Alexander Moszkowski
Von Genies und Kamelen
Alexander Moszkowski

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Natürlich, der Einjährige

Bei der Verkündung des Waffenstillstandes im deutsch-französischen Kriege von 1870/71 versammelte ein preußischer Feldwebel seine Leute zu der denkwürdigen Ansprache: »Jetzt ist der Feldzug zu Ende und die Kriegsbummelei hört auf. Jetzt beginnt wieder der richtige, stramme Waffendienst.« Und diesen, gepfefferten Friedensdienst mit allen Schärfen eines raffinierten Drills habe ich bald darauf ausgiebig kennen gelernt; als »Einjähriger« im Kaiser-Franz-Regiment, als Privilegierter, der auf Grund seines amtlich bescheinigten Bildungsgrades vor den Dreijährigen einen gewaltigen Zeitvorteil und dazu die Aussicht auf rasche Beförderung voraus hatte. An diesem Privilegium war verfassungsmäßig nicht zu rütteln. Wir sogenannten Einjährig-Freiwilligen bildeten im Kommiß eine Oberschicht, und eben deswegen ließen die Vorgesetzten spüren, daß ihnen die ganze Einrichtung nicht paßte. Wo es der Anlaß nur irgend ermöglichte, wurden wir Vertreter der »Intellektuaille« als die Sündenböcke angeprangert. Und da verging keine Stunde ohne solchen Anlaß. Alles, was im Dienst nicht ganz exakt klappte, was die zornige Laune des jeweils Befehlenden herausforderte, wurde auf unser Konto gesetzt, auf unsere vielbelasteten Buckel abgeschoben. Die stehende Redensart lautete: »Natürlich, der Einjährige!« Das sollte bedeuten: Im Vergleich mit euch ist alles andere Mustertruppe; wenn hier etwas mißlingt, in Richtung, in Griffen, in irgendwelchem Exerzitium, so ist nur die Anwesenheit dieser Bildungsprotzen daran schuld; der Einjährige verdirbt selbstverständlich das ganze Militär. Und dieses Dogma stand ebenso fest, wie das Privilegium selbst.

Und auf keinen meiner Kameraden prasselte jenes ironische Donnerwort so häufig herab als auf mich. Die Summe dieser Erlebnisse verdichtete sich in mir zu der Empfindung, daß gerade ich mit meiner höchst unpassenden Bildung den Krebsschaden des gesamten Heerwesens darstellte.

Wie bekannt, gipfelte damals alle soldatische Vorzüglichkeit im »Parademarsch« – ein prachtvoller Anblick, wenn er in schnurgerader Ausrichtung gelang, eine Katastrophe, wenn die Linie ins Wanken geriet. Er war das eigentliche Staatsexamen, die höchste Erprobung, das untrügliche Experimentum crucis für die Leistungsfähigkeit der Truppe. Tief ins Bewußtsein bohrte sich zumal der kritische Augenblick, da man mit seiner blankgeputzten Reihe am Feldherrnhügel der hohen Offiziere vorbeiparadierte, die mit Adleraugen die Front bis auf den Zentimeter genau taxierten. Und ach, wie habe ich Unglückswurm diese strahlende Front ruiniert! Just im entscheidenden Moment packte mich ein Nieskrampf, meine persönliche Explosion pflanzte sich mit Lichtgeschwindigkeit fort, ich war der Unhold, der die pompöse Fassade zur scheußlichen Kurve verkrümmte. Der empörte Hauptmann wetterte los: »Natürlich, der Einjährige! Zwanzig Jahre hat er zum Niesen Zeit gehabt, muß er mir ausgerechnet in dieser Sekunde mit seiner infamen Platznase den Parademarsch verderben!«

Es sollte noch ärger kommen. Ich defilierte in der Rolle als schließender Unteroffizier in abgetrennter Reihe hinter der Zugfront, allen Blicken besonders exponiert. Ich trug in bitterer Winterkälte nach Vorschrift weiße Handschuhe, die zwar meine Körperlichkeit blendend idealisierten, aber die Gelenkigkeit meiner ohnedies halberstarrten Greifflossen auf Null herabdrückten. Nun gab es unter allen Dienstverbrechen kein grausigeres als die Lockerung der Waffe bei rechts angefaßtem Gewehr. Und richtig, es stand in den Sternen geschrieben, daß mir wiederum im heiligen Augenblick die Flinte von der Brustseite abrutschte. Mit der freien linken Hand versuchte ich danach zu greifen – an sich schon ein verfemtes Manöver –, allein die brutale Schwerkraft war stärker als mein Wille, kurzum, mein Gewehr ratterte fallend mit Gekrach den hochmögenden berittenen Herrschaften direkt vor die Füße. Virgil nennt als Symptom des höchsten Entsetzens: »vox faucibus haesit« (die Stimme blieb im Schlunde stecken) und diese perplexe Sprachlosigkeit stellte sich auch bei den Halbgöttern ein, die diesen verpfuschten Parademarsch abnahmen. Aber hinter mir her vernahm ich doch bald genug das Furiengeheul: »Natürlich, der Einjährige!« Dem Orestes mögen die Rufe der Rachegeister sanfter in den Ohren geklungen haben!

*

Ich gehörte zu den ersten, die zur Erprobung des damals neuen Mausergewehrs an den Scheibenstand kommandiert wurden. Dieses Instrument äußerte anfangs einen äußerst heftigen Rückschlag, und man mußte sich gewaltig zusammennehmen, um nicht beim Abfeuern glatt hintenüber zu purzeln. Allein ich trotzte dem akuten Kolbenstoß – der unter Umständen das Schlüsselbein entzweibrechen konnte –, ich zielte mit Wilhelm-Tell-Augen und leistete in erster Probe bei fünf Schüssen auf 120 Meter Scheibendistanz fünf Zentraltreffer. Sofort wurde mir ein ungeschriebenes Militärgesetz erläutert, wonach der Soldat bei solch seltenem Ergebnis gehalten wäre, das ganze Peloton mit einem Faß Bier freizuhalten. Wir verfügten uns also in nächster dienstfreier Stunde in eine gemütliche Kantine, die der gesamten Rotte zum Verhängnis werden sollte. Wir vertilgten nämlich zu dem Biergelage etliche frische Schweinswürste, und dieses äußerlich und im Geschmack sehr leckere Gericht barg einen perfiden Kern – du ahnst es, Leser: Trichinen! Die ganze Kumpanei erkrankte, und das Lazarett erhielt eine starke Belegschaft, durch deren Muskeln nach mikroskopischem Befund unzählbare Horden jener Spiralwürmer tobten.

Im ganzen Regiment war das Wort »Trichinose« zum Alarmsignal geworden, und obschon wir durchweg schließlich gesundeten, gab es doch allenthalben verängstigte Gesichter und peinliche Erörterungen. Wie und wo mochte bloß der fatale Vorgang entstanden sein? Hierüber gaben die Indizien deutliche Auskunft: bei einem Biergelage, das der bewußte glückliche Schütze mit den Freiwilligenschnüren zur Feier seiner fünf Treffer veranstaltet hatte. Eine moralische Schuld ließ sich freilich nicht konstruieren, aber der kausale Zusammenhang wies doch unzweideutig auf mich, als den eigentlichen Urheber der Verseuchung. Es fanden sich Stimmen, die mich direkt als Trichinenvater bezeichneten – »Natürlich, der Einjährige!«

*

Und des Sonnengottes Gluten versengten das Feld mit unerhörten Kalorien. Wir absolvierten eine Felddienstübung im freien Gelände nahe bei Berlin, und ich war durch die Hitze geradezu wie betäubt. Abgesehen davon, hatte ich während der Uebung meiner Feldflasche kräftig zugesprochen, und diese enthielt – sehr reglementwidrig – eine ziemlich hochgradige Alkoholmischung. Und aus diesem Zusammenprall von Temperatur und Schnaps entwickelten sich Zustände, die nach den Regeln militärischer Erfahrung als beispiellos gelten müssen.

Erstlich verlief ich mich während des Manövers derart, daß ich in eine ganz fremde Soldatenschaft hineingeriet und mit einer Truppe heimkehrte, zu der ich nach Dienstverhältnis und Uniform gar nicht gehörte. Und es muß ergänzt werden, daß so ein verirrtes Schaf in fremder Herde eine Rolle spielt, die zwar dem Betrachter sehr burlesk, dem Darsteller indes recht erbärmlich vorkommt. Ferner war mir infolge der diabolischen Glut der schwarze Lack vom Tornisterriemen auf den Waffenrock geflossen und hatte sich dort in breiter Fläche dermaßen verklebt, daß ich als Gesamterscheinung nur noch einen lackierten Klumpen vorstellte. Welch eine Toilette mußte ich an mir vollziehen lassen! Gewand und Tornister hafteten wie genagelt aufeinander und waren nur durch Faustgewalt und Messerschnitte zu trennen: Modell für einen Bilderbogen von Busch! Hier entstand die Frage, warum Tausende von schwarzberiemten Füsilieren heil durch die Sonne marschierten, während nur dieser einzige, dieses Monstrum, von den Strahlen des Tagesgestirns so nichtswürdig verdreckt wurde? Der nie um Antwort verlegene Chor der Vorgesetzten gab Bescheid: »Natürlich, der Einjährige?« Der Kerl mußte nicht nur eine Extrauniform, sondern auch eine Extraschmelzhitze für sich haben?

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Es war eine Zeit, in der auf den Kasernenhöfen viel geflucht und geschimpft wurde, im Ernst und im Scherz, aber beständig mit Uebertreibungen, zu denen sich die Helden der Ilias nimmer aufgeschwungen hätten. Wie armselig erscheint Homers Vokabular gegen die kraftvolle Fülle dieser kasernendeutschen Umgangssprache! Man darf getrost behaupten, daß sämtliche zoologischen Gärten Europas froh gewesen wären, hätten sie nur zum hundertsten Teil so viele Dromedare, Büffel, Rhinozerosse und Paviane besessen, als in unserem Bataillon während eines Vormittags titularweise wimmelten. Man nahm es dabei naturkundlich nicht ganz genau. Mein Nachbar im Gliede bekam zu hören: »wissen Sie, was Sie sind? Ein Heupferd, und zum richtigen Kamel fehlt Ihnen bloß noch der Rüssel!« Dabei spielte auch die klassische Redewendung »pars pro toto« eine Rolle, indem zahlreiche Kommißbrüder als Affenschwänze und Hammelschnauzen angesprochen wurden. Man erlebte dazu Kreuzungsformen, die in »Brehms Tierleben« vergebens gesucht werden, wie zum Beispiel: Ochsenferkel, Tapirschaf, Mandrillschwein und Bullengimpel. Bei diesen Ernennungen bestand indes ein merklicher Unterschied insofern, als wir Freiwilligen nur selten in die Klasse der zoologischen Merkwürdigkeiten befördert wurden. Die Wortführer konnten davon um so eher absehen, als sie den Ausdruck ihrer Gefühle ein- für allemal in die höhnende Formel konzentriert hatten: »Natürlich, der Einjährige!«

*

Unser Dienstterrain erwies sich überhaupt als ein sehr ergiebiges Feld für Kasernenblüten. Viele sententiöse Drolligkeiten, die sich später in Druck und Volkserzählung fortpflanzten, sind Franzerischen Ursprungs, und ich selbst habe eine ganze Anzahl dieser jokosen Gewächse, deren Aufsprießen ich im Dienste erlebte, als erster in die Öffentlichkeit hinausgetragen.

Der Fahneneid – so lautete eine Erläuterung in der Instruktion – ist eine heilige Sache; wer ihn bricht, wird schwer bestraft, ganz abgesehen davon, daß er sich auch noch im Jenseits den größten Unannehmlichkeiten aussetzt! –

Die tägliche Löhnung beträgt zwölf Pfennig, und haben besonders die älteren Soldaten darüber zu wachen, daß die jüngeren Kameraden damit nicht in Verschwendung ausarten. –

Heute abend findet auf Brigadebefehl eine Mondfinsternis statt, wovon die Truppen bei klarem Himmel Augenschein zu nehmen haben. Die Mondfinsternis beginnt pünktlich um ½10 Uhr, ausgenommen für diejenigen Mannschaften, welche um diese Zeit in geschlossenen Räumen Wachtdienst verrichten. –

Das militärische Turnen hat den Hauptzweck, den Soldaten am Reck zu einem brauchbaren Menschen zu erziehen, und ihn im Leben auf die schwierigsten Klimmzüge vorzubereiten.

Bei Ansetzung des Dienstes soll laut Kabinettsorder auf die israelitischen Soldaten insoweit Rücksicht genommen werden, falls sie durch Immatrikulation oder andere jüdische Feiertage eine glaubhafte Abhaltung nachweisen. –

Der Soldat soll sein Gewehr lieben wie seine Braut, was sich auch auf die Rekruten bezieht, die noch kein Verhältnis haben. –

Es ist dem Soldaten strengstens verboten, sein Kommißbrot zu verkaufen, oder sonst Handel damit zu treiben, bevor er es selbst aufgegessen hat. –

Sollte ein Dissident versehentlich in die Garnisonkirche kommandiert werden, so steht es ihm frei, aus der Kirche auszutreten, aber nicht während des Chorgesangs. –

Begegnet der Soldat auf der Straße einem königlichen Prinzen, so muß er Front machen, ebenso vor einer Hofequipage, sobald anzunehmen, daß der nämliche Prinz sich im Innern der Kutsche befindet.

Wird der Soldat von einem Vorgesetzten mit einem Auftrag fortgeschickt, so darf er diesen Auftrag nicht weitergeben, sondern er hat an den befohlenen Punkt eigenhändig zu marschieren. –

Morgen nachmittags um 3 Uhr werden auf dem Kasernenhof Zielübungen vorgenommen, auch von den bereits am Vormittag nach der Scheibe geschossenen Mannschaften. –

Das militärische Wort »Ponton« kommt aus dem Französischen, wogegen der »Ballon« von gefirnißtem Taft herkommt.

Und über all diesen Edikten schwebte als Hauptformel die pompöse Definition: Der Soldat ist nicht nur das dazu gehörige Lederzeug, sondern auch die Liebe zum angestammten Herrscherhause, verbunden mit den nötigen Griffen!

 


 


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