Balduin Möllhausen
Der Fährmann am Kanadian
Balduin Möllhausen

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Einunddreißigstes Kapitel.
Der Doktor auf Reisen.

Die Zeit rückte vor, und schärfer traten die Merkmale des beginnenden Herbstes in den Vordergrund. Kürzer wurden die Tage, länger die Nächte. Im Laub des Parks vervielfältigten sich die grellen Lichter. In Braun kleideten sich allmählich Buchen und Eichen, in Gelb Birken, Kastanienbäume und Zitterpappeln, in leuchtendes Rot Sumachgesträuch und Brombeergerank – kurz, es war eine Lust mit dem heiteren Farbenspiel in den Wipfeln wie auf den Rasenflächen und Wegen.

Zwei Wochen waren verstrichen, seitdem Unica nach dem Hofe übersiedelte, und diese kurze Zeit hatte genügt, sie dem vereinsamten Elternpaar unentbehrlich zu machen. Es war, wie Blisterchen andeutete: wohin sie sich wenden mochte, gleichviel, ob in den Zwillingshäuschen oder auf dem Hofe, überall verbreitete sie Licht und Wärme. Anmutig waltete sie in ihrem neuen Heim, liebreich ging sie der Baronin in allem zur Hand, dienstfertig bewegte sie sich um den Baron, und wenn sie jetzt deren Blicken begegnete, so konnte sie diese nur mit einem süßen Lächeln inniger Dankbarkeit für die ihr entgegengetragene unzweideutige Zuneigung lohnen. Das gegenseitige Vertrauen wuchs im heiteren Verkehr, wie in den Stunden ernster, wehmütiger Gespräche. Selbst Blisterchen söhnte sich mit der Lage der Dinge aus, während Unicas Pflege-Eltern diese Wandlung mit Stolz begrüßten, in den sich täglich mehrfach wiederholenden Besuchen ihres Lieblings aber nach wie vor Ersatz für den abwesenden Amandus fanden.

Leider hielten bald abermals Sorgen und Unruhe, wenn auch auf den Baron sich beschränkend, auf dem Hofe ihren Einzug. Aus weiter Ferne waren sie gekommen, und zwar von der gleichen Hand, die schon früher die heillose Erpressung versuchte. Lange betrachtete der Baron die unverkennbare Aufschrift, bevor er sich entschloß, den Brief zu öffnen. Wie der erste, enthielt auch dieser böse Drohungen und Forderungen, denen dadurch erhöhtes Gewicht beigelegt worden war, daß ein erbrochener, an Doktor Hasselfeld gerichteter Brief sie begleitete. Ein kurzes Dankschreiben war es, verfaßt in den wärmsten Ausdrücken und unterzeichnet: »Charon, Fährmann am Kanadian.« Vor einer längeren Reihe von Jahren aufgesetzt, hatte es augenscheinlich die Bestimmung, erst nach dem Tode des Schreibers an seine Adresse befördert zu werden. Obwohl Adams jenen Charon oder vielmehr den Junker Hans, wie er ihn ausdrücklich nannte, als des besten Wohlseins sich erfreuend schilderte, konnte der Baron sich der Überzeugung nicht verschließen, daß das Grab sich bereits über ihm geschlossen habe, durch seinen Tod aber die etwaige Hinterlassenschaft einem elenden Verbrecher zugänglich geworden war. Doch dies alles trat weit zurück vor dem einzigen Gedanken, daß sein Bruder, dessen Handschrift er auf den ersten Blick wiedererkannte, dennoch aus dem Gefängnis entkommen war, der Doktor und dessen Freund Schierling also eine doppelte Täuschung an ihm begangen hatten. Die Erklärung dafür lag freilich nahe genug; um so peinlicher berührte ihn, daß jene Herren, wenn sie seinem Bruder großmütig zur Flucht verhalfen, ihm ein grauenhaftes Bild vor Augen führten, anstatt ihm die volle Wahrheit anzuvertrauen und dadurch seinen Dank zu erwerben. Er selbst wäre ja der Letzte gewesen, den Schleier eines Geheimnisses zu lüften, das so viele lange Jahre unangetastet geblieben war und auch jetzt noch in seinem Ruchbarwerden unberechenbare Gefahren in sich barg. Sein Bruder befand sich, wenn er tot war, zwar außerhalb der Grenzen jeglicher Nachstellungen, aber diejenigen, die einst sein Entkommen begünstigten – es konnte ihnen nicht verargt werden, wenn sie, unbekümmert um die Empfindungen anderer, ihr Geheimnis mit in die Erde hinabzunehmen wünschten.

Ernster noch beschäftigte er sich darauf mit seinem Bruder, und schwerer erschien ihm die Schuld, die er ihm gegenüber einst auf sich geladen hatte. Wie mußte der Unglückliche gekämpft und gerungen haben, um sich und vor allem seine Tochter gegen Mangel und Not zu schützen? Wie mußte er gelitten haben unter dem Druck widriger Verhältnisse, unter dem Bewußtsein der eigenen Verschuldung des auf ihn hereingebrochenen Verhängnisses. Als Fährmann hatte er sein Brot im Schweiße des Angesichts gegessen, als schwieliger Handarbeiter, ohne Freunde, die vielleicht Teilnahme für ihn und sein Geschick gehegt hätten, Und doch hatte er verschmäht, seine heimlichen Klagen bis dahin dringen zu lassen, wo sie nicht ungehört verhallt wären. Jetzt war er tot, gestorben, ohne ein letztes Wort der Versöhnung, des gegenseitigen Verzeihens und Vergessens. Gestorben mit dem letzten Gedanken, seine Tochter schutzlos zurückzulassen, preisgegeben allen Unbilden einer erbarmungslosen Welt.

Eine Mädchengestalt tauchte vor seinen geistigen Blicken auf. Wie durch einen Schleier hindurch sah er in ein Antlitz, dem die regsame Phantasie die zartverjüngten Züge seines Bruders verlieh. Wie mochte sie zurzeit ihre besten Jugendkräfte hinopfern, um sich ein bescheidenes Dasein zu sichern? Wie sich beugen und winden unter der Tyrannei eines gewissenlosen Abenteurers, der schließlich, wenn seine Drohbriefe nicht mehr fruchteten, sie selbst als Mittel zu den schamlosesten Erpressungen benutzte? Unbestimmtes Sehnen ergriff ihn. Bald galt es dem unbekannten jungen Wesen selber, mit dem er sich verwandtschaftlich nahe verbunden fühlte, bald der Gelegenheit, die einem Verstorbenen bewiesene Lieblosigkeit an dessen Tochter zu sühnen. Wo war sein Egoismus geblieben? Wo die unnachsichtliche Strenge in der Beurteilung anderer? Wie er selbst einst gegen den Bruder, so hatte gegen ihn jetzt das Schicksal eine Geißel geschwungen und zu dieser seinen eigenen Sohn auserkoren.

So grämte, sorgte und marterte sich der Baron ohne Aufhören. Wie verirrt in einem Labyrinth suchte er vergeblich nach einem Ausweg aus den seinen Geist bedrückenden Wirren. Pläne entstanden, um alsbald wieder zu zerrinnen. Keine Seele besaß er, der er sich hätte anvertrauen, mit der er hätte beraten dürfen. Zur strengen Verheimlichung war er gezwungen, um das Übel seine Kreise nicht über die noch bestehenden Grenzen hinaus ziehen zu lassen. –

Am dritten Tage nach Empfang des unheimlichen Briefes war es, als der Baron von einem Morgengange durch den Park heimkehrte. Er bog in dem gleichen Augenblick um die Ecke des Hauses herum, in dem eine der wenigen Mietskaleschen des Städtchens vor der Rampe anhielt. Bis zu einem gewissen Grade menschenscheu und von jeder unerwarteten Unterbrechung seiner Einsamkeit neuen Verdruß befürchtend, trat er in den Schutz der Giebelwand zurück, um sich zuvor von dort aus über die Persönlichkeit des Besuches zu unterrichten.

Der Diener war an den Wagen getreten und hatte den Schlag geöffnet; doch erst nach mehrfachem Hin- und Herfragen bequemte ein untersetzter Herr sich dazu, auszusteigen. Erleichtert atmete der Baron auf, als er den Doktor Hasselfeld erkannte.

Der Doktor, noch in lebhaftem Gespräch mit dem Diener, hatte die Rampe erstiegen; bevor er die Tür erreichte, erschien Unica in dieser. Höflich zog er den Hut. Anstatt indessen ein Gespräch zu beginnen, prallte er, wie der Baron deutlich gewahrte, einen Schritt zurück, und mit einem Ausdruck namenlosen Erstaunens sah er starr auf die in ihrer Verlegenheit lieblich Errötende.

»Doktor Hasselfeid bittet um die Ehre, dem Herrn Baron von Scherben seine Aufwartung machen zu dürfen,« brachte er endlich hervor, noch immer befremdet in Unicas blühendem Antlitz suchend, als auf dem halben Wege nach der Rampe hinauf des Barons Stimme ertönte.

»Und ich heiße den Herrn Doktor willkommen,« sprach er, und nach der ersten Begrüßung fügte er hinzu: »Es sollte mich kaum überraschen, verdankte ich die Ehre Ihres Besuches einem aus weiter Ferne eingetroffenen Briefe.«

Der Doktor verneigte sich zustimmend. Auf seinem freundlichen runden Gesicht wogten noch immer Zweifel, offenbar wachgerufen durch Unicas Erscheinung. Als er sich der Tür wieder zukehrte, war sie verschwunden, und sichtbar enttäuscht wendete er sich mit den Worten an den Baron: »Die junge Dame, die ich eben begrüßte, ich fürchte fast, sie erschreckt zu haben. Sie erinnerte mich so lebhaft an jemand, daß ich glaubte, ihr schon früher begegnet zu sein.«

»Fräulein Velten, unsere Gesellschafterin,« erklärte der Baron bereitwillig, »eines ehrbaren Schmiedemeisters Tochter.«

»Fräulein Velten – Tochter eines Schmiedemeisters, und hier im Hause – wunderbar –« sprach der Doktor unter dem Einflusse der ihn bestürmenden Empfindungen vor sich hin.

»Seit kurzer Zeit erst,« bestätigte der Baron, durch des Doktors zerstreutes Wesen sichtbar beunruhigt, »und doch genügten uns die wenigen Tage, sie herzlich lieb zu gewinnen.«

Der Doktor wiegte sein Haupt leise wie im Unglauben und wiederholte zu des Barons Befremden halblaut: »Wunderbar, wunderbar –« Dann freier: »Ja, ich erhielt einen Brief aus der Ferne, und zwar von demselben Menschen, der an Ihnen seine Erpressungen versuchte. Dessen Inhalt war ein derartiger, daß ich mich zum Zweck einer Zusammenkunft mit Ihnen zur Reise hierher entschließen mußte. Es gibt nämlich Dinge, die man dem Papier nicht anvertrauen darf, im persönlichen Verkehr dagegen leichter erledigt.«

Sie waren in die Halle eingetreten, wo der Baron unverweilt den Weg nach seinem Arbeitszimmer einschlug. Sein Antlitz hatte sich umwölkt. Indem der Doktor die an ihm begangene Täuschung mittelbar eingestand, gewann die Erinnerung an das, was er in Schierlings Laboratorium erfuhr, neues Leben. Erst als sie einander gegenübersaßen und der Doktor mit klaren Worten den Betrug zugab, kehrte seine Besonnenheit zurück, daß er dessen Mitteilungen aufmerksam und mit vollem Verständnis zu folgen vermochte. Und nichts verschwieg der alte Arzt. Ergreifend schilderte er die letzten Tage einer sterbenden Mutter und die Beschwörungen, unter deren Einfluß er selbst die sträfliche Befreiung eines Gefangenen unternommen hatte: ergreifend das Wiedersehen der beiden Gatten und das Gelöbnis, das der Vater des verwaisten Kindes in die Hand der Sterbenden wie über die Tote hin gebrochenen Herzens ablegte; ergreifend, daß des Barons Augen im Jammer sich trübten, er nur noch die einzige Regung einer unendlichen Milde kannte, in Achtung und tiefes Dankgefühl sich umwandelte, was kurz zuvor noch als eine Empfindung gehässigen Vorwurfs in ihm lebte.

»Und damit haben Sie die Erklärung dafür,« schloß der Doktor endlich, »daß Ihr Bruder, getreu seinem Eide, nie ein Lebenszeichen von sich gab. Tot wollte er sein; der Vergessenheit anheimfallen sollte sein Name, wie der seiner Tochter. Und so wäre es geschehen, hätte ein elender Verräter seinen Weg nicht gekreuzt und irgend welche unselige Entdeckungen hinterlistig zu selbstsüchtigen Zwecken auszubeuten getrachtet.«

»Aber seine Tochter,« versetzte der Baron, durch des Doktors Mitteilungen bis ins Mark hinein erschüttert, »trotz seines Versprechens nahm er sie mit fort,« und wie zum Beweise legte er die Hand auf die vor ihm ausgebreiteten Briefe.

»Ich selbst glaubte es lange,« antwortete der Doktor, »und wer hätte deshalb einen Stein auf den verzweifelnden Vater werfen mögen. Ja, viele Jahre glaubte ich es, zumal alle meine Nachforschungen erfolglos blieben. Und ich forschte redlich, soweit es unter den obwaltenden Verhältnissen überhaupt möglich war, ohne jemals die leiseste Spur zu entdecken, bis ich, das Nutzlose meiner Bemühungen einsehend, sie endlich, wenn auch mit Widerstreben, einstellte. Jahre gingen dahin, und es befestigte sich in mir die traurige Überzeugung, daß Ihr Bruder in der Fremde sein Ende gefunden habe und damit das letzte Mittel verloren gegangen sei, seine unzweifelhaft unter einem anderen Namen lebende Tochter aufzufinden. Erst Ihr Besuch bei mir und die Kenntnisnahme des von verruchter Hand geschriebenen Briefes bewirkten eine Wandlung in meinen Anschauungen. Ich, der ich mit eigenen Augen Ihren Bruder mit seinem Kinde auf den Armen in der Dunkelheit verschwinden sah, bezweifelte keinen Augenblick die Wahrheit der in jenem Schreiben niedergelegten Angaben; und doch durfte ich Ihnen gegenüber, mochte es mich schwere Überwindung kosten, nicht anders handeln, als es geschah. Indem ich aber Sie von Ihrer Unruhe befreite, nahm ich selbst eine schwere Last auf mein Gewissen. Fortgesetzt erwog ich alle möglichen Folgen, wenn jener elende Schurke mit seinen Erpressungsversuchen fortfahren sollte. Außerdem quälte mich das schmerzliche Bewußtsein, daß Ihr Bruder trotz seines Gelöbnisses das Kind mit sich fortgenommen und, im Falle seines Todes, einer ungewissen Zukunft entgegengeführt habe. Der in mir erwachte herbe Vorwurf gegen ihn lebte indessen nur wenige Tage nach Ihrem Besuche. Dann erhielt ich die untrüglichsten Beweise, daß Ihr Bruder, trotz der Schwere des von ihm geforderten Opfers, dem vor seiner sterbenden Frau abgelegten Gelübde getreu, seine Tochter auf einer Stelle untergebracht hatte, wo sie, ahnungslos wie ihre Umgebung, unter dem Schutze eines großmütigen Wohltäters als einfaches Bürgermädchen zu einer lieblichen Jungfrau erblühte.«

»So hindert mich nichts, das arme Kind aufzusuchen, es zu mir zu nehmen, ihm die Eltern zu ersetzen?« fragte der Baron hastig und ängstliche Spannung im Blick.

»Es hindert Sie nichts, wenn Sie sich verpflichten, die berechtigten Wünsche ihrer Eltern zu achten,« antwortete der Doktor, den Baron fortgesetzt teilnahmvoll beobachtend, »und in deren Willen lag unzweideutig, die Möglichkeit abzuschneiden, daß durch Lüften des ihre Vergangenheit umhüllenden Schleiers ein Stachel in die Seele ihrer Tochter gesenkt werde. Die Opfer, die Ihr Bruder blutenden Herzens brachte, dürfen nicht hinfällig gemacht werden.«

Düster sah der Baron vor sich nieder. Erst nach einer Pause antwortete er mit Widerstreben: »Ich sehe es ein, ja, ich begreife es. Alles, alles soll geschehen, wie es im Einklang mit den Wünschen ihrer toten Eltern ist. Um den Preis, ihr Hort zu werden, gehe ich auf jede Bedingung ein – aber wo finde ich sie, Herr Doktor? Wo finde ich sie?« Und dringlicher: »Ist es denn Wahrheit? Kann kein Irrtum obwalten?«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen. Abgesehen von der Zuverlässigkeit meines Gewährsmannes, hätte der erste Blick auf sie – sie ist das Ebenbild ihrer armen Mutter – mich schon allein überzeugt. Sie selbst sahen Ihres Bruders Frau nicht?«

»Leider nie. Verhältnisse, denen ich heut fluche, hinderten es einst. Doch ich wiederhole, wo finde ich die Ärmste? Wo lebt sie und in welcher Lage? Sie haben sie gesehen – Sie müssen es wissen.«

»Ja, vor kurzem sah ich sie und anscheinend in freundlichen Verhältnissen – Herr Baron,« – und des Doktors Stimme zitterte vor Bewegung. »Ahnen Sie es denn noch nicht? Vorhin erst begegnete ich ihr –«

Hastig sprang der Baron empor.

»Unica Velten!« rief er bestürzt aus. »Herr Doktor – es ist nicht wahr – unmöglich –«

»Und dennoch wahr,« fiel der Doktor in seiner milden Weise ein, »glauben Sie aber nicht meinem Wort, so wenden Sie sich vorsichtig an Frau Blister, die hier in der Nachbarschaft leben soll.«

Der Baron bedeckte seine Augen mit der Hand.

»Also daher rührt die Feindschaft der Alten –« sprach er gedämpft, »mein Gott, das Kind unter meinen Augen aufgewachsen in rußiger Werkstatt – ich fasse es nicht – und doch lag es so nahe – ich hätte es fast erraten müssen,« und hastig schritt er der Türe zu.

»Wohin, um Gottes willen, wohin?« rief der Doktor ihm nach.

Der Baron blieb stehen.

»Ich vergaß,« sprach er sichtbar erschrocken, und seine Stimme zitterte vor Wehmut, »Unica, Unica, du liebes, treues Kind, du stolzes und doch so bescheidenes Gemüt – meines unglücklichen Bruders Tochter, meine eigene Nichte!«

Er warf sich auf seinen Stuhl. Erschüttert sah er vor sich nieder. Er schien die Anwesenheit des Doktors vergessen zu haben. Erst nach einer längeren Pause des Schweigens fuhr er wie im Selbstgespräch fort: »Wie soll ich ihr begegnen? Ich kann ihr nicht in die Augen blicken, ohne mich zu verraten – ich fasse es immer noch nicht.«

Und weiter sprach der Doktor, freundlich ermutigend und beschwörend. Von einem Wohltäter erzählte er, der mit treuer Pietät für Unicas Erziehung Sorge getragen habe, dessen Name aber nicht genannt werden dürfe; von einem Manne, der verdiene, daß man seine Uneigennützigkeit dadurch ehre, daß man keine Nachforschungen weder nach ihm noch den ihn in seinem Tun leitenden Beweggründen anstelle. Aber auch von der schwer geprüften Dulderin sprach er immer wieder, von seinem letzten Verkehr mit ihr und von den Empfindungen, die ihn beim ersten Anblick ihrer lieblichen Tochter beinah übermannten.

Aufmerksam lauschte der Baron. Was ihn bewegte, prägte sich verständlich auf seinen Zügen aus. Die harte Eisrinde, die einst seine Brust umpanzerte, war geschmolzen. Was das eigene Unglück anbahnte, es wurde gefördert durch die Vergegenwärtigung der selbstlosen Opferwilligkeit anderer.

»Mein armer Bruder, warum durfte er das nicht erleben,« sprach er wie im Traume, nachdem der Doktor geendigt hatte, und eifrig nahm dieser wieder das Wort:

»Erwies die Nachricht über seine Tochter sich als eine erfundene, so ist damit nicht erwiesen, daß die ihn selbst betreffende Angabe ebenfalls eine falsche ist. Und so halte ich für mehr als wahrscheinlich, daß er noch unter den Lebenden weilt. Doch auch in diesem Falle muß die zwischen Vater und Tochter errichtete Scheidewand bestehen bleiben. Nimmer darf das Geheimnis auch noch vor anderen gelichtet werden. Zu Hohes steht auf dem Spiel. Nur eine leise Spur braucht gezeigt zu werden, und ähnlich giftigem Gewürm schleichen böswillig und unvorsichtig weiter getragene Gerüchte sich in ein glückliches, sorgloses Gemüt ein, dessen Seelenfrieden unheilbar untergrabend. Wir dürfen uns nicht schwächer zeigen, als Charon, der einfache Fährmann am Kanadian.«

»Aber der Mensch, dem es gelang, seiner Papiere sich zu bemächtigen, wie kann seinem Treiben ein Ziel gesteckt werden?«

»Wir kennen seine Pläne, und damit sind uns die Mittel geboten, sie unschädlich zu machen. Wer mißt den Aussagen eines verworfenen Schurken überhaupt noch Glauben bei?«

Der Baron versank in Nachdenken. Plötzlich richtete er sich, wie von einem rettenden Gedanken durchströmt, wieder empor, und den Doktor ansehend, sprach er, jedes einzelne Wort betonend: »Wenn nicht den Vornamen ihrer Mutter, so soll meine Nichte wenigstens den Namen ihrer Vorfahren tragen. Nichts hindert mich, unter der Beobachtung der gesetzlichen Vorschriften, Unica als meine Tochter zu adoptieren.«

»Wie wollten Sie ein derartiges Verfahren vor ihr selbst erklären?« fragte der Doktor warnend. »Nein, nein, eine Adoption würde unfehlbar den zunächstliegenden Gerüchten Tür und Tor öffnen. Und wer sagt Ihnen, daß das junge Mädchen bereit wäre, den Namen derjenigen abzulegen, die sie als ihre wirklichen Eltern liebt und verehrt?«

»Therese von Scherben soll als Unica Velten durchs Leben gehen?«

»Das muß dem Ermessen jemandes anheimgegeben werden, der bisher ihre Wohlfahrt getreu im Auge behielt. Von ihm hängt alles ab: ob sie die Wahrheit ihrer Geburt je erfährt, ob bei ihrer Großjährigkeitserklärung oder vielleicht bei ihrer Verheiratung.«

»Aber wer ist es, dem eine beinah unumschränkte Gewalt über meine Nichte eingeräumt worden?«

»Ich vermute, jemand, der einst in näherer Beziehung zu der Familie ihrer Mutter stand.«

»Sie kennen den Mann?«

»Erst seit einigen Wochen. Ein ähnlicher Brief, wie der, den Sie empfingen, wenn auch nicht an ihn selbst gerichtet, führte ihn zu mir. Mit ihm vereinbarte ich auch meinen heutigen Besuch bei Ihnen. Des weiteren rechnet er zuversichtlich auf unsere Achtung vor seinen Maßnahmen. Ihrer Nichte Wohlfahrt steht ihm höher, als alle anderen Rücksichten.«

Wiederum sann der Baron eine Weile nach, dann bemerkte er, wie einer freundlichen Hoffnung entsagend: »Ich bezweifle selbst, daß Unica in eine Adoption willigen würde. Sie würde darin eine Kränkung ihrer Pflege-Eltern erblicken, und dergleichen über sich ergehen zu lassen, ist sie zu stolz. Der vermeintlich angestammte Hammer und Amboß gilt ihr höher, als alle Kronen der Welt; ich weiß es aus dem eigenen Munde des treuen Kindes. Ob ihre Pflegeeltern über ihre Herkunft unterrichtet sind, ahne ich allerdings nicht.«

»Wohlweislich wurde sie ihnen verschwiegen. Außer Fräulein Unicas unbekanntem Beschützer, mir und meinem Freunde Schierling und jetzt auch Ihnen, ist nur noch jene Frau Blister mit der Sachlage vertraut.«

»So mag es denn dabei bleiben, bis das Geschick selber es eines Tages anders gebietet,« versetzte der Baron erregt, und den Doktor freundlich einladend, führte er ihn seiner Frau und Unica zu. –

Trotz der herzlichen Vorstellungen des Barons und seiner Frau trat der Doktor noch abends die Heimreise an. Es begleiteten ihn neue, lichte Erinnerungen, die mit anderen in ferner Vergangenheit liegenden, von Wehmut durchwobenen eng zusammenfielen. –

Es war, wie der Baron vorhergesagt hatte: Verrat von sich selbst befürchtend, wagte er nicht, in Unicas Augen zu schauen. Die Lampe auf dem mit Zeitungen bedeckten Tisch brannte. Die Baronin blätterte in einem Buch, während er selbst, das Haupt geneigt und die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, langsam auf und ab wandelte. Eine trübe Unterhaltung hatten sie geführt. Jetzt warteten beide auf Unica, die sich nach den Zwillingshäuschen begeben hatte. Schwer lastete das ihm anvertraute Geheimnis auf dem Baron, doppelt, weil er die in ihm lebenden Empfindungen nicht zum Ausdruck bringen durfte. Endlich unterschied er Unicas Stimme auf dem Korridor, wo sie dem Diener für seinen ehrerbietigen Gruß freundlich dankte. Als sie eintrat, legte die Baronin das Buch zur Seite, und mit unverkennbarem Wohlwollen betrachtete sie die sich leicht und anmutig einherbewegende Gestalt.

Der Baron war stehen geblieben.

»Unica,« redete er diese an, sobald sie neben ihm eingetroffen war, »hast du deinen Sinn noch nicht geändert? Fürchtest du nicht, eine Übereilung begangen zu haben? Bedenke, Sterbliche sind nicht imstande, die Zukunft nach ihrem eigenen Wünschen und Hoffen zu gestalten.«

Über Unicas Antlitz hatte sich liebliche jungfräuliche Glut ausgebreitet. Ein süßes Lächeln der Befangenheit schwebte um ihre Lippen, während eine gewisse Entschiedenheit aus ihren guten Augen leuchtete.

»Ich gehöre zu ihm,« antwortete sie fest, »so schrieb ich, und zurzeit muß mein Brief in seinen Händen sein. Ich warte auf seinen Ruf, um mich ihm zuzugesellen, je eher, um so lieber.«

.

In der Baronin Augen waren Tränen gedrungen, emporgesendet aus einem geängstigten Mutterherzen. Der Baron aber hatte Unica an sich gezogen und küßte sie auf die Stirn.

»Wie auch alles enden mag,« sprach er mit vor Bewegung zitternder Stimme, »als meine Tochter betrachte ich dich immerdar; und so laß auch du dein Vertrauen zu mir fortan das einer treuen Tochter sein.«

So genügte der Baron dem Drange der durch den Doktor in ihm wachgerufenen Empfindungen. Gleich darauf kniete Unica vor der Baronin, und ihr Antlitz auf deren Schoß bergend, weinte sie bitterlich. Zwei schlanke Hände ruhten schmeichelnd auf ihrem Haupte.



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