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Als noch tiefer Friede über Europa lag, erfolgte der Ausruf:
Nanu!
Eine Welt von Erlebnissen kann in diesem Ausruf liegen. In vorliegendem Falle begleitete er aber nur ein freudiges Wiedersehen. Beim Durchschreiten des D-Zuges Berlin-Basel bemerkte ich im Speisewagen meinen alten Universitätsfreund Krause, der mir seit langer Zeit aus dem Horizont gerückt war. Ich wußte nur, daß er sich vor einem Jahrzehnt als Dozent der Kulturgeschichte in Halle habilitiert hatte und durch seine erfreulichen Kapitalzinsen alles ausglich, was ihm an Kollegiengeldern fehlte. Ich rief also: »Nanu, Richard!«
»Was tausend, du bist's, Alex! Na setze dich her. Ferienreise? Ich auch, wohin soll's gehen?«
»Nach der Schweiz natürlich. Und du?«
»Dito. Da können wir ja ein Stückchen zusammenreisen.«
»Warum bloß ein Stückchen? Machen wir doch die ganze Reise zusammen. Zu zweien verbilligt sich alles ganz enorm, wir könnten zum Beispiel in den Gasthöfen ein Zimmer zusammen nehmen, – schnarchst du?«
»Nicht im geringsten, – das heißt, manchmal glaube ich, schnarche ich doch ein wenig, oder vielmehr – ganz enorm, selbstredend nur im Schlaf; ich sage das nur, um dich zu warnen. Und vor allen Dingen: wie denkst du dir überhaupt deine Schweizerreise, was beabsichtigst du?«
»Ich beabsichtige, ungeheuer viel zu sehen. Möglichst die ganze Schweiz.«
»Sieh mal, Alex, da hätten wir schon einen Differenzpunkt. Denn was mich betrifft, so hege ich den Vorsatz, möglichst wenig zu sehen; was ich dadurch zu erreichen hoffe, daß ich mich an irgendeinen wunderschönen Punkt festschraube.«
»Na, dazwischen wird sich schon eine mittlere Linie finden lassen. Ich lasse eine Kleinigkeit nach, und du gibst einen Posten zu. Es wäre doch wirklich sehr nett, wenn wir zusammen bleiben könnten. Abgemacht? Also ja. Prosit Richard! Auf unsere vergnügte Tour. Sage mal, nimmst du ein Generalabonnement?«
»Ach keine Spur; wozu denn?«
»Zur Verbilligung natürlich. Ich nehme so eins. Als moderner Mensch halte ich mich geradezu für verpflichtet, in der Schweiz mit einem Generalabonnement zu reisen. Man zahlt vierzig Franken – ein Spottpreis was? – und hat dafür das Recht, auf sämtlichen Eisenbahnen und Dampfschiffen der Eidgenossenschaft herum zu sausen wie man Lust hat.«
»Und wie lange gilt denn so ein Generalabonnement?«
»Fünfzehn Tage! Eine Ewigkeit! Bei mir paßt das nun ganz besonders, denn ich habe genau fünfzehn Tage Urlaub von meiner Zeitung.«
»In dieser Zeit willst du die ganze Schweiz abklappern?«
»Na so ungefähr. Wie sagt der Philosoph? Das Ziel ist nichts und alles die Bewegung. Die Welt im Fluge, als Panorama, das ist und bleibt doch das höchste der Gefühle. Uebrigens nimm das nur nicht wörtlich, wenn ich dabei ein paar Kalkalpen im Schweizer Jura auslasse, so macht mir das auch nichts. Also nur keine Angst.«
Ich kann nicht sagen, daß meine Suada einen durchschlagenden Erfolg zu verzeichnen hatte. Mein Freund, der Privatdozent, blieb dabei, jede Strecke einzeln zu bezahlen. An der gewaltigen Ersparnis, die ich so eindringlich betonte, läge ihm nichts. Aber er gab wenigstens insoweit nach, als er mir zusagte, etliche Tage bei mir auszuharren und erst später an einem Ruhepunkt vor Anker zu gehen. Drei Monate Ferien hatte dieser Bummler von einem Kulturforscher, und wenn er selbst noch länger fortblieb, so merkten es seine Universitäts-Hörer in Halle um so weniger, als er gar keine hatte.
»Daß der Mensch reist,« – so nahm ich den Faden wieder auf – »ist ja ganz in der Ordnung. Aber die meisten verlieren allen Ueberblick über die Oekonomie, sobald sie sich auf die Vergnügungsfahrt begeben. Der allgemeine Denkfehler lautet: ›Was kommt's denn darauf an?‹ Doch es kommt darauf an und da das Wetterhorn und der Thunersee genau so aussehen, gleichviel ob ich mir deren Anblick für tausend Franken oder für zweihundert Franken erkaufe, so schlage ich mich eben auf die billige Seite. Ist es denn durchaus nötig, daß die Schweiz das ganze Geld von der Welt bekommt?«
»Du übertreibst, Alex!«
»Es ist berechnet worden, daß der internationale Fremdenstrom jährlich fünfhundert Millionen Franken nach der Schweiz trägt. Und das bleibt alles dort, denn der Schweizer reist nicht ins Ausland, importiert wenig Ware und gibt also nichts zurück. In hundert Jahren ergibt dies fünfzig Milliarden, und in aber hundert Jahren wird die ganze Welt zugunsten dieses einen Alpenlandes ausgepowert werden. Das halte ich mir vor Augen und betrachte es als einen Grund mehr, mit einem Generalabonnement zu reisen. Ich zahle der Schweiz 40 Franken, und wenn ich mir Mühe gebe, verfahre ich das Fünffache darauf. Mit anderen Worten: die Schweiz, die sich an der ganzen Welt bereichert, wird mir tributär. Das scheint mir national-ökonomisch höchst empfehlenswert. Ja die Hauptsache: das Generalabonnement enthält eine Klausel, um derentwillen allein es sich lohnt, darauf einzugehen. Paß mal auf: An der letzten Station, am letzten Tage der Benutzung, erhält der Reisende fünf Franken in bar darauf zurück. Stelle dir vor, was das für ein Vergnügen ist: man geht an den Schalter, schiebt einen wertlos gewordenen Wisch hin und empfängt Geld.«
»Eine merkwürdige Einrichtung, wie mag die bloß entstanden sein?«
»Sie hängt irgendwie mit der Kontrolle zusammen. Gleichviel, sie besteht und bewährt sich für die Bahnen auch insofern, als zahllose Touristen in der Hast der Abreise vergessen, diese Liebesgabe einzufordern. Mir kann das natürlich nicht passieren! Ich kriege meine fünf Franken wieder! Da wett' ich meinen Kopf gegen eine Pfeffernuß, oder genauer präzisiert: Tausend gegen eins!«
»Gut,« sagte mein Freund. »ich halte fünf Mark dagegen. Und wo wollen wir eigentlich zunächst hinfahren?«
»Ueberall wo's schön ist und wo es die meisten Kilometer gibt, landschaftliche Herrlichkeiten mit Meilen multipliziert gibt ein wunderbares Produkt. Und das multipliziert noch einmal mit zwei, denn in Gegenwart des Freundes genießt man ja alles doppelt.«
In Basel kamen wir um neun Uhr an. »Wenn es nach mir ginge,« meinte der andere, »so bliebe ich vorläufig mal einen Tag hier.«
»Weißt du, Richard,« brauste ich auf, »diese Ueberbequemlichkeit ist beispiellos! Du bist kaum einen halben Tag unterwegs und willst dich schon auf die Bärenhaut strecken. Es muß doch alles eine Grenze haben!«
»Basel ist ja Grenze,« entgegnete er trocken.
»Aber nicht für uns: wir wollen doch in die Schweiz!«
»Basel ist ja Schweiz,« ergänzte er ebenso phlegmatisch.
»Allerdings politisch, aber nicht landschaftlich. Mensch, was willst du in Basel? Willst du hier Böcklin oder Nietzsche studieren? Das kannst du in Halle viel besser. Es ist hier positiv nicht das geringste zu sehen. Also verfüge dich einen Moment in den Wartesaal, ich löse schnell ein Generalabonnement und dann weiter!«
Richard gab nach, und ich stürzte an den Schalter, wo mir der Beamte alsbald das Abonnement verabfolgte. Ein kleines grasgrünes Dokument zum Zusammenklappen.
»Also nicht wahr, das hat fünfzehn Tage Gültigkeit?«
»Jawohl; das heißt den Tag der Lösung mit einbegriffen. Und da es schon spät am Abend ist, so bleiben Ihnen noch vierzehn Tage; eine unaufgezogene Photographie und etwas Gummiarabikum haben Sie wohl bei sich?«
»Photographie? Von was?«
»Von Ihnen selbst, mein Herr. Die müssen Sie in das Abonnement einkleben, sehen Sie hier. Sonst hat das Abonnement keine Gültigkeit.«
»Ja, wo soll ich denn eine Photographie von mir herbekommen? Ich hab' nicht einmal in Berlin eine. Ich lass' mich überhaupt nie photographieren.«
»Das tut mir leid,« erklärte der Beamte. »Zurücknehmen kann ich das Abonnement nicht mehr, denn es ist auf Ihre Person ausgestellt und mit dem Tagesstempel versehen.«
»Du, Richard,« sagte ich, als ich in durchaus nicht triumphatorischer Gangart in den Wartesaal zurückkehrte, »wir werden doch einen Tag in Basel bleiben müssen. Ich muß mich photographieren lassen, wegen des Generalabonnements.«
»So, so,« entgegnete der andere: »ich hatte mich schon ganz darauf eingerichtet weiterzudampfen.«
»Na, du siehst doch, das ist unmöglich. Ich habe morgen beim Photographen zu tun. Uebrigens ist Basel eine höchst interessante Stadt: du findest hier einige Böcklins, wie du sie in der ganzen Welt nicht wieder zu sehen kriegst. Und dann die Nietzsche-Erinnerungen! Freilich, mein Generalabonnement wird dann bloß noch dreizehn Tage umfassen . . .«
»Und dreizehn ist eine krumme Zahl!«
»Macht nichts. Zunächst wollen wir uns einmal in einem Hotel einquartieren.« – Ich hätte natürlich ein recht billiges bevorzugt. Aber für den Moment hatte mein Kumpan Oberwasser, und so gerieten wir in das allerteuerste. Meine Nacht war nicht angenehm. Zwei Tage verloren, ehe es noch angefangen hatte! Welche Strecken hätte ich in diesen achtundvierzig Stunden schon abrasen können, ohne einen Centime draufzuzahlen. Na, ich würde es schon einholen, das nahm ich mir felsenfest vor. Kurz und klein mußte die ganze Schweiz gefahren werden in den übrigbleibenden dreizehn Tagen. Zum Donnerwetter auch, wenn man ein Generalabonnement in der Tasche hat!
Der nächste Vormittag sah mich bei einem Photographen gegenüber unserm Prunkhotel. Der Besitzer des Ateliers, ein ernster Herr mit künstlerischen Allüren, behauptete, wenn das Bild etwas wahrhaft Vollendetes werden sollte, so müßte ich mich in Lebensgröße und wenn möglich zu Pferde photographieren lassen.
Es bedurfte längerer Auseinandersetzungen, um ihm begreiflich zu machen, daß für mich nur das Visitenkartformat in Frage käme: ein Faktum, das seine Begeisterung für meine Person merklich dämpfte. Aber schließlich verstand er sich auch zu der Miniaturleistung und setzte seinen Apparat in Tätigkeit, zu meiner maßlosen Quälerei, wie ich hinzufügen muß, denn Photographieren und Zahnziehen waren für mich allzeit benachbarte Begriffe.
»Uebermorgen können Sie die Bilder haben,« eröffnete er mir nach vollbrachter Exekution.
Mir stieg das Blut zu Kopfe. »Erstens will ich nicht die Bilder, sondern ein Bild; und zweitens, wenn Sie noch einmal sagen: übermorgen, so passiert ein Unglück. Bis heute nachmittag verlange ich das Bild!«
Meine Ausbrüche stießen auf kaltes Achselzucken. Und das Ende vom Liede war, daß ich unter Verzicht auf das Porträt zwölf Franken für die Aufnahme zu zahlen hatte. Halb besinnungslos stürzte ich davon, um irgendwo in der Stadt einen Momentphotographen aufzutreiben, schattenhaft wogten mir hunderte von Kilometern durchs Bewußtsein, die schönen Kilometer, die ich alle opfern mußte, um ein Bild zum Einkleben ins bezahlte Generalabonnement zu erlangen.
Endlich hatte ich einen erwischt, draußen in der Vorstadt, einen Augenblickskünstler, der in einer knappen Stunde mit mir fertig wurde und mir auch etwas Gummi zur Verfügung stellte, eine Leistung, die ich hocherfreut mit drei Franken honorierte. Kleben und kleben lassen! Jetzt konnte das Generalabonnement in Tätigkeit treten!
Aber wieder war es Abend geworden, als wir in Luzern eintrafen, und mein Freund war um keinen Preis der Welt zu bewegen, die Nacht auf rollenden Rädern zu verbringen.
»Richard,« rief ich, »jetzt sind beinahe drei Tage meines Abonnements heruntergerissen, für lumpige neunzig Kilometer! Richard, ich komme nicht auf die Kosten! Wenn du mich jetzt wieder in Luzern festhältst – das ist eine Barbarei!«
»Eine größere Barbarei wäre es, durch Luzern einfach durchzureisen, wie durch ein x-beliebiges Posemuckel.«
»Du sollst ja meinetwegen dein Luzern haben. Aber fahre mit mir wenigstens die Nacht hindurch über den Gotthard hin und retour!«
»Mach' das alleine. Ich bleibe hier im Hotel und will dich erwarten.«
Es war nichts auszurichten. Und da ich schließlich auf das Zusammenbleiben Wert legte, so blieb mir nichts übrig, als vor der unergründlichen Laune meines Freundes zu kapitulieren. Drei volle Tage hat mich dieser Abschaum aller Naturfreunde in Luzern festgehalten. Drei volle Tage!
»Sieh nur den Adel dieser Bergformen!« rief er wiederholt mit einem Anflug von Begeisterung; »und wie sich das verglühende Sonnenlicht darauf malt!«
»Du hast gut reden, Richard, dich kostet das verglühende Sonnenlicht nicht einen Heller Reisespesen; aber ich habe im Rock ein Generalabonnement, das bei diesem Sonnenphänomen immer weniger wird und sich zusehends verkrümelt!«
Ganz wider Erwarten erhob sich Richard am vierten Luzerner Tage schon um sechs Uhr und präludierte beim Frühstück: »Hättest du Lust, Alex, mit mir auf den Rigi zu fahren?«
Statt aller Antwort packte ich ihn am Aermel und schleppte ihn davon. Und wir kauten noch an unserem Honigbrot, als wir uns schon auf dem buntbewimpelten Steamer befanden, der in nächster Nähe des Hotels zur Abfahrt nach Vitznau bereit lag. Es war ein Sonntagsdampfer mit Musik, und eine fröhliche Gesellschaft, vorwiegend Kinder aus Schweizer Schulen, lärmte auf dem Verdeck umher. Aber als ich fünf Minuten nach Abfahrt meinen grünen Schein vorwies, winkte der Kontrolleur ab: dieses sei ein Extradampfer, nicht fahrplanmäßig, und mein Abonnement habe hier keine Gültigkeit.
Der ganze Vierwaldstätter See war mir verdorben. Ich verkroch mich in die Kajüte, hing meinem Schmerz nach, zählte meine schwindende Barschaft und kam erst wieder zum Vorschein, als die Rigibahn zum Aufstieg winkte. Dieses höchst vortreffliche Verkehrsmittel überwindet den Berg mit fünfundzwanzig Prozent Steigung, eröffnet eine Reihe der entzückendsten Gesichtspunkte, verzinst sich auch sehr gut, und besitzt nur den einen Fehler, daß es das Generalabonnement nicht im mindesten anerkennt. Die Order hieß: nachzahlen, und ich brauche wohl kaum zu begründen, daß man mit Wut im Herzen keine Aussicht zu genießen vermag, selbst wenn sie im Baedeker mit zwei Sternen ausgezeichnet ist; vollends wenn der Kulm im dicken Nebel steckt. Man erfuhr aber auf telephonischem Wege, daß der Pilatus ausnahmsweise ganz wolkenfrei wäre, und Richard, der plötzlich von der Zwangsvorstellung nach Rundsicht beherrscht schien, drängte zu sofortigem Aufbruch.
Wir fuhren also nach Alpnach.
Auf dem Schiff ereignete sich nunmehr eine große Merkwürdigkeit: mein Abonnement galt! Allerdings stutzte der Kontrolleur zuerst beim Betrachten der Photographie. Das wäre ich gar nicht! Und er hatte damit nicht so unrecht. Das Bild war wirklich sehr unähnlich. Verpatzte Schatten heuchelten einen Backenbart, während meine Wangen in Wirklichkeit den Höhepunkt der Rasierkultur darstellen. Natürlich, so ein Momentphotograph in Basel! Aber nachdem der Kontrolleur einen Franken Trinkgeld empfangen hatte, entdeckte er doch einen Schimmer von Aehnlichkeit und ließ mich passieren. Ein leises Vertrauen zur Schweizer Menschheit begann wieder bei mir einzukehren. Aber in Alpnach war es schon wieder damit vorbei. Nachzahlen auf der Pilatusbahn; hinauf und herunter. – »Richard, pump' mir mal hundert Franken!«
Ueberall, wo es steil wurde, verwandelte sich mein grünes Dokument in einen wertlosen Fetzen. Und wo ist es in der Schweiz nicht steil? In ein nettes Land war ich da geraten, ich mit meinem Vorsatz der billigen Fahrt. »Weißt du, Richard, wenn jetzt nicht bald eine ebene Strecke kommt, auf der ich ohne Aufgeld ein paar Kilometer schlucken kann, dann steige ich aus und gehe zu Fuß.«
»Aber, Menschenskind,« versetzte der andere, »du hast mir doch selbst statistisch bewiesen, daß jeder Fremde hier fünfhundert Franken ins Land trägt. Warum willst du gerade eine Ausnahme machen?«
Und er behielt recht. Als wir über den Brünig wollten, stellte es sich heraus, daß der Zug nur die erste Wagenklasse führte. Es ist eben eine sehr vornehme Linie. Und wenn ich mich dieser Vornehmheit nicht angepaßt hätte, so lag ich als Plebejer draußen. Zur Ueberwindung dieser Kalamität gab es nur ein Mittel: Nachzahlen!
Dieses Leitmotiv blieb auch während der nächsten Tage in voller Rüstigkeit bestehen, Mürrenbahn, Wengernalpbahn, Jungfraubahn taten insgesamt so, als ob sie von der Existenz eines Generalabonnements noch nie gehört hätten. Ich war einfach der ungültigste Mensch auf Erden. Rechts, links im Vorderprospekt Matten, Firnfelder, Gletscher, Felszacken, die mir alle Aussicht auf meine freien Kilometer versperrten, Wildbäche und Wasserfälle, die mir das Verdikt entgegendonnerten: Du bist ungültig! Und immer nur vorwärts, um noch einen Bruchteil der ökonomischen Rechnung zu retten, denn das Generalabonnement hatte nur noch sechs Tage Währungsfrist.
Auf der Station Eismeer gab es ein Intermezzo. An der elektrischen Drahtleitung war irgend etwas defekt geworden, und die Fahrgäste wurden darauf vorbereitet, daß die Talfahrt nicht sogleich vonstatten gehen würde. Das könnte vielleicht bis morgen dauern. Jedenfalls hätte man sich auf längeren Aufenthalt einzurichten.
Wieder einen Tag verlieren? Nein, mein Geduldsfaden ist auch defekt! Richard, fassen wir uns ein Herz und klettern wir über das Eisgebirge, übers Mönchsjoch hinunter ins Rhonetal. Dort gibt es endlich eine Horizontalbahn mit Gültigkeit. Seien wir Männer!
»Ja, lieber Freund, in der Not stecken lassen will ich dich nicht. Klettern wir also. Führer wird's wohl hier geben.«
»Natürlich; da stehen ja welche. Freilich, der Führertarif ist hoch. Richard, pump' mir mal hundert Franken!«
War das eine Bergtour! An die werde ich zeitlebens denken. Alle Abenteuer der Güßfeld, Whymper und Studer schienen sich auf dieser Eiskletterei zu vereinigen, von allen Seiten streckte der weiße Tod seine Fänge nach mir. Und dazu die Vorwürfe von meinem bequemen Freunde, die erst leise einsetzten, um allmählich an Heftigkeit zuzunehmen und schließlich in ein elementares Gebrüll auszuarten. Als wir im Rhonetal anlangten, war der Krach fertig. Richard legte sich sofort in ein Hotelbett und befahl dem Hausknecht, ihn frühestens am Dienstag der nächstfolgenden Woche zu wecken. Ich war meinem Schicksal allein überlassen; aber doch auch gewissermaßen frei. Gerade stürmte ein Bahnzug westwärts in die Haltestelle zu Brieg. Also hinein.
Ah! – jetzt sollte endlich mein famoses Dokument auf einer langen Strecke seine Dienste leisten. Zeit war's. Ich war aber auch bombenfest entschlossen, in Tausenden von Kilometern alles nachzuholen, Tag und Nacht, ohne die mindeste Schonung des rollenden Materials.
Allein abermals bestritt der Kontrolleur die Wunderkraft des grünen Scheines ganz nachdrücklich. Dieses sei nämlich ein Luxuszug der Simplonbahn, der mir folgendes auferlege: erstens den Zuschlag zur ersten Klasse, zweitens den Zuschlag zum Luxus, und drittens noch einen Zuschlag zum Zuschlag, weil ich es verabsäumt habe, den Zuschlag im Stationsgebäude zu lösen. Und wo war Richard, der mir wieder hätte hundert Franken pumpen können?
Außerdem gab es zwischen dem Kontrolleur, dem Zugführer und noch einem geheimnisvollen Herrn lange Konferenzen, die sich ersichtlich um meine Person drehten. Und als wir in Montreux hielten, gesellte sich zu jenen noch ein Polizeibeamter, der mich kurzweg für verhaftet erklärte. Ich wäre ein Bankdefraudant aus Frankfurt, dessen Signalement mit meiner Photographie vollkommen übereinstimme. Besonders der Backenbart sei nach dem steckbrieflichen Bilde nicht zu verkennen.
Meine entrüsteten Reklamationen verhallten wirkungslos. Die gegenwärtige Bartlosigkeit beweise nur, daß ich mir den bekannten Gaunerkniff des Abrasierens dienstbar gemacht habe. Nicht die Person, sondern ausschließlich die Photographie im Generalabonnement sei maßgebend.
Ich berief mich auf meinen Freund Richard, den Dozenten einer deutschen Universität, der sofort meine Identität feststellen würde, der sollte unverzüglich telegraphisch zitiert werden. Eitle Hoffnung! Der Dozent lag bleischwer im Bett zu Brieg, unerreichbar für jedes Telegramm, da er im Hotel gedroht hatte, jeden zu erschießen, der ihn vor Dienstag nächster Woche wecken würde.
Und so verlor mein Generalabonnement den Rest seiner Gültigkeit im Untersuchungsgefängnis zu Montreux. Im Baedeker wird man diese Sehenswürdigkeit vergeblich suchen. Sie ist auch in landschaftlicher Hinsicht vollkommen reizlos.
Endlich erschien mein Freund auf der Bildfläche, um mich aus den Klauen meiner Häscher zu befreien. Ich jammerte meinen Schmerz an seinem Busen aus. »Und das Schrecklichste ist,« fügte ich stöhnend hinzu, »daß ich jetzt für die Strecke von hier nach Basel noch einmal bezahlen muß!«
»Du bekommst wenigstens die bewußten fünf Franken am Schalter, du weißt doch, bei Zurücklieferung des Scheines.«
»Nein, die bekomme ich auch nicht mehr. Fünf Minuten zu spät, die fünfzehn Tage sind um.«
»Dann hast du also fünftausend Mark an mich verloren. Deine Wette ging tausend gegen eins, und ich hielt fünf Mark dagegen.«
»Ja ja, Richard, das stimmt, du kriegst das von mir, wenn du's erlebst, aber vorläufig pump' mir mal hundert Franken!«