifte er noch oft, oft einsam die Nachbarschaft; aber milder, versöhnlicher wurden seine Gesinnungen. Weniger schwer kämpfte es in ihm, wenn er beobachtete, wie Joachim sich in die neuen Verhältnisse fügte, die Arbeit ihm leichter von Händen ging, seine ursprünglich arglose Natur, sein frischer fröhlicher Lebensmut in demselben Maße das Übergewicht gewannen, in dem er wähnte, seinem heißersehnten Ziele näher zu rücken. Die Erinnerung an die einstige bevorzugte Stellung, an Überfluß und Verzärtelung war in ihm gestorben, nach vorn nur waren seine Blicke gerichtet. Aufmerksam überwachte ihn Charon. Jede einzelne seiner zutage tretenden Regungen, jedes Wort, das der wahre Ausdruck seiner Empfindungen, legte er auf die Goldwage. Bei Joachims treuherziger Offenheit gelang es ihm leicht, sich vollständig vertraut mit seinem Charakter zu machen. Gern bot Molly dem regsamen, unermüdlichen Gast die Hand zu einer herzlichen Freundschaft. Sie wurde seine Vertraute und Beraterin. Im täglichen zwanglosen Verkehr neigten sich alle näher zueinander hin; zagende freundliche Hoffnungen befestigten sich. Holde Träume spiegelten wieder, was in dem alten wie in den jungen Herzen lebte und webte. Nachdenklicher wurde Charon, träumerischer die liebliche Tochter des Frühlingstaus, zuversichtlicher Joachim. Sein ehrliches Gemüt jauchzte, während die schwieligen Hände die Axt schwangen oder das Fährtau packten und der Schweiß ihm auf der Stirne perlte.
Und dem rauhen Herbst folgte der erstarrende Winter und diesem das fröhliche Erwachen der Natur. In entzückende Farben kleidete sich die Landschaft; es keimte, grünte und blühte im Garten und auf den Feldern. Verlockenden Schatten warfen die getreuen alten Bäume auf den Vorplatz der Fährhütte, es lud die warme Luft unwiderstehlich ein, die Stunden abendlicher Ruhe im Freien zu verbringen.
Auf der Bank neben der Haustür saßen die drei befreundeten Gestalten, die kleinen Tagesereignisse eifrig besprechend. Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden; nur die höchsten Spitzen der Wipfel erglühten noch in rötlicher Beleuchtung. Noch kurze Zeit, und die ersten Dämmerungsschatten machten sich bemerklich. Im hohlen Chor begleiteten die frühlingsluftigen Frösche die süßen Melodien einer Spottdrossel. Da wurde die Unterhaltung vor der Hütte durch das vom jenseitigen Ufer herüberdringende: »Hol' über!« gestört.
Wie in einer Anwandlung von Ohnmacht lehnte Molly sich zurück. Totenbleich war ihr Antlitz geworden. Joachim erhob sich lebhaft zum Dienst. Zögernd und Mollys Antlitz ängstlich überwachend, folgte Charon seinem Beispiel.
»Hol' über!« ertönte es abermals.
Wie von einer Feder geschnellt, sprang Molly empor. Kein Laut verließ ihre Lippen, aber auf den Hohlweg flog sie zu und in diesen hinab, als wäre sie von Schwingen getragen worden.
Charon war auf die Bank zurückgesunken. Auf seinen Ruf gesellte Joachim sich ihm wieder zu.
»Bleiben Sie,« rief er tief erregt, »wohin Molly geht, da bedarf sie keiner Zeugen.«
Befremdet sah Joachim in des Fährmanns Augen.
»Bleiben Sie, bleiben Sie,« wiederholte dieser dringlicher, »bevor Sie viel älter geworden sind, wird ein Lied in Ihre Ohren klingen, im Vergleich zu dem das der Drossel verschwindet.«
Dann saßen beide schweigend. Ihre Blicke hafteten auf einem Reiter, der, sein Pferd am Zügel führend, zum Wasser hinunterschritt. Molly aber hatte schwerlich jemals in ihrem Leben mit regerem Eifer das unlenksame Fahrzeug über den Kanadian gezogen. Dabei liefen die hellen Tränen über ihre blühenden Wangen.
Endlich legte der Prahm sich ans Ufer. Bevor er noch zum Stillstand gelangte, hing Molly an Milfords Halse, laut schluchzend ihr Antlitz an seiner Brust bergend, während Milfords Lippen auf ihrer Stirn brannten.
»Ich bin geheilt,« drang es mit einem unbeschreiblich innigen Ausdruck von des weinenden Mädchens Lippen zu Milfords Ohren, und willig duldete es, daß dieser ihm Mund und Augen mit heißen Küssen bedeckte. »Geheilt – geheilt,« wiederholte Molly aus überströmendem Herzen halb erstickt, und fester schmiegte sie sich an den Geliebten an, »ich habe auf dich gewartet – ich wußte, daß du kommen, daß du dein armes Mädchen nicht vergessen würdest. Jetzt bist du da – sage mir, was ich tun soll; ich folge dir, wohin es sei – ich kenne nur deinen Willen.«
In der nächsten Minute hielt sie das Pferd, während Milford den Prahm beförderte und immer wieder süße Liebesworte mit ihr wechselte.
»Und so hat sich dennoch jemand gefunden, dessen Beteuerung du vertrautest?« fragte er, mit berauschten Blicken die holde Gestalt umfangend.
»Keiner fand sich,« antwortete Molly lebhaft, und immer wieder drangen Tränen in ihre glückselig lachenden Augen, »wäre die ganze Welt mit ihren Beteuerungen gekommen, ich hätte nichts geglaubt. Aber als ich dich so traurig scheiden sah damals und mir das Herz vor Jammer brechen wollte, da ging ich mit mir zu Rate Tag und Nacht; und die grenzenlose Liebe zu dir machte mich erfinderisch, daß ich ein Mittel entdeckte, dessen Unfehlbarkeit nie angezweifelt werden kann.«
Als Milford sie darauf zärtlich um nähere Auskunft bat, da errötete sie hold und kindlich hell lachte sie, daß er seine Arbeit einstellte, um sich an dem entzückenden Bilde zu werden.
»Später, später,« erwiderte sie mit vor Innigkeit gedämpfter Stimme, »für jetzt laß es genug sein, daß ich geheilt bin. Ja, ich bin geheilt, gleichviel, ob infolge des schrecklichen Sturzes und des darauffolgenden Entsetzens, oder ob durch den mich beseelenden ernsten Willen. Ich bin geheilt, es waltet kein Zweifel mehr.«
Tiefe Dämmerung herrschte bereits, als sie endlich landeten; aber lange dauerte es noch, bevor sie oben vor der Hütte eintrafen. Sie hatten sich zu viel zu sagen, mußten zu oft stehen bleiben, um zu fragen und zu antworten. –
Sonnige Tage folgten; sonnig draußen im Freien, wo die Natur ihr üppigstes Festgewand anlegte, sonnig in der Fährhütte, wo verheißendes Liebesglück seinen Einzug gehalten hatte. Freundliche Hoffnungen erhöhten die Schaffenslust, stählten die Arme, während man sich mit der Vergrößerung des kleinen Blockhauses beschäftigte. Und als der Anbau unter Fakits und andrer benachbarten Kreeks Beihilfe fertig geworden, da sah man eines Tages Charon in Begleitung Mollys, Milfords und Joachims zu Wagen die Richtung nach Fort Smith einschlagen. Dort verweilte man volle zwei Tage. Dann kehrten die drei jungen Leute an den Kanadian zurück, und zwar Milford und die liebliche Tochter des Frühlingstaus als Mann und Frau, um gemeinschaftlich mit Joachim Charons Heimwesen und Eigentum zu überwachen und zu verwalten.
Charon hatte sich auf dem Arkansas stromabwärts gewendet.
»Auf Wiedersehen nach vier Monaten,« hieß es beim Scheiden. Wehmut sprach aus den Blicken; unwandelbare Treue offenbarte sich in dem festen Druck der Hände; freudige Zuversicht lebte in den Herzen.