Balduin Möllhausen
Der Fährmann am Kanadian
Balduin Möllhausen

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Vierunddreißigstes Kapitel.
Schluß.

Beinahe ein Jahr war verstrichen, seitdem Joachim dem elterlichen Hause den Rücken kehrte, und in den Zwillingshäuschen lebte die Kunde, daß Unica sich entschlossen habe, schon in nächster Zeit ihrem alten Freunde und Spielgefährten übers Meer zu folgen. Wer noch zweifelte, brauchte sie nur selbst zu fragen, um das erstaunliche Ereignis in seinem ganzen Umfange bestätigt zu hören, und zwar mit einem Ausdruck glücklicher Zufriedenheit, daß Kunibertus und die Meisterin trotz der zärtlichsten Liebe zu ihrem Pflegling es nicht über sich gewannen, irgend welchen Einspruch zu erheben.

Schwerer, viel schwerer wurde es Blisterchen, sich mit dem Gedanken an Unicas Übersiedelung nach dem fernen Lande vertraut zu machen. Was sie am meisten gefürchtet hatte, was sie stets als einen an dem armen Hans zu begehenden Verrat betrachtete, sollte dennoch Wahrheit werden, und das raubte ihr die Ruhe. Ihre letzte Hoffnung war Baruch, der auf die Nachricht von Unicas bevorstehender Verheiratung plötzlich aus seiner Zurückgezogenheit hervorgetreten war. Er begann damit, daß er als Unicas Bevollmächtigter und Geschäftsführer sich zu einem bestimmten Tage bei dem Baron anmeldete, um in solcher Eigenschaft der Großjährigkeitserklärung beizuwohnen und Rechenschaft über die von ihm verwalteten Gelder abzulegen.

Dieser Tag war gekommen, ein Tag, über dessen Bedeutung die Baronin und Unica im Dunkeln erhalten worden waren, dem der Baron selbst aber mit ängstlicher Spannung entgegensah, weil er die Lösung von Rätseln bringen sollte, die ihn ebenso lange beunruhigten, wie er den Hof zu seinem Wohnsitz erwählt hatte.

Baruch war eingetroffen und sofort zu dem Baron in sein Zimmer hinaufgeführt worden. Mit einer gewissen Verlegenheit empfing dieser den etwas gebeugt gehenden, unscheinbaren alten Herrn, dessen überaus ehrerbietiges Auftreten durch etwas erzwungene, vornehme Höflichkeit lohnend. Er konnte sich des Argwohns nicht erwehren, daß hinter dem ruhigen Greisenantlitz mit den klugen, nicht die leiseste Regung verratenden Augen rücksichtslose, wenn nicht feindselige Pläne lebten. Die von Baruch vorgeschlagenen Zeugen, denen er die Rechnungen vorzulegen wünschte, folgten etwas später nach. Doktor Hasselfeld und Schierling waren es, die beiden einzigen Menschen außer Blisterchen, die zu der, weit zurückliegende Ereignisse berührenden Verhandlung hinzugezogen werden konnten. Ein dritter Zeuge, Charon, ein naturalisierter Amerikaner, schloß sich als Joachims Vertrauter ihnen an, nachdem er zuvor Blisterchen einen kurzen Besuch abgestattet hatte. Jetzt saßen alle beisammen in des Barons Zimmer, Baruch vor sich ein Paket Briefe und Rechnungen und ein Kontobuch von mäßigem Umfange. Charon und der Baron saßen einander gegenüber. Kein Wort hatten sie bei ihrer ersten Begegnung gewechselt. Aber während sie sich die Hände reichten, ruhten ihre Blicke lange ineinander; das hatte genügt, sie auf ihr Zusammenwirken vorzubereiten.

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Nach einer kurzen Einleitung des Doktors, die Schierling durch billigendes Kopfnicken herablassend lohnte, nahm Baruch das Wort.

»Daß die Großjährigkeitserklärung meines Schützlings sich so bald notwendig machen würde, lag freilich außerhalb meiner Berechnung,« hob er im ausdruckslosen Geschäftstone an, und forschend flogen seine beinah stechend scharfen Blicke von Auge zu Auge. »Doch ob heut oder nach Jahren: mit Rücksicht auf den geschäftlichen Teil der einst übernommenen Aufgabe konnte der Ruf mich nie unvorbereitet finden. Ob mein Schützling von jetzt ab als Therese von Scherben ins Leben tritt, oder als Unica Velten ihrer Zukunft entgegengeht, dürfte wohl erst am Schluß unserer Verhandlung nach reiflichem Erwägen entschieden werden. Bis dahin werde ich mir erlauben, sie nur, wie bisher, mit dem mir durch langjährige Gewohnheit so geläufig gewordenen Unica zu benennen. Ich gehe davon aus, daß die Gründe, durch die die Verheimlichung ihres wahren Namens bedingt wurde, heut noch walten, und berufe mich dabei auf das Zeugnis der anwesenden Herren. Bevor ich auf eine nähere Erklärung meiner Beziehungen zu Fräulein Unica eingehe, schicke ich zum besseren Verständnis einen kurzen Abriß ihrer Vermögensverhältnisse voraus. Ihr größter Schatz ist ihr reines, edles Gemüt, ihre äußere Erscheinung und eine Ausbildung, die sie den Vornehmsten ihres Geschlechts gleichstellt. Es ist dies ein unveräußerlicher Schatz, der auch ohne irdische Glücksgüter die Herzen der Menschen ihr zuwendet. Außerdem ist sie die freie, unumschränkte Besitzerin des Hofes und des Parkes, die von allen Schulden zu entlasten mir durch Ankauf aller Forderungen seinerzeit unter den vorteilhaftesten Bedingungen gelang.«

Er säumte einen Atemzug, um sich durch einen flüchtigen Blick zu überzeugen, daß der Baron unter dem überwältigenden Eindruck des Vernommenen wie seinen Sinnen nicht trauend auf ihn hinsah, dann fuhr er fort:

»Des ferneren ist mir gelungen, im Laufe von zwanzig und einigen Jahren das mir schon Jahre vor ihrer Geburt für sie anvertraute Vermögen trotz der reichlich bemessenen Erziehungskosten beinah zu verdoppeln. Es beläuft sich zurzeit in runder Summe auf hundertzweiundvierzigtausend Taler, zahlbar zu jeder beliebigen Stunde und in jeder gewünschten Form.«

Und wiederum ließ er eine Pause eintreten, um zwischen seinen Papieren zu blättern. Er hatte die Empfindung, daß die Blicke aller Anwesenden mit starrem Erstaunen auf ihm ruhten, jeder einzelne der Zeit bedurfte, um sich mit dem Gehörten vertraut zu machen. Erst nach längerem Säumen, als keiner Miene machte, das plötzlich eingetretene Schweigen zu brechen, begann er wieder:

»Eine berechtigte Frage lebt zuverlässig in den geehrten Herren, die Frage, weshalb ich über Fräulein Unicas äußere Verhältnisse so lange das tiefste Geheimnis walten ließ. Die Gründe dafür bin ich nunmehr bereit, vor Ihnen zu enthüllen. Ich tue es, indem ich zunächst Sie alle zu Zeugen aufrufe, daß nichts verabsäumt wurde, der jungen Dame eine Ausbildung angedeihen zu lassen, würdig ihrer Eltern und Vorfahren. Daß sie in der Obhut einfacher, aber treuer Menschen ihre fröhlichen Kinderjahre verlebte – ich dächte, der sich lieblich entwickelnden Jungfrau gereichte es nicht zum Nachteil, wenn sie davor bewahrt blieb, die Blicke über die ihr gesteckten, bescheidenen Grenzen hinauszusenden. Ich handelte mit gutem Gewissen. Ich handelte im Sinne einer frühzeitig verstorbenen jungen Mutter, im Sinne eines Vaters, dem der letzte Wille einer Verstorbenen als das Heiligste galt. Ich handelte aber auch im Sinne und Auftrage eines längst dahingeschiedenen Onkels jener jungen Mutter, eines Herrn Garbe, dem ich in die Hand gelobte, das mir von ihm anvertraute Gut zugunsten der etwaigen Nachkommen seiner Nichte zu verwalten, diese selbst gewissenhaft zu überwachen und ihre Wohlfahrt nach besten Kräften zu fördern. Gewiß erscheint Ihnen rätselhaft, daß jener Onkel, den ich noch in seinem Grabe mit Verehrung und Stolz meinen Freund nenne, es in meine Hand legte, mit der Vollstreckung seines letzten Willens beinah ein Vierteljahrhundert zu säumen. Wir beide sahen es voraus, hielten sogar Zweifel an meiner Gewissenhaftigkeit nicht für ausgeschlossen, und daß die Stunde kommen könne, in der ich zur Rechenschaftsablegung aufgefordert werden würde. Daraufhin rüstete der verstorbene Herr Garbe mich nicht nur mit den entsprechenden Vollmachten aus, sondern auch mit Briefen, in denen er seine Wünsche zum Ausdruck gebracht hatte. Hier sind sie,« und er legte eine Anzahl geöffneter Schriftstücke auf den Tisch, »um meiner selbst willen werden Sie alles prüfen, dann aber – und jetzt spreche ich als Geschäftsmann – mir Ihr Gutachten darüber nicht vorenthalten; ich bitte Sie darum in dem Bewußtsein der auf mir lastenden Verantwortlichkeit.«

Wie in Träume versunken, sah der Doktor vor sich nieder. Nachdenklich betupfte der alte Giftmischer die ergraute Bürste auf seiner Oberlippe. Der Baron schien Baruchs letzte Worte kaum gehört zu haben. Totenbleich saß er da. Wie so oft, begleitete er auch jetzt die unter seinen Augen aufgewachsene Unica im Geiste von ihrer frühsten Kindheit bis in die jungfräuliche Blüte hinein. Charon, wie einem Gefühl der Schwäche nachgebend, hatte sich zurückgelehnt. Sein gebräuntes Antlitz glich einem künstlich hergestellten Gebilde, auf dem der Ausdruck eines unsäglichen Schmerzes mit Fleiß ausgemeißelt worden. Nur zwei schwere Tränen, die in seinen weißen Bart hinabrollten, legten Zeugnis ab von dem in ihm webenden Leben. Ob die Schriftstücke vor ihnen lagen: keiner streckte die Hand nach ihnen aus, keinem standen Worte zu Gebote, um diesen oder jenen der sich überstürzenden Gedanken kundzugeben. Nur Baruch bewahrte seine überlegene Ruhe, indem er wieder anhob:

»Es dürfte den Herren schwer werden, an der Hand meiner kurzen Andeutungen sich ein klares Urteil zu bilden. Ich erlaube mir daher, Sie noch ausführlicher mit den Verhältnissen vertraut zu machen, die mich in Beziehung zu der von Scherbenschen Familie brachten.« Er schöpfte etwas tiefer Atem, und in seiner ruhigen Weise begann er zu erzählen. Und eine lange Erzählung war es. Weit zurück griff er in die Vergangenheit bis zu jenem Winterabend, an dem der alte Garbe seine Berechnungen in die Kaminglut warf. Eine lange Erzählung, durchwoben mit Schilderungen von Treue und Glauben, von Bangigkeit und Sorgen. Schonend berührte er, was der Schonung bedurfte; mit Eifer hob er hervor, wo Opferwilligkeit von den freundlichsten Erfolgen begleitet wurde. Nichts vergaß er. In Wehmut getaucht waren seine Worte, als er von vergeblichem Suchen und Forschen sprach, in Freude, sobald er seiner Fürsorge für eine junge Waise und endlich deren holdseligen Erblühens gedachte. Es machte den Eindruck, als hätte er sich allein in dem Zimmer befunden, so still war es, so aufmerksam lauschte man seinen mit dem Gepräge heiliger Wahrheit offenbarten Mitteilungen und Anschauungen. Und als er geendigt hatte und auch dann noch keiner Miene machte, das Wort zu ergreifen, fuhr er mit wachsender Wärme fort:

»So gehe ich wohl nicht zu weit, wenn ich bei der Entscheidung über die Zukunft des mir von einem freundlichen Geschick anvertrauten Schützlings eine Stimme für mich beanspruche. Es sei fern von mir jede Verletzung der Gefühle anderer. Wenn ich aber um der Wahrheit willen mit hart klingenden Worten Verhältnisse berühre, die unserer Beurteilung unterstehen, so geschieht es, um uns alle vor späteren Selbstvorwürfen zu bewahren. Fräulein Unica hat sich entschlossen, dem Sohne des Herrn Baron zu folgen, um sich nie mehr von ihm zu trennen. Bei Empfang dieser Kunde war meine erste Regung, unter den obwaltenden Umständen meinen ganzen Einfluß aufzubieten, daß die Vereinigung, wenn nicht mehr zu hintertreiben, wenigstens noch fünf Jahre aufgeschoben werde, also bis zu dem Tage, an dem Fräulein Unica mit ihrer Großjährigkeit das natürliche Recht der Selbstbestimmung erlangt haben würde. Indem ich aber den heiteren Seelenfrieden der jungen Dame erhalten wissen möchte, gewinne ich es nicht über mich, auf Grund der mir als Testamentsvollstrecker erteilten Vollmachten ihrem einmal ausgesprochenen Willen entgegenzutreten. Wohl aber muß ich darauf aufmerksam machen, daß hinter dem jungen Baron Joachim eine Vergangenheit liegt, die mindestens Vorsicht gebietet. Wer bürgt dafür, daß seine guten Vorsätze von Dauer sind? Wer bürgt dafür, daß jetzt nicht ähnliche Bedingungen walten, wie jene, die einst den alten Garbe in seinen Entschlüssen bestimmten?«

Da richtete Charon sich höher auf. Leichte Röte hatte sich über sein Antlitz ausgebreitet; ernste Überzeugung sprach aus seinen Augen, indem er anhob: »Ich bürge für ihn. Lange genug beobachtete ich ihn, um bekennen zu dürfen, daß kein Vater anstehen würde, die Hand seiner Tochter in die Joachims von Scherben zu legen. Sie werden glücklich sein; ich weiß es.«

Der Baron, der den Fährmann so lange mit ängstlicher Spannung überwacht hatte, öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, beschränkte sich indessen darauf, über den Tisch hin Charons Hand zu ergreifen und mit festem Druck zu halten.

»Ein gewichtiges Wort,« versetzte Baruch, »es kommt aus dem Munde jemandes, der gewiß lernte, nicht nur die Wünsche der Lebenden, sondern auch die der Toten zu achten.«

»Auch die der Toten,« bestätigte Charon, und seine Stimme klang eigentümlich weich. »Bevor ich hierher ging, zwei Tage ist es her, stand ich vor einem Grabhügel. Ein Marmorkreuz, errichtet von treuer Hand, zeichnete ihn aus, und das trug nur den einzigen Namen Therese. Meine Gedanken sandte ich zu der stillen Schläferin in die Erde hinab. Ich frug sie, ob ich an dem heutigen Tage das entscheidende Wort sprechen sollte. Mein Herz schlug ruhig; das war die mir erteilte Antwort.«

Baruch neigte das Haupt billigend und erwiderte feierlich: »Sprechen Tote durch den Mund der Lebenden, so haben Sterbliche kein Recht, daran zu rütteln. Ich gedenke des alten Herrn Garbe, und ich weiß, nach solcher Bürgschaft würde auch er keine Einwendungen gegen mein Verfahren erheben. Das Geschick ist versöhnt. Mag des Himmels reichster Segen diejenige begleiten immerdar, über deren Zukunft wir zu Rate gehen. Aber Sie, Herr Baron, wie lautet Ihr Urteil?«

Der Baron fuhr zusammen, faßte sich indessen schnell und antwortete fest: »Unica Velten haben meine Frau und ich als Tochter in unsere Herzen geschlossen. Sie ist unser rettender Engel. Was für Unica Velten galt, gilt für meine Nichte Therese von Scherben.«

»So bleibt uns nur noch übrig,« versetzte Baruch, »bevor wir die junge Dame über die in ihren äußeren Verhältnissen stattgefundene Wandlung unterrichten, zu vereinbaren, unter welchem Namen wir sie in ihre Selbständigkeit einführen.«

»Als Unica Velten,« stieß Charon hastig hervor, »sie darf nie ahnen, wer und was ihr Vater gewesen ist.«

»Als Therese von Scherben,« erklärte der Baron mit der gleichen Festigkeit, »schon allein, um denjenigen als Vater umarmen zu dürfen, der um sie litt –«

»Nein,« fiel Charon leidenschaftlich ein, »den Namen ihres Vaters wird sie führen, nachdem sie die Frau Joachims von Scherben geworden ist, das genügt. Der Baron Hans von Scherben ist tot. Der Tote hat kein Anrecht mehr an die Lebenden. Hier ist ein Mann,« und er wies auf den Doktor, »der die letzten Stunden der unglücklichen Therese von Scherben umtreute. Er nahm deren letzte Wünsche entgegen; sein Urteil kann daher allein als maßgebend gelten.«

Der Doktor zögerte. Es wurde ihm offenbar schwer, das entscheidende Wort zu sprechen. Es kämpften in ihm Pflichtgefühl und Weichheit des Gemüts. Erst nach längerem Sinnen und Erwägen antwortete er mit tiefem Ernst: »Ich kann nicht anders, ich muß der Ansicht des Herrn Charon beitreten.«

»Und ich gebe zu bedenken,« hielt der praktische alte Giftmischer nunmehr für angemessen zu bemerken, »daß die guten Leute, die so lange Elternstelle bei der jungen Dame vertraten, und vor allein auch die ehrenwerte Frau Blister, nicht verdienen, für ihre Treue in Angst und Sorgen gestürzt zu werden. Über die Einsegnung kamen sie mit dem falschen Taufschein leicht genug hinweg; wie aber würde ihr Verfahren beurteilt werden und welche Folgen könnte es für uns alle nach sich ziehen, dränge jetzt die Kunde von dem Namenswechsel in die Öffentlichkeit!«

Baruch warf einen Blick um sich. Da keiner Miene machte, die Beratung weiterzuspinnen, erklärte er in seiner bedachtsamen Weise: »So dürften wir über diesen Punkt einig sein. Mag es späteren Zeiten und späterer Gelegenheit vorbehalten bleiben, Vater wie Tochter, und geschähe es erst in der letzten Trennungsstunde, ihre natürlichen Rechte einzuräumen. Hiermit endigen die mir von dem verstorbenen Herrn Garbe mit weitem Spielraum erteilten Aufträge. Es bleibt mir nur noch übrig, Fräulein Unica Velten in ihre vollen Vermögensrechte einzusetzen.«

Auf des Barons Einladung folgten die Herren ihm in das Gartenzimmer hinunter, wo seine Frau in Unicas Gesellschaft ihrer bereits harrte. Nur von unbestimmten Ahnungen erfüllt, prägte sich in den Zügen beider ängstliche Spannung aus. Eine gewisse Verlegenheit machte sich geltend, als der Baron die Herren vorstellte und in wenigen Worten den Zweck ihres Besuches andeutete. Mit Anmut verneigte Unica sich vor dem Doktor und Schierling. Ebenso auch vor Charon. Theilnahmvoll sah sie dabei in sein bleiches Antlitz, dem der Tod seinen Stempel aufgedrückt zu haben schien. Bis in ihr Herz hinein fühlte sie den Blick seiner Augen, die mit einem ergreifenden Ausdruck des innigsten Wohlwollens auf ihr ruhten.

»Herr Charon,« redete sie ihn freundlich an, während er ihre Hand hielt, und lieblicher erglühten ihre Wangen, »wir sind einander nicht fremd – ich weiß viel von Ihnen. Joachim schrieb mir alles – er ist Ihnen so dankbar – Sie werden mir von ihm erzählen?«

Charon neigte das Haupt zustimmend. Seine Lippen waren wie im Krampf geschlossen. Was seine Augen sprachen – Unica verstand es nicht. Sie schritt zu Baruch hinüber, ihn zutraulich begrüßend und nach seiner Tochter sich erkundigend.

»Sie sendet ihre herzlichste Liebe,« antwortete Baruch, »doch, davon später, mein liebes Kind. Ich bin nämlich in einer Angelegenheit gekommen, welche allein Ihre Person und Ihre Lage betrifft; bevor die erledigt ist, dürfen wir unsere Aufmerksamkeit nicht zersplittern. Es ist nichts Unangenehmes,« fügte er hinzu, als er gewahrte, daß Unica sich leicht entfärbte und besorgt in seinen Augen zu lesen trachtete, »nein, vielmehr gerade das Gegenteil,« und mit ihr an den Tisch tretend, an dem die anderen Herren bereits Platz genommen hatten, ließen sie sich einander gegenüber nieder.

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»Der Herr Baron haben zu befehlen,« unterbrach er, an diesen sich wendend, das plötzlich eingetretene Schweigen, und wie zuvor oben, legte er auch hier die Papiere und Dokumente vor sich auf den Tisch.

Der Baron gab ein zustimmendes Zeichen, und ohne Säumen hob Baruch zu Unica gewendet an:

»Sie wissen, mein liebes Kind, daß es mir beschieden war, hier und da ein wenig in Ihr Geschick einzugreifen. Oft, oft strömten Ihre Lippen über von Worten des Dankes, die als unberechtigt abzulehnen mir verboten war – nicht doch, mein liebes Kind, blicken Sie nicht so bange. Bedenken Sie, wir sind hier zusammengekommen, um Ihre Zukunft sicherzustellen, und so wiederhole ich, daß, was auch immer Sie erfahren mögen, ich keinen Dank verdiene, sondern nur übernommene Pflichten gewissenhaft erfüllte. Nach der Vorberatung mit Ihren Freunden darf ich mich hier auf kurze Angaben von Tatsachen beschränken. Ihrer beabsichtigten Verheiratung, die gleichbedeutend mit Ihrer Großjährigkeit ist, steht nichts mehr entgegen, und es liegt mir daher ob, Sie mit Ihren Vermögensverhältnissen vertraut zu machen –«

»Ich besitze Vermögen?« fragte Unica erstaunt.

»Ich räume es mit herzlicher Freude ein,« gab Baruch zu, »bisher glaubte ich, Sie hätten es aus dem Umstande erraten, daß verhältnismäßig reiche Mittel auf Ihre Erziehung verwendet werden konnten.«

Unica, verwirrt, öffnete die Lippen zu einer Frage; doch gewahrend, daß alle Blicke mit teilnahmsvoller Spannung auf ihr ruhten, bebte sie vor dem Versuch zurück.

»Sprechen Sie, mein liebes Kind, sprechen Sie unbeirrt,« ermutigte Baruch sanft, »Sie müssen sogar Ihre Bedenken offenbaren, weil es sich um Ihre ganze Zukunft handelt.«

Und schüchtern, kaum verständlich erklärte Unica: »Ich vermutete hinter allem einen unbekannten Wohltäter –«

»Ja, ein unbekannter Wohltäter,« bestätigte Baruch einfallend, »aber ein Wohltäter, der bereits seit einer langen Reihe von Jahren in der Erde schläft. Von ihm stammt das Vermögen her, das mir für Sie zur Verwaltung anvertraut wurde.«

Unica sann ein Weilchen nach, dann fragte sie mit lieblicher Einfachheit: »So würde nichts mich hindern, schon in nächster Zeit Joachim zu folgen und ihn aus meinen eigenen Mitteln beim Ankauf einer kleinen Landwirtschaft zu unterstützen.«

»Nichts hindert Sie, mein liebes Kind. Mit Ziffern und Zahlen will ich Sie verschonen und fasse alles dahin zusammen, daß Sie über ein Vermögen gebieten, groß genug, in dem westlichen Amerika eine ganze Landschaft anzukaufen.«

Unica saß wie erstarrt. Helle Glut brannte auf ihren Wangen. Erst nach einer längeren Pause brachte sie leise hervor: »Unmöglich, Herr Baruch – ich kann es nicht glauben. Was sollte ich mit so viel Geld beginnen?«

»Ihre Freunde werden Ihnen raten, und bei einem Schritt, wie einen solchen zu tun Sie im Begriff stehen, dürfen Sie den Wert des Reichtums nicht unterschätzen.«

Wiederum brannten Unicas Wangen. Vor sich niederschauend, spielte ein süßes Lächeln um ihre Lippen. Die mittelbare Mahnung an Joachim war das einzige, was in ihrem Innern nachhallte. Doch nur wenige Sekunden, und Zagen trat an Stelle der stillen, verschämten Freude. Das wieder herrschende Schweigen aber diente dazu, ihre Verwirrung noch zu erhöhen. Einen flehenden Blick sandte sie zu der Baronin hinüber, die nicht minder verstört dareinschaute, und lebhaft, wie von einem rettenden Gedanken beseelt, kehrte sie sich Baruch wieder zu. In ihren großen Augen flackerte es. In ihren Adern regte sich das Scherbensche Blut. Der Baron und seine Frau kannten dies Zeichen, wußten, daß sie jetzt nur noch den Eingebungen des Gefühls folgte, keine Scheu vor Personen oder Ereignissen mehr kannte, ihre Beurteilungsgabe sich in demselben Grade verschärfte, in dem ihr Rechtlichkeitsbewußtsein sich befestigte.

»Herr Baruch,« begann sie schüchtern, doch schnell wuchs ihre Entschiedenheit, »Sie nennen mich reich; so sagen Sie, von wem das mir zuerkannte Vermögen stammt.«

»Von einem Verwandten Ihrer Mutter –« antwortete Baruch besänftigend, und erregt unterbrach ihn Unica:

»Meine Mutter war eine Handwerkerfrau. Ich lernte weder sie noch meinen Vater kennen. Als hilfloses Kind nahm der Bruder meines Vaters mich zu sich. Meine Eltern müssen sehr arm gewesen sein. Woher sollten ihnen da reiche Verwandte kommen? Von allen Seiten ziehen sich Geheimnisse um mich zusammen. Wohin ich blicke, begegne ich Rätseln, über die ich bisher achtlos hinwegsah; zu Rätseln gestalten sich die kleinsten Ereignisse, die mir so lange eines Gedankens nicht wert erschienen. Herr Baruch, vertrauen Sie mir alles an; vor keiner Wahrheit schrecke ich zurück. Demjenigen, der nie ein Geheimnis vor mir besaß, Joachim, dessen Vertrauen zu mir ein unbegrenztes ist, ihm darf ich kein Geheimnis mitbringen.«

In Baruchs Augen spiegelte sich Ratlosigkeit, Besorgnis in den Zügen der übrigen Anwesenden. Eine derartige Wandlung in Unicas Wesen hatte keiner vorhergesehen. Zittern durchlief Charons Gestalt. Sein Herz jauchzte, um alsbald wieder sich qualvoll zu winden. Wie eine unheilbrütende Wolke schwebte es über der ganzen Gesellschaft. Selbst Baruch bedurfte der Zeit, um sich für eine Antwort zu entscheiden.

»Ihre Wohlfahrt ist eine Lebensaufgabe für mich geworden,« begann er endlich zögernd; »blicken Sie zurück auf Ihre Vergangenheit, soweit Sie zu denken vermögen, und Sie werden sich der Überzeugung nicht verschließen, daß für Sie nichts geschah, was nicht zuvor reiflich überlegt worden wäre. Was der verstorbene Verwandte durch seine letztwilligen Verfügungen lange vor Ihrer Geburt anbahnte, meine herzliche Teilnahme für Sie, das haben Sie in Ihrer Entwickelung verstärkt und befestigt –«

»Ich weiß es, Herr Baruch, ich weiß es,« erklärte Unica zuversichtlich einfallend, und ihr Mut wuchs mit jedem neuen Wort, »aber ich weiß auch, daß meine Dankbarkeit erst mit meinem letzten Atemzuge erlischt. Dadurch kann indessen nie die Besorgnis beschwichtigt werden, die mich befällt, sobald ich meine Person mit der mir zugewandten liebevollen Aufmerksamkeit vergleiche. Erhielten Sie mich länger im Dunkeln, so würde die ewige Ungewißheit mein ganzes Leben verbittern. Ich flehe Sie daher an, nennen Sie mir die Beziehungen, in denen der zu meinen Eltern stand, der über diese hinweg ein Vermögen auf mich vererbte. Ein gewöhnlicher Wohltäter kann es nicht gewesen sein. Ich muß, ich will das Nähere wissen.«

»Gilt mein treuer Rat Ihnen gar nichts mehr?« fragte Baruch mit leisem Vorwurf im Tone seiner Stimme. »Verhallt ungehört meine Bitte, nicht weiter nachzuforschen, sondern nach wie vor blindlings auf die zu bauen, die so lange gewissenhaft zu Ihnen standen? Und walten wirklich Geheimnisse, wollen Sie da die Möglichkeit zurückweisen, daß damit von Verstorbenen gestellte Bedingungen erfüllt werden?«

»So haben Verstorbene sich meiner Eltern geschämt,« versetzte Unica auflodernd, und in ihren Augen leuchtete es in einer Weise auf, die Joachim einst so sehr an ihr bewunderte. »Wohlan, Herr Baruch, so verschmähe ich jene rätselhafte Wohltat. Welchen Segen hätte für mich ein Vermögen, ob groß, ob klein, dessen Besitz mir keine ruhige Stunde gönnte?«

Baruch zögerte. Es wurde ihm unsäglich schwer, zu einer peinlich wirkenden Erklärung seine Zuflucht zu nehmen, und doch entdeckte er kein anderes Mittel, Unica vor weiteren Forderungen zurückzuschrecken und seinen Vorstellungen zugänglich zu machen.

»So räumen Sie wenigstens der Pietät für die Toten eine Stelle ein und achten Sie meine Beteuerung, daß der Vorwurf, den Sie gegen sie erheben, ein ungerechter ist,« sprach er eindringlich. »Doch ich gehe noch weiter in dem ehrlichen Trachten, Sie von dem Abgrunde nutzloser, aufreibender Grübeleien und Beunruhigungen zurückzureißen. Nehmen Sie dankbar hin, was ein freundliches Geschick Ihnen bietet. Suchen Sie keine Aufklärungen, wo die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß, wie Ihr Verlobter, auch ein anderer, jemand, der Ihnen sehr nahe stand, die Heimat verließ, jedoch mit dem Unterschiede, daß dieser seinem Schutzengel vorher die Augen zudrückte, während Joachim von Scherben den seinigen sehnsüchtig erwartet.«

»Sie geben damit zu, daß mein Vater nicht der Bruder meines Pflegevaters gewesen ist; denn derartige Verhältnisse liegen außerhalb des Gesichtskreises einfacher Handwerker,« erwiderte Unica bestürzt, und wie erwachendes Verständnis entzündete es sich in ihren Augen.

»Ich gebe nichts zu, wenn ich in Gleichnissen spreche,« antwortete Baruch verstört, sobald er inne wurde, daß er eine ganz entgegengesetzte Wirkung von der beabsichtigten erzielte, »und nochmals bitte ich, nicht weiter in mich zu dringen. Es gibt eine Grenze, über die hinauszugehen die Achtung vor Toten wie vor Lebenden mir verbietet.«

Mit einer heftigen Bewegung erhob sich Unica. Durchdringend sah sie auf Baruch. Hätten die sie in sprachlosem Erstaunen überwachenden Zeugen sich verzehnfacht gehabt, es wäre von ihr unbeachtet geblieben.

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»So verweigere ich die Annahme des Vermögens,« versetzte sie mit an Trotz streifender Entschiedenheit. Ursprünglich mochte sie beabsichtigt haben, nach dieser Erklärung sich zu entfernen; doch wie über sich selbst erschrocken, blieb sie stehen. Solche Regung dauerte indessen nur Sekunden, dann beherrschte sie wieder ein rücksichtsloser, unerschütterlicher Wille. Ihr Antlitz glühte. Entschlossenheit und Zagen sprachen zugleich aus ihren Augen. Jungfräuliche Anmut und gereifte weibliche Würde umflossen ihre schöne Gestalt. Etwas Achtunggebietendes lag in der Art, in der ihr Gemüt sich gegen den ihr ungehörig erscheinenden Zwang aufbäumte. Der ganze Stolz ihrer Vorfahren war jäh in ihr wachgerüttelt worden, daß sie selbst ihn nicht mehr zu bändigen vermochte. So stand sie da, ahnungslos, daß ihre äußere Erscheinung wie ein lähmender Bann wirkte, jeder sich scheute, die plötzlich eingetretene, lautlose Stille zu unterbrechen.

Ruhig wanderten ihre Blicke im Kreise; zugleich arbeitete ihr scharfer Verstand. In jedem ihr zugekehrten Antlitz entdeckte sie etwas, wodurch ihre Ahnungen neue Nahrung erhielten. Blitzähnlich durchzuckten ihren Geist nicht Gedanken, die in der verschwindend kurzen Zeit keinen Raum gefunden hätten, sondern chaotisch ineinander verschlungene Bilder, die sie trotzdem mit einem einzigen Blick erfaßte und ebenso schnell verstand. Und so viel hatte sie von der Familiengeschichte der Scherben gelegentlich erfahren, daß Körnlein, wie Baruch sie in irrtümlicher Voraussetzung zu ihrer Besänftigung oder vielmehr Einschüchterung bedachtsam ausstreute, nur vereinzelt in ihr Gemüt zu fallen brauchten, um alsbald Wurzel zu schlagen, zu keimen und sich mächtig zu entwickeln.

Endlich blieben ihre Blicke auf Charon haften. Ein Bild der Hinfälligkeit saß er da. Indem er zu ihr emporstarrte, schienen seine Augen die Sehkraft zu verlieren.

Unica bebte; ihre Farbe wechselte. Sichtbar rang sie nach Festigkeit, doch schon in den nächsten Sekunden hatte sie die volle Gewalt über sich zurückgewonnen. Unberührt durch die atemlose Erwartung der sie Überwachenden, sah sie durchdringend auf den Baron, dann wieder, wie vergleichend, auf Charon, und zerrissen war der Schleier, der die sich vor ihr aufbauenden Rätsel noch verhüllte. Im Kampf des Herzens mit weitsichtiger Besonnenheit behielt diese die Oberhand; sie begriff, daß sie den Verhältnissen, die andere in ihrem Verfahren bestimmten, peinlich Rechnung zu tragen habe, und durchdrungen von einem heiligen, ihre Haltung wunderbar beeinflussenden Willen trat sie vor Charon hin.

»Herr Charon,« hob sie unendlich sanft an, indem sie seine Hand ergriff, und ihre Augen vergrößerten sich in namenlosem Schmerz, als sie sein Zittern fühlte, »Sie kehren zu Joachim zurück, und ich bin bereit, mit Ihnen zu gehen zu jeder Stunde; so lautet sein Wunsch.« Sie schöpfte tief Atem. Es schien, als ob durch das Lichten des sie umringenden Dunkels ihre Kraft verdoppelt worden wäre. »Joachim ist Ihnen in unbegrenzter Dankbarkeit ergeben,« fuhr sie fort. »Machen Sie das Maß Ihrer Güte voll, indem Sie die freundliche Teilnahme, die Sie für ihn hegen, auch auf mich übertragen. Ich bereue die Einwendungen, die ich meinem wohlwollenden Beschützer, Herrn Baruch, gegenüber erhob, und nehme alles zurück. Wie bisher, überlasse ich ihm auch fernerhin, für mich zu denken. Sie aber bitte ich herzlich, alle mich betreffenden geschäftlichen Angelegenheiten mit Herrn Baruch zu ordnen. Was Sie vereinbaren mögen: ich bin mit allem zufrieden. Ich selbst verstehe nichts von solchen Dingen – die Kräfte würden mir versagen –«

Sie entzog Charon die Hand, und die auf ihr ruhenden Blicke meidend, schritt sie zu der Baronin hinüber.

Rührung bewegte alle Gemüter; sogar die Augen des alten Giftmischers schimmerten in einem seltsamen, sonst an ihm ungewöhnlichen feuchten Glanz. Etwas Feierliches lag in der plötzlich eingetretenen Stille. Alle fühlten, daß nach der fast übermenschlichen Anstrengung Unicas Kräfte erschöpft sein mußten.

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Vor der Baronin eingetroffen, senkte Unica einen flehenden Blick in deren Augen. Worte standen ihr nicht mehr zu Gebote, aber deren Hand ergriff sie, und die willig Folgende sanft emporziehend, verließ sie mit ihr das Zimmer. Sie waren kaum in das abgelegene Gemach der Baronin getreten, als sie laut weinend dieser um den Hals fiel, um von ihr in eine innige Umarmung gezogen und wie ein hilfloses Kind nach dem nächsten Sitz hinübergeführt zu werden. Doch welcher Art die Empfindungen sein mochten, die immer wieder Unicas Augen zum Überströmen brachten, was sie erraten und entdeckt hatte, was als offenes Geheimnis zwischen allen lebte: ihre Lippen verließ keine Silbe, die als eine Mahnung daran hätte aufgefaßt werden können. Nur wenn sie den Namen Charon aussprach, geschah es mit einer Innigkeit, die nicht mißverstanden werden konnte. –

Nachdem Unica und die Baronin das Zimmer verlassen hatten, herrschte unter den Zurückbleibenden noch eine Weile Schweigen. Zu ergreifend hatte die eben beobachtete Szene auf alle eingewirkt. Erst als Baruch mit klugem Bedacht ein Gespräch über die vor ihnen liegenden Geschäfte eröffnete, wich der Bann der Rührung von den Gemütern. –

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Drei Wochen waren seitdem verstrichen, als ein Dampfer angesichts der englischen Küste den Kanal zur Reise nach Amerika verließ. Hart am Spiegel des Schiffes standen Arm in Arm Charon und Unica. In ihrer Nähe saß Blisterchen. Trotz ihrer sechsundsiebzig Jahre hatte sie sich zu der Reise über das Meer entschlossen. Mit einem Ausdruck der Befriedigung suchte sie immer wieder ihren Junker Hans und dessen Tochter, ihren Liebling. Sie hatte gemeint, fern von ihnen nicht ruhig sterben zu können. Diese sahen schweigend gen Osten, wo der letzte Landstreifen tiefer in das Meer hinabtauchte. Wehmut sprach aus ihren Zügen. Sie vergegenwärtigte sich alle, die zurzeit tränenden Auges der bitteren Trennungsstunde gedachten. Ob in rußiger Werkstatt heimisch, ob inmitten vornehmen Glanzes: Alle atmeten ja dieselbe Liebe und immer wieder Liebe und stille Hoffnung auf Wiedersehen. –

Die ferne Küste löste sich in Luft auf. Eine Weile betrachteten Charon und Unica sinnend das ungeberdig schäumende Kielwasser. Dann wendeten sie die Blicke westlich, wo der sonnenbeleuchtete, nimmer rastende Ozean in majestätischer Ruhe atmete. –

Acht Wochen später verkündeten die heimatlichen Zeitungen die im Staate Arkansas stattgefundene Verheiratung des Barons Joachim von Scherbett mit Fräulein Therese Charon.

 

Es eilt die Zeit mit Riesenschritten. Was in der Erinnerung als alternde Häupter lebt, hat sich längst schlafen gelegt. Jugendanmut und Jugendkraft reiften und rückten in deren Stelle ein. Eine Träne der Wehmut fließt jenen Tagen, in denen die irdische Zukunft noch eine Unendlichkeit ist, die auf wilden Irrfahrten erprobten Kräfte unerschöpflich sind. Goldene Zeiten! Mit ihnen eint sich so manches Bild, vor dem man auch in den »glückseligen Jagdgefilden« noch bewundernd weilen möchte. Goldene Zeiten!

Nach langer, mühevoller, arbeitsschwerer Wanderung vom stillen Ozean herüber hatten wir unser Lager bei der Fähre am Kanadian aufgeschlagen. Diese befand sich im Besitz Fakits, des Kreek-Indianers, mir bekannt aus früheren Tagen. Von Charon erzählte er, der vor mehreren Jahren in die Nachbarschaft von Fort Smith übersiedelte, wohin Milford und die liebliche Tochter des Frühlingstaus ihn begleiteten. Nur Tommy war zurückgeblieben. Jetzt lag er an der Kette, denn seitdem er den Komanche zerrissen hatte, war er launisch geworden, daß selbst Molly ihm nicht mehr traute. Im übrigen schien er mit seinem Lose nicht unzufrieden zu sein. Auch von Joachim und dessen schöner Frau erzählte Fakit, und daß sie, wenn auch durch einen größeren Zwischenraum von ihnen getrennt Milfords und Mollys Nachbarn geworden. Die tote Sykomore streckte noch immer ihren letzten Ast über das Strombett hin, doch hatte seit Mollys Sturz ein menschlicher Fuß ihn nie wieder betreten.

Wir schieden von Fakit wie von einem langjährigen Freunde. Mit uns nahmen wir Grüße an alle, denen er seine in guten und bösen Zeiten erprobte Anhänglichkeit bewahrte.

Drei Tage später erreichten wir Fort Smith. Mein erster Weg führte nach einer Schneidemühle hinaus. Ein freundliches weißes Bretterhaus bildete den Vordergrund zu den schuppenartigen Baulichkeiten, in denen die Dampfmaschine puffte und fauchte und die Kreissägen sich knirschend ihren Weg durch die stärksten Baumstämme hindurch bahnten.

Eine junge Frau von auffälliger Schönheit, mit fröhlichen blauen Augen und üppigem Goldhaar, auf den Armen ein holdes Kind, ein älteres neben sich, trat in die Haustür und hieß mich, sichtbar freudig überrascht, herzlich willkommen. Es war die Tochter des Frühlingstaus, die ich heute ja nicht zum erstenmal sah. Bald darauf gesellte sich Milford zu uns, und einen Nachmittag und Abend feierten wir, für mich doppelt genußreich nach dem langen Aufenthalt in den öden Wildnissen.

»Alles übertrieben,« meinte die junge Frau, als wir im Laufe des Gesprächs des unheimlichen Nachtwandelns gedachten, »heute lache ich darüber. Wäre Milford nur ein wenig mehr an meiner bescheidenen Person gelegen gewesen, so hätte er lange vor mir das Mittel zu meiner Beruhigung entdecken müssen; es war ja so einfach. Aber wo hatte der seine Gedanken? Ich löste nämlich die Kette des Schlaggewichtes aus unserer Uhr. Eigenhändig nagelte ich deren Ende an meinen Bettpfosten, worauf ich allabendlich das andere Ende mittelst eines Vorlegeschlößchens um mein Fußgelenk befestigte. Den Schlüssel nahm Vater Charon jedesmal an sich, und mit gutem Gewissen kann ich beschwören, daß ich nie auch nur den leisesten Versuch unternahm, in die Rolle eines Gespenstes einzutreten. Ein Glück für Milford; ich möchte sonst schwerlich seinem schrecklichen Drängen nachgegeben haben und heute noch als Zaubermädchen die Felder der guten braunen Ansiedler in üppige Saaten kleiden.«

Wohltönend lachte Molly bei diesem liebenswürdigen Geständnis; mit ihr lachten Milford und ich selber aus vollem Herzen.

Bis tief in die Nacht hinein saßen wir bei einem guten Trunk beisammen, und wie der heutige Tag, sollte auch der folgende enden.

Zu Joachim war ich hinausgewandert an wohlbestellten Feldern vorbei und über Wiesen, auf denen Pferde und Rinder von großem Wohlstande zeugten. In der Nähe des stattlichen Gehöftes stieß ich auf Charon. Er hatte sich seit unserem letzten Begegnen wenig verändert. Nur sein Blick war freier geworden, und auf seinem harten Antlitz ruhte ein sprechender Ausdruck heiterer Zufriedenheit. In Joachim lernte ich einen lebenslustigen, tatkräftigen, wettergebräunten Farmer kennen, der sich seines Glückes so recht voll bewußt war; in Unica aber eine junge Frau, in deren Augen man nur einen einzigen Blick zu werfen brauchte, um sie von ganzem Herzen lieb zu gewinnen. Was Joachim laut verkündete, daß er mit keinem Menschen der Erde tausche, das offenbarte sich verständlich in ihrem süßen Lächeln, in der innigen Sorgfalt, mit der sie einem jungen Weltbürger die Kunst des Gehens beibrachte.

Blisterchen lernte ich nicht mehr kennen. Die schlief schon seit mehr als Jahresfrist in der Erde. Ihr letzter Atemzug war eine Segnung für ihre Lieblinge gewesen.

Nach Joachims und Unicas Mitteilungen führten der alte Baron und seine Frau auf dem Hofe ein patriarchalisch stilles, aber behagliches Leben. Die alten Wunden waren verharscht. Freundliche Lichtblicke, aus der Ferne entsendet, fanden ihren Weg übers Meer zu ihnen und schmückten ihren Lebensabend. Über den Hof sollte voraussichtlich noch recht lange keine neue Bestimmung getroffen werden. Nur einmal waren sie peinlich an trübe Erfahrungen erinnert worden das geschah, als man beim Abbruch der morschen Fischerhütte Wiedehopfs Schatz entdeckte. Die diesem beiliegenden Notizen, ursprünglich nicht für fremde Augen berechnet, erweiterten den Einblick in das finstere Treiben der beiden verbrecherischen Genossen. Das Gold, an das von keiner Seite Ansprüche erhoben worden, war dem nahen Städtchen und dessen Armen zugute gekommen.

Kunibertus führte noch immer rüstig den Hammer, dachte aber ernstlich daran, samt seiner Hausehre, dem Doktor Amandus und dessen junger Frau ebenfalls nach dem Staate Arkansas überzusiedeln.

Mit dem Doktor Hasselfeld hielt Charon einen ziemlich regen Briefwechsel aufrecht, und so erfuhr man auf Joachims Farm, daß er noch Jahre gebrauche, um mit dem Werk über seine Lieblingskrankheiten fertig zu werden; ferner, daß es dem alten Giftmischer immer noch nicht gelungen war, einen Umschwung in der Chemie zu bewirken, und endlich, daß Veronika nach wie vor in dem alten Laboratorium sich wohl fühle.


Druck von E. W. Röder G.m.b.H.,Leipzig

 

Ende

 


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